Sonntag, 26. August 2018

Zeugin aus der Hölle

Zum hundertsten Geburtstag von Artur Brauner am 1. August 2018

ZEUGIN AUS DER HÖLLE / GORKE TRAVE
BRD/Jugoslawien 1965/67
Regie: Žika Mitrović
Darsteller: Irene Papas (Lea Weiss/Clément), Daniel Gélin (Bora Petrović), Heinz Drache (Dr. Hoffmann), Werner Peters (von Walden), Alice Treff (Frau Ritter), Jean Claudio (Nino Bianchi), Hans Zesch-Ballot (Dr. Berger), Radmila Guteša (Telefonistin)

Lea, die Zeugin aus der Hölle
Bora Petrović, ein gestandener jugoslawischer Journalist, bekommt eines Tages unerwarteten Besuch aus Deutschland in seiner Belgrader Redaktion: Dr. Hoffmann, ein Staatsanwalt an der Ludwigsburger Zentralen Stelle für Nazi-Verbrechen. Er ist seit Monaten dem früheren KZ-Arzt Dr. Berger auf der Spur, der in einem Lager grausame Menschenversuche und Zwangssterilisationen an weiblichen Häftlingen durchgeführt hat. Doch jetzt führt Berger als wissenschaftlicher Direktor einer großen Pharmafirma ein gutbürgerlichen Leben mitten in der Bundesrepublik. Er gab sogar einem Fernsehteam ein Interview, in dem er die Vorwürfe gegen ihn jovial-herablassend als frei erfunden abbügelt, ließ dann aber die Ausstrahlung durch seinen Anwalt verhindern. Aber Dr. Hoffmann hat eine potentielle Belastungszeugin: Die jüdische KZ-Überlebende Lea Weiss, nach ihrer Hochzeit mit einem Franzosen (der inzwischen als Reporter in Vietnam verschollen und wahrscheinlich tot ist) Lea Clément. Diese hatte unmittelbar nach dem Krieg ihre Erinnerungen an das Konzentrationslager Petrović diktiert, der das als Buch in Jugoslawien herausbrachte. Dieses Buch, in dem Dr. Berger schwer belastet wird, ist erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen, und so ist Dr. Hoffmann auf Lea Clément, die wieder in Deutschland lebt, aufmerksam geworden. Doch Lea will nicht in einem Prozess aussagen und behauptet sogar, ihre Aussagen in dem Buch seien Übertreibungen und "Mystifikationen" gewesen. Das alles erzählt nun Dr. Hoffmann im Büro von Petrović und bittet ihn um eine Einschätzung. Petrović kann kaum glauben, was er da hört - er ist fest davon überzeugt, dass in dem Buch jedes Wort wahr ist. Und so begleitet Petrović nun Hoffmann auf dessen Bitte hin nach Deutschland, um mit Lea zu sprechen.

Bora Petrović und Dr. Hoffmann
Diese hat bis vor einiger Zeit ein halbwegs normales Leben in einer westdeutschen Großstadt geführt und als Pianistin in einem Hotel gearbeitet. (Die städtischen Außenaufnahmen entstanden in Berlin, doch die Stadt wird nicht beim Namen genannt, ist aber durch einige dezente Hinweise erkennbar.) Doch seit einigen Wochen ist sie mehr oder weniger auf der Flucht, zieht in kurzer Folge von Hotel zu Pension. Sie lässt nur noch zwei Personen an sich heran, ihren zwielichtig-schmierigen Anwalt von Walden und ihren derzeitigen Geliebten Bianchi, einen Autohändler. Dieser weiß nichts von Leas Vergangenheit, kann sich keinen Reim auf die hastigen Umzüge machen und ist davon genervt. Bianchi bleibt eine Randfigur, er verschwindet bald aus dem Film. Unmittelbar nach Hoffmanns und Petrović' Ankunft in Leas derzeitigem Hotel packt diese wieder die Koffer und zieht in eine großbürgerliche Villa am Stadtrand, deren ältliche Besitzerin Frau Ritter auch dort wohnt und Zimmer vermietet. (In IMDb, Wikipedia und sonstigen Quellen wird sie aus mir unbekannten Gründen "Frau von Keller" genannt - mehr dazu weiter unten.) Wie man später erfährt, hat von Walden Lea diese Adresse empfohlen. Doch Petrović und Hoffmann geben nicht auf. Mit Hilfe von Bianchi finden sie die Villa, und eine indiskrete Hoteltelefonistin enthüllt den Grund für Leas Verhalten: Sie erhält Drohbriefe und -anrufe mit Inhalten wie "Jude raus!", "Du hast eine Entschädigung bekommen, was willst Du hier noch, Du Blutsaugerin?" (mit einem Hakenkreuz versehen) oder "Du stinkige Judensau, die man vergessen hat zu vergasen, was suchst Du noch in unserem Land?". Der Film nimmt hier wirklich kein Blatt vor den Mund - und gibt wieder, was sich Mitte der 60er Jahre, zur Zeit des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, vielfach tatsächlich ereignet hat. Für den Fall, dass Lea gegen Dr. Berger aussagt, wird sie mit dem Tod bedroht. Es ist also die Angst, die jetzt ihr Verhalten diktiert, aber nicht nur das. Durch das erneute Trauma hat sie wieder Alpträume von ihrer Verhaftung und Deportation und von der Zeit im Lager. In einem der Träume bietet ihr Dr. Berger ein großes Stück tätowierte Menschenhaut als Geschenk an. (Das Thema der tätowierten Menschenhaut, aus der angeblich Lampenschirme gefertigt wurden, ist komplex und diffizil. Hans Schmid hat in seinem Artikel über die ILSA-Filme und deren reale Hintergründe im Lager Buchenwald ausführlich darüber berichtet.) Lea hat die begründete Furcht, dass sie es nicht durchstehen würde, in einem Prozess ihre Geschichte noch einmal durchleben zu müssen.

Wiedersehen von Bora und Lea nach vielen Jahren
Dr. Hoffmann lässt durch die Polizei Recherchen anstellen und findet so schnell heraus, dass Frau Ritters Bruder ein hoher SS-Offizier war, was von Walden Lea gegenüber natürlich nicht erwähnt hat. Und Frau Ritter und von Walden sind alte Freunde, sie nennt ihn "Rudi". Gegen Ende des Films stellt sich sogar heraus, dass dieser dubiose Anwalt auch Dr. Berger vertritt. Und natürlich ist der KZ-Arzt sein eigentlicher Klient, dem er loyal ist, und an Lea hat er sich nur herangewanzt, um sie bequem manipulieren zu können. Und kein anderer als von Walden veranstaltet durch seine Gehilfen die Terrorkampagne gegen Lea. Schon zuvor hat man durch Gespräche der Protagonisten einige Details aus Leas Vergangenheit erfahren, die Dr. Hoffmann noch nicht kannte, weil sie nicht im Buch stehen. Lea und Petrović waren damals, kurz nach dem Krieg, für kurze Zeit ein Paar, bis sie ihn ohne Vorwarnung verließ. Den Grund kannte Petrović selbst noch nicht, aber jetzt erfährt er ihn: Es war sein Wunsch nach Kindern, den er gar nicht offensiv geäußert hatte, den ihm Lea aber angemerkt hatte. Aufgrund ihrer Zwangssterilisation ertrug sie das nicht, konnte auch nicht darüber sprechen und ergriff die Flucht. Und noch etwas erfährt man, das selbst Petrović noch nicht wusste, weil sich Lea damals zu sehr geschämt hatte: Sie war nicht nur den üblichen Qualen und der Sterilisation ausgesetzt, sondern sie musste auch im Lagerbordell arbeiten und war einige Zeit zwangsweise Dr. Bergers Mätresse, bis er ihrer überdrüssig wurde und sie an einen Kollegen abgab, der an Häftlingen Unterkühlungsexperimente in Wassertanks durchführte. Lea musste dann bei diesen Experimenten assistieren, indem sie sich nackt zu den fast erfrorenen Opfern legte, um diese wieder aufzutauen.

Undurchsichtige Gastgeberin: Frau Ritter
Nachdem Lea aus den Fängen von Frau Ritter und "Rudi" befreit wurde und von einem Kriminalbeamten bewacht wird, wirkt sie vorübergehend entspannter. Doch der Schein trügt, Lea wird die Dämonen aus der Vergangenheit nie loswerden. Einmal sagt sie zu Petrović, es wäre besser gewesen, sie wäre vor ihrer Verhaftung aus dem Fenster gesprungen. Nicht, um sich zu retten - das Fenster war im 4. Stock. Doch damals fehlte ihr der Mut dazu. Vor Gericht will sie jetzt immer noch nicht aussagen, aber sie macht in Hoffmanns Büro eine per Tonband mitgeschnittene offizielle Aussage. Das reicht zumindest mal für einen Haftbefehl, und Dr. Berger wird festgesetzt. Aber die Aussage übersteigt Leas Kräfte, und am Ende kollabiert sie mit einer Nervenkrise. Und als Reaktion auf Dr. Bergers Verhaftung aktiviert von Walden wieder seine Drohanrufer - dummerweise hat man Lea im selben Hotel wie vor ihrem Wechsel in die Villa untergebracht, so dass er nicht lange nach ihr suchen musste. Lea ist jetzt am Ende. Als drei junge Männer im Hotelflur Radau machen, kann sie Realität und Vergangenheit nicht mehr unterscheiden - sie wähnt sich wieder am Tag ihrer Verhaftung und glaubt, dass sie jetzt abgeholt wird. Und diesmal springt sie aus dem Fenster.

