Sonntag, 3. Februar 2019

Valkoinen peura - das weiße Rentier

VALKOINEN PEURA (DAS WEISSE REN, auch DAS WEISSE RENTIER)
Finnland 1952
Regie: Erik Blomberg
Darsteller: Mirjami Kuosmanen (Pirita), Kalervo Nissilä (Aslak), Åke Lindman (der Finne), Arvo Lehesmaa (Tsalkku-Nilla)


Das Volk der Samen, früher meist als Lappen bezeichnet (was mittlerweile als politisch unkorrekt gilt), lebt bekanntlich in den nördlichen Gegenden Norwegens, Schwedens und Finnlands (und in einem nordwestlichen Zipfel Russlands) - lange Zeit vorwiegend als (halb-)nomadische Rentierzüchter (die heute nur noch eine Minderheit innerhalb der samischen Minderheit darstellen). Die abgelegenen Weiten im Norden wurden nur sporadisch für den Spielfilm erschlossen (beispielsweise entstanden Teile von Victor Sjöströms wegweisendem BERG-EJVIND OCH HANS HUSTRU (1918) im Nationalpark Abisko). Umso erfreulicher ist es, dass der finnische Regisseur und Kameramann Erik Blomberg (1913-96) 1952 ein wunderprächtiges Genrestück bei den Samen drehte, eine Mischung aus mythologischer Erzählung, Märchen- und Horrorfilm und düsterem Drama.

Rentierschlittenrennen - hier ist die Welt noch in Ordnung
Es beginnt mit einem Prolog: Man hört ein von einer Sängerin gesungenes Lied - vielleicht ein samisches Volkslied, vielleicht auch "nur" für den Film geschrieben -, dessen Text schon mal in abstrahierter Form das böse Schicksal der "Rentierfrau" Pirita vorwegnimmt, die hier schon als Hexe von Geburt an bezeichnet wird, dazu gibt es Bilder von der Geburt in einem Zelt bei grimmiger Kälte. Nach dem düsteren Prolog beginnt die eigentliche Handlung in einer wesentlich helleren Tonart: Es gibt ein zünftiges Rentierschlittenrennen bei schönstem Wetter. Daran nimmt auch die mittlerweile erwachsene und ebenso hübsche wie forsche Pirita teil. Bald liefert sie sich ein Duell mit dem ebenso draufgängerischen Aslak, und am Ende kugeln sie gemeinsam durch den Pulverschnee und werden flugs ein Paar. Alsbald wird geheiratet, doch es ziehen Schatten auf. Aslak ist oft als Hirte mit den wandernden Rentierherden unterwegs, während Pirita daheim bleibt, und wenn er mal da ist, ist er manchmal so erschöpft, dass er seine ehelichen Pflichten nicht ausreichend erfüllt - und das arbeitet in ihr. Muss er wirklich so lange weg bleiben, ist er auch treu?

Pirita und Aslak
So sucht sie den etwas gnomenhaften Schamanen Tsalkku-Nilla auf. Der braut sich zur Aktivierung seiner seherischen Fähigkeiten erst mal einen Trank aus Rentierhoden und weiteren Ingredienzien und schlägt dann eine magische Trommel, die als Orakel dient. Schließlich gibt er Pirita den Rat, bei einem einsam auf einem Hügel gelegenen animistischen Freiluft-Altar das erste Lebewesen zu opfern, das sie beim Heimweg zu sehen bekommt. Das ist nun ausgerechnet ein weißes Ren-Kitz, das ihr Aslak beim letzten Abschied geschenkt hatte, und Aslak selbst kehrt früher als gedacht zurück - doch Pirita setzt den einmal eingeschlagenen Weg fort. Sie fährt also mit dem Schlitten zu dem Altar und schlachtet dort das Kitz mit einem Messer. Doch das hätte sie lieber bleiben lassen sollen. Schon Tsalkku-Nilla ist erschrocken vor ihr zurückgewichen, weil er etwas Böses erkannte, das schon in ihr angelegt war. Und mit der Opferung ist sie sozusagen auf die dunkle Seite gewechselt, ohne es zunächst selbst zu begreifen.

Schneebedeckte Weiten
Denn schon bald verwandelt sich Pirita unversehens in ein stattliches weißes Rentier. Ein Jäger folgt dem Tier, um es zu fangen und zu zähmen - und wird am nächsten Tag tot und übel zugerichtet aufgefunden. Bei seiner unmittelbaren Begegnung mit Pirita erlangte diese wieder menschliche Gestalt, doch es war eine animalische Frau mit langen Eckzähnen wie ein Raubtier oder auch ein Vampir - und gleich danach war es um den Mann geschehen. Später ist Pirita wieder "normal" und unauffällig, wenn auch beunruhigt. Zu Recht, denn es war nicht ihre letzte Verwandlung. Bald gibt es weitere tote Männer, und immer wurde das ominöse weiße Rentier in der Nähe gesehen. Auch ein "Mann aus dem Süden" (also ein ethnischer Finne, kein Same), der als eine Art Forstbeamter den Kontakt mit den Samen pflegt und mit einem Gewehr ausgerüstet ist, zieht den Kürzeren - doch Pirita lässt ihn unter schallendem Gelächter lebend entkommen. Der war wohl kein standesgemäßes Opfer für sie. Die Einheimischen wissen ohnehin, dass man so einem magischen Wesen nicht mit einem Gewehr beikommen kann - nur eine schmiedeeiserne Speerspitze kann so ein Malefiz-Ren töten.

Beim Schamanen
Nach ein, zwei weiteren Toten sieht man nun alle Männer der Gegend solche Speerspitzen hämmern, und Pirita verfolgt es mit wachsendem Unbehagen, ja Panik - denn sie weiß ja, wem das gilt, und dass sie auf Dauer nicht wird entkommen können. In ihrer Verzweiflung sucht sie abermals Tsalkku-Nilla auf, damit der den Zauber zurücknimmt. Doch der Schamane liegt nur (vermutlich betrunken) in seiner Hütte und rührt sich nicht. So zieht Pirita weiter zum steinernen Altar, doch auch hier tut sich nichts. Nachdem der Versuch, den Weg ins Verderben durch Doppelung rückgängig zu machen, fruchtlos geblieben ist, zieht sich die Schlinge zu. Fatalerweise ist es ausgerechnet Aslak, der den tödlichen Speer auf das weiße Rentier schleudert. Am Ende liegt Pirita wie in einem Werwolf- oder Jekyll&Hyde-Film in ihrer normalen menschlichen Gestalt tot, aber (hoffentlich) vom Fluch erlöst auf dem Boden vor ihrem fassungslosen Ehemann.

Opferung am steinernen Altar
In Texten über VALKOINEN PEURA wird Piritas tödliche Erscheinungsform meist als Vampir gedeutet. Aber wie schon geschrieben, könnten ihre "Beisserchen" auch einfach die Reißzähne eines Raubtiers sein, und es wird im Film nie ausgesprochen, dass den Toten das Blut ausgesaugt worden wäre. Da die Verwandlungen offenbar zu zufälligen Zeitpunkten und ohne Piritas Zutun, wahrscheinlich sogar gegen ihren Willen, geschehen, könnte man an eine Art Werwolf (oder eben Wer-Ren) denken, oder auch an die Katzenfrauen aus den Filmen von Tourneur und Schrader. Es ist aber müßig, darüber zu streiten, was das nun genau für ein Wesen sein soll. Ich weiß auch nicht, ob es dieses männermordende Wesen in der authentischen Mythologie der Samen tatsächlich gibt, oder ob Erik Blomberg und seine Hauptdarstellerin und Ehefrau Mirjami Kuosmanen (1915-63), die zusammen das Drehbuch schrieben, sich "nur" in der damals schon globalen Welt der Horrorliteratur und des Horrorfilms bedient haben. (Mirjami Kuosmanen soll sich auch an der Regie beteiligt haben, aber ich weiß nicht, wie belastbar das ist.)

Die erste Verwandlung
Letzten Endes kommt es auf die Umsetzung an, und die ist vorzüglich gelungen. Blomberg erzählt seine Geschichte schnörkellos und kompakt in einer guten Stunde. Er findet dabei eine gute Balance zwischen realistischen und fantastischen Elementen. Manche Szenen haben fast ethnografische Anmutung. Und obwohl der Film märchenhafte Elemente aufweist, spielt er weder in einer Märchenwelt noch in einer unbestimmten grauen Vorzeit, in der die Samen isoliert vom Rest der Menschheit gelebt hätten. Die Samen im Film sind Christen, auch wenn unter der Oberfläche alte animistische und schamanistische Traditionen fortleben. Und wenn sie nicht gerade mit den Rentierherden unterwegs sind, dann leben sie nicht in Zelten oder Jurten, sondern in festen Hütten und Häusern mit Glasfenstern. Und auch der finnische Forstbeamte mit Gewehr verortet die Geschichte in der Neuzeit.

Das ominöse weiße Ren
Mirjami Kuosmanen ist sehr überzeugend, sowohl als die fröhliche Pirita vom Anfang wie auch als die zunehmend animalische und verzweifelte Pirita in der zweiten Hälfte des Films. Der größte Pluspunkt von VALKOINEN PEURA und sozusagen ein weiterer Hauptdarsteller ist aber die Landschaft. Die endlosen schneebedeckten Weiten geben eine phänomenale Kulisse ab, und Blomberg, der auch als Kameramann und Cutter fungierte, hat sie gekonnt in Szene gesetzt und in die Handlung eingebaut. Es gibt relativ sparsame Dialoge, und manche Sequenzen erinnern an Stummfilme und frühe Tonfilme von Arnold Fanck und seinen Epigonen wie Luis Trenker. Zwar spielt der Film überwiegend im Freien und damit im hellen, vom Schnee reflektierten Licht, doch es gibt auch Innen- und Nachtaufnahmen mit expressiver Licht- und Schattensetzung.

Pirita erschrickt vor ihrem Spiegelbild ...
VALKOINEN PEURA stieß seinerzeit auf viel Resonanz. Er gewann 1952 bei den finnischen Jussi Awards in drei Kategorien, erhielt 1953 einen Spezialpreis für den besten Märchenfilm in Cannes und 1954 beim Filmfestival von Karlovy Vary den Preis für die beste Kamera. Und weil er mit einigen Jahren Verzögerung auch in den USA lief, gab es dann noch 1957 den Golden Globe für das Jahr 1956 in der Kategorie Best Foreign Film, freilich nicht als alleiniger Sieger, sondern gemeinsam mit vier weiteren Filmen. In Finnland wird VALKOINEN PEURA alle paar Jahre mal im Fernsehen gezeigt (eine finnische Website kommt auf 15 Ausstrahlungen zwischen 1963 und 2017); außerhalb seiner Heimat verschwand der Film natürlich etwas in der Versenkung, geriet aber nicht völlig in Vergessenheit, sondern wurde gelegentlich mal beim einen oder anderen Festival vorgeführt. 2010 informierten Alex Klotz und Michael Schleeh über VALKOINEN PEURA und animierten mich damit zum Kauf des Films auf einer finnischen DVD.

... und zwar zu Recht
Im letzten November wurde eine neuere 4K-Restauration bei einem Filmfestival in Braunschweig gezeigt, und die aktuelle Ausgabe des Filmmagazins 35 mm sowie eine Festivalbeilage derselben Zeitschrift berichteten darüber. Mein Anlass für diesen Artikel besteht aber hauptsächlich darin, dass VALKOINEN PEURA seit einiger Zeit wesentlich besser zugänglich ist als noch vor Jahren. Die alte finnische DVD hat keine Untertitel (ich konnte aber immerhin eine engl. Untertiteldatei im Netz finden) und war auch nicht ganz leicht aufzutreiben - ich habe mein Exemplar bei irgendeinem skandinavischen Versender erstanden. Doch schon kurz danach erschien eine französische DVD (unter dem Titel LE RENNE BLANC) mit engl., franz. und span. Untertiteln, 2014 eine weitere finnische DVD und schließlich vor ungefähr zwei Jahren eine finnische Blu-ray, die auf der 4K-Restauration beruht, mit engl. und schwed. Untertiteln, und man bekommt sie bei den üblichen Quellen. Auf allen diesen Medien hat VALKOINEN PEURA eine Laufzeit von 68 (Blu-ray/Kino) bzw. 65 Minuten (DVD). Ursprünglich hatte der Film jedoch eine Länge von 74 Minuten. Wo die fehlenden sechs Minuten abgeblieben sind, und was darauf zu sehen ist, ist mir nicht bekannt.

Pirita (links im Vordergrund liegend) wird gejagt und schließlich getötet

Montag, 21. Januar 2019

Dampfende Saunen, Jenaer Paradiese und Nürnberger Sehnsüchte – 2018 im persönlichen Rückblick


2018 war für mich ein fürchterliches Jahr: als Arbeitnehmer, Patient, Linker, Freund, Sohn. Vieles war sehr zeit-, energie- und nervenraubend: deshalb habe ich dieses Jahr auf "Whoknows Presents" auch nur einige Festivalberichte und gerade mal zwei Einzelfilmbesprechungen zuwege gebracht. Ich hätte gerne mehr gewollt. 2019 wird es vielleicht besser.

Für mich als Cinephiler war 2018 hingegen zum Niederknien schön... 2018 war ein persönliches Rekordjahr der Filmfestivals, nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ. Einen augenöffnenden Offenbarungscharakter hatte in gleich den ersten Tagen des Jahres der unvergessliche und großartige 17. Hofbauer-Kongress in Nürnberg, bei dem ich mich ernsthaft frage, ob ich da nicht eine Art cinephile Wiedergeburt erlebt habe – und gelernt habe, Filme besser, lustvoller und ekstatischer zu schauen... Vielleicht hat auch Ulli Lommels DER ZWEITE FRÜHLING, eine der unglaublichsten filmischen Erfahrungen seit vielen Jahren, mir irgendeinen Schaden im Kopf zugefügt – ein Schaden, der hoffentlich nie wieder repariert wird, denn an diese schönen Wintertage in Nürnberg werde ich noch sehr lange mit großer Freude zurückdenken. Nicht nur an den saunierenden und sich an Gemächt und Gesäß nonchalant kratzenden Curd Jürgens, sondern auch an verzweifelte Liebende am Rande des Wahnsinns in Tokio und Neu-England, an entfesselte grausame Puppen, amoklaufende Bodybuilder und putzige Entenfamilien am Rande eines Nudistenbadeteichs. Natürlich auch an die audiovisuelle Reinigungskur, mehrere Tage lang fast ausschließlich echtem 35mm-Film ausgesetzt zu sein. Last but not least: die Bekanntschaft mit zahllosen tollen und filmbegeisterten Menschen: wie ich oft aus der Ferne angereist, um diese "merkwürdige" Veranstaltung zu besuchen, über die Ottonormalverbraucher nur den Kopf schütteln würden.
Ganz anders und doch ähnlich euphorisierend war das 5. Terza Visione in Frankfurt. Kein vollkommenes Offenbarungserlebnis wie der Hofbauer-Kongress, weil ich bereits 2017 am eigenen Leibe erfahren hatte, dass hier Wunderbares und Unerhörtes passiert. Aber doch auch eine Überraschung im Angesicht des Programms, in dem wie beim Hofbauer-Kongress die Liebe wieder so eine große Rolle spielte (feine Tischmanieren hingegen auch mal links liegen gelassen wurden). Wie beim Hofbauer-Kongress eine völlig überwältigende Vielfalt an unglaublichen Filmen, trotz des nur scheinbar begrenzteren, weil auf ein Land beschränkten Programms: von der frühen Sexkomödie einer fast vollkommen vergessenen Schaffensperiode Lucio Fulcis zum dekonstruktivistischen späten (Anti-?)Horrorfilm Riccardo Fredas, vom bitteren Kindertod-Melodrama zur fetzigen Tanzkomödie, vom kanonischen, aber in dieser 35mm-Pracht doch nicht alltäglichen Giallo-Klassiker zum obskuren, die Grenzen des klassischen narrativen Kinos fast sprengenden Musicals... Das Terza war dieses Jahr trotz der völlig inhumanen Juli-Temperaturen für mich vielleicht noch schöner, weil das Gemeinschaftsgefühl, unter ähnlich gesinnten cinephilen Menschen zu sein, hier für mich noch mal eine neue Qualität gewann: Menschen, die anreisen zu einer Veranstaltung, die (da ist er schon wieder) Ottonormalverbraucher irgendwo zwischen "Schund" und "was für Spinner" einordnen würde... Zwischendurch zusammen ein Eis essen, am Main gemeinsam auf der Wiese sitzen, eine Zigarette vor dem Filmmuseum, gemeinsam Abend essen – dabei über die gesehenen Filme, über noch mehr Filme, und noch mehr Filme und manchmal auch ein klein wenig über die Welt plaudern – dann wieder ins Kino, um weitere Filme zu sehen. Ja... Hier bin ich Cinephiler, hier darf ich's sein.
Bislang völlig unbekannt war das Paradies-Filmfestival in Jena, was vor allem daran liegt, dass dieses Jahr die allererste Ausgabe stattgefunden hat. Titelgebend ist auf den ersten Blick der Jenaer Paradies-Park hinter dem äußerst hässlichen und architektonisch irgendwie dämlichen Paradies-Bahnhof (und die Tatsache, dass in Jena alles mögliche den Zusatz "Paradies" bekommt, so wie im nahe gelegenen Weimar alles irgendwie mit Goethe zusammenhängt), aber nach meinem ersten Besuch kann ich nun mit großer Sicherheit sagen: dem ist nicht so! Das Paradies-Filmfestival heißt ganz offensichtlich so, weil die beiden Organisatoren für vier Filmtage mit ihren eigenen, bloßen Händen ein kleines Kinoparadies gebaut haben. Wortwörtlich gebaut: in einer Veranstaltungshalle für Konzerte haben sie eigenhändig eine Kinoleinwand, eine kleine Untertitelleinwand und einen Vorführraum mit zwei 35mm-Projektoren aus ihrem Privatbesitz gebaut – ja, wirklich gebaut! Hier, im sogenannten Damenviertel am Rand der Innenstadt, relativ fern der etablieren Kinos, wurde eine viertägige filmische Bacchanale gefeiert mit einem wunderbar kuratierten Programm aus italienischem Genrekino und weitestgehend unbekannten Perlen der DEFA. Einen teuflisch grinsenden Gian Maria Volonté als eiskalten Mörder und Polizeichef in INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO. Einen schelmischen Manfred Krug, der wahnwitzige Musicalnummern in REVUE UM MITTERNACHT choreografiert. Angsteinflößende ostdeutsche Provinzspießer, die sich das kommunistische Paradies ernsthaft als graue Betonwüste sehnsüchtig herbei wünschen – im Kontrast dazu lustvoll lebende Berliner Bohemiens, die von der Liebe und der Musik träumen. Psychedelisch leuchtendes Rot in DU UND ICH UND KLEIN-PARIS, brutales Schwarzweiß in ERSTER VERLUST, "radioaktiv" leuchtendes Schwarz in DIE SCHÖNSTE, die pastellig-nebelige Farbe eines abendfüllenden Technicolor-Wachalptraums in LA CORTE NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO: das Paradies war ein Wunder der analogen 35mm-Projektion. Im Paradies konnten die kleinen cinephilen Engelchen (von denen ein nicht unbedeutender Teil sich aus Organisationsteam und Publikum des Hofbauer-Kongresses und des Terza Visione bildete) zwischendurch auch mal von der Raucherbereich-Bar-Empore im ersten Stock mit Blick auf die Leinwand aus Filme schauen. Das Paradies braucht natürlich auch einen Gott: deshalb haben ihn die Organisatoren des Festivals gleich eingeladen, ihm eine kleine Retrospektive gewidmet und ihm einen Preis für sein Lebenswerk verliehen. Gleichwohl er seine eigenen Filme vermied, begleitete Aldo Lado vier Tage lang das Festival, und verfolgte trotz mangelnder Deutschkenntnisse mit großem Interesse das DEFA-Programm. 2019 wird das Festival Mitte Juni stattfinden, hoffentlich wieder mit diesem faszinierenden zweigleisigen Kontrastprogramm – und mit hoffentlich mehr begeisterten Paradiesengeln. (Eine kleine Anekdote am Rand: am Morgen des Festival-Freitags, auf dem Weg zum "Paradies", fragte mich auf der Straße ein junger Mann, offenbar ein gerade frisch angekommener Erstsemester-Student, ob ich zufällig auch auf dem Weg zum nahe gelegenen Institut für Ernährungswissenschaft sei. Voller Freude, einen potentiellen weiteren Zuschauer zu "rekrutieren", teilte ich ihm mit, dass ich zu einem Filmfestival gehe. "Filmfestival?" – was das denn sei? Ich erklärte ihm das in einigen kurzen Worten, aber dieses Konzept einer Veranstaltung, bei der in einem Kino oder in einer kinoähnlichen Location Filme gezeigt werden, das schien diesem jungen Mann sehr, sehr merkwürdig. Ich hoffe, ich habe ihn nicht für den Rest des Tages oder gar des Jahres verstört. Dabei hatte ich noch nicht mal irgendetwas von 35mm gesagt...)
Ich präsentiere Mittelthüringen ja immer wieder mal als cinephile Wüste dar, als Ort, in dem der geneigte Cinephile, müsste er nur außerhalb seiner vier Wände seinen bizarren Neigungen frönen, erbarmungslos verdursten würde. Nun, das Paradies-Filmfestival hat eine wunderbare, erfrischende und saftige Oase geschaffen. Einer der beiden Festival-Organisatoren veranstaltet allerdings seit bereits geraumer Zeit einmal im Monat das 35mm-Kino im Jenaer Schillerhof-Kino, 2018 ist es ganz besonders spannend ausgefallen. Im ersten Halbjahr bot das Programm kleine "Appetizer" für das Paradies-Filmfestival, etwa Egon Günthers LOTS WEIB oder Dario Argentos 4 MOSCHE DI VELLUTO GRIGIO. Meine persönlichen Höhepunkte waren allerdings Anna Billers THE LOVE WITCH und Alex Proyas DARK CITY. Als "Events" besonders gelungen (glücklicherweise ohne den schalen Beigeschmack neumodischer Publikumsanbiederungs-Kinoevents) waren die drei "öffentlichen Testsichtungen" im Sommer und in der Adventszeit, also 35mm-Sneaks, wenn man so will. Zu sehen gab es bei der Premiere SQUIRM, ein schwitzig-schwüles Südstaatenmelodrama über die unendliche Absurdität des Lebens – mit Killerwürmern; der nicht unbedingt begeisternde, aber doch irgendwie faszinierende THE BLUE LAGOON folgte in der zweiten Folge der Testsichtung; und Tony Scotts rauchig-impressionistischer Love-On-The-Run-Klassiker TRUE ROMANCE beglückte die Zuschauer in der Adventszeit. Alle Vorführungen wurden stilecht mit einem 35mm-Trailer- und Werbeprogramm eingeführt, das ganz eigene Schätze zu bieten hatte: nicht nur analoge Sparkassenwerbung der mittleren 2000er Jahre, Teaser zu EDEN oder HIGH FIDELITY, sondern auch Trailer, die wie die beworbenen Filme (L'INFERMIERA DI NOTTE aka "Nachtschwester müsste man sein" oder DIAMOND BABY) beim Hofbauer-Kongress wahrscheinlich nicht nur mehr Verständnis, sondern vor allem mehr allgemeine Begeisterung geerntet hätten als sie es leider in Jena taten.
Mehr ein geliebtes Ritual als das große Unbekannte ist mittlerweile das 18. goEast-Festival in Wiesbaden. Dessen 18. Ausgabe führte mich im April dennoch an eine für mich bislang größtenteils mysteriöse Peripherie des sowjetischen Kinos: ins Baltikum. Aus drei kleinen, "unscheinbaren" Sowjetrepubliken kamen unwahrscheinliche, wahnwitzige, wahnsinnig poetische, schockierende Filme: investigative Dokumentarfilme als brutaler Faustschlag in die Magengrube, poetische Filmessays als Ode an die Menschheit, frisch-freche Animationsfilme, dazu noch rasender Wahnsinn aus der Irrenanstalt sowie lüsternes Hammelkeulen-Geknabber mit Mantel und Degen. Der Sommer, der da urplötzlich Mitte April einbrach mit Temperaturen bis 28°C, war schon ein kleiner Vorbote der höllischen Wochen im Juli und August.
Bereits bei der Ausgabe 2017 wäre ich gerne dabei gewesen, aber eine längere Krankheit machte mir einen Strich durch die Rechnung: das 4. Karacho-Festival des Actionfilms in Nürnberg entfaltete in vier Oktobertagen ein kompaktes Panorama von "Action", durchgehend auf 35mm (teils auf 16mm). Vom comichaften James-Bond-Eastern-Ozploitation-Kintopp eines THE MAN FROM HONG KONG bis zur Reise ohne Wiederkehr in die Abgründe der Bestie Mensch in STORTICATELI VIVI; vom melancholischen Roadmovie THE SUGARLAND EXPRESS bis zur eskalierenden Kapitalismus-Satire und Auferstehungs-Gewaltoper ROBOCOP. Die Gemeinschaft der Cinephilie spann für mich ihre Netze noch etwas weiter und zugleich engmaschiger: entfernt bekannte Gesichter von Kongress, Terza und dem Paradies wurden nun zu Bekannten. Nürnberg und speziell das KommKino begannen langsam, zum persönlichen Sehnsuchtsort heranzuwachsen.
Von allen 35mm-Festivals das "unspektakulärste" war wahrscheinlich das Festival des italienischen Giallo-Films "Il mostro di Norimberga" in Nürnberg, in dem Sinne, dass ich hier von zehn gezeigten Filmen sechs bereits kannte. Aber es muss ja auch nicht immer alles "spektakulär" sein – lauschig, flauschig, plauschig und gemütlich war es, nicht wieder zuletzt dank der familiären Atmosphäre, voller interessanter Gespräche mit netten cinephilen Menschen zwischen den Filmen und bei den gemeinsamen Abendessen. Für eine kleine filmische Kontroverse sorgte lediglich der neue SUSPIRIA, der relativ spät als "Bonus" am Sonntag früh (10 Uhr) ins Programm aufgenommen wurde. Von "ultra" und "der Film des Jahres" bis zu "stinklangweilig" und "extrem stählern" reichten die Stimmen. Andere Festivalbesucher haben sich lieber für zwei Stunden Schlaf mehr entschieden (so auch ich). Spätestens nach "Il mostro di Norimberga" habe ich wohl begonnen, Nürnberg und das KommKino als "Nebenwohnsitz" meiner Träume und Sehnsüchte zu sehen. Ich trage seither fast dauerhaft ein bisschen Nürnberg-Heimweh in mir.
Das 19. cellu l'art Kurzfilmfestival in Jena im April war filmisch vielleicht das "uninteressanteste" Filmfestival dieses Jahr. Alle Projektionen waren erwartungsgemäß digital und viele Programmblöcke waren qualitativ ungleichmäßig, mit kleinen funkelnden Kurzfilmperlen neben einigem Ernüchterndem und ab und zu auch knüppelhartem Stahl. Die cellu-l'art-Abende, die außerhalb des Festivals regelmäßig stattfinden, scheinen mir oft viel konziser und besser kuratiert zu sein als die Wettbewerbsblöcke beim Festival selbst. Die Specials waren dann auch die großen Höhepunkte: der Stop-Motion-Animationsblock (unter anderem mit dem actionreichen, dystopischen Sci-Fi-Paranoia-Survival-Politthriller SQUIRREL ISLAND von Astrid Goldsmith – in dem tatsächlich Eichhörnchen die Protagonisten sind) und der Block "Ab durch die Mittel" für Beiträge aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen (mit dem grandiosen halbstündigen Polizeifilm AM ENDE DER WALD von Felix Ahrens). Gastland beim diesjährigen Länderschwerpunkt war Schottland, und die Eröffnung des ersten Festivaltags wurde dann auch sehr gelungen bei einem Empfang mit Haggis, Whisky, Irn-Bru und Dudelsackmusik gefeiert. Doch mein persönliches Gewinnerland war Österreich. Unvergesslich die skurrilen Geschichten um den eigensinnigen Wiener Musikwissenschaftler Szabo und seinem etwas spießigen Nachfolger am Institut, Fitzthum und ihrem Kampf mit Kaffeemangel, kaputten Abflüssen und verschwundenen Anzügen – zu sehen in Albert Meisls DIE LAST DER ERINNERUNG (2016) und in DER SIEG DER BARMHERZIGKEIT (2017). Das soll eine Trilogie werden, und der dritte Teil wird hoffentlich spätestens 2020 in Jena zu sehen sein. Wie eine persönliche Beziehungskrise in einem Kurhotel faszinierende Möglichkeiten eröffnet, mit seinen Mitmenschen und der sterilen Luxusumgebung in neue Beziehungen zu treten, demonstrierte der wunderbare ENTSCHULDIGUNG, ICH SUCHE DEN TISCHTENNISRAUM UND MEINE FREUNDIN von Bernard Wenger (2018).
Eher trist in Sachen Projektion und Organisation war Anfang September das Ruggero-Deodato-Midnight-Double-Feature in Wolfsburg im Rahmen des CineWays-Festivals: ULTIMO MONDO CANNIBALE und LA CASA SPERDUTA NEL PARCO wurden von einer DVD respektive einer Blu-ray jeweils auf Deutsch vorgeführt und das, obwohl Regisseur Ruggero Deodato höchstpersönlich anwesend war. Bei einem einführenden Q & A sprach er frei von der Leber über die Dreharbeiten zu ULTIMO MONDO CANNIBALE, wurde dann leider aufgrund der starken Verspätung und der sehr späten Stunde etwas unsanft unterbrochen. Viereinhalb Stunden durch halb Deutschland zu gondeln, um in einer Stadt wie Wolfsburg einer Video-Projektion beizuwohnen, das werde ich in Zukunft eher sein lassen – auch wenn die Filme sich als großartig erwiesen und Ruggero Deodato mal live zu sehen ein Erlebnis war. Vor allem war es auch schön, diesen Abend gemeinsam mit zwei guten Terza-Bekannten zu erleben.
Und das "laufende", aktuelle Kinoprogramm? Da sind bestimmt auch Filme gelaufen. Gesehen habe ich davon aber nur vier Stück im Kino, von denen mir JUMANJI und JURASSIC WORLD: FALLEN KINGDOM mehr durch ihre Einbettung in einen schönen Abend mit Freunden bei Kinobesuch, Burger-Essen und Kneipe als durch ihre filmische Qualitäten in Erinnerung bleiben (gleichwohl sie nicht schlecht waren). Sehr gerne hätte ich den Liam-Neeson-Actioner THE COMMUTER gesehen, doch die Ankündigung der Ticketverkäuferin, dass sich Sauce auf der Leinwand von Saal 2 befände, führte letztlich zu einem nichtfilmischen Alternativprogramm in einer nahegelegenen Kneipe. Die "damönische Leinwand" (Lotte Eisner) sagte mir was, die "läufige Leinwand" (Christian Keßler) ebenso – aber die "würzige Leinwand" (Cinestar Jena) kannte ich noch nicht und wollte sie, ebenso wie meine Begleiter, nicht kennenlernen. Mein liebster aktueller Film des Jahres (von den wenigen gesehenen) lief nicht im Kino, sondern im Fernsehen. Mit POLIZEIRUF 110: TATORTE drehte Christian Petzold nicht nur seinen dritten POLIZEIRUF 110, sondern auch die voraussichtlich letzte Folge mit dem Ermittler Hanns von Meuffels (dem Dominik Graf mit CASSANDRAS WARNUNG einen fulminanten Start verschaffte). Meuffels... der etwas spröde nordische Intellektuelle mit dem ausgesprochenen Hang zur Melancholie. TATORTE könnte auch "Chronik eines angekündigten Nervenzusammenbruchs" heißen, denn wir sehen einen Charakter, der 80 Minuten lang mühselig seinen Nervenzusammenbruch aufschieben muss, weil zwar sein Privatleben gerade zusammenbricht, aber trotzdem diese ganze Polizeiarbeit erledigt werden muss. Petzold erzählt fast den ganzen Film mit Matthias Brandts mürrisch-depressivem Schweigen und seinen kleinen wie großen Gesten. Ein kleines Mädchen, das psychisch zusammenklappt (sie war Zeuge, wie ihr Vater offenbar ihre Mutter ermordet hat), wird von einer Kindertherapeutin zwischendurch mit beruhigenden Worten und einer warmen Umarmung beruhigt. An Meuffels' sehnsüchtigem Blick erkennt man, dass er das kleine Mädchen um diese sanfte Behandlung fast beneidet...

Aber andere Jahre als 2018 haben auch schöne Filme. Hier nun meine besten Erstsichtungen des Jahres 2018, mehr oder minder in Reihenfolge der Bevorzugung. Die ersten vier jedenfalls sind ganz unumstrittene Spitzenreiter. Auf Platz 1, unbestritten...

DER ZWEITE FRÜHLING (Ulli Lommel: BRD / Italien 1975)
Curd Jürgens in der Sauna, vor dem Wandteppich mit den großen Männern, auf dem Swinger-Boot, mit Riesenkreuz, im Aquarium, im winddurchfluteten Herbergszimmer, vor dem atemberaubenden Panorama Roms... und noch der ganze Rest! Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


TUTTO È MUSICA (Domenico Modugno, Tonino Valerii: Italien 1963)
Ein Best-Of von Domenico Modugnos Schlagern, dargereicht in Form eines avantgardistisch-absurd-poetischen Melodrama-Tierfilm-Mondo-Neorealismus-Knastfilm-Coming-of-Age-Musicals. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.

THE LOVE WITCH (Anna Biller: USA 2016)
Regisseurin-Autorin-Produzentin (und Cutterin, Komponistin, Set-, Requisiten- und Kostüm-Designerin sowie 35mm-Fetischistin) Anna Biller schickt die moderne Liebeshexe Elaine auf eine so witzige, erotische wie triefend blutige Männerjagd. Heraus kommt ein Film, der ein wenig aussieht, als hätte Jacques Demy einen italienischen Giallo gedreht, der aber dennoch keine reine Hommage ist, sondern voll und ganz für sich alleine stehen kann. Gesehen beim 35mm-Kino in Jena.

HULLUMEELSUS (Kaljo Kiisk: Sowjetunion 1968)
Der nackte Wahnsinn in einem estnischen Sanatorium anno 1943. Sozusagen der sowjetisch-estnische SHOCK CORRIDOR. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

235 000 000 (Uldis Brauns: Sowjetunion 1967)
Der Revolutionspropaganda-Schinken als poetische audiovisuelle Ode an alle Menschen. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

IL SOLE NELLA PELLE (Giorgio Stegani: Italien 1971)
Der französische Hippie, die junge italienische Industriellentochter und die ultimative Liebe – auf der Flucht vor Engstirnigkeit, Doppelmoral und sexistisch-paternalistischer Überheblichkeit. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI (Ishii Takashi: Japan 1988)
Wahnsinnige Liebe in der Großstadt I: wenn Urinrinnsale zum Symbol der Liebe zusammenfließen. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.

TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU (Sone Chusei: Japan 1979)
Wahnsinnige Liebe in der Großstadt II: wenn die Sinne sich verzerren und der Verstand zusammenbricht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


LE MASSAGGIATRICI (Lucio Fulci: Italien / Frankreich 1963)
Der spätere sogenannte "Godfather of Gore" dreht eine flotte, spritzige Erotikkomödie über "Masseusen", Doppelmoral, Baukorruption und unstillbaren Hunger auf Mayonnaise. Gesehen beim Terza Visione – mehr zum Film hier.


THE NEST OF THE CUCKCOO BIRDS (Bert Williams: USA 1965)
Charles Laughton, Dalton Trumbo, Saul Bass, Aleksandr Askol'dov, Akramzadeh... jetzt müsste nun also nach der kürzlichen Wiederentdeckung dieses Films auch Bert Williams in diese Liste einmaliger Regisseure eingefügt werden. Vom angerissenen police-procedural entwickelt sich THE NEST OF THE CUCKCOO BIRDS zu einem verschwitzten, Tennessee-Williams-artigen, inzestuösen Kammerspiel-Melodrama, um dann als verhinderter Slasherfilm mit einer nackten Mörderin im Mondschein den Missing-Link zwischen Franjus LES YEUX SANS VISAGE, Hitchcocks PSYCHO und Hoopers THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE zu bilden. Ein derangierter Film voller bizarrer Poesie und Schönheit.


THE RING (Alfred Hitchcock: UK 1927)
Mehr ein Melodrama à la G. W. Pabst als ein Thriller und doch durch und durch Hitchcock'isch. Der titelgebende "Ring" zieht sich in gleich drei Varianten durch den Film. Als Boxring, auf dem Jack "One Round" Sander um die Liebe seiner Verlobten, dann Ehefrau Mabel kämpft (statt sich tatsächlich im Privaten mit ihr auseinanderzusetzen); als Ehering, der formal den Bund Jacks und Mabels symbolisiert und doch schwächer ist als Mabels Anziehung zum Boxmeister Corby; als Armreif, ein Geschenk des Nebenbuhlers Corby an Mabel, das ihr immer wieder in den unmöglichsten Momenten den Arm runterrutscht, um sich provozierend und aufreizend in Nähe des Eherings zu platzieren: unter anderem gleich bei der Hochzeit, in dem Moment, in dem sie den Ehering übergestreift bekommt – für mich jetzt einer der ganz großen, unglaublichen Hitchcock-Momente.

THE MANXMAN (Alfred Hitchcock: UK 1929)
Melodrama à la G. W. Pabst, zum zweiten. Auch hier wieder unglaublich, wie Hitchcock eine versteckte Dreierbeziehung visuell erzählt: der betrogene Ehemann, der sich unwissend hinter den Gesichtern der beiden Liebenden über sein uneheliches Kind freut; die Hand, die die Haustür mit Wucht zuknallt und so der Frau den Freiraum wegnimmt; die Hochzeit in der Mühle, mit dem sündigen Mahlstein des Betrugs im Hintergrund.

SCORTICATELI VIVI (Mario Siciliano: Italien 1978)
Dies ist zweifelsohne der Vorläufer von Sicilianos letztem Film ROLF (von mir hier besprochen). Statt des mit christlicher Symbolik dargestellten Märtyriums eines Ex-Söldners steht hier ein Söldnerkollektiv im Vordergrund, dessen Alltag aus Vergewaltigungen, Folterungen und Ermordungen besteht. Gesehen habe ich SCORTICATELI VIVI beim Karacho-Festival des Actionfilms, als Spätvorstellung nach einer Prime-Time-Projektion von ROBOCOP. Sehr passend, weil Siciliano mit seinem Material ein bisschen wie Verhoeven arbeitet, bloß mit kleinerem Budget, ohne Humor und ohne jegliches Interesse an klassischer Narration und Dramaturgie (man könnte sagen: Unterhaltungswert). Die scheinbar völlig erratische Aneinanderreihung von Grausamkeiten, einige davon aus einem früheren Siciliano-Film hineingeschnitten, absolut infernalisch unterlegt von Stelvio Ciprianis swingendem Lounge-Score, schafft eine dystopische Atmsophäre: stell dir vor, die Welt besteht nur aus Menschen, die andere Menschen quälen und töten. SCORTICATELI VIVI ist eine Reise ohne Rückkehr in dunkle menschliche Abgründe aus übersteigerter Männlichkeit, kolonialen Sexfantasien, verblendeter Geldgier und rasender Mordlust. Am Ende schenkt ein Mann seiner Geliebten einen schönen Pelzmantel – wir wissen aber, mit welchen furchtbaren Verbrechen er das Geld dafür verdient hat, und so wird der Zuschauer mit einem der grausamsten "Happy Ends" aller Zeiten völlig am Boden zerstört zurück gelassen.


THERE'S ALWAYS TOMORROW (Douglas Sirk: USA 1955)
Zwischendurch wirkt Sirks Film fast wie eine Allegorie auf die Kommunistenjagd: mit einem Sohn, der fanatisch seinen eigenen Vater verfolgt und am liebsten zum moralischen Scheiterhaufen verurteilen möchte. Am Ende ist Clifford besiegt: während sich die Liebe seines Lebens in einem Flugzeug von ihm entfernt, geht er (quasi im Rhythmus des von ihm erschaffenen Walkie-Talkie-Robot-Man "Rex") zurück zu seiner Familie und lächelt. Er wird sein Lebensglück in seiner Rolle als musterhafter Ehemann und Vater finden – egal, ob er es möchte oder nicht. Weitere Sichtungen werden zeigen, ob sich mit diesem Film meine persönlichen "Großen vier Sirks" (MAGNIFICENT OBSESSION, ALL THAT HEAVEN ALLOWS, WRITTEN ON THE WIND, IMITATION OF LIFE) zu den "Großen Fünf" erweitern werden.


VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? (Juris Podnieks: Sowjetunion 1986)
Einfühlsames Portrait der Rigaer Jugend zwischen Tschernobyl, Punk, Afghanistankrieg und Underground-Kino. Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.


DIE ZWEITE HEIMAT – CHRONIK EINER JUGEND (Edgar Reitz: Deutschland 1992)
Reitz' monumentaler Filmzyklus ist schon in seiner Ambition bewundernswert, gleichwohl die letzten beiden Filme einen etwas trüben Eindruck hinterlassen haben. In seinen besten Momenten vibriert DIE ZWEITE HEIMAT vor Leidenschaft, Erotik, Freude, Melancholie. "Das Spiel mit der Freiheit. Helga 1962" ist sicherlich das große Meisterwerk des Zyklus: ein unfassbar erotischer Film, in dem unser Protagonist Hermann, der eingangs doch ein Gelübde zum ewigen Verzicht abgelegt hatte, gleich von drei Frauen gleichzeitig umschwärmt wird und sich in einer dunklen, regenreichen Nacht fatalerweise für die falsche entscheidet. "Eifersucht und Stolz. Evelyne 1961" demonstriert wunderbar Reitz' Fähigkeit, über weite Strecken ausschließlich über Blicke und kleine Gesten zu erzählen – im Laufe einer langen, dramatischen Partynacht. Nicht zu vergessen ist schließlich der dunkel-romantische, tieftraurige und todessehnsüchtige Venedig-Film "Das Ende der Zukunft. Reinhard 1966".

LE DERNIER DES INJUSTES (Claude Lanzmann: Frankreich / Österreich 2013)
Mein erster Lanzmann-Film: ich bin fast vom Stuhl heruntergefallen, als noch in der ersten halben Stunde ein zeitgenössisches Archivfoto zu sehen war – etwas, was Lanzmann bekanntermaßen jahrzehntelang verschmäht hatte. Der Rest des Films ließ mich allerdings wieder auf meinem Stuhl festkleben. Besonders faszinierend ist, wie Lanzmann mit Länge umgeht, wie gnadenlos viel Zeit er sich nimmt. Leider ist Lanzmann im Sommer 2018, wenige Monate nach meiner Sichtung, verstorben.


KILLER CONTRO KILLERS (Fernando Di Leo: Italien 1985)
Di Leo, der in den 1970er Jahren "linke" Polizieschi drehte (die implizit männliche Gewaltphantasien sowie die Vermengung von kapitalistischer Ausbeutung, organisiertem Verbrechen und kirchlichen Machtstrukturen kritisierten), lässt in seinem allerletzten Film die Sau (bzw. eigentlich den Gepard) raus und Henry Silva von der Kette: Eine stellenweise vollkommen unfassbare, comichaft überzeichnete, reine Pulp-Fantasie, in der Silva seine Gegner am Ende gleich einzeln mit der Bazooka wegfetzt, wenn er die Drecksarbeit nicht seinen Haustieren delegiert.


NAPOLÉON ["Kevin-Brownlow-Cut"] (Abel Gance: Frankreich 1927)
Der "Coppola-Cut" von NAPOLÉON hat mich vor einigen Jahren stark unterwältigt: sollte das, was ich da sah, wirklich das so oft gelobte visionäre, revolutionäre Filmmonument sein? Der fünfeinhalbstündige und damit knapp zwei Stunden längere "Brownlow-Cut" zeigte nun tatsächlich einen ganz anderen Film: überbordend und wahnwitzig in seinen visuellen Einfällen, rührend (der kleine Beamte, der die Polizeiakten aufisst) und komisch (die ungelenke Annäherung der Titelfigur und Joséphines) in den kleinen Gesten, grell, orgiastisch und geil in dem vorher völlig unterschlagenen "bal des victimes" und seiner Zeit erstaunlich voraus in seiner Darstellung erotisch-fetischisierter Anbetung. Ein Wahnsinnsfilm in der Tat!

DU UND ICH UND KLEIN-PARIS (Werner W. Wallroth: DDR 1971)
oder: die wahrscheinlich ultimative Leipziger Rom-Com. Und sicherlich (im wörtlichen Sinn) die röteste. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO (Aldo Lado: Italien / BRD / Jugoslawien 1971)
oder: ein toter Mann erinnert sich an seine letzten Stunden in einem zombifizierten, verfallenen, kafkaesken Prag. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

PENSIONE PAURA (Francesco Barilli: Italien / Spanien 1977)
Barillis zweiter und vorerst letzter abendfüllender Kinofilm ist genauso wenig ein handelsüblicher Giallo wie sein IL PROFUMO DELLA SIGNORA IN NERO und sogar noch singulärer und unklassifizierbarer: ein außergewöhnlicher Hotel-Film, angesiedelt in der späten faschistischen Ära; ein zärtliches Coming-of-Age-Drama mit verliebten Teenagern; ein ruppiger Sleaze-Hobel mit einem herrlich widerwärtigen Luc Merenda; ein Slasher-Film, der im Schlamm und im Unterbewusstsein seiner Protagonistin watet; eine impressionistisch Meditation über Verlust und Trauer; ein grotesk-surrealer Fieberalptraum; ein Film über nackten Wahnsinn, mit der absolut faszinierenden Leonora Fani als liebende, verängstigte und wahnsinnige Protagonistin.


LA MORTE HA SORRISO ALL'ASSASSINO (Aristide Massaccesi: Italien 1973)
Schon in den ersten Minuten wird klar, dass Massaccesi (später allgemein bekannter als Joe D'Amato) seine Geister- und Wiederkehrergeschichte fast ausschließlich über sehnsüchtige, lustvolle Blicke erzählt – oder besser gesagt: vor sich hinfliessen lässt. Ob Kubrick ihn gesehen hat? Den Kuss mit der wunderschönen, lasziven Frau, die sich als doch nicht ganz so in Ordnung entpuppt, gab es jedenfalls schon vor THE SHINING.

ZARDOZ (John Boorman: Irland / USA 1974)
Wenige Jahre zuvor hatte Boorman in POINT BLANK den film noir zerschlagen, nun dekonstruierte er auch bilderstürmerisch den Science-Fiction-Film. Sean Connery sah als Bond niemals so bestialisch sexy aus wie hier in seinem roten, windelartigen Schlüpfer, mit Pferdeschwanz und Pornoschnurrbart, aber daneben gibt es auch viele weitere unglaubliche Bilder: der Totemkopf, der Gewehre ausspuckt; der Gerümpelkeller voller antiker Statuen; die erregt-orgiastische Kollektivsichtung von Zeds Vergewaltigungs- und Morderinnerungen. Ein unglaublich energischer Film über den dünnen Firnis der Zivilisation, über ausgelagerte kapitalistische Ausbeutung und über das unergründliche Wesen der Zeit, der Erinnerung und der Erektion.

SPIDER BABY (Jack Hill: USA 1967)
Ein Aufstand der verspielten "Irren" und "Kindsköpfe" gegen die gutbürgerlichen "Anständigen", die unter dem Deckmantel des "Wohlmeinenden" nur an Profit denken. Am Ende gewinnen zwar die "Anständigen", aber die "Krankheit" ist "vererbt" worden. Die Kinder werden zuerst mit Spinnen spielen und sich dann (hoffentlich) gegen die Eltern wenden...


AVANTI! (Billy Wilder: USA / Italien 1972)
Ein utopischer Film, in dem die Liebe, ja, nicht Hass, Traditionen, Geld, Krankheiten, Immobilien, sondern die Liebe vererbt wird.

L'AMI FRITZ (Jacques de Baroncelli: Frankreich 1933)
Auch dieser Film wirkt utopisch: nicht nur, weil hier ein Rabbiner als selbstverständlicher Teil der Dorfgemeinde akzeptiert wird (das wird sogar überhaupt nicht "thematisiert"), sondern weil das Genießen üppiger Banketts als pure Lebensfreude und nicht als Sünde verstanden wird (auch wenn die Titelfigur am Ende dann doch unter die Haube kommt). Großen Dank an Manfred für den Hinweis auf den Film!

DAS ALTE GESETZ (Ewald André Dupont: Deutschland 1923)
oder: THE JAZZ SINGER vier Jahre vorher, ohne Jazz, dafür mit Shakespeare und einem ungeahnten Gespür für unterschwellige Erotik.

AU BONHEUR DES DAMES (Julien Duvivier: Frankreich 1930)
Vor fünf Jahren hatte ich den Film angefangen, war aber wohl nach einer halben Stunde eingeschlafen. Was ich im Halbschlaf gesehen hatte, begeisterte mich: eine wilde, völlig entfesselte Kamera wütete sich durch die psychosoziale Geografie eines Kaufhauses. Im wachen Zustand bestätigte sich, was für ungeahnte Gipfel der Stummfilm 1930 erreicht hatte.

THE IPCRESS FILE (Sidney J. Furie: UK 1965)
Größtenteils das gleiche Personal wie in der zeitgenössischen 007-Reihe, doch mit einem Regisseur unter anderem aus dem Bereich der Neuen Britischen Welle und dem Kameramann von PEEPING TOM entsteht hier so etwas wie ein Avantgarde-James-Bond-Film, dessen Figuren an den Rand der Paranoia gedrängt werden, weil ständig ein Gegenstand im Bildvordergrund sie zur Seite drängt.

KOZURE ÔKAMI: SANZU NO KAWA NO UBAGURUMA (Misumi Kenji: Japan 1972)
À propos meisterhafte Avantgarde-Actionfilme: der zweite Film der "Lone Wolf & Cub"-Reihe reduziert alles auf pure Aktion, und destilliert diese dann noch zu fast abstrakten Montagen. Das ging die erste halbe Stunde so und der Film machte mir die Freude, das wirklich bis zum Schluss konsequent durchzuziehen. Eine Augenweide!


BLOODSPORT (Newt Arnold: USA 1988)
Ganz und gar nicht avantgardistisch, aber trotzdem sehr beglückend. Alleine der Moment, in dem die zwei Polizisten in einem Imbiss erfolglos versuchen, mit Stäbchen zu essen (ich fühle mit ihnen – ich bin diesbezüglich nämlich auch völlig unfähig). Das macht die mäßig gefilmten Actionszenen wieder wett.

DANCE MUSIC (Vittorio De Sisti: Italien 1984)
Über ein Dutzend 35mm-Kopien dieses Films lagern im Archiv des Frankfurter Filmmuseums. Die sollten unbedingt eine Deutschland- bzw. noch besser eine Europa-Tour machen: der Weltfrieden wäre dann wahrscheinlich ein Stückchen näher. Gesehen beim Terza Visione – mehr zu diesem wunderbaren, im herrlichsten Sinne des Wortes "naiven" Film hier.

REVUE UM MITTERNACHT (Gottfried Kolditz: DDR 1962)
Ein Feigenblättchen von einer Rahmenhandlung sperrt einige Künstler in ein Haus ein, damit sie dort eine Revue erschaffen können. Ganz ohne Hemmungen können sie hier ihren farbenfrohen Fantasien frönen und erschaffen so ein Musical, dessen "Selbstzweckhaftigkeit" möglicherweise mehr als viele Hollywood-Filme zur Essenz des Genres vordringen: Tanz, Farben, Bewegung. Gesehen beim Paradies-Filmfestival.

KRAKATIT (Otakar Vávra: ČSSR 1948)
Ein film-noir-Fieberalptraum, so psychedelisch, dass einem die Kinnlade herunterklappt, so konsequent, wie es nur wenige US-amerikanische noirs gewagt haben – und das alles entstanden in einem stalinistischen Land. Mehr zu dem Film gibt es hier von Manfred zu lesen.

DARK CITY [Kino-Fassung] (Alex Proyas: Australien/USA 1998)
Noch ein Jahr vor EXISTENZ und THE MATRIX erforscht DARK CITY eine parallele Realität, die in einer verführerisch dunklen und ewig nächtlichen film-noir-Stadt angesiedelt ist. Am Ende weiß der Film zwar nicht unbedingt, wie die Welt entstanden ist, aber doch, wie Gott "entstanden" ist: er hat sich an die Macht geputscht! Gesehen beim 35mm-Kino in Jena.

THE MAN FROM HONG KONG (Brian Trenchard-Smith: Australien / Hong Kong 1975)
Gesehen beim Karacho-Festival des Actionfilms und es war definitiv der Film, der dem Titel des Festivals am meisten gerecht wurde: ein Hong-Konger James Bond namens Fang jagt in Australien den Bösewicht Jack Wilton (genüsslich von Ex-Bond George Lazenby gespielt) zu Fuß, mit Fäusten, mit schnellen Autos und mit einem Deltasegler. Die Erotik ist schmieriger, die Liebe melodramatischer, die Action dreckiger und die Schläge wesentlich härter als beim britischen Vorbild. Die Erbarmungslosigkeit, mit der eine wüste Prügelei in einem Restaurant so lange und mit zunehmender Intensität in die Länge gezogen wird, bis die komplette Einrichtung gefühlt durch ein Tennisschläger passen könnte, ist beeindruckend und eine lange, extrem rasante Autoverfolgungsjagd gibt einen Vorgeschmack auf MAD MAX (Hugh Keays-Byrne ist schon mal mit von der Partie).

WHITE OF THE EYE (Donald Cammell: UK / USA 1987)
Ein Giallo in der amerikanischen Provinz, der eine fast schon gemächliche Erzählweise zwischendurch mit flimmernd-assoziativen Montagen aufbricht. Hier kommt Dominik Graf also unter anderem her...


DRESSED TO KILL (Brian De Palma: USA 1980)
Ein Giallo in der amerikanischen Großstadt. Die Steadicam-Scope-Bilder sind ein Traum, die "Verführungsjagd" im Museum (VERTIGO lässt grüßen) ist fantastisch. Besonders schön: die Nachbildung von Marnies Samstagsschicht in Marks Firma, mit dem gleichen Gewitter (in Blau statt Rot), aber mit sozusagen umgekehrten Rollen. Dass De Palma nicht nur PSYCHO, sondern auch den größtenteils (aber nicht allseits!) ungeliebten MARNIE verehrt, ließ mein Herz aufgehen. Mein Unbehagen gegenüber dem, was ich als De Palmas Misogynie bezeichnen würde (vor allem bei den mir unerträglichen CARRIE und PASSION), wurde in DRESSED TO KILL besänftigt: sein analytischer Blick für männliche physische, psychische und strukturelle Gewalt gegen Frauen ist in diesem Film rasiermesserscharf. Ist er doch ein verkappter Feminist?

LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT (Jacques Demy: Frankreich 1967)
Ich hätte zwar gedacht, dass der etwas zwielichtige Kunsthändler, der gerne Farbbeutel zerschießt, der Mörder ist, aber das wäre wohl zu naheliegend gewesen...

THE TALL T (Budd Boetticher: USA 1957)
Randolph Scott, der die Süßigkeitenstangen völlig umständlich immer in der Hand halten muss und mit sich rumträgt (einen Beutel hat er offensichtlich nicht): was für ein tolles Bild, das man von einem Western mitnehmen kann. Und in wie vielen Westerns schämt sich der Bösewicht so derart offensichtlich, ein Bösewicht zu sein (aber es ist halt so geworden)? Ansonsten inszeniert Boetticher seinen Film derart minimalistisch, dass noch nicht mal wie sonst bei ihm durch die Landschaft geritten wird.


HOW TO STEAL A MILLION (William Wyler: USA 1966)
Abgesehen von BEN-HUR, der nicht gerade als sein typischster und persönlichster Film gelten kann: mein erster Wyler. Viel gibt es nicht zu sagen: klassisch inszeniert, witzig, unterhaltsam, perfektes Timing, spannend, mit schauspielerischen Bestleistungen, herzerwärmend. Kann nicht jeder Film.

DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN (Rolf Olsen: BRD / Italien 1967)
Eine Exploitation-Achterbahnfahrt vom Frauenknastschmier zum Flucht-Actioner, vom Home-Invasion-Thriller zum grotesk-schwarzen Slapstick. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.

VIIMNE RELIIKVIA (Grigori Kromanov: Sowjetunion 1969)
Wackere Ritter und scharfe Degen, krosse Hammelkeulen und lüsterne Blicke... Gesehen beim goEast-Festival – mehr zum Film hier.

WUNDER DER SCHÖPFUNG (Hanns Walter Kornblum: Deutschland 1925)
"Galileo" anno 1925: ein Dokumentarfilm über das Universum, das Sonnensystem, die Planeten, die Sterne, erklärt in zahlreichen Animationen. Am Ende gibt es auch ein wenig Weltuntergang als Bonus.

THE FIREWORKS WOMAN (Wes Craven: USA 1975)
Ein großer "kleiner" Film über eine große, tragische Geschwisterliebe. Gesehen beim Hofbauer-Kongress – mehr zum Film hier.


LE FRISSON DES VAMPIRES (Jean Rollin: Frankreich 1971)
Ich zitiere aus einer von mir anderswo publizierten Kurzbesprechung: "Aus [einer] scheinbar klassischen Vampirgeschichte zaubert Rollin Wahn und Poesie: lesbische Vampire entsteigen nicht Särgen, sondern einer großen, antiken Standuhr; die beiden Cousins entpuppen sich als ironisch philosophierende Exzentriker in Klamotten, die man wohl als Hippie-Barock bezeichnen könnte; die Braut traumwandelt nächtens nackt und saugt tagsüber weiße Tauben aus; dem Bräutigam juckt es zunehmend im Schritt, weil seine Braut die erste Ehenacht immer wieder aufschiebt. Gerade in letzterem mag man erkennen, dass Rollin nicht nur ein reiner Ästhet ist, sondern dass sein Herz für alternative Auffassungen von Beziehung und Sex, für Träumer, Verstoßene und Unterdrückte schlägt. [LE FRISSON DES VAMPIRES] ist auch die Geschichte einer jungen Frau, die sich von den engen Fesseln der bürgerlichen Ehe mit einem kalten Rationalisten löst – und lieber freie Liebe mit Außenseitern und Exzentrikern macht."

ULTIMO MONDO CANNIBALE (Ruggero Deodato: Italien 1977)
So nackt wie sein von einem Kannibalenstamm gefangener Protagonist präsentiert sich auch der Film selbst: es ist beeindruckend, wie radikal ULTIMO MONDO CANNIBALE über bestimmt gut ein Drittel seiner Laufzeit nicht nur jegliches gesprochene Wort, sondern auch jede Spur von "entspannender" Rahmenhandlung (etwa ein potentieller Suchtrupp) verweigert und sich komplett dem Märtyrium, dann der Verrohung seines Protagonisten hingibt. Der Ur-Film, der "Quellentext", zu dem CANNIBAL HOLOCAUST später den "kritischen Anmerkungs- und Interpretationsband" liefern sollte.


L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE (Aldo Lado: Italien 1975)
Lado verwischt die Fronten zwischen den "Asozialen" und den "Anständigen", den gutbürgerlichen Familienvätern, den respektablen Damen. Wie in LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO verliert am Ende die Jugend. Abgesehen davon ein fast unerträglich intensiver Film und nicht zuletzt Ennio Morricones Score und sein schauerregendes Harmonika-Thema trägt dazu bei.

L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA (Raimondo Del Balzo: Italien 1973)
Eine dysfunktionale Familie macht einen kleinen Jungen nicht nur unglücklich, sondern schließlich sogar krank... todkrank. Gesehen beim Terza Visione – mehr zu diesem wunderschönen und tieftraurigen Melodrama hier.


Hach... es war so ein schönes Filmjahr. Hier noch ein kleiner Bonus ohne Kommentare, alphabetisch gelistet.

AMNESIA (Barbet Schroeder: Frankreich / Schweiz 2015)
BOXER A SMRT (Peter Solan: ČSSR 1963)
CHI L'HA VISTA MORIRE (Aldo Lado: Italien / BRD 1972) [gesehen beim Paradies-Filmfestival]
THE COMMITMENTS (Alan Parker: Irland / UK / USA 1991)
ENTERTAINMENT (Rick Alverson: USA 2015)
DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann: DDR 1988) [gesehen beim Paradies-Filmfestival]
FASTER, PUSSYCAT! KILL! KILL! (Russ Meyer: USA 1965)
GANJA & HESS (Bill Gunn: USA 1973)
ICH WAR NEUNZEHN (Konrad Wolf: DDR 1968)
KILLING AMERICAN STYLE (Amir Shervan: USA / Kanada 1988) [gesehen beim Hofbauer-Kongress – hier mehr zum Film]
LIEBE, SO SCHÖN WIE DIE LIEBE (Klaus Lemke: BRD 1972)
MURDER! (Alfred Hitchcock: UK 1930)
RIDE IN THE WHIRLWIND (Monte Hellman: USA 1966)
SALINUI CHUEOK (Bong Joon-ho: Korea 2003)
TOY STORY (John Lasseter: USA 1995)
TOY STORY 3 (Lee Unkrich: USA 2010)
TRUE ROMANCE (Tony Scott: USA / Frankreich 1993)


Wiedersehen macht Freude
In dieser letzten Rubrik geht es um Überraschungen und Offenbarungen bei Zweitsichtungen. 


RISKY BUSINESS (Paul Brickman: USA 1983)
Bei der ersten Sichtung (ich glaube 2011) erwartete ich eine Komödie, die um den in weißen Socken tanzenden Tom Cruise herum aufgebaut wird. Nun habe ich diesen Film endlich als das tolle, subversive, bitterböse und verstörende Schmierfest gesehen, das er ist.


WHERE THE BUFFALO ROAM (Art Linson: USA 1980)
Bei der Erstsichtung hatte ich zu stark Terry Gilliams FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS im Kopf, der sich Hunter S. Thompsons Irrsinn nicht nur erzählerisch, sondern vor allem auch formell zu eigen machte, während WHERE THE BUFFALO ROAM im direkten Vergleich geradezu statisch und leblos wirkte. Die Zweitsichtung hat mir den besonderen Reiz dieser leicht fernsehmäßigen, ja fast Sitcom-artigen Inszenierung offenbart. Gilliam überwältigt – Linson schaut mit der kühlen Distanziertheit eines unerschütterlichen britischen Gentleman zu. Und Johnny Depps Interpretation von Thompson wäre ohne Billy Murrays Vorbild natürlich nicht möglich gewesen.


LA POLIZIA CHIEDE AIUTO (Massimo Dallamano: Italien 1974)
Dieser Film hat mich 2017 bei der ersten Begegnung größtenteils kalt gelassen, sowohl als Giallo-Poliziesco-Hybrid-Thriller, wie auch als filmischer Blick in menschliche Abgründe, wie auch als politischer Film. Beim Nürnberger Giallo-Festival, in einem Kinosaal auf großer Leinwand von einer wunderbaren 35mm-Kopie präsentiert, hat mich der Film hart erwischt, wie eine Abfolge von zunehmend härteren Schlägen. Ja, die Mordzüge des Motorradfahrers mit dem Fleischerbeil und die resultierenden Verfolgungsjagden sind zum Nägelkauen. Ja, das statische Tableau mit den beiden Protagonisten, die den Tonbandaufzeichnungen von den "Treffen" zwischen den jungen Mädchen und den zahlenden Herrschaften zuhören, ist geradezu unerträglich. Ja, der Schluss, als die drei Staatsbediensteten wissende Blicke austauschen und Adorf sein Kündigungsgesuch zerreisst: ein Moment der Hoffnung, weil sie aus dem Inneren des Apparats weiterkämpfen werden – und doch des Unbehagens, weil der resignierte, frustrierte Schritt hin zum totalen Kampf, zum Terrorismus, fast schon naheliegend erscheint.


SECRET BEYOND THE DOOR (Fritz Lang: USA 1947)
2012 sah ich den kommerziell schwer gefloppten SECRET BEYOND THE DOOR als Film, der seine Potentiale nicht "einlöste", als eine Art schwacher Hitchcock-Ripoff des Hitch-Mentors Lang. Statt als schwachen Nachgänger Hitchcocks beschrieb Robert Zion den Film in diesem sehr lesenswerten Text als starken Vorgänger von Dario Argentos SUSPIRIA und INFERNO und regte mich zu einer überfälligen Neusichtung an. Die Argumentation "wie ein Stück aus dem Unbewussten herausgeschnittenes Kino" sowie dass Lang im Gegensatz zu Hitchcock mehr an einer Verdichtung des Traumhaften denn an spannungsvollem Erzählen interessiert war, trifft es perfekt. SECRET BEYOND THE DOOR ist ohne jeden Zweifel merkwürdig, bizarr, off, leicht derangiert und störrisch. Er scheint manchmal regelrecht zu zerfallen in seinen kleinen Episoden: Worte und Taten scheinen ohne Konsequenz in dieser Welt zu verhallen, wie in einem Alptraum. Ein schwieriges Meisterwerk.

Der erste Monat des Jahres 2019 ist nun fast vorbei, da ist es vielleicht etwas zu spät, um ein gesundes, neues Jahr zu wünschen. Aber zumindest ein gutes Jahr 2019 voller toller Filmerlebnisse wünsche ich herzlich allen Lesern.