Dienstag, 21. April 2020

Deutschland im Würgegriff des Virus ... oder?

DIE HAMBURGER KRANKHEIT
Deutschland (BRD)/Frankreich 1979
Regie: Peter Fleischmann
Darsteller: Helmut Griem (Sebastian), Carline Seiser (Ulrike), Ulrich Wildgruber (Heribert), Fernando Arrabal (Ottokar), Rainer Langhans (Alexander), Tilo Prückner (Fritz), Romy Haag (Carola), Peter von Zahn (Senator), Rosel Zech (Dr. Ursula Hamm), Leopold Hainisch (Prof. Placek), Evelyn Künneke (Wirtin), viele Laiendarsteller
"Um wieviele Todesfälle handelt es sich?"
"Vor drei Tagen waren es zwölf. Vorgestern 57. Und heute haben wir schon keinen Platz mehr."
Es beginnt alles scheinbar ganz harmlos. In einem Hamburger Kongresszentrum findet eine Tagung einer gerontologischen Vereinigung statt, in der es darum geht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, also das menschliche Leben möglichst lange, womöglich unbegrenzt, zu verlängern. Das erweist sich als vorweggenommene bös-ironische Pointe, denn statt ewig zu leben, fallen zur selben Zeit auf Hamburgs Straßen gerade die Leute reihenweise tot um. Unter den Vortragenden auf dem Kongress befindet sich der Arzt und Gerontologe Professor Sebastian Ellerwein. Als ein älterer Kollege kollabiert und in einer Klinik stirbt, erfährt Sebastian von der mit ihm befreundeten Ärztin Dr. Hamm, was bisher der Öffentlichkeit verschwiegen wurde, um eine Panik zu vermeiden: Seit ein oder zwei Wochen kippen Leute regelrecht aus den Latschen und sterben innerhalb von Minuten oder nur Sekunden, und unmittelbar vor ihrem Tod nehmen sie eine verkrümmte Embryo-Haltung ein. Den genauen Beginn der Epidemie kennt man nicht, weil die ersten sporadischen Fälle nicht miteinander in Verbindung gebracht wurden, aber jetzt ist die Malaise unübersehbar geworden. Wenn man exponentielles Wachstum unterstellt, dann bedeuten die Zahlen aus dem obigen Zitat, dass es jetzt, nach Ablauf der drei Tage, schon fast 1300 Tote gibt.

Ulrike und Sebastian, Ottokar und Heribert
Professor Strasser vom Tropeninstitut, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, vermutet ein hochansteckendes Virus als Ursache, das vermutlich über den Hafen eingeschleppt wurde. Doch Razzien der Gesundheitspolizei im Hafenviertel, bei denen ausländische Seeleute reihenweise zwangsvorgeführt und medizinisch untersucht werden, bleiben ohne konkrete Ergebnisse. Sebastian steht der Virentheorie ohnehin skeptisch gegenüber. Er vermutet eher, dass ein sich selbst verstärkender Teufelskreis aus Stress, Lärm, allen möglichen Umweltgiften und Angst vor der Krankheit ebendiese Krankheit auslöst und zu den Todesfällen führt. Was ihn auch stutzig macht: Bei seinen eigenen früheren molekularbiologischen Forschungen im Labor seines Mentors Prof. Hammerschmidt sind als Versuchstiere verwendete Schimpansen reihenweise verendet - und haben dabei Embryo-Haltung angenommen. Doch Sebastian findet kein Gehör, und nachdem die Politik nun handeln muss, setzt sich Prof. Strasser mit seinen Vorschlägen durch, alle Kontaktpersonen der Verstorbenen zwangsweise in strenge Quarantäne zu nehmen, und der Bevölkerung flächendeckend Breitband-Virostatika zu verabreichen (was im weiteren Verlauf des Films und jetzt auch von mir vereinfachend als "Impfung" bezeichnet wird - wie wir alle wissen, lässt ein echter Impfstoff für eine neue Krankheit erst mal auf sich warten).

Prof. Strasser, rechts unten mit dem Senator
Parallel zur Etablierung der Epidemie und von Sebastian als (vermeintlicher) Hauptfigur lernen wir drei weitere Protagonisten kennen. Da ist der tatkräftige und etwas schmierige Heribert, der in seiner Imbissbude in St. Pauli Würstchen feilbietet. Er sieht die Epidemie darwinistisch - die Natur greift zur Selbsthilfe und sortiert die Schwachen aus, und am Ende wird es für die Übriggebliebenen besser sein als zuvor. Da ist der ihm in einer Art Hassliebe verbundene Rollstuhlfahrer Ottokar - ein zynischer Giftzwerg, der schnell ausfallend bis hysterisch wird, wenn es nicht nach seiner Pfeife geht. Und da ist die junge Ulrike, die unbedarft und seltsam distanziert durchs Leben geht, als würde sie die Seuche um sie herum nichts angehen. Sie übernimmt im Film die Rolle des "reinen Tors", Peter Fleischmann verglich sie in einem Interview mit einem Simplicissimus, der allen Gefahren entgeht. - Als Sebastian ein Opfer der Krankheit auf der Straße untersucht, ohne Handschuhe, Maske oder sonstige Schutzmaßnahmen, wird er prompt von der Polizei in eine der überfüllten Quarantänestationen verfrachtet und trifft dort auf Heribert und Ulrike. Doch der umtriebige Heribert gedenkt nicht, dort lange zu bleiben. Als unter den Insassen ein Tumult ausbricht, benutzt er die Gelegenheit zur Flucht, die er mit Ottokars Hilfe bereits vorbereitet hat, und in seinem Schlepptau entkommen auch Sebastian und Ulrike. Zusammen fliehen die vier in Heriberts Lieferwagen, und mit Glück und Chuzpe lavieren sie sich durch die inzwischen allgegenwärtigen Polizeikontrollen und verlassen die Stadt.

Fritz (noch auf dem Dach) und Alexander; Heriberts Wagen geht in Flammen auf
Aber die Hoffnung, dass die Seuche auf Hamburg beschränkt ist, zerschlägt sich schnell. Bereits im ersten Bauerndorf, durch das die Flüchtlinge kommen, liegen die Toten auf der Straße und in den Höfen. Als Ottokar, Sebastian und Ulrike in einer gemeinsamen Anstrengung eine Leiche, die gerade von Schweinen angefressen wird, aus dem Stall bergen, ist Heribert über die daraus erwachsende Ansteckungsgefahr so verärgert und angewidert, dass er im Streit alleine weiterfährt. Für die anderen ist trotzdem für das Fortkommen gesorgt, denn im Dorf finden sich doch noch zwei Überlebende. Da ist der zappelige Fritz, der sich vor der im Dorf stattgefundenen Impfaktion auf das Dach eines Bauernhauses gerettet hat, und der meint, dass er nur deshalb überlebt hat, weil er eben nicht geimpft wurde. Nun legt er zunächst mal geradezu panisch Wert auf räumlichen Abstand zu seinen neuen Bekannten - social distancing im Jahr 1979. Der zweite Überlebende ist der leicht esoterisch angehauchte Alexander, der eine nicht so recht zu ihm passende Tätigkeit ausübt - er überführt Wohnwagen an die Käufer, und daran hält er auch jetzt fest, als würde um ihn herum nichts Besonderes geschehen. Seine Abgeklärtheit ist aber nicht naiv wie bei Ulrike, sondern entspringt sozusagen der höheren Warte fernöstlicher Weisheiten. Mit seinem Geländewagen und dem daran hängenden Wohnwagen setzen die nunmehr fünf Reisegenossen die Fahrt fort.