Lea erhält Drohanrufe
Es ist starker Tobak, der dem deutschen Publikum von ZEUGIN AUS DER HÖLLE präsentiert wurde, und erwartungsgemäß wollten die meisten das nicht sehen. Doch die Zeit war reif für diesen Film, denn von 1963 bis zur Urteilsverkündung im August 1965 hatte der erste Frankfurter Auschwitzprozess stattgefunden. Der Prozess war nicht nur ein epochales Ereignis der westdeutschen Justizgeschichte, er löste auch ausgiebige juristische, politische und historische Debatten aus und inspirierte mediale und künstlerische Auseinandersetzungen mit der Materie, wie etwa Peter Weiss' szenisches Oratorium "Die Ermittlung". Und ganz offensichtlich wurde auch ZEUGIN AUS DER HÖLLE vom Prozess angestoßen. Und er spricht das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager so deutlich und unverblümt an wie kein anderer bundesdeutscher Film der 60er Jahre, den ich kenne. Er braucht dazu, abgesehen von den Personen, nichts erfinden, sondern kann sich an verbürgte Details halten, nur der Ort wird manchmal verlagert. Aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontextes könnte man ganz automatisch annehmen, dass auch Lea in Auschwitz war, aber das wird nie ausgesprochen. Tatsächlich legen zwei im Film zu sehende Fotos und eine Bemerkung von Dr. Hoffmann nahe, dass sie im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass war. Die Unterkühlungsexperimente fanden in der Realität weder in Auschwitz noch in Struthof statt, sondern im KZ Dachau - die Verlegung im Film ist eine legitime künstlerische Komprimierung dieser Abartigkeiten (ebenso wie die Sache mit der tätowierten Haut, die eigentlich nach Buchenwald gehört). Aber tatsächlich geschehen sind diese Versuche, sogar das mit den nackten Frauen neben den halb (oder schon ganz) erfrorenen Opfern ist tatsächlich passiert. Das klingt so abseitig, dass ich hier eine Originalquelle zitieren möchte. Der tschechische Arzt Dr. Franz Blaha, ab 1941 als Gefangener in Dachau, sagte im Januar 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus. Er hatte zuvor eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die nun verlesen wurde, und darin hieß es unter anderem:
5. [Dr. Sigmund] Rascher hat auch Versuche über die Wirkung kalten Wassers an Menschen durchgeführt. Dies wurde getan, um einen Weg zu finden, die Flieger wieder zu beleben, die in den Ozean fielen. Die Person wurde ins eiskalte Wasser gesetzt und dort solange gehalten, bis er das Bewußtsein verlor. [...] Manche Männer hielten 24-36 Stunden aus. Die niedrigste Körpertemperatur erreichte 19 Grad C., aber die meisten Männer starben bei 25 bis 26 Grad Celsius. Als die Menschen vom Eiswasser entfernt wurden, hat man versucht, sie durch Kunst-Sonnenwärme, heißes Wasser, Elektro-Therapie und Tierwärme zu beleben. Für das letztere sind Prostituierte benutzt worden, und man legte den Körper des bewußtlosen Mannes zwischen die Körper zweier Frauen. [...] Ich war persönlich bei einigen dieser Kaltwasser-Versuche anwesend, zur Zeit, wo Rascher abwesend war, und ich sah auch Notizen und Diagramme darüber in Raschers Laboratorium. An ungefähr 300 Personen wurden diese Versuche durchgeführt. Die Mehrzahl von denen starb.


Es wurde gelegentlich vermutet, dass es für Lea ein reales Vorbild gab, nämlich die aus Russland stammende jüdische Auschwitz-Überlebende Dunia bzw. Dounia Wasserstrom, die 1964 als Zeugin im Frankfurter Prozess aussagte. Wasserstrom, die nach der Befreiung zunächst in Frankreich und dann in Mexiko lebte, war seit ihrer Hochzeit mit einem Franzosen französische Bürgerin, genau wie Lea Weiss/Clément. Dounia Wasserstrom war nicht bei medizinischen Experimenten anwesend, sondern sie war in der Politischen Abteilung in Auschwitz als Dolmetscherin eingesetzt, wo sie vor allem die Verbrechen von Wilhelm Boger, einem der 22 Angeklagten in Frankfurt, aus nächster Nähe miterleben musste. Boger hatte die "Boger-Schaukel" erfunden, auf der er viele Häftlinge zu Tode prügelte. Vor allem ein Detail aus Wasserstroms Aussage in Frankfurt hat die Öffentlichkeit schockiert: Boger ermordete einen vier- bis fünfjährigen Jungen, indem er ihn an den Füßen packte und seinen Kopf gegen eine Wand schmetterte. (Es gibt in Bertoluccis NOVECENTO eine ähnliche und sehr beklemmende Szene.) Wasserstrom musste danach die Wand säubern. Sie war davon so traumatisiert, dass sie keine Kinder mehr sehen konnte, ohne dabei depressiv zu werden, weshalb sie später, als sie schwanger wurde, eine Abtreibung durchführen ließ - eine gewisse Parallele zu Lea, die aus einem anderen Grund keine Kinder mehr bekommen kann. Wasserstrom hatte schon längere Zeit vor dem Prozess in der deutschen Botschaft in Paris eine Aussage zu Protokoll gegeben, aber ebenso wie Lea in ihrem Buch konnte sie damals noch nicht alles sagen - die Ermordung des Jungen hat sie damals noch für sich behalten. Wasserstrom hat auch auf Französisch, Spanisch und Englisch Bücher über ihr Schicksal und über Auschwitz verfasst. Es ist gut möglich, dass sie tatsächlich als Vorbild für Lea diente, aber wirklich wichtig ist das nicht - es gab zu viele ähnliche Schicksale.

Rechtsanwalt von Walden
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist eine westdeutsch-jugoslawische Coproduktion eines Belgrader Studios mit der CCC von Artur, genannt "Atze" Brauner, und damals hätte wohl auch kein anderer westdeutscher Produzent als er diesen Film machen wollen. (Kleine Randnotiz: Als Dr. Hoffmann und Petrović mit Hoffmanns Wagen vor einem Fernsehstudio vorfahren, um sich das unveröffentlichte TV-Interview mit Dr. Berger anzusehen, ist dieses Studio in Wirklichkeit das CCC-Studio in Spandau. Immer sparsam, der Atze.) Brauner, ein aus Polen stammender Jude, dessen meiste Angehörige im Holocaust umgekommen sind, hat in seinem Berliner Studio bekanntlich vor allem anspruchslose Kommerzfilme in Serie produziert, aber dazwischen auch immer wieder mal Filme über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, als er darauf bauen konnte, dass diese Filme auch im Fernsehen gezeigt wurden und dort ein Millionenpublikum fanden. Wie etwa HITLERJUNGE SALOMON (1990) von Agnieszka Holland, von dem Brauner behauptet, er hätte ihm den Oscar gebracht, wenn er vom deutschen Auswahlgremium nominiert worden wäre (was aber nicht geschah). Doch schon 1948 mit MORITURI (Regie Eugen York) begann Brauner diesen Strang seiner Produzententätigkeit. Es handelt sich um ein Drama um einen KZ-Ausbruch und darum, was die erfolgreichen polnischen und jüdischen Ausbrecher mit einem deutschen Soldaten anfangen sollen, der ihnen in die Hände fällt. Die Westdeutschen wollten sich aber nicht gern einen Spiegel vorhalten lassen. Die zeitgenössischen Kritiken waren durchwachsen, und es gab Randale pöbelnder Zuschauer, als sei das Jahr nicht 1948, sondern 1933. Der Film wurde fast überall vorzeitig aus dem Programm genommen oder gar nicht erst gestartet. Das ließ Brauner vorsichtig werden, und seine ambitionierten Filme über die braune Vergangenheit waren nun erst mal dünn gesät. Zu nennen ist etwa noch DER 20. JULI (1955, Regie Falk Harnack), einer von zwei zeitgleich erschienenen Filmen über das Stauffenberg-Attentat (der andere ist ES GESCHAH AM 20. JULI von G.W. Pabst).

In der Villa ...
Und nun also ein Auschwitz-Film, auch wenn er gar nicht in Auschwitz spielt - wie schon erwähnt, ziemlich singulär in der bundesdeutschen Kino-Landschaft der 60er Jahre. Im Fernsehen immerhin gab es 1966 DIE ERMITTLUNG als Umsetzung von Peter Weiss' Stück (produziert von Egon Monk für den NDR, Regie Peter Schulze-Rohr), und 1968 das Fernsehspiel MORD IN FRANKFURT um einen Auschwitz-Prozess (und einen zeitgleich dazu passierenden Mord an einem Taxifahrer), von Rolf Hädrich für den WDR inszeniert (bei Pidax auf DVD erschienen). Die jugoslawische Seite der Coproduktion stellte nicht nur etliche Nebendarsteller, sondern auch den Regisseur. Živorad, genannt "Žika" Mitrović (1921-2005) war nicht nur Regisseur von ungefähr 20 Spielfilmen, sondern auch passionierter Comiczeichner. Man findet nicht viele Informationen über ihn in mir verständlichen Sprachen. Wenn ich das, was mir der Google Translator aus dem serbischen Wikipedia-Artikel über ihn übersetzt, richtig interpretiere, war er wohl Spezialist für historische oder zeitgeschichtliche Stoffe. Mitrović' Frau, die aus Sarajevo stammende Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin (aus dem Französischen) Frida Filipović (1913-2002), hatte die Idee zum Stoff, den sie 2000 auch als Roman veröffentlichte (ich habe aber vage Hinweise gefunden, dass der Roman unveröffentlicht schon vor dem Film existierte). Das Drehbuch schrieb Filipović unter Mitarbeit von Michael Mansfeld. Dieser Autor und Journalist, eigentlich hieß er Eckart Heinze, war in den 50er Jahren bekannt geworden, als er in Artikelserien die problemlose Fortsetzung von Nazi-Karrieren in der Bundesrepublik anprangerte, vor allem im Auswärtigen Amt. Die so treffende Zeichnung von Dr. Berger und von Walden ist wohl hauptsächlich sein Verdienst.
... und im Hotel
Der im Sommer und Herbst 1965 gedrehte Film lief im März 1966 unter seinem serbokroatischen Titel GORKE TRAVE in Jugoslawien an. In Deutschland hat es über ein Jahr länger gedauert: Premiere war im Juni 1967 bei den Berliner Filmfestspielen, die Kinoauswertung begann im darauffolgenden Juli. In zwei TV-Dokus über Artur Brauner, die kürzlich aus Anlass seines 100. Geburtstags zu sehen waren, wird gar behauptet, ZEUGIN AUS DER HÖLLE hätte gar keinen Verleih gefunden, aber das ist zum Glück etwas übertrieben. Schon 1966 erhielt ZEUGIN AUS DER HÖLLE das Prädikat wertvoll. Schön, könnte man denken, allerdings liest sich die Jury-Begründung mehr wie ein Verriss als wie ein Lob. "Vieles Bedenkliche ist allerdings geblieben", heißt es da, "und der Vorwurf, dass man sich filmtechnisch, dramaturgisch und auch in der Ausstattung nicht die bei einem solchen Stoff nochmehr als bei einem anderen notwendige Mühe gegeben hat, besteht nach wie vor." Außerdem geht daraus hervor, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE unter seinem Arbeitstitel BITTERE KRÄUTER zuvor bereits der Filmbewertungsstelle vorgelegt wurde - und durchgefallen ist. Erst unter seinem neuen Titel und nach offenbar größeren Änderungen hat er es im zweiten Anlauf geschafft. (Der Arbeitstitel bezieht sich auf "ungesäuertes (oder ungesalzenes) Brot und bittere Kräuter", die Juden beim Pessachfest essen sollen, was sich wiederum von zwei Stellen im Alten Testament bzw. den entsprechenden Büchern der Thora ableitet.) Leider habe ich keinerlei Informationen darüber gefunden, worin diese Änderungen bestanden, aber kleinere Sprünge in der Handlung und die Tatsache, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE nur 83 Minuten dauert, können unter diesen Umständen nicht verwundern. Wenn man Artur Brauners Gepflogenheiten kennt, dann weiß man, dass der Regisseur bei solchen nachträglichen Eingriffen nicht gefragt wurde. Allerdings war da ja auch noch der jugoslawische Coproduzent. Theoretisch könnte es also sein, dass der Film in Jugoslawien in seiner ursprünglichen Form gezeigt wurde. Dafür könnte sprechen, dass er in Jugoslawien über ein Jahr früher erschien, und dass in der serbischen Wikipedia eine Laufzeit von 87 Minuten angegeben wird. Mehr Informationen darüber liegen mir nicht vor, und Angaben über die Laufzeit sind ja oft unzuverlässig - es bleibt also vage. Möglicherweise hängt auch die Unklarheit bei zwei Namen mit dieser Frage zusammen. Den Fall von Frau Ritter/von Keller habe ich oben schon angesprochen, und Bianchi hat in ZEUGIN AUS DER HÖLLE den Vornamen Nino, aber in den üblichen Quellen und überhaupt in allen Texten zum Film, die ich gelesen habe, heißt er Carlos (oder manchmal Charlos). Falls "Frau von Keller" und "Carlos Bianchi" die Namen in BITTERE KRÄUTER waren und dann für ZEUGIN AUS DER HÖLLE noch kurzfristig geändert wurden, könnte die erstere Umbenennung möglicherweise mit dem Herrn Rupprecht von Keller zusammenhängen. Dieser Jurist und Diplomat konnte seine im Dritten Reich begonnene Karriere nahtlos in der Bundesrepublik fortsetzen. Als ZEUGIN AUS DER HÖLLE gedreht wurde, war er einer der deutschen Delegierten bei der UNO-Niederlassung in Genf. Falls sich die deutschen Namen im Film nicht Frida Filipović, sondern Michael Mansfeld ausgedacht hatte, hätte das sogar ein gezielter Seitenhieb von ihm sein können, der dann von Brauner entschärft wurde - aber das ist jetzt eine sehr vage Spekulation von mir.

Dr. Berger gibt ein Interview
Auch mit seinen ambitionierten Filmen wollte Artur Brauner Geld verdienen, und das spiegelt sich in der Starbesetzung von ZEUGIN AUS DER HÖLLE. Heinz Drache mal nicht auf der Spur des Hexers oder Zinkers, sondern eines ganz anderen Schurken - doch er macht seine Sache ausgezeichnet als ebenso korrekter wie engagierter Staatsanwalt, der in erster Linie daran denkt, wie er Dr. Berger hinter Gitter bringen kann, und erst in zweiter Linie, wie es Lea dabei geht - ohne das aber ganz aus den Augen zu verlieren. Auch der französische Star Daniel Gélin ist als Bora Petrović bestens besetzt, und Werner Peters und Alice Treff sind in ihren Rollen ganz in ihrem Element. Wahrhaft grandios aber ist Irene Papas, die höchste Schauspielkunst mit internationalem Ruhm kombinierte, den sie spätestens seit ALEXIS SORBAS genoss. Mit ihrer Besetzung ist Brauner und seinen jugoslawischen Partnern ein echter Coup gelungen. Ich will hier nicht in Lobhudelei auf Brauner verfallen. Es gibt viel, was man gegen ihn vorbringen kann, und Hans Schmid hat das in einem seiner gewohnt profunden Artikel in Telepolis ausführlich getan. Aber für einen Film wie ZEUGIN AUS DER HÖLLE muss man Atze Brauner dankbar sein.

Lea hat Albträume
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist 2013 in Deutschland auf DVD erschienen. Leider ohne die geringsten Spuren von Bonusmaterial - da hätte man mehr daraus machen können.

Dienstag, 7. August 2018

Wie man einen garantiert erfolgreichen Film dreht ...

... weiß natürlich niemand, denn sonst würden ja (zumindest im kommerziellen Sektor) nur noch lauter erfolgreiche Filme entstehen. Bekanntlich ist das bis jetzt nicht der Fall. Aber vier in England tätige Forscher glauben, der Antwort einen großen Schritt näher gekommen zu sein. Marco Del Vecchio von der University of Cambridge, Alexander Kharlamov und Glenn Parry, beide von der University of the West of England in Bristol, sowie Ganna Pogrebna von der University of Birmingham und vom Alan Turing Institute in London, haben dazu über 6000 Filme nach bestimmten Kriterien hin untersucht und ihre Ergebnisse kürzlich veröffentlicht. Dafür benutzten sie Methoden der computergestützten Sprachanalyse (Natural Language Processing, NLP) und komplexe Statistik. Eine vorläufige Version ihrer Arbeit präsentierten sie im Juli 2017 auf einem Forschungsseminar, die endgültige Fassung unter dem Titel The Data Science of Hollywood: Using Emotional Arcs of Movies to Drive Business Model Innovation in Entertainment Industries erschien im Juli 2018 in der Cornell University Library.

Worum geht es? Der Schlüsselbegiff im Titel und in der ganzen Arbeit ist emotional arcs, also "emotionale Bögen". Die Autoren führen diesen Begriff auf eine Arbeit zurück, die der eher als Romanautor bekannte Kurt Vonnegut 1981 in seinem Sammelband Palm Sunday veröffentlicht hatte. Man kann narrative Werke wie Romane und Spielfilme daraufhin untersuchen, wie sich die emotionale Befindlichkeit des Helden im Verlauf der Handlung entwickelt. (Begriffe wie "Held" oder "Protagonist" sind hier immer generisch, also geschlechtsneutral gemeint.) Beispielsweise kann sich der Held von bescheidenen Anfängen zu enormen Höhen aufschwingen, aber am Ende abstürzen, so dass er wieder genauso schlecht oder noch schlechter dasteht als am Anfang - die bekannte Geschichte von Aufstieg und Fall. Natürlich geht es auch umgekehrt - der Protagonist fällt in ein tiefes Loch und rappelt sich langsam wieder auf. Solche Entwicklungen lassen sich anschaulich in zweidimensionalen Koordinatensystemen veranschaulichen, in denen die x-Achse die Handlungszeit und die y-Achse Glück und Unglück des Protagonisten repräsentieren. Auch solche Grafiken hat den Autoren zufolge Vonnegut in seinem erwähnten Text als erster verwendet. Ein Forscherteam vom Computational Story Laboratory der University of Vermont hat 1327 literarische Werke (vorwiegend, aber nicht nur, Romane), die im Projekt Gutenberg frei zugänglich sind, mit Methoden des NLP auf solche emotionalen Verläufe hin untersucht und ihre Ergebnisse 2016 veröffentlicht (Andrew J. Reagan et al.: The Emotional Arcs of Stories are Dominated by Six Basic Shapes). Mit Hilfe anspruchsvoller mathematischer und statistischer Methoden identifizierten die Forscher aus Vermont sechs Grundmuster, die fast allen untersuchten Werken zugrunde lagen, und belegten diese mit griffigen Namen:
Rags to Riches - Aufstieg des Protagonisten
Riches to Rags - Fall des Protagonisten
Man in a Hole - Fall und Wiederaufstieg
Icarus - Aufstieg und Fall
Cinderella - Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg
Oedipus - Fall, Wiederaufstieg und endgültiger Fall
Die Forscher hatten dazu nur englischsprachige Werke berücksichtigt und mit bestimmten Filtern die Zahl weiter reduziert - wie allgemeingültig diese Resultate sind, sei dahingestellt. Ganna Pogrebna und ihre Mitstreiter untersuchten in ihrer Arbeit nun zwei Fragestellungen: Lassen sich diese sechs Grundmuster auch in Filmen identifizieren, und wie wirken sich diese, statistisch betrachtet, auf den Erfolg der Filme aus? Auch hier wird wieder mathematisches Geschütz aufgefahren: Man findet Zahlenreihen mit bis zu sieben signifikanten Stellen, Methoden wie die diskrete Kosinustransformation (DCT) und eine Formel wie diese:


Untersucht wurden 6174 Filme. Da das Datenmaterial, wie in der Studie von 2016, in schriftlicher Form vorliegen musste, wurden dazu englischsprachige Untertiteldateien von Opensubtitles.org herangezogen. Weitere Informationen wurden von der IMDb sowie zu Einnahmen und Kosten der Filme von The Numbers bezogen. Aus zunächst nicht weniger als 156.568 Untertiteldateien wurden solche ausgewählt, zu denen auch die Daten zu (geschätzten) Produktionskosten und zu einheimischen und weltweiten Einspielergebnissen vorlagen. "Einheimisch" bedeutete in den meisten (aber nicht allen) Fällen: in den USA. Nach einigen weiteren Einschränkungen, die eine möglichst hohe Qualität der Untertitel sicherstellen sollten, ergaben sich schließlich die 6174 berücksichtigten Filme.

Die Vorgehensweise der Autoren (Abbildung 3 in der Originalarbeit)
Dieser Datenkörper wurde dann mit einem geeigneten Programmpaket untersucht. So wurde jedem Film eine entsprechende Kurve des emotionalen Verlaufs zugeordnet, und zwar mit einer zeitlichen Auflösung von jeweils einem Prozent der Laufzeit. Oder anders ausgedrückt, in jedem Film wurde genau 100 Mal gemessen, wie gut es dem Protagonisten gerade geht. Und schließlich wurden diese über 6000 Einzelergebnisse einer statistischen Gesamtschau unterworfen (und hier wird die Mathematik richtig kompliziert und zu hoch für mich). Das Ergebnis zur ersten untersuchten Frage ist eindeutig: Die genannten sechs Kategorien von emotional arcs lassen sich auch in Filmen identifizieren. Jeder Versuch einer anderen Einteilung (versuchsweise wurden auch 4, 8, 10 und 12 Cluster statt 6 getestet) ergibt schlechtere statistische Übereinstimmungen.

Die sechs Grundmuster - links die Grafiken, rechts jeweils drei Beispiele (Abb. 4 in der Originalarbeit)
Beim Erfolg der Filme wurden nicht nur die Einspielergebnisse erhoben, sondern auch Oscars und sonstige Filmpreise, Kritiker- und Publikumsmeinungen berücksichtigt (diese Daten wurden der IMDb entnommen). Das Hauptaugenmerk lag aber auf dem kommerziellen Erfolg. Beim Brutto-Einspielergebnis auf dem einheimischen Markt ergab sich folgende Reihenfolge:
Man in a Hole - 37,48 Mio. Dollar pro Film
Cinderella - 33,63 Mio. Dollar
Oedipus - 31,44 Mio. Dollar
Icarus - 30,57 Mio. Dollar
Riches to Rags - 29,94 Mio. Dollar
Rags to Riches - 29,71 Mio. Dollar
(Durchschnitt 32,61 Mio. Dollar)
Für den weltweiten Einspielerfolg lagen nicht in allen Fällen Daten vor, aber die Autoren konnten zeigen, dass sich die Ergebnisse für den einheimischen und den weltweiten Erfolg generell nicht signifikant unterscheiden (abgesehen von einem Skalierungsfaktor - der weltweite Gewinn ist natürlich immer größer als in einem bestimmten Land). Die durchschnittliche Filmlänge liegt übrigens in allen sechs Kategorien zwischen 108 und 110 Minuten, hat also keinen Einfluss auf das Ergebnis. In etlichen Presseberichten über die Studie wurde als Fazit hervorgehoben, Man in a Hole sei die Formel für einen erfolgreichen Film, was natürlich eine grobe Vereinfachung darstellt. Außerdem ist das bei weitem nicht das einzige Ergebnis. So zeigt sich etwa bei den IMDb User Ratings ein anderes Bild:
Rags to Riches - 6,64
Icarus - 6,54
Oedipus - 6,52
Riches to Rags - 6,52
Cinderella - 6,51
Man in a Hole - 6,45
(Durchschnitt 6,52)
Die Unterschiede sind nicht groß, aber (wie die Autoren nachweisen) statistisch signifikant. Und ausgerechnet Man in a Hole schneidet hier am schlechtesten ab, während diese Kategorie bei der Anzahl der abgegebenen User Ratings sehr deutlich führt, ebenso bei der Zahl der Rezensionen (User Reviews), wenn auch weniger deutlich. Filme der Kategorie Man in a Hole sind also nicht etwa deshalb so erfolgreich, weil sie das Publikum am zufriedensten zurücklassen, sondern eher weil sie am meisten Aufmerksamkeit erregen und zu Diskussionen führen. Ähnlich verhält es sich mit den Kritikermeinungen (gemessen am IMDb Meta Score) - auch hier schneidet Man in a Hole am schlechtesten ab. All diese und noch mehr Zusammenhänge (beispielsweise, was Filmpreise betrifft) haben die Autoren mit Methoden wie der OLS-Regressionsanalyse (gewöhnliche Kleinste-Quadrate-Methode) abgesichert - wie oben schon erwähnt, kann man in der Arbeit einige größere Zahlenkolonnen studieren. Insbesondere wenden sich die Autoren noch der Frage zu, inwiefern das Einspielergebnis nicht nur vom emotional arc, sondern auch vom Budget abhängt. Denn die oben angeführte Reihenfolge, mit Man in a Hole an der Spitze, ist ein Durchschnittswert für billige und teure Filme, muss aber nicht unbedingt für billige und für teure Filme gleichermaßen gelten. Dazu wurden die Filme in acht Budget-Klassen eingeteilt, von "unter einer Mio. Dollar" bis "über 100 Mio. Dollar". Es stellte sich heraus, dass bei Man in a Hole und Rags to Riches der zu erwartende Gewinn relativ linear vom Budget abhängt, während es bei den anderen vier emotional arcs günstige und ungünstige Budget-Fenster gibt. Ferner untersuchen die Autoren auch noch den Zusammenhang von Einspielerlösen, emotional arc und Genre der Filme. Es kamen dabei die 22 Genre-Kategorien der IMDb zum Einsatz. Ich will es aber nun hier bewenden lassen - wer noch mehr Details wissen will, muss die Studie selbst lesen.

Korrelationen zwischen (geschätztem) Budget und Brutto-Einnahmen, oben auf dem
einheimischen Markt und unten weltweit (CI steht für Konfidenzintervall)
(Abb. 5 in der Originalarbeit)
Die letztgenannten beiden Aspekte der Arbeit könnten von Studiobossen und ihren Buchhaltern aufmerksam studiert werden (falls diese den "Eierköpfen" aus der Wissenschaft überhaupt vertrauen). Es sei aber nochmals betont, dass es sich im Wesentlichen um eine Studie über Hollywoodfilme handelt. Kein Mensch weiß, wie das, um nur ein Beispiel zu nennen, mit Bollywood aussieht. Und wenn ein Film erst mal gedreht wird, dann spielen solche Dinge wie Regie, Schauspieler, Schnitt oder Musik ja auch noch eine Rolle. Und es wird auch weiterhin erfolgreiche und weniger erfolgreiche Werbekampagnen geben.

In einem Artikel im Guardian wird Ganna Pogrebna, die Sprecherin (correspondig author) der Gruppe, mit dem Satz "We are not trying to kill the film industry" zitiert, der so verkürzt etwas merkwürdig klingt. Damit gemeint war (wie Pogrebna mir freundlicherweise erklärt hat), dass mit der vermeintlichen Wunderformel Man in a Hole nicht die Kreativität in der Filmindustrie untergraben werden soll.

Das letzte Wort sollen die Autoren der Studie haben:

"What are the implications of our result on the business models of the entertainment industry? On the one hand, it may appear that when evaluating movie scripts, motion picture production companies should opt for scripts offering Man in a Hole emotional journeys. Yet, on the other hand, this would be an oversimplification of our results. We show that when emotional arcs are combined with different genres and produced in different budget categories any of the 6 emotional arcs may produce financially successful films. Therefore, a careful selection of the script-budget-genre combination will lead to financial success."

Freitag, 20. Juli 2018

Die Filme von Manuel Guimarães - Teil 2


Teil 1: Die Spielfilme der 50er Jahre
Teil 2: Die 60er Jahre und die Kurzfilme


O CRIME DA ALDEIA VELHA (1964)
Darsteller: Barbara Laage (Joana), Rogério Paulo (Rui), Mário Pedro (António), Alma Flora (Rita), Maria Olguim (Zefa), Maria Schultz (Florinda), Rui Gomes (Padre Júlio), Berta Fernandes (Maria da Cruz), Glicínia Quartín (Teresa), Luís Tito (Padre Cláudio), Miguel Franco (Miguel)

O CRIME DA ALDEIA VELHA - ein bizarres Ritual am Beginn
Wie wir im ersten Teil gesehen haben, steckte Manuel Guimarães nach dem Fiasko mit A COSTUREIRINHA DA SÉ tief in der Krise. Daraus erlöst hat ihn der Produzent António da Cunha Telles, der an Guimarães' Fähigkeiten glaubte und ihn 1963 mit der Regie von O CRIME DA ALDEIA VELHA betraute. Nach Kleinstädten in den ersten beiden und den Metropolen Lissabon und Porto in den nächsten beiden Filmen sind wir nun in einem abgelegenen, archaischen Bergdorf gelandet. Aldeia Velha bedeutet "Altes Dorf", es ist aber auch den Name des Orts. Der Titel steht also für "Das Verbrechen von Aldeia Velha". Der Ortsname ist fiktiv, aber schockierenderweise ein Platzhalter für einen echten Ort. Denn O CRIME DA ALDEIA VELHA und das gleichnamige zugrundeliegende Theaterstück entstanden in Anlehnung an einen realen Vorfall, der sich im Februar 1933 im Dorf Soalhães im Gebirgszug der Serra do Marão im Norden Portugals ereignete - damals wurde eine gewisse Arminda de Jesus, die angeblich vom Teufel besessen war, lebendig verbrannt (die vier Hauptschuldigen wanderten für ca. 13 Jahre hinter Gittern bzw. in die Verbannung in den Kolonien).

O CRIME DA ALDEIA VELHA - im Dorf darf durchaus geflirtet werden
Die Filmhandlung wurde aber ins 19. Jahrhundert verlegt, wie man aus einer Einblendung am Anfang erfährt - vielleicht, um der Zensur weniger Angriffsfläche zu bieten. Bei einer Geschichte wie dieser könnte einem auch irgendwie wohler sein, wenn sie in fernerer Vergangenheit spielt als nur gut 30 Jahre vor der Premiere des Films - wenn man nicht um die realen Ereignisse in Soalhães wüsste (die das portugiesische Publikum der 1960er Jahre gewiss noch im Hinterkopf hatte, denn der Mord und die beiden darauf folgenden Prozesse im Jahr 1934 erregten viel Aufsehen). Wir haben es also mit dem fiktiven und doch realen Dorf Aldeia Velha zu tun, im 19. Jahrhundert, aber in gewissem Sinn auch 1933 und sogar 1959/1964 (worauf ich noch zurückkomme). Es ist am Rand des Gebirges gelegen, ein Hort der Rückständigkeit und des Aberglaubens. Das wird schon von der Eröffnungsszene etabliert, die ein bizarres Ritual zeigt. Nachts, auf einer Anhöhe, wird unter einem Baum, der als eine Art Altar dient, ein stark verwirrter Jüngling von sieben alten Frauen in traditionellen schwarzen Kapuzengewändern festgehalten. Eine der Alten sticht eine Krähe ab und malt mit deren Blut Kreuze auf entblößte Körperstellen des Jungen. Dazu murmelt sie christlich verbrämte Beschwörungsformeln, die den Jungen vom Einfluss der schönen Joana befreien sollen, der er verfallen ist, und die anderen der Alten antworten kollektiv darauf. Das ganze ist eine Art von Exorzismus, hat aber schon Züge eines Voodoo-Rituals, und literarisch erinnert es an das Wechselspiel von Chorführerin und Chor in einer antiken griechischen Tragödie, wie man es im Film etwa in Michael Cacoyannis' ELEKTRA zu sehen und hören bekommt. Diese unglaublich starke Eröffnung etabliert also die Erkenntnis, dass ein Teil der Dorfbewohner noch an Besessenheit durch Dämonen oder den Teufel persönlich glaubt, später wird auch noch die Existenz von Werwölfen ins Spiel gebracht. Zugleich ist die Anfangsszene Ausdruck der Verteufelung von Joanas sexueller Anziehungskraft, denn sie ist die schönste Frau im Dorf.

O CRIME DA ALDEIA VELHA - tödlicher Zweikampf mit Axten - und Joana amüsiert sich dabei
Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass Aldeia Velha ein Hort der Prüderie und des Puritanismus wäre. Ganz im Gegenteil: Die jungen Leute flirten und küssen sich ganz ungeniert in der Öffentlichkeit. Solange die übliche Ordnung eingehalten wird (erst wird geflirtet, dann wird geheiratet, dann kommen die Kinder), ist alles in Ordnung. Joanas "Verbrechen", das sie am Ende das Leben kostet, besteht darin, dass sie sich dieser Ordnung verweigert. João Claro, wie der geistig zurückgebliebene Milchbubi aus der Eröffnungssequenz heißt, hat ohnehin keinerlei Chancen bei Joana. Doch auch zwei gestandene junge Männer, die Holzfäller Rui und António, haben es auf sie abgesehen. Und jeder der beiden tut in der Öffentlichkeit so, als gehöre sie schon ihm. Wobei Rui mit der auch nicht hässlichen Manuela bereits eine Geliebte hat, was jeder im Dorf einschließlich Joana auch weiß. Während António die nicht minder hübsche Margarida haben könnte, sich aber ganz auf Joana konzentriert. Gerade die arrogante Selbstsicherheit dieser beiden Bewerber stößt Joana ab. Sie pocht auf ihr Selbstbestimmungsrecht und weist beide mehrmals sehr deutlich zurück. Und dieser Zustand, der nun schon eine Weile anhält, bringt viele im Dorf gegen sie auf - die jungen vermeintlichen Nebenbuhlerinnen, vor allem aber die alten Frauen. Deren schlimmste ist Zefa, die Leiterin des Rituals, und sie ist auch diejenige, die am stärksten abergläubischen Ideen anhängt.

O CRIME DA ALDEIA VELHA - nächtliche Prozession der Dorffrauen
Natürlich führt die Situation auch zu heftiger Rivalität zwischen Rui und António, die irgendwann zu offener Konfrontation führen muss. Der erste Kampf wird noch auf symbolischer Ebene ausgetragen, nämlich in Form eines spontanen Holzfällens um die Wette (wobei hier das Schnitttempo stark anzieht, so dass wir es mit einer regelrechten Montagesequenz im Stil eines russischen Stummfilms zu tun haben). Doch bei der nächsten Konfrontation gehen die beiden Streithähne auf dem Dorfplatz mit Äxten aufeinander los - und bleiben beide tot auf der Strecke. Dieser tödliche Zweikampf, nach einer Stunde und damit ziemlich genau in der Mitte des Films, bildet eine Zäsur, denn während Joana bis dahin das Heft weitgehend selbst in der Hand hatte, wird sie ab jetzt zum passiven Opfer. Die meisten Dorfbewohner machen sie für die beiden Toten verantwortlich. Das ist nicht mal ganz falsch, denn während Joana anfangs die beiden Kontrahenten nur abgewiesen hat, war sie schließlich von ihnen so genervt, dass sie sie bewusst gegeneinander ausgespielt hat. Noch etwas wird ihr zum Verhängnis: Schon in der ersten Filmhälfte hatte sie kurz das Baby der jungen Teresa gehütet, das genau in dieser Zeitspanne krank wurde und Fieber bekam. Weil es in der Gegend keinen Arzt gibt (es kommt nur einer in einem langfristigen Turnus vorbei, einmal im Monat, wenn es gut läuft), bleibt das Baby unbehandelt, abgesehen von Zefas frommen Zaubersprüchen, und stirbt schließlich. Und natürlich ist nun Joana die Schuldige, die das Baby verhext haben muss, wie Teresa ernsthaft behauptet.

O CRIME DA ALDEIA VELHA - bei Teresa
Joana hat auch Verteidiger. Da ist der Gemeindevorsteher, Krämer und Gastwirt Miguel, der wohlhabendste Mann am Ort, der wohl auch ein bisschen mehr Bildung genoss als die meisten anderen, und gegen den abergläubischen Unsinn wettert. Einmal ereifert er sich darüber, dass die Schulkinder 10 km bis zur nächsten Grundschule pilgern müssen, weshalb viele erst gar keine Schule besuchen, und spricht damit einen der tieferen Gründe für Aldeia Velhas (und Portugals) Misere an. Da ist Padre Júlio, der junge neue Pfarrer im Ort, der selbst aus Aldeia Velha stammt, aber lange auf dem Priesterseminar war. Er erweist sich als ein Vertreter der Vernunft und der Sanftmut, der vom grassierenden aggresiven Aberglauben geradezu schockiert ist. Auch Padre Júlios Mutter Florinda ist zunächst auf seiner Seite. Doch Zefa, Antónios Mutter Rita, João Claros Großmutter Maria da Cruz, Teresa und andere sind längst vom blanken Hass auf Joana geleitet, und sie agitieren so lange, bis Florinda die Seiten wechselt und an der Urteilskraft ihres Sohnes zweifelt. Der sieht sich mit der Situation zunehmend überfordert und erbittet Hilfe vom Bischof. Der nun entsandte erfahrene Padre Cláudio untersucht den Fall und kommt zum Schluss, dass Joana völlig unschuldig ist. Doch seine Autorität gilt nur, solange er anwesend ist. Er reist aber gleich wieder ab, und unglücklicherweise ist es Júlio, der ihn mit seiner Kutsche zurück in die Stadt fährt. Jetzt haben die Fanatiker freie Bahn, denn Miguel wird von Ritas drei verbliebenen Söhnen, den Brüdern des toten António, und weiteren Männern außer Gefecht gesetzt.

O CRIME DA ALDEIA VELHA
Joana, die schon zwei Lynchversuche durch Flucht in Júlios Obhut überstanden hat, erleidet nun einen hysterischen Nervenzusammenbruch, ist nicht mehr Herrin ihres Verstands, und glaubt selbst, besessen zu sein. Zefa kennt die Lösung: Joana muss mit ihrer eigenen Zustimmung einem reinigenden Feuer ausgesetzt werden. Wie Zefa fest glaubt und verkündet, wird dadurch der Teufel aus ihr ausgetrieben werden, aber ihr Körper wird die Prozedur unversehrt überstehen. Und alle glauben das nun auch; Joana wird in einer Prozession fast aller Dorfbewohner in eine verfallene Burgruine auf einem felsigen Gipfel geführt, wo schon der Scheiterhaufen wartet - das ist wie ein neuzeitlicher Kreuzweg inszeniert. Ein Scheiterhaufen ist ein Scheiterhaufen ist ein Scheiterhaufen. Als er brennt und die ersten der gaffenden Zuseher erkennen, dass Joana nicht gereinigt, sondern sterben wird, versuchen sie nicht etwa, das Spektakel zu stoppen, sondern verlassen fluchtartig den Gipfel, verkriechen sich in ihren Häusern und verrammeln die Türen und Fensterläden. Immer mehr flüchten vom Schauplatz, als letzte Zefa, und am Ende verbrennt Joana ganz allein, abgesehen davon, dass João Claro, der nicht begreift, was da vor sich geht, verstört aus der Ferne zusieht. Als der entsetzte Padre Júlio zurück ist und auf dem Gipfel ankommt, findet er nur noch Joanas verkohlte Überreste.

O CRIME DA ALDEIA VELHA
Wie man in NASCI COM A TROVOADA erfährt, wollte Guimarães mit O CRIME DA ALDEIA VELHA nicht unbedingt ein Meisterwerk drehen, sondern nur einen guten Film machen. Dieses Soll hat er übererfüllt, denn O CRIME DA ALDEIA VELHA ist in der Tat ein Meisterwerk, ein grandioses Drama voll emotionaler Wucht. Und Guimarães gelingt es vorzüglich, die karge, felsige Landschaft und die teilweise noch archaisch wirkende Architektur des Bergdorfs (es wurde im Dorf Monsanto gedreht, zusätzlich wurden aber auch umfangreiche Studiokulissen gebaut) in die Handlung zu integrieren. Die lange Schlusssequenz mit der Prozession zum Gipfel und der Verbrennung bildet auch in dieser Hinsicht den Höhepunkt des Films. O CRIME DA ALDEIA VELHA hat mich etwas an die ebenso grandiosen Aufnahmen aus dem Kaukasus in Tengis Abuladses DAS GEBET erinnert, und auch die verhärmten alten Frauen in ihren strengen schwarzen Gewändern erinnern an jenen Film (worauf bereits Alex Klotz hingewiesen hat) sowie an den schon erwähnten ELEKTRA von Cacoyannis.

O CRIME DA ALDEIA VELHA - Kreuzweg zum Scheiterhaufen
Ausgehend von den Ereignissen in Soalhães, veröffentlichte der Dramatiker Bernardo Santareno 1959 sein Bühnenstück O Crime da Aldeia Velha, wobei er den realen Stoff mit eigenen Themen und Interessenschwerpunkten anreicherte (Santareno war auch ausgebildeter und langjährig praktizierender Psychiater). Und Santareno beteiligte sich dann mit Guimarães an der Adaption des Stücks für das Drehbuch, und er schrieb die Dialoge des Films. So wie sich Anfang der 50er Jahre mit Guimarães und Alves Redol zwei fanden, die künstlerisch und politisch gut zueinander passten, so galt das nun auch für Guimarães und Santareno. Beide waren linksgerichtet (und damit automatisch in Opposition zum herrschenden System) und an Außenseitern und marginalisierten Bevölkerunsgruppen interessiert. "Im Hintergrund steht die Erwartung, das Publikum möge in der vorgeführten Atmosphäre der Unterdrückung, des Denunziantentums und des Rassenhasses die eigene aktuelle politische Situation wiedererkennen (das faschistische Salazar-Regime, die Verbrechen der Geheimpolizei PIDE, die Kolonialkriege), ohne daß es explizit genannt werden müßte (Gefahr der Zensur oder des Verbots). Das Stück erschließt sich dem Zuschauer erst dann in der vom Autor intendierten Weise, wenn er beginnt, die Vorgänge jener Epoche mit seiner eigenen Zeit zu vergleichen" (Alexander Schütz in Kindlers Neues Literaturlexikon). Dieses Zitat aus dem Kindler bezieht sich nicht auf O Crime da Aldeia Velha, sondern auf Santarenos Stück O Judeu (Der Jude) von 1966 (das trotz der Verfremdung umgehend verboten wurde), lässt sich aber auch zwanglos auf das frühere Stück übertragen. Santareno wollte also etwas über das zeitgenössische Portugal aussagen, und das war ganz im Sinn von Guimarães. Obwohl O CRIME DA ALDEIA VELHA von einem staatlichen Filmfonds gefördert wurde, schlug auch hier hinterher wieder die Zensur zu: Szenen mussten weggeschnitten und Dialoge geändert werden. Trotzdem ist O CRIME DA ALDEIA VELHA mit 120 min Guimarães' bislang längster Film geworden (die in den üblichen Quellen zu findende Angabe 105 min ist falsch).

O CRIME DA ALDEIA VELHA - auf dem Berggipfel
Mit der Französin Barbara Laage arbeitete Guimarães erstmals mit einer ausländischen Darstellerin (sie wurde von einer portugiesischen Kollegin nachsynchronisiert). Ich nehme an, dass Produzent António da Cunha Telles sie eingebracht hat, denn er war zuvor auch einer der Produzenten der in Portugal gedrehten französisch-portugiesischen Coproduktion VACANCES PORTUGAISES (FERIEN IN PORTUGAL), in der Laage eine Rolle hatte. Sie war eine vorzügliche Wahl und spielt Joana in allen Phasen souverän - die selbstbestimmte in der ersten Filmhälfte, die sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen kann, als die beiden Streithähne mit Äxten aufeinander losgehen, und die geschundene in der zweiten Hälfte.

O CRIME DA ALDEIA VELHA - das Ende



O TRIGO E O JOIO (1965)
Darsteller: Igrejas Caeiro (Loas), Mário Pereira (Barbaças), Eunice Muñoz (Joana), Maria Manuela Santos (Alice), Manuel da Fonseca (Vieirinha), Barreto Poeira (Maldonado), Lídia Franco (Mariana)

O TRIGO E O JOIO - Joana und Alice
Mit O TRIGO E O JOIO kehrte Guimarães zu seinen neorealistischen Anfängen zurück. Wir sind nun in einem Getreideanbaugebiet im Alentejo im südlichen Portugal angelangt. Der Titel bedeutet "Der Weizen und die Spreu", und vermutlich ist das nicht nur botanisch gemeint, sondern auf die Menschen in der Handlung bezogen. Loas ist ein armer, aber unabhängiger Weizenbauer, der mit seiner Frau Joana und der ca. zehnjährigen Tochter Alice in einer ärmlichen Steinhütte bei seinem Feld lebt. Seit kurzem hat er auch den jüngeren Barbaças als Partner. Was jetzt noch fehlt, ist ein Tier, um den Pflug zu ziehen. Momentan wird der Boden noch von Loas und Barbaças selbst mit Handgeräten umgegraben, aber so wird das auf Dauer nichts. Die Minimallösung für den Pflug, die sich Loas gerade so leisten kann, ist ein Esel. Und so wird alles mühsam zusammengesparte Geld zusammengekratzt und Barbaças damit zum Jahrmarkt im nächsten Hauptort geschickt, um ein Tier zu kaufen. Doch der etwas naive Barbaças läuft dem Schlitzohr Vieirinha über den Weg, der ihn pausenlos beschwatzt, dabei langsam betrunken macht und ihm am Ende mit Hilfe zweier leichter Damen das Geld aus der Tasche zieht - ohne Esel als Gegenleistung. Eine inoffizielle Verhandlung beim lokalen Großgrundbesitzer Maldonado, der hier alle Macht hat, bleibt ohne echtes Ergebnis - das Geld ist weg. Maldonado bietet nun scheinbar großzügig Geld zum Kauf des Esels an, doch damit würde Loas in seine Abhängigkeit geraten. Barbaças verhindert das energisch und verspricht, dass er selbst das ganze Geld zurückzahlen wird. Dazu verdingt er sich als Erntehelfer, ausgerechnet auf den Weizenfeldern von Maldonado - eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Es ist eine Knochenarbeit: Das Getreide wird in gebückter Haltung mit Handsicheln geerntet. Doch Barbaças schuftet für zwei und schafft es tatsächlich, das verlorene Geld wieder zu verdienen. Nebenbei hat er noch eine kurze Romanze mit der jungen Erntehelferin Mariana. Doch die meisten Helfer, auch Mariana, sind Wanderarbeiter und kehren am Ende der Erntesaison in ihre Heimat zurück. Mariana bleibt nur eine Episode.

O TRIGO E O JOIO - Erntehelfer
Immerhin kann jetzt mit dem Geld tatsächlich ein Esel von einem alten Ehepaar gekauft werden, und in dieser Phase, grob im dritten Viertel des Films, herrscht eine sehr entspannte Stimmung auf dem Hof und damit im Film. Der Esel verrichtet seine Arbeit, wie er soll, und Alice freundet sich richtiggehend mit ihm an. Doch dann ziehen sehr dunkle Schatten auf: Es stellt sich heraus, dass die eigentliche Vorbesitzerin des Esels an Lepra litt - und nun entwickelt Alice merkwürdige und schnell wachsende Flecken auf der Haut. Loas, der im Grunde ein Träumer und Idealist und obendrein abergläubisch ist, will Esel, Tochter und "das Land" mit einem halb magischen Feuerritual kurieren, das er irgendeinem alten Buch entnommen hat. Selbst wenn man nicht O CRIME DA ALDEIA VELHA im Hinterkopf hat, ist einem dabei als Zuschauer nicht wohl zumute - das kann so nicht gutgehen. Joana dagegen ist Realistin, und sie dringt darauf, den Esel entweder sofort zu verkaufen oder zu erschießen. Loas sträubt sich heftig dagegen, denn das würde bedeuten, dass er in den letzten Monaten absolut nichts erreicht hat und von vorn anfangen muss. Eine schwerwiegende Entscheidung steht also an ...

O TRIGO E O JOIO - entspanntes Intermezzo: Barbaças wird ein Bad aufgenötigt
O TRIGO E O JOIO ist in jeder Hinsicht bescheidener als O CRIME DA ALDEIA VELHA, doch das ist kein Fehler. Wahrscheinlich wäre es gar nicht möglich gewesen, dem Vorgänger noch eins draufzusetzen. Stattdessen setzt der Film dem harten Leben der Kleinbauern und Landarbeiter ein Denkmal, thematisiert die Abhängigkeit vom Großgrundbesitzer, der die Arbeiter im Grunde gnadenlos ausbeutet und sich dann auch mal generös und spendabel zeigen kann, und er betont wieder einmal den Wert der Solidarität. Thematisch und stilistisch steht O TRIGO E O JOIO damit von Guimarães' anderen Filmen natürlich NAZARÉ am nächsten. Und ähnlich wie bei NAZARÉ wird in einer Einblendung auf die Mitwirkung der Bevölkerung des Alentejo hingewiesen. Einige Ellipsen in der Handlung könnte man für bewusste Drehbuchentscheidungen halten, doch wieder einmal hat die Zensur zugeschlagen und Szenen entfernt, und bei zwei oder drei Lücken (eine gleich ganz am Anfang) ist das von vornherein offensichtlich. Produziert haben wieder António da Cunha Telles sowie der Schriftsteller Fernando Namora, von dem die Romanvorlage stammt, und Hauptdarsteller Igrejas Caeiro. Von den Darstellern haben wir die meisten in den vorherigen Filmen noch nicht gesehen, doch Maria Olguim ist wieder mit dabei (sie spielt die alte Verkäuferin des Esels), und sie ist damit in allen sechs besprochenen Filmen mit von der Partie. O TRIGO E O JOIO ist also ein durchaus sehenswerter Film, aber ein bisschen aus der Zeit gefallen - 1965 war die Zeit des Neorealismus ja eigentlich schon längst vorbei. Nicht nur in dieser Hinsicht hat mich O TRIGO E O JOIO ein bisschen an GLI ULTIMI von Vito Pandolfi und David Maria Turoldo erinnert.

O TRIGO E O JOIO - endlich ein Esel!



1965 ging Guimarães nach O TRIGO E O JOIO mit seiner Frau auf eine längere Reise nach Italien, finanziert durch einen Zuschuss der Gulbenkian-Stiftung in Lissabon. Die meiste Zeit davon verbrachte er in Rom. Er saß in der Jury beim in diesem Jahr 1965 erstmals stattfindenden Filmfestival in Pesaro und knüpfte Kontakte mit der italienischen Filmwelt, z.B. zu Pietro Germi, Elio Petri, Alberto Lattuada, Mario Monicelli, De Sica, Fellini und Pasolini. Zusammen mit den Produzenten von O TRIGO E O JOIO organisierte er, dass eine Kopie gegen den Widerstand der portugiesischen Behörden zum Filmfestival in Venedig geschmuggelt wurde. Ich weiß aber nicht, in welchem Rahmen er dort gezeigt wurde - im Wettbewerb lief er jedenfalls nicht. In Rom organisierte Guimarães eine Privatvorführung von O TRIGO E O JOIO vor Filmtechnikern und Verleihern und erntete Glückwünsche - aber einen Verleih für den Film in Italien oder einen Auftrag für einen italienischen Film bekam er nicht.

NASCI COM A TROVOADA - Manuel Guimarães (mitte) bei einer Kundgebung während der Nelkenrevolution
In Portugal drehte Guimarães dann noch zwei Spielfilme (die ich beide nicht gesehen habe). Doch zunächst begann er 1967 mit der Arbeit an O BANDOLEIRO, der zuvor bereits dreimal verfilmten Geschichte des illustren Revolutionärs und Banditen Zé do Telhado (1818-75), der Züge eines Robin Hood aufweist. Doch die Finanzierung brach zusammen, und er musste dieses Projekt aufgeben. (In der IMDb ist der Film unter dem Titel ZÉ BRAVO, O BANDOLEIRO verzeichnet, als gäbe es ihn tatsächlich.) Guimarães steckte mal wieder tief in der Krise und war von Selbstzweifeln geplagt. Seine Gesundheit war auch schon angeschlagen, und er glaubte sich dem Tod nahe. Erst 1972, sieben Jahre nach O TRIGO E O JOIO, kam mit LOTAÇÃO ESGOTADA der nächste Spielfilm. Guimarães hatte genug von den Kurzfilmen, wollte LOTAÇÃO ESGOTADA aber eigentlich auch nicht drehen, aber Artur Semedo, der auch die Hauptrolle spielt, überredete ihn dazu. Es handelt sich um eine Satire auf kleinbürgerliche Hierarchien, die sich in der Lokalpolitik widerspiegeln. Unnötig zu erwähnen, dass die Zensur Einwände erhob. Zu der Zeit hatte Guimarães auch Pläne für einen autobiografischen Film, doch das konnte er nicht umsetzen. Im Grunde hat dann Leonor Areal mit NASCI COM A TROVOADA stellvertretend diesen Film gedreht - den Titel hatte sich schon Guimarães ausgesucht.

NASCI COM A TROVOADA - Guimarães (links) bei der Besetzung der Zensurbehörde
Dann, im April 1974, der große Umschwung: Der Putsch linker Offiziere, die sofort weite Teile der Bevölkerung hinter sich hatten, so dass daraus die Nelkenrevolution wurde. Die Diktatur war vorbei, die Demokratie wurde eingeführt, die Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen. Guimarães erklärte in einem Brief an Álvaro Cunhal, in die bislang verbotene Kommunistische Partei Portugals eintreten zu wollen (ob er tatsächlich Mitglied wurde, weiß ich nicht). Schon wenige Tage nach dem Umsturz hatte er sich führend an einer Besetzung der Zensurbehörde Inspeção-Geral dos Espetáculos beteiligt - kaum einer hatte mehr Grund dazu als er. Und 1974 nahm er noch einmal einen Film in Angriff, CÂNTICO FINAL, nach einem 1960 erschienenem Roman von Vergílio Ferreira. Es handelt sich um ein Drama um einen todkranken Hochschullehrer, der in sein Heimatdorf in der Serra da Estrela zurückkehrt, um dort zu sterben, und es ist Guimarães' zweiter Farbfilm. Er konnte den Film abdrehen, starb aber im Januar 1975 vor dem endgültigen Schnitt. Die Endfertigung besorgte Dórdio Guimarães, CÂNTICO FINAL erschien Mitte 1976.




Die Kurzfilme


Manuel Guimarães studierte ab 1931, also schon mit 16 Jahren, Malerei in Porto, und das schlug sich deutlich in seinen dokumentarischen Kurzfilmen nieder: In den meisten geht es um die Bildenden Künste, und der Schwerpunkt liegt dabei auf Porto. Daraus sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dass die Filme Herzensangelegenheiten für ihn gewesen wären. Tatsächlich hat er sie nur zum Broterwerb gedreht, um die langen Pausen zwischen seinen Spielfilmen zu überbrücken. Auf den DVDs haben die Filme leider bis auf eine Ausnahme fast durchweg schlechte bis sehr schlechte Bildqualität - es standen offenbar nur schon sehr oft abgenudelte Kopien zur Verfügung. Das Fehlen von Untertiteln wirkt sich mal mehr und mal weniger aus, ist aber insgesamt schon recht ärgerlich. Ich werde die Filme hier chronologisch besprechen (auf den DVDs liegen sie in anderer Reihenfolge vor).


O DESTERRADO (1950), 28 min, s/w

Ein semidokumentarischer Kurzfilm, der in Spielszenen (mit einem Off-Sprecher und ohne Dialoge) Episoden aus dem Leben des bedeutenden Bildhauers António Soares dos Reis (1847-1889) schildert und sein Werk beleuchtet. Guimarães' damals elf- oder zwölfjähriger Sohn Dórdio spielt Soares dos Reis als Kind. Der Titel des Films bezieht sich auf die Marmorplastik O Desterrado (Der Verbannte), das bekannteste Werk des Künstlers. In Guimarães' erstem eigenen Film zeigt sich bereits sein Talent zur ausdrucksstarken Schwarzweiß-Bildgestaltung.


ARTES GRÁFICAS (1967), 26 min, s/w

Im Auftrag einer Behörde im Rahmen der Reihe PORTUGAL DE AGORA (was wohl "Portugal von heute" heißt) gedreht, behandelt der Film wenig überraschend die grafischen Künste. Nach im Stil der Nouvelle Vague gefilmten Straßenszenen geht es (mit den auf der Straße verkauften Presseerzeugnissen als Überleitung) in die Escola de Artes Decorativas Soares dos Reis in Porto, die also nach dem Protagonisten aus O DESTERRADO benannt ist (heute heißt sie Escola Artística de Soares dos Reis). Gezeigt werden Szenen aus dem praktischen Unterricht in den verschiedenen Abteilungen dieser Akademie. Unterlegt ist der Film mit einem jazzigen Score und einem Off-Kommentar. Guimarães gelingen auch hier so interessante Bildmotive, dass der Film trotz der fehlenden Untertitel interessant für mich ist. Streckenweise erreicht er sogar die Dichte von Werken wie Bert Haanstras GLAS. In der zweiten und weniger virtuosen Hälfte sind dann die Ergebnisse zu sehen - Buchtitel, Bilder aus Zeitschriften und Broschüren, Plakate.


ENSINO DAS BELAS-ARTES (1967), 21 min, s/w

ENSINO DAS BELAS-ARTES
Ein weiterer Film der Reihe PORTUGAL DE AGORA, über Unterricht in den Schönen Künsten, wie schon der Titel besagt, und zwar wieder in einem Institut in Porto, der Escola Superior de Belas Artes do Porto (heute eine Fakultät der Universität von Porto), wo angehende Maler, Zeichner, Bildhauer und Adepten verwandter Richtungen ausgebildet werden - auch Guimarães hatte hier Malerei studiert. Mit ähnlicher Ausrichtung, aber etwas schwächer als ARTES GRÁFICAS - es fehlen ein bisschen die filmischen Höhepunkte. Der reine Informationswert hängt natürlich wesentlich vom Sprechertext ab, der mir wie üblich verschlossen blieb, aber dafür kann der Film ja nichts.


O PORTO, ESCOLA DE ARTISTAS (1967), 26 min, s/w

PORTUGAL DE AGORA zum Dritten, und Kunst in Porto zum Dritten, von derselben Informationsbehörde (Secretariado Nacional da Informação) in Auftrag gegeben wie die anderen beiden Teile. Diesmal wird aber nicht über die Ausbildung an einem bestimmten Institut berichtet, sondern es wird allgemein Porto als Stadt der Künste präsentiert. Nach einführenden Straßenszenen, ähnlich wie in ARTES GRÁFICAS, werden Architekturansichten geboten, etwa von den eindrucksvollen Stahlbrücken über den Douro (deren eine von Gustave Eiffel konstruiert wurde), viele Gemälde, Skulpturen in Museen und im öffentlichen Raum, Parks und einiges mehr. Dórdio Gomes (s.u.) ist in Person in seiner Wohnung, die offenbar auch als Atelier dient, bei der Arbeit zu sehen, danach weitere Maler ebenfalls bei der Ausübung ihrer Kunst. Außer dass hier ganz unterschiedliche Stile sichtbar werden (allerdings ohne einen Vertreter der abstrakten Malerei), kann ich nicht mehr dazu sagen. - Im direkten Vergleich der drei Teile von PORTUGAL DE AGORA hat mir ARTES GRÁFICAS am besten gefallen, weil er am stärksten auf filmische Mittel setzt und die dynamischen Rotationsmaschinen zur Herstellung der Drucke dem auch entgegenkommen.


O RITMO NA VIDA (1968), 11 min, Farbe

O RITMO NA VIDA - Bauboom und Hightech anno '68
"Der Rhythmus im Leben" bedeutet der Titel, und gemeint sind weder musikalische noch biologische Rhythmen, sondern der Rhythmus der Moderne, die auch in Portugal (oder zumindest in Lissabon) Einzug hält - es gibt fragmentarische Aufnahmen von Industrialisierung, Massenverkehr, EDV (man kann solchen Wundergeräten wie Lochstreifenlesern bei der Arbeit zusehen). In einer Zeit, als Fortschritt und "die Zukunft" noch fast vollständig positiv besetzt waren, galt das anscheinend auch (und vielleicht gerade) im rückständigen, von jahrzehntelanger Diktatur paralysierten Portugal. Zu hören sind neben einem Off-Kommentar, Umgebungsgeräuschen und ein bisschen Musik auch blubbernde und zirpende elektronische Geräusche, die an die Erzeugnisse von Louis und Bebe Barron erinnern und dem Film aus heutiger Sicht einen retrofuturistischen Touch verleihen. Trotz fehlendem Textverständnis und stark zerkratztem Bild sehr ansprechend.


TRÁFEGO E ESTIVA (1968), 17 min, Farbe

TRÁFEGO E ESTIVA - die Brücke des 25. April
Wie man gleich am Anfang aus den Credits erfährt, handelt es sich um den ersten 70mm-Film, der in Portugal gedreht wurde. Der Titel bedeutet hier ungefähr "Verkehr und Beladen", und mit Verkehr ist die Handelsschifffahrt gemeint - es geht in dem Film darum, wie moderne Handelsschiffe beladen werden. Nach einem kurzen Exkurs zu scheinbar historischen Aufnahmen (die in Wirklichkeit anscheinend von Guimarães selbst stammen, nämlich aus dem gescheiterten ersten Anlauf zu VIDAS SEM RUMO), die Hafenarbeiter beim manuellen Beladen von Schiffen mit Säcken zeigen, gibt es den harten Schnitt in die (damalige) Moderne - Großfrachter werden mit Kränen aller Art und Baggern oder Förderbändern (für Massengut wie Getreide) be- und entladen. Was allerdings noch fehlt, sind Container. Gedreht wurde in Lissabon und in Leixões, dem modernen Handelshafen von Porto. Die Bildqualität ist besser als bei den anderen Dokus, aber natürlich kommt ein 70mm-Film auf DVD nicht wirklich zur Geltung. Hier bräuchte es mindestens Blu-ray mit einer entsprechenden Abtastung, und am besten gleich eine echte 70mm-Projektion im Kino. Aber abgesehen von solchen Erwägungen bietet TRÁFEGO E ESTIVA nicht unbedingt spektakuläre, aber schöne Bilder, und er unterhält fast genauso gut wie O RITMO NA VIDA, der eine ähnliche Stoßrichtung aufweist.


ANTÓNIO DUARTE (1969), 20 min, s/w

ANTÓNIO DUARTE
Noch ein Film aus einer Serie, nämlich ARTES E LETRAS ("Kunst und Geisteswissenschaften"). Es geht um den Bildhauer António Duarte (1912-1998), der ausnahmsweise mal nicht in oder um Porto tätig war. Wie Júlio Resende und Dórdio Gomes (s.u.) spricht Duarte selbst im Film, wobei er im Gegensatz zu den anderen beiden Fragen des Off-Sprechers beantwortet. Man sieht ihn auch bei der Arbeit, einerseits "additiv" beim sukzessiven Auftragen einer Spachtelmasse, vermutlich Gips, andererseits "subtraktiv" mit Hammer und Meißel. Und natürlich gibt es reichlich seine Werke zu sehen, vor allem Großplastiken im Freien, auch ein paar Reliefs. Der Film punktet auch mit einem interessanten Score, der poppig-jazzige Töne mit klassischen Orgelklängen vereint.


EXPRESSOS LISBOA - MADRID (1969), 13 min, Farbe

EXPRESSOS LISBOA - MADRID
Ein kurzer Film über den Schnellzug Lissabon - Madrid. Mit Unterstützung der beiden staatlichen Eisenbahngesellschaften der Iberischen Halbinsel rückt Guimarães die Geschwindigkeit und das bequeme Reisen der Fahrgäste in den Focus. Damit erinnert EXPRESSOS LISBOA - MADRID an die Eisenbahnfilme von Geoffrey Jones, ohne dass ein direkter Einfluss erkennbar wäre. Es gibt auch Ansichten der teilweise spektakulären Landschaften und Bauwerke entlang der Strecke, etwa vom eindrucksvollen römischen Aquädukt von Segovia. Am Ende ist man wieder in Lissabon, am Hafen und am Tejo mit ihren Sehenswürdigkeiten (Denkmal der Entdeckungen, Torre de Belém, Brücke des 25. April) - und dann beginnt die nächste Fahrt nach Madrid.


RESENDE (1970), 24 min, Farbe

RESENDE
Wieder ein Film aus der Serie ARTES E LETRAS, wie ANTÓNIO DUARTE (ein dritter Film von Guimarães aus dieser Reihe behandelt seinen Freund Fernando Namora, den Autor und Coproduzenten von O TRIGO E O JOIO). Wie schon mehrfach geht es um Kunst in Porto, diesmal um den Maler Júlio Resende (1917-2011), der dort geboren wurde und an der uns schon bekannten Escola Superior de Belas-Artes bei Dórdio Gomes studiert hat. Später unterrichtete Resende dort selbst. Der Film folgt ihm vom Zentrum Portos mit dem Auto den Douro entlang zu seiner modernistischen Villa irgendwo außerhalb, wo er lebt und arbeitet. Er erzählt etwas über sich und seine Kunst (vermute ich), man sieht ihn beim Malen und die Ergebnisse seiner Kunst, aber man bekommt auch Einblicke in den portugiesischen Alltag von 1970: Frauen, die im Douro per Hand die Wäsche waschen (in der Großstadt Porto), Frauen von Fischern, die an irgendeinem Strand Netze flicken und für die nächste Ausfahrt zusammenlegen, Hirten irgendwo auf dem Land - ein krasser Kontrast zu O RITMO NA VIDA, und, so vermute ich, für einen großen Teil der Portugiesen "das wahre Portugal" von damals. Im direkten Vergleich zum nachfolgenden CARTA A MESTRE DÓRDIO GOMES ist RESENDE für mich der deutlich interessantere Film.


CARTA A MESTRE DÓRDIO GOMES (1971), 16 min, Farbe

CARTA A MESTRE DÓRDIO GOMES
Ein Film über den Maler Dórdio Gomes (1890-1976), der auch gut 25 Jahre lang an der Kunsthochschule in Porto lehrte, die wir in ENSINO DAS BELAS-ARTES besucht haben. Ausgiebige Kamerafahrten über Gomes' Gemälde werden gelegentlich mit Ansichten aus Porto und Umgebung kontrastiert, die den Meister (Mestre) wohl inspiriert haben. Der damals 81-jährige Gomes erzählt im Film auch selbst etwas über sich und seine Kunst. Dass sich Guimarães hier auf Informationen aus erster Hand stützen konnte, ist vielleicht der Grund dafür, dass CARTA A MESTRE DÓRDIO GOMES rein filmisch eher wenig zu bieten hat. Aber die kräftig-expressiven Werke des Meisters halten dennoch das Interesse wach, und am Ende wird man noch von Beethovens Fünfter in höhere Sphären versetzt.


AREIA MAR - MAR AREIA (1973), 16 min, Farbe

Wieder ein Film über einen Künstler. Am Anfang geht ein Mann an einem menschenleeren Sandstrand entlang ("areia" heißt "Sand") - es ist der Bildhauer und Maler Martins Correia (1910-1999). Dann geht es in eine Retrospektive von Correias Werken in Anwesenheit des Künstlers. Nachdem die Besucher aus dem Film verschwunden sind, werden die Kunstwerke ins Bild gesetzt, wobei Bewegungen der Werke und der Kamera und wechselnde Lichtverhältnisse für genug Spannung sorgen, um den Film nicht langweilig werden zu lassen. Ich hatte den Eindruck, dass hier durch den Kommentar noch Informationen vermittelt werden, die weniger gut auch durch die Bilder transportiert werden als in den anderen Dokus, so dass sich das Fehlen der Untertitel hier stärker bemerkbar macht - aber sicher bin ich mir da natürlich auch nicht.




NASCI COM A TROVOADA: AUTOBIOGRAFIA PÓSTUMA DE UM CINEASTA, Kurztitel NASCI COM A TROVOADA
Portugal 2017
Regie: Leonor Areal

Die Regisseurin Leonor Areal, als Filmwissenschaftlerin an der Neuen Universität Lissabon tätig, hat schon etliche Bücher und Fachartikel über Themen der portugiesischen Filmgeschichte veröffentlicht, auch über Guimarães. Ihr 2017 erschienener NASCI COM A TROVOADA ("Ich wurde in einem Gewitter geboren") ist eine ambitionierte, detailreich und spannend gestaltete Würdigung von Guimarães' Leben und Werk. Seinen Untertitel "posthume Autobiografie eines Filmschaffenden" trägt der Film zu Recht, denn der Sprechertext besteht fast vollständig aus Briefen und autobiografischen Texten von Guimarães, der Rest sind Briefe an ihn. So erfährt man viel Persönliches über ihn: Wie er als zehntes Kind vergleichsweise wohlhabender Eltern (sie besaßen zunächst eine Papiermühle, später ein Hotel) geboren wurde, wie er gegen den Willen seiner Eltern das Kunststudium erzwang, wie er gegen den Willen beider Elternpaare in einer Nacht- und Nebelaktion seine große Liebe Clarisse heiratete, und so weiter. Aber auch seine filmische Entwicklung, die er zielstrebig verfolgte (schon während des Studiums interessierte er sich für Film mindestens so stark wie für die Malerei), die aber immer wieder von Rückschlägen und Enttäuschungen geprägt war, wird detailliert abgehandelt und mit Ausschnitten aus den Spielfilmen und Produktionsfotos, Zeitungsausschnitten und dergleichen illustriert (die Kurzfilme werden hingegen, abgesehen von O DESTERRADO, nur kurz und summarisch erwähnt). Wie sich aus den Selbstzeugnissen ergibt, war Guimarães sehr selbstkritisch, sowohl in Bezug auf seine Filme als auch im Privatleben (z.B. was die Erziehung von Dórdio betraf). Zumindest bei den Filmen (aber wahrscheinlich auch beim Privatleben) hat er da sehr übertrieben, aber der kommerzielle Misserfolg, der ihn lange begleitet hat, hat ihn auch an seinen künstlerischen Fähigkeiten zweifeln lassen, und die ständige Gängelung durch die Obrigkeit hat auch nicht zur Hebung seiner Stimmung beigetragen. Vielleicht hatte Guimarães auch von vornherein eine gewisse depressive Ader, aber das lässt sich an seinen eigenen Texten allein schlecht ablesen.

NASCI COM A TROVOADA - Clarisse, Manuel und Dórdio Guimarães (Privatfoto, 40er Jahre)
NASCI COM A TROVOADA wird auf DVD und/oder Blu-ray erscheinen, ein Termin steht aber noch nicht fest. Eine als Screener dienende Fassung mit engl. Untertiteln liegt auf einem privaten Vimeo-Kanal, ist also nicht frei zugänglich. Aber Leonor Areal war so freundlich und hat mir das Passwort mitgeteilt, so dass ich den Film ansehen konnte, wofür ich ihr herzlich danke!