Ausnahmezustand in Hamburg und Lüneburg
Zunächst soll es nach Lüneburg gehen, wo Sebastian mit seinem früheren Chef Prof. Hammerschmidt die Lage erörtern will. Doch die Stadt ist bereits von der Polizei und einer regelrechten Zivilschutzmiliz abgeriegelt - die zahlreichen Flüchtlinge aus Hamburg werden nicht hineingelassen. Auch telefonisch gelingt es nicht, Kontakt mit Hammerschmidt aufzunehmen - diese Spur (wenn es überhaupt eine war) verläuft endgültig im Sand. Und dann kommt es zu einer dramatischen Wende. Sebastian und Ulrike, die von den anderen getrennt wurden, logieren in der von der Polizei versiegelten Wohnung von Sebastians Schwester (deren Schicksal im Dunkeln bleibt). Sebastian bekommt glasige Augen, fällt vom Sessel, rollt sich zur Embryo-Haltung zusammen und stirbt. Von den knapp zwei Stunden des Films ist gerade mal eine gute Stunde vergangen. Das ist für den unvorbereiteten Zuschauer ein Schlag in die Magengrube. Gewiss, Fleischmann war nicht der erste, der sowas gemacht hat. Erst wenige Monate vor der Premiere von DIE HAMBURGER KRANKHEIT hat in ALIEN gegen die üblichen Genre-Konventionen der Captain frühzeitig den Löffel abgegeben. Doch hier ist es noch eine Spur heftiger, denn eigentlich war von Anfang an klar, dass der Vernunftmensch und Wissenschaftler Sebastian die Ursache der Epidemie aufklären wird - und nun das. Wobei das mit dem "Vernunftmenschen" bei näherer Betrachtung allerdings Risse bekommt. Denn Sebastian hat bei seinem Umgang mit den Leichen auf jeden Schutz verzichtet und damit höchst fahrlässig, ja ausgesprochen dämlich gehandelt, während Heribert und Fritz in ihrem Bemühen um Distanz instinktiv alles richtig gemacht haben - eigentlich hat Heribert viel vernünftiger gehandelt als Sebastian. Diese Sichtweise ist aber sicher nicht die von Fleischmann intendierte - der Film ist redlich bemüht, Sebastian als den Rationalisten und Heribert als den impulsiven und teilweise skrupellosen Tatmenschen hinzustellen. Es liegt an uns, ob wir das mit unserem heutigen Wissen so schlucken wollen.

Neue Reisegenossen kommen und gehen
Mit Sebastians Abgang hat sich auch seine Theorie über die Seuche verflüchtigt. War überhaupt etwas daran, oder war er von Anfang an auf dem Holzweg? Wir erfahren es nicht mehr. Und mit seinem Abgang wechselt der Fokus des Films zu Ulrike als neuer Identifikationsfigur. Wir werden sie von jetzt an, also in der zweiten Hälfte des Films, permanent im Blick haben, während die anderen Protagonisten immer wieder mal für kurze Zeit verschwinden, um dann wieder aufzutauchen (oder auch nicht). - DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist zwar nicht komplett an einer realistischen Szenerie vorbei inszeniert, weist aber immer wieder Sequenzen mit einem leicht surrealen Touch auf. So gibt es Bilder von Landstraßen, die von endlosen Autokolonnen verstopft sind, und an denen sich bizarre Szenen abspielen. Schon in der Nähe von Lüneburg gibt es fliegende Händler, die am Straßenrand Gesichtsmasken verkaufen (was Sebastian als Geschäftemacherei mit wirkungslosem Firlefanz bezeichnet - auch das aus heutiger Sicht kein Ausweis seiner Kompetenz), und der Lieferwagen von Heribert, der jetzt seine Würstchen an die im Stau Gestrandeten verkauft, wird ohne ersichtlichen Grund abgefackelt. Noch bizarrer eine spätere Szene: Im Stau gab es einen leichten Auffahrunfall mit geringfügigem Blechschaden, über den sich die beiden Autobesitzer in die Wolle geraten, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres ("Mutti, hol die Polizei! Das lassen wir uns nicht bieten!"). Und während noch gestritten wird, bricht ein schwerer Kampfpanzer in voller Fahrt aus dem Unterholz hervor und macht eines der im Stau stehenden Autos platt. Nein, die Bundeswehr hat noch nicht die Kontrolle im Land übernommen. Es handelt sich nur um einen britischen Panzerführer, der angesichts der unklaren Bedrohungslage die Nerven verloren hat. Die Polizei kann den Panzer nur hilflos umkreisen, aber ein ebenfalls auftauchender Militärhubschrauber bringt ihn mit einem gezielten Schuss vor den Bug zum Stehen. (Dass es ein britischer Panzer ist, hat keine tiefere Bedeutung. Die zunächst angefragte Bundeswehr wollte von solchem Kram nichts wissen, weil ein deutscher Panzerfahrer nicht Amok läuft, wie Fleischmann in einem Interview erzählt. Die danach kontaktierten Briten waren dagegen begeistert von der Gelegenheit, sich mal richtig auszutoben.) Diese Sequenzen erinnern atmosphärisch etwas an Godards WEEKEND von 1967, in dem sich in einem Mega-Stau surreale und apokalyptische Szenen abspielen.

Kleiner Blechschaden ... und dann ein etwas größerer Blechschaden
Sozusagen das Gegenstück dazu ist eine andere Sequenz, in der die Flüchtigen eine Barriere durchbrechen und dann auf einer, abgesehen von einem Konvoi von Einsatzfahrzeugen, völlig leeren Autobahn dahinbrausen. Fleischmann hat hier Bilder nachgestellt, die man aus der Realität von den autofreien Sonntagen im Gefolge der Ölkrise von 1973 kannte (und die derzeit in abgeschwächter Form wieder aktuell sind). Bizarre Szenen gibt es auch, als Alexander den Wohnwagen bei den neuen Besitzern abliefert (einem Dialog nach in Gießen, aber gedreht wurde das in Fulda). Diese haben nichts Besseres zu tun, als leichte Bagatellschäden zu monieren und nachdrücklich nach dem Verbleib einer mitbestellten Decke zu fragen (mit der Fritz seine Blößen bedeckte, nachdem er nackt vom Dach des Bauernhauses in Niedersachsen herabstieg). Surreal gestaltet sich auch eine Szene in einem Landgasthaus, irgendwo auf dem Weg von Hessen nach Bayern (jetzt in Alexanders Geländewagen ohne Wohnwagen). Dort wird eine frenetische Party gefeiert. Das ist nicht das Gegenstück heutiger Corona-Parties, sondern sowas wie der Tanz auf dem Vulkan angesichts einer drohenden Katastrophe, die schon im nächsten Augenblick jeden der Teilnehmer ereilen kann. Einer der Feiernden ist als Gevatter Tod maskiert und erinnert damit frappant an eine Gestalt in Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU - wo ebenfalls auf dem Vulkan getanzt wird (dort freilich angesichts des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs). Die Party ist aber auch ein Stelldichein reicher Krisengewinnler, die sich angesichts der neu auftuenden Geschäftsfelder gegenseitig auf die Schulter klopfen und zynisch frohlocken, weil sie solchen Kokolores wie Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte bald in die Tonne treten können. "Grenzenloses Wachstum! Wir gehen rosigen Zeiten entgegen!" Evelyn Künneke hat einen kurzen Gastauftritt in dieser Sequenz, und Deutschlands damals bekannteste Transsexuelle Romy Haag spielt die schöne Carola, die sich nach der Party den Flüchtlingen für eine Weile anschließt. (Man bekommt auch kurz ihr "bestes Stück" zu sehen, das erst Jahre später operativ entfernt wurde, aber im Vergleich zu den Derbheiten, die man in Fleischmanns DOROTHEAS RACHE zu sehen bekommt, ist das alles sehr dezent.)

In Fulda
Noch jemanden treffen wir und unsere Protagonisten auf dieser Party, nämlich völlig unerwartet Heribert. Er hat inzwischen das Geschäftsmodell gewechselt. Statt weiterhin Würstchen zu verkaufen, hat er sich darauf verlegt, mit einer Pistole bewaffnet und mit einer kleinen Bande von maskierten Helfern versehen, die Partygäste auszurauben. "Wenn man in ein Chaos schießt, stellt sich zwangsläufig eine Ordnung ein", sagt er treffend, nachdem er einen Warnschuss abgegeben hat. - Gegen Ende des Films ist man in Bayern am Fuß der Alpen angekommen - und wird von einer Standschützenkompanie im Trachtenanzug empfangen, die per Walkie-Talkie mit den Behörden kooperiert (laut Credits und Presseheft handelte es sich realiter um die Schützenkompanie Kochel). Unvermutet für den Zuschauer und die Protagonisten wird plötzlich über den Rundfunk das Ende der Epidemie verkündet. Aber stimmt das auch? Jedenfalls werden alle noch ungeimpften Personen weiterhin der zwangsweisen Immunisierung zugeführt, und zu denen gehört auch Ulrike. Vorsichtshalber flüchtet sie weiter, auf eine Alm zu ihrem Opa, aber ist sie da oben wirklich sicher?


In zeitgenössischen Kritiken von DIE HAMBURGER KRANKHEIT wird häufig auf Parallelen zum Hamburger Giftmüllskandal von 1979 hingewiesen. Da waren nicht nur "normale" Giftstoffe illegal und ohne jede Aufsicht notdürftig verbuddelt oder lagen einfach so herum, sondern auch chemische Kampfstoffe wie Phosgen, Lost und Tabun in größeren Mengen. Gerade mal etwas mehr als drei Jahre nach Seveso sorgte das nicht nur für bundesweites, sondern sogar internationales Aufsehen. Als dann zweieinhalb Monate später in DIE HAMBURGER KRANKHEIT Männer in Ganzkörper-Schutzanzügen zu sehen waren, sorgte das für ein Déjà-vu - sowas hatte man doch gerade erst neulich in den Fernsehnachrichten gesehen. Und unter den exotischeren Theorien, die zu den Ursachen der "Hamburger Krankheit" vorgebracht werden, finden sich auch kürzlich abhanden gekommene chemische Kampfmittel der Bundeswehr. Freilich war DIE HAMBURGER KRANKHEIT längst abgedreht, als der Skandal publik wurde, und heute, viele Giftskandale später, spielt dieser Aspekt zur Beurteilung des Films keine große Rolle mehr.

DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist auch ein Roadmovie
Was ist nun DIE HAMBURGER KRANKHEIT für ein Film? Man könnte ihn als dystopisches Endzeit- oder Katastrophendrama mit leichtem Science-Fiction-Einschlag bezeichnen. Wobei sich der SciFi-Einschlag weniger aus der Handlung ergibt - es gibt da eigentlich nichts, was aus damaliger Sicht erst in der Zukunft möglich gewesen wäre, wenn man mal von den Spekulationen der Gerontologen über die Verlängerung des Lebens absieht, aber die besitzen für die eigentliche Handlung keine Relevanz. Eher liegt es am Atmosphärischen, und dazu leistet die Musik von Jean-Michel Jarre einen wesentlichen Beitrag. Der französische Musiker und Elektronik-Tüftler, der mit seinem Hit Oxygène (Part IV) auch hierzulande bekannt wurde, hat für DIE HAMBURGER KRANKHEIT keine neue Musik komponiert, sondern in Absprache mit Fleischmann passende Stücke aus seinen Alben Oxygène und Equinoxe ausgewählt. Dabei hatte er ein gutes Händchen. Die damals futuristisch klingende Musik wirkt heute nicht veraltet, sondern zeitlos, und sie versieht viele Szenen mit einem leicht abstrakt wirkenden und latent bedrohlichen Touch. Noch etwas ist DIE HAMBURGER KRANKHEIT, nämlich ein Roadmovie. Zwar dauert es etwas, bis die Protagonisten Hamburg hinter sich lassen, aber dann sind sie fast ständig unterwegs, von Nord nach Süd durch die ganze Republik. Meistens per Auto, auch mal mit einer Fähre auf der Elbe und später auf einem rostigen Hausboot, und zwischendurch und ganz am Schluss zu Fuß. Von den verschiedenen Etappen sind jeweils nur kleine Ausschnitte durch große geografische Sprünge miteinander verbunden, aber wer mit älteren deutschen Roadmovies wie etwa Wim Wenders' Trilogie (ALICE IN DEN STÄDTEN, FALSCHE BEWEGUNG und IM LAUF DER ZEIT, 1974-76) etwas anfangen kann, der wird auch Fleischmanns Film in dieser Hinsicht etwas abgewinnen können.

Carola schließt sich an
Was die surrealen Elemente betrifft, so blieb Peter Fleischmann seiner bisherigen Linie treu. Sein erster Spielfilm, JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969) nach dem gleichnamigen Stück von Martin Sperr (der auch die Hauptrolle spielte), war noch dem Realismus verpflichtet, ein typischer (und vielleicht der bekannteste) Vertreter des "Neuen Heimatfilms" innerhalb des Neuen Deutschen Films. Aber in der wüsten Kleinstadt-Groteske DAS UNHEIL (1972) und in der grellen Sex-Farce DOROTHEAS RACHE (1974) ließ es Fleischmann schon richtig krachen (den darauffolgenden Film LA FAILLE von 1975 habe ich noch nicht gesehen). Der 1937 geborene Fleischmann besitzt eine frankophile Ader, er hat einen Teil seiner Ausbildung an der Pariser Filmhochschule IDHEC absolviert (den anderen Teil am Vorläufer-Institut der HFF in München). Für DOROTHEAS RACHE gewann Fleischmann Jean-Claude Carrière als Co-Autor des Drehbuchs. Carrière hat, neben vielen anderen Filmen, auch an sechs Spätwerken von Luis Buñuel mitgearbeitet, von TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE über BELLE DE JOUR und DER DISKRETE CHARME DER BOURGOISIE bis zu DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE, er besaß also ausgewiesene Expertise in Sachen Surrealismus. Während dieser Zusammenarbeit, also Mitte der 70er Jahre, entstanden bereits die ersten Ideen zu DIE HAMBURGER KRANKHEIT, und Carrière fertigte später eine Reihe von Konzeptzeichnungen dazu an, war dann aber an der Entstehung des Films nicht mehr beteiligt. Diese Rolle übernahm Roland Topor, der auf Fleischmanns Wunsch das offizielle Filmplakat für DOROTHEAS RACHE entworfen hatte. Der Pariser Zeichner und Schriftsteller Topor (er schrieb u.a. die Romanvorlage für Polanskis DER MIETER) hatte schon um 1960 herum Freundschaft mit dem Dichter, Dramatiker und späteren Regisseur Fernando Arrabal geschlossen, der aus Chile nach Paris zugewanderte Alejandro Jodorowsky gehörte ebenfalls zu dieser Gruppe. Fleischmann, der Arrabal von einer früheren Begegnung in Cannes kannte, engagierte nun diesen als Darsteller des Ottokar und Topor als Co-Autor des Drehbuchs. Auf Topors Vorschlag wurde der Schriftsteller Otto Jägersberg als weiterer Autor hinzugezogen. Weil auch eine französische Firma an der Finanzierung von DIE HAMBURGER KRANKHEIT beteiligt war, ist es offiziell eine deutsch-französische Coproduktion (französischer Titel LA MALADIE DE HAMBOURG).

Schützenkompanie
Ein weiteres Charakteristikum zieht sich durch Fleischmanns Spielfilme von JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN bis (mindestens) DIE HAMBURGER KRANKHEIT (aber wiederum weiß ich in dieser Hinsicht nichts über LA FAILLE), nämlich seine Vorliebe, professionelle Theater- und Filmschauspieler mit vielen Laiendarstellern zu mischen und Letztere oft auch mit tragenden Rollen zu betrauen. Vielen der Laiendarsteller in DIE HAMBURGER KRANKHEIT sieht man ihren Status an, denn solche Charakterfressen bekommt man in den Katalogen der Schauspieleragenturen überhaupt nicht zu sehen, und alle sprechen ihren jeweiligen lokalen Dialekt, von einer Hamburger Hafenkneipe über das Hessische in Fulda bis zum Bairisch der Schützenkompanie. Was die Profis betrifft, so meistert Helmut Griem, der spätestens seit seinen Auftritten in CABARET und Viscontis LUDWIG auch international gefragt war, seinen Part souverän. Carline Seiser hatte zuvor nur zwei Filmauftritte vorzuweisen und hätte vielleicht Karriere gemacht, aber 1980 heiratete sie Konstantin Wecker (die Ehe hielt bis 1988) und beendete ihre Filmlaufbahn, auch wenn sie 1991 nochmals in einem TV-Film auftauchte. Sie wurde dann Malerin und Bildhauerin und entwarf gelegentlich auch Bühnenbilder und Kostüme. Das schauspielerische Highlight in DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist für mich aber Ulrich Wildgruber, der eine faszinierend dynamische Performance hinlegt. Damals schon ein arrivierter Theaterstar, der vor allem mit dem Namen Zadek verbunden war, hatte er zwar schon 1975 auch in einem Film von Peter Zadek mitgespielt, aber erst mit DIE HAMBURGER KRANKHEIT begann seine Zweitkarriere als Film- und Fernsehdarsteller so richtig. Sie währte 20 Jahre lang, bis er sich 1999 das Leben nahm.

In Bayern hat Heribert abermals die Profession gewechselt - er verkauft jetzt Schutzanzüge
DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist 2018 auf einer DVD der Zweitausendeins Edition erschienen. Als Bonus gibt es u.a. das damalige Presseheft (als PDF im ROM-Bereich), die Zeichnungen von Carrière, das oben schon erwähnte Interview mit Fleischmann, und als Höhepunkt seinen grandiosen Dokumentarfilm HERBST DER GAMMLER von 1967. Eine ältere DVD von 2010 gibt es auch, aber die ist offenbar vergriffen. 2019 wurde DIE HAMBURGER KRANKHEIT digital restauriert, dabei aber leider auch gekürzt (auch Romy Haags Schniedel wurde weggeschnibbelt). Diese Version gibt es gegen Bezahlung bei Vimeo als Stream (dort auch ein Trailer in guter Bildqualität).

Montag, 6. April 2020

Doctor Death auf der Suche nach Seelen

DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS
USA 1973
Regie: Eddie Saeta
Darsteller: John Considine (Dr. Death), Barry Coe (Fred Saunders), Cheryl Miller (Sandy), Stewart Moss (Greg Vaughn), Leon Askin (Thor), Florence Marly (Tana), Sivi Aberg (Venus), Jo Morrow (Laura Saunders), Jim Boles (Franz), Moe Howard (Freiwilliger im Publikum), Athena Lorde (Spiritistin)


Fred Saunders muss einen herben Schicksalsschlag hinnehmen: Seine geliebte Frau Laura stirbt nach einem Autounfall. Doch bevor sie das Leben aushaucht, flüstert sie ihm noch ins Ohr, dass sie zu ihm zurückkommen werde. Ohne genau zu wissen, wie Laura das gemeint hat, entwickelt Fred eine Obsession daraus. Vorsorglich lässt er Laura schon mal nicht begraben, sondern nur im Sarg in einer Gruft im Friedhof verwahren, und er schärft dem Friedhofswärter Franz ein, die Gruft unter keinen Umständen zu verschließen. Dann macht sich Fred daran, die Rückholung seiner Frau aus dem Reich der Toten in die Wege zu leiten. Zuerst besucht er eine Séance bei einer Spiritistin, die einen Akzent wie Bela Lugosi an den Tag legt. Tatsächlich scheint die Dame Kontakt mit Laura aufnehmen zu können, doch leider merkt Fred schnell, dass es sich nur um fadenscheinigen Mummenschanz handelt. Als nächstes besucht er eine Society of the Dead, deren Mitglieder in Mönchskutten gekleidet sind, aber das erweist sich ebenfalls als ein Fiasko. Doch Fred gibt nicht auf, obwohl ihm sein Freund Greg und seine flotte Sekretärin Sandy die ungesunde Obsession ausreden wollen.

Der Titelschurke
Über eine kryptische Kleinanzeige, in der von Reinkarnation die Rede ist, trifft Fred schließlich die mysteriöse schöne, wenn auch nicht mehr ganz junge, Tana. Sie ist die Assistentin eines gewissen Dr. Death, dem sie erstaunliche Fähigkeiten nachsagt, und sie lädt Fred ein, einer Demonstration ihres Meisters vor kleinem geladenen Publikum beizuwohnen. Das lässt sich Fred nicht nehmen, und er erlebt Unerhörtes: In einem abgedunkelten Raum ist die Leiche einer schönen jungen Frau aufgebahrt - ein Freiwilliger aus dem Publikum bestätigt nach kurzer Untersuchung, dass sie wirklich tot ist. Daneben steckt in einem Kasten, wie er von Bühnenzauberern für den Trick mit der zersägten Jungfrau verwendet wird, eine andere junge Frau. Nur der Kopf schaut heraus, doch das Gesicht ist durch einen Chemieunfall schrecklich entstellt, wie das Publikum der Vorstellung erfährt. Der flamboyant gekleidete Dr. Death, der in seinem Outfit und seinem Gehabe wie ein Illusionist wirkt, erklärt den faszinierten Zusehern, dass die zweite junge Frau nun auf eigenen Wunsch sterben wird, damit ihre Seele mit Hilfe seiner Fähigkeiten in den unversehrten schönen Körper der anderen Frau fährt und davon Besitz ergreift. Und dann beginnt der Doktor doch tatsächlich, mit seinem einäugigen und stummen Faktotum Thor die Frau auf offener Bühne zu zersägen - und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten im Varieté handelt es sich um keinen Trick, sondern die Frau wird tatsächlich in zwei Teile zersägt. Nachdem das blutige Werk vollbracht ist, entsteigt die Seele der Frau (die man als Filmpublikum mit Hilfe simpler Doppelbelichtung zu sehen bekommt) dem Torso und schlüpft in die andere Leiche, die dadurch flugs zum Leben erweckt wird. Dr. Death ist von seinem Erfolg selbst so begeistert, dass er die neu zum Leben Erwachte "Venus" nennt und gleich zu seiner neuen Gespielin erwählt.

Sandy kümmert sich um Fred
Fred dagegen ist erst mal schockiert und spricht von Mord, aber er wird von Tana belehrt, dass es die Zersägte ja selbst so gewollt habe. Fred braucht noch eine gewisse Schamfrist, aber dann arrangiert er sich mit dem bizarren Vorgang. Er wird mit Dr. Death handelseinig - gegen Zahlung von 50.000 Dollar in bar wird der Doktor seine Fähigkeiten auf Laura anwenden. Er macht unverblümt klar, dass Fred Lauras Seele nicht wiederbekommen wird - die ist längst in höhere Sphären entschwunden, wo selbst er keinen Zugriff mehr hat. Doch mit Hilfe eine anderen Seele wird er Lauras Körper wieder zum Leben erwecken. Dass dafür eine andere Frau das Leben lassen muss, verdrängt Fred geflissentlich. Bei den Verhandlungen erfährt Fred auch vom vor Eitelkeit fast platzenden Dr. Death, wie der zu seinen Fähigkeiten kam: Vor 1000 Jahren war er ein alter Magier, der in seiner Burg durch Studium noch älterer Schriften und durch seine Experimente dem Geheimnis des Lebens und der Seelenwanderung auf die Schliche kam. Kurz bevor er das Zeitliche segnete, brachte er seinen Assistenten, einen naiven Bauernburschen, um die Ecke und transferierte seine eigene Seele in dessen Körper. Und so ging es dann jahrhundertelang weiter - immer wenn ein Körper das Ablaufdatum erreicht hatte, schlüpfte der Doktor rechtzeitig in einen neuen. Das konnte auch mal eine Frau sein, ein Chinese, ein Schwarzer. Und nun eben der aktuelle Dr. Death in den USA.

Fred bei einer spiritistischen Sitzung und bei der Society of the Dead
Freds Bedenken gegen das fragwürdige Experiment erwachen erst aufs Neue, als es schon im Gang ist. Tana, die Assistentin und nun abgelegte Geliebte des Doktors, hat ihrer neuen Konkurrentin Venus aus Eifersucht Säure ins Gesicht geschüttet, so dass sie jetzt auch wieder entstellt ist wie zuvor der andere Körper. Doch das hätte sie besser bleiben lassen, denn wie Fred jetzt entsetzt feststellt, hat sie der Doktor zur Strafe als "Spenderin" der Seele für Laura ausersehen. Erfolglos und letztlich auch nur halbherzig protestiert Fred gegen ihre Ermordung. Und wieder geht es nicht ohne Showeffekt: Auf Geheiß des Doktors wird die gefesselte Tana von Thor als Messerwerfer wie im Zirkus gemeuchelt. Doch der finale Schritt des Experiments misslingt: In der Friedhofsgruft will Tanas Seele nicht in Lauras Körper fahren. "Enter that body! I command you, enter that body!" befiehlt der Doktor etwas ungehalten, aber es hilft nichts - die Seele will nicht rein. Um genau zu sein, sie wird nicht reingelassen. Es ist zwar nicht ganz klar, wie ein toter Körper, dessen Seele längst in andere Dimensionen entfleucht ist, etwas "wollen" kann, aber der Doktor hat keinen Zweifel daran, dass Laura das Hindernis ist. Doch Fred hat jetzt die Schnauze voll. Entnervt befiehlt er dem Doktor, das Experiment zu beenden. Das bereits bezahlte Geld überlässt er ihm freiwillig, und er macht klar, dass er den schrägen Doktor nie mehr wiedersehen will.

Tana
Doch da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der in seiner Ehre (oder Eitelkeit) gepackte Seelenverschieber ermordet nun mit Thors Hilfe eine ganze Reihe junger Frauen, darunter die für ihn reizlos gewordene Venus, und wiederholt das Experiment mehrfach (mit Hilfe des ihm ergebenen Franz kommt er jederzeit in die Gruft). "Enter that body! I command you, enter that body!" vernehmen wir jedes Mal, aber es will einfach nicht gelingen. Da vertieft sich der frustrierte Magier erneut in seine alten Schriften, und jetzt glaubt er, den richtigen Dreh gefunden zu haben: Er brauche erstens eine Seele, die genauso willensstark wie Laura ist, und zweitens dürfe diese nicht allzu gewaltsam, sondern möglichst sanft vom Leben zum Tode befördert werden. Und schon findet er das passende Opfer, nämlich Sandy. Freds schöne blonde Sekretärin hat schon länger ein Auge auf ihn geworfen, was er aber zunächst nicht bemerkt oder absichtlich ignoriert hatte. Aber nachdem er mit Lauras Rückholung abgeschlossen hat, ist er nicht mehr abgeneigt. Dr. Death entführt nun also Sandy, und als sanfte Mordmethode hat er langsames Ausbluten ausgesucht. Zum Glück riecht Fred den Braten noch rechtzeitig, und mit Greg und der alarmierten Polizei versucht er, Sandy noch vor der unfreiwilligen Seelenwanderung zu retten. Aber Dr. Death, der bei einer seiner vorherigen Mordaktionen durch einen Messerstich im Bauch schwer verletzt wurde, hat noch einen letzten perfiden Schachzug in petto ...

Makabre Bühnenshow - ohne Tricks und doppelten Boden
DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS besitzt genug schräge bis offen komische Szenen, dass man ihn als Horrorkomödie verbuchen kann, er hat für einen Film von 1973 aber auch durchaus deftige und derbe Szenen, auch wenn die heute keinen mehr erschrecken können. Dr. Death zeigt so viel Flamboyanz und Theatralik, dass man ihm fast nicht ernsthaft böse sein kann, auch wenn man hofft, dass sein unseliges Treiben gestoppt wird. Er erinnert darin an diverse Rollen von Vincent Price, und vielleicht ist THE ABOMINABLE DR. PHIBES der Film, der einem als erstes als Vergleich oder gar als direktes Vorbild in den Sinn kommt, auch wenn DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS in der Gegenwart von 1973 und in den USA spielt. Dazu kommt die eine oder andere Poe-Verfilmung, vor allem die von Roger Corman, eine Spur LES YEUX SANS VISAGE, und dies und das. Wirklich neu ist an DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wohl nur wenig, aber das alles wird mit viel Enthusiasmus dargeboten. Der Enthusiasmus war auch nötig, denn DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS ist eine Billigproduktion. Die gesamte Produktionszeit währte ungefähr einen Monat, die reine Drehzeit zwölf Tage. Hauptgeldgeber war Berry Gordy Jr., der Gründer und Chef des Motown-Labels. Gordy und Regisseur Eddie Saeta gehörten zu den Produzenten der Billie-Holiday-Biografie LADY SINGS THE BLUES (1972) mit Diana Ross in der Hauptrolle. Für DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS spendierte Gordy sicher sehr viel weniger Geld als für das vorangegangene Prestigeprojekt, das für mehrere Oscars nominiert war, aber dafür soll er laut IMDb-Trivia eine kurze Sequenz selbst inszeniert haben.

Zwischen Tana und dem Doktor kriselt es; später geht ihre Seele auf Wanderschaft
Treibende Kraft bei DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS war aber nicht Gordy, sondern Produzent und Regisseur Eddie Saeta (1914-2005). Saeta ist sozusagen mitten in Hollywood aufgewachsen: Schon sein Vater war Chefelektriker bei Columbia Pictures, und Eddie wurde Anfang der 30er Jahre mit 18 Botenjunge für den diktatorischen Columbia-Chef Harry Cohn. Von dieser Position aus diente er sich bei Columbia, später auch bei anderen Studios, hoch vom dritten über den zweiten bis zum ersten Regieassistenten. In der IMDb hat er nicht viele Einträge in den prestigeträchtigen Hauptkategorien, aber 80 als Regieassistent oder 2nd Unit Director bei Film und TV. Dazu kamen später noch 16 Einträge als Produktionsmanager, u.a. in einigen Filmen von Robert Aldrich, noch später sieben Credits als Coproduzent, von LADY SINGS THE BLUES bis zu einer TV-Version von DER SEEWOLF von 1993 mit Charles Bronson und Christopher Reeve. Nachdem er zwei oder drei Episoden von Fernsehserien inszeniert hatte, wurde DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS seine erste und einzige Regie für das Kino. Saeta hatte zuvor eine Unzahl an Horrorfilmen gesehen, wie sich sein Sohn Steve im Bonusmaterial der Blu-ray erinnert, und diese Liebe zum Genre merkt man dem Film an. Dabei nahm Saeta das Inszenieren durchaus locker. Jeder Take, der nicht komplett verhagelt war, wurde nur ein- oder höchstens zweimal gedreht, einmal wandte sich Saeta wegen eines Telefonanrufs vom laufenden Dreh ab und fragte hinterher den Kameramann, ob die Szene etwas geworden ist, und wie erwähnt durfte Berry Gordy auch mal ran.

Thor
John Considine ist eine Schau, er nutzte die ihm gebotene Chance mit sichtlicher Spielfreude, aber auch Professionalität. Er kaspert keineswegs herum, sondern geht konzentriert zu Werk - seine teilweise recht langen Dialoge lieferte er immer auf Anhieb punktgenau ab, wie sich Steve Saeta im erwähnten Interview erinnert. Neben Considine wirkt Barry Coe als Fred doch etwas blass - er liefert eine Leistung ohne Glanzpunkte, aber auch ohne Aussetzer. Beim Namen Cheryl Miller (Sandy) bekam ich einen leichten Anfall von Nostalgie, ist sie doch eine Heldin meiner Kindheit. Nachdem sie sich 1964/65 schon mal in vier Folgen von FLIPPER warmlief, spielte sie dann in DAKTARI Paula, die Tochter des braven Buschdoktors Marsh Tracy (beide Serien wurden von Ivan Tors produziert). In DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS erinnert sie mit längeren Haaren und einigen Jahren mehr auf dem Buckel aber kaum noch an diese Rolle. Der Österreicher Leon Askin wird in seiner Rolle als monströser Thor nicht sehr gefordert (wir erinnern uns, er ist stumm und hat somit keine Dialoge), aber er bringt die nötige körperliche Präsenz auf, um schön bedrohlich zu wirken, und der Maskenbildner tat ein Übriges. Eddie Saeta hat in seiner langen Laufbahn Bekanntschaften und Freundschaften mit vielen berühmten Filmleuten geschlossen, darunter auch mit der Komikertruppe The Three Stooges. Deren Mitglied Moe Howard spielt den Freiwilligen im Publikum von Dr. Deaths Seelenwanderungsdemonstration, der sein Ohr an den Busen der wiederzubelebenden Frau hält, um zu bestätigen, dass sie (noch) tot ist. Es war dies Howards letzter Filmauftritt, er starb 1975. Auch Athena Lorde, die betrügerische Spiritistin, hatte in DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS ihre letzte Rolle - sie starb noch im Mai 1973 und erlebte die Premiere des Films nicht mehr. Für sie gestalteten sich die Dreharbeiten als Familienausflug - ihr Mann Jim Boles spielt den Friedhofswärter Franz, und beider Kinder Barbara Boles und Eric Boles sind in kleineren Rollen auch mit von der Partie.

Das Ende von Venus - für 1973 schon etwas heftig
Neben John Considine ist Florence Marly als Tana meine Favoritin im Cast. Die gebürtige Tschechin, der wir hier schon bei KRAKATIT begegnet sind, hatte eine wechselvolle Laufbahn. Als Frau des französischen Regisseurs Pierre Chenal drehte sie in den 30er Jahren etliche Filme in Frankreich, dann emigrierte das Paar aufgrund Chenals jüdischer Herkunft nach Argentinien, wo Marly auch einige Rollen spielte. Nach einem Film von René Clément und KRAKATIT als Zwischenstation bahnte sich eine Hollywoodkarriere an, die aber abrupt beendet wurde, als man sie in der McCarthy-Zeit fälschlich als Kommunistin verdächtigte (angeblich wurde sie mit der aus Russland stammenden Anna Marly verwechselt). Zwar wurde das Missverständnis ausgeräumt, aber ihre Karriere kam nicht wieder in Fahrt, und Marly hielt sich mit Fernsehrollen über Wasser. 1966 bekam sie die zweite oder dritte Luft als Darstellerin in einem Exploitationfilm, Curtis Harringtons QUEEN OF BLOOD, wo sie die titelgebende blutsaugende Alien-Dame mit grüner Haut spielt. Für diesen Film nahm sie auch das Lied Space Boy auf, bei dem angeblich Frank Zappa Schlagzeug spielt. Der Song wurde dann aber doch nicht für den Film verwendet, dafür drehte 1973 die aus Österreich stammende Malerin Renate Druks zusammen mit Marly einen kurzen Experimentalfilm unter dem nämlichen Titel SPACE BOY (Druks gehörte ebenso wie Curtis Harrington auch zum Dunstkreis von Kenneth Anger). DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wiederum setzte die mit QUEEN OF BLOOD begonnene Schiene fort. Es ist schade, dass Marly 1978 mit 59 starb und uns nicht noch mehr schöne Alterswerke hinterlassen hat.

Für Sandy wird es eng - bei 2500 ml ist zappenduster
Kein großes Studio wollte DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS unter seine Fittiche nehmen - das hatte Saeta auch nicht unbedingt erwartet. Es enttäuschte ihn aber, dass auch das einschlägige Studio American International Pictures der Herren Arkoff und Nicholson nichts von dem Film wissen wollte. So übernahm schließlich die Cinerama Releasing Corporation den Vertrieb, ließ es aber am nötigen Einsatz für Werbung etc. fehlen, und DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wurde zu einem finanziellen Fehlschlag und verschwand vorerst in der Versenkung, bis er für diverse Heimmedien (zuletzt die oben schon erwähnte Blu-ray aus den USA) wieder hervorgeholt wurde. Der Schluss des Films ließe Raum für ein Sequel, und laut IMDb hatte Eddie Saeta genau das auch im Sinn, aber der Misserfolg an der Kasse machte diese Pläne zunichte. Umso erfreulicher ist es, dass man diesen durchweg unterhaltsamen Film heute in guter Qualität auf DVD und Blu-ray genießen kann.

Donnerstag, 30. Januar 2020

Ausgewählte Delikatessen eines Jahres – 2019 im persönlichen Rückblick


Und wieder ein Jahr vorbei (manche Leute behaupten sogar: ein Jahrzehnt). 2019 war, für mich persönlich, ein sehr schwieriges Jahr, das allerdings dann doch ein ganz gutes Ende gefunden hat und ich blicke insgesamt recht zuversichtlich in das Jahr 2020.
Rückblickend wieder ein Jahr voller toller Filme, die allerbesten und interessantesten unter ihnen meist bei (Off-)Film-Festivals und -Veranstaltungen entdeckt: der Hofbauer-Kongress im Januar und das 1. Filmarchäologen-Symposium im Februar (beide in Nürnberg), die Robert-Hossein-Retrospektive des Filmkollektiv Frankfurt im März, Sweet Movies im März in Nürnberg, das goEast-Filmfestival und das Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art im April, das Jenaer 2. Paradies-Filmfestival im Juni, Terza Visione in Frankfurt im mörderisch heißen späten Juli, das 2. Filmarchäologen-Symposium in Nürnberg Ende September, das italienische Horrorfilmfestival "Terrore a Norimberga" im Oktober und das Karacho-Festival des Actionfilms im November sowie über das ganze Jahr verteilt das 35mm-Kino des Film e.V. in Jena. Bevor ich zu den ausgewählten Delikatessen dies- und jenseits dieser Veranstaltungen komme – ein kleiner, persönlicher und auch recht beschränkter Rückblick auf das aktuelle Filmgeschehen 2019.


Meine Top 10 2019

1
LES GARÇONS SAUVAGES (Bertrand Mandico: Frankreich 2017)
"The Wild Boys" zieht den Zuschauerinnen und Zuschauern schon in den ersten Minuten jeglichen Boden unter den Füßen weg und wird auch für den Rest der Zeit ein aufregender Film bleiben, der die anfänglich angedeutete Prämisse von "A Clockwork Orange meets Treasure Island" rasch überflügelt. Fünf gemeingefährliche Jungs werden nach einem Mord auf eine fantastische Insel verbannt, die sie nach und nach verzaubern und völlig verändern wird. Gedreht auf 16mm in Schwarzweiß (mit einigen umso psychedelischer strahlenden Farbmomenten), mit expressionistischen Rückprojektionen und Mehrfachbelichtungen als Spezialeffekte, ist dem ehemaligen Experimentalregisseur Bertrand Mandico ein äußerst wilder, sinnlicher, barocker und atemberaubend schöner Film gelungen.
(In Deutschland erst 2019 in ausgewählten Kinos und auf DVD/Blu-ray veröffentlicht)


2

FIRST REFORMED (Paul Schrader: USA/UK/Australien 2017)
JOURNAL D'UN CURÉ DE CAMPAGNE und TAXI DRIVER revisited: Der Leidensweg eines zweifelnden neuenglischen Pfarrers (verblüffend großartig: Ethan Hawke) in extrem strengen und reduzierten Bildern im Academy-Format. Ein kalter Film, unter dem ein Feuer der Leidenschaften tobt. Der emotionale Höhepunkt bricht mit dem reduzierten Stil, als der Pfarrer und eine junge Frau gemeinsam in die Luft schweben: für eine solche symbolische Levitationsszene mit einem solch ehrlichen, ironiefreien Ernst bedarf es wohl eines Regisseurs, der einmal über "transzendentalen Stil im Film" geschrieben hat. Ich muss mich mehr mit Paul Schrader beschäftigen!
(In Deutschland erst 2019 in ausgewählten Kinos veröffentlicht)


3
LUZ (Tilman Singer: Deutschland 2018)
Nach einem Autounfall soll die beteiligte Taxifahrerin in einem Polizeirevier an einer Nachstellung der Geschehnisse mitwirken. Ob ihre Vergangenheit als Okkultismusanhängerin in einem katholischen Mädchenpensionat wohl der Grund ist, dass sich in dem Sitzungssaal die Tore zum Jenseits öffnen und möglicherweise der Teufel höchstpersönlich das Geschehen an sich reißt? Mit extrem reduzierten Mitteln (ein halbes Dutzend Darsteller, ein Paar Stühle, ein schmuckloser Sitzungssaal und viel Nebel) hat Tilman Singer einen extrem faszinierenden Horror-Thriller gedreht, der in seiner ganzen, kurzen Laufzeit zu keinem Zeitpunkt seine Intensität einbüßt.

4
TOY STORY 4 (Josh Cooley: USA 2019)
Der (vorläufige?) Abschluss einer Saga über Freundschaft, das Älterwerden und das Elternwerden und das Loslassen von den Kindern, die Angst vor dem Tod und die Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz – mit belebten Spielzeugfiguren. Brachte mich zwischendurch wie der dritte Teil fast zum Weinen.

5
UN COUTEAU DANS LE CŒUR (Yann Gonzalez: Frankreich 2018)
Ein fantastisch aussehender Neo-Giallo, angesiedelt im französischen Schwulenporno-Milieu der 1970er Jahre. CRUISING und LO SQUARTATORE DI NEW YORK standen Pate, doch mit zunehmender Laufzeit emanzipiert sich UN COUTEAU DANS LE CŒUR von seinen Vorbildern (in einem Subplot zieht er in Richtung dunkel-romantisches Märchen). Das Herz des Films ist Vanessa Paradis als verzweifelte, liebeskranke Regisseurin, deren Crew zunehmend vom Serienkiller dezimiert wird.

6
HIGH LIFE (Claire Denis: Frankreich/Deutschland/UK/Polen/USA 2018)
Hormonstau bei Quasi-Lichtgeschwindigkeit, das Raumschiff als menschliche Brutkammer: Juliette Binoche als "mad scientist" züchtigt in einem drakonischen Strafregiment an Bord eines Raumschiffs die ihr anvertrauten Strafgefangenen und wacht streng über ihre Reproduktion. Nur Robert Pattinson verweigert sein Sperma und treibt die Binoche frustriert in die eigene "fuck box" (ihre lange Masturbationsszene in der schwarzen Kiste gehörte zu den großen unfassbaren Momenten meines Kinojahres).


7
MENOANA E MEHLANO EA MARSEILLES – FIVE FINGERS FOR MARSEILLES (Michael Matthews: Südafrika 2017)
Zunächst der Kampf gegen die korrupten weißen Polizisten, Jahre später dann der Kampf gegen korrupte schwarze Politiker und brutale Gangster: südafrikanische Zeitgeschichte, inszeniert als waschechter Western mit postapokalyptischen "Mad Max"-Anklängen.
(In Deutschland erst 2019 auf DVD/Blu-ray veröffentlicht)

8
FORD V FERRARI (James Mangold: USA/Frankreich 2019)
Mehr als die Autokonzerne Ford gegen Ferrari gegeneinander kämpfen zwei Underdogs gegen die Bosse, Parvenüs und Bürokraten bei Ford. Wie ein klassischer Hollywood-Film angenehm solide und ohne Sperenzchen inszeniert, brilliert FORD V FERRARI nicht nur in seinen nägelkauend-spannenden Rennszenen, sondern im lockeren und vergnügten Zusammenspiel von Matt Damon und Christian Bale (besonders letzterer so locker und tiefenentspannt wie ich es kaum erwartet hätte).

9
LES CREVETTES PAILLETÉES (Maxime Govare, Cédric Le Gallo: Frankreich 2019)
Ein Schwimm-Champion, der sich mit einem homophoben verbalen Ausrutscher selbst für weitere Wettkämpfe disqualifiziert hat, muss als Strafe eine Wasserball-Mannschaft für die "Gay Games" trainieren... Die Formel des Films ist fast schon primitiv einfach, wird aber während der ganzen Laufzeit mit Verve, Witz und echten Emotionen durchgezogen. Ein Plus sind die tollen Darsteller, von denen jeder seine arg klischeehaft angelegte Figur mit echtem Leben füllt.


10
JOHN WICK: CHAPTER 3 – PARABELLUM (Chad Stahelski: USA 2019)
Eine Stunde Zeit hat John Wick nach dem zweiten Film, um vor sämtlichen Killern der Welt zu flüchten: es reicht zumindest in den ersten 20 Minuten für eine Art visuelles Essay über die Beziehung zwischen Hochkultur, Kunstgeschichte und "niedrigem" Actionfilm, wenn Wick mit seinen Verfolgern zunächst in der New York Public Library, dann in einem Geschichtsmuseum und schließlich in historischen Pferdeställen kämpft. Der irre Kampf in der New York Public Library erreicht zwischendurch eine fast surreale (Keaton'sche) Poesie, wenn da zwei Männer sich gegenseitig brutal zu töten versuchen, während zwischendurch die konzentrierten, völlig in ihre Bücher versunkenen Bibliotheksnutzer im Lesesaal nur mit gelegentlichem Zischen zur Ruhe mahnen. Dann baut der Film massiv ab (auch, wenn der eine oder andere Kampf immer noch Spaß macht), aber für diesen fulminanten Anfang alleine lohnt sich der dritte John-Wick-Teil schon.



Leider nicht gesehen bzw. verpasst:

ONCE UPON A TIME... IN HOLLYWOOD (Quentin Tarantino: USA/UK/China 2019)
Ein ganz persönlicher Fluch lag auf diesem Film: Zuerst wollte ich nicht, dann wollte ich, aber konnte zeitlich nicht, dann konnte ich zeitlich, war aber krank, dann war der Film weg, dann war er wieder da, aber ich weg, und als ich wieder kam, war der Film weg und kam dann wieder und endlich hatte ich meinen Sitz für die aller-aller-allerletzte Vorstellung reserviert... und wurde dann krank.

PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU
Zunächst unter meinem Radar, dann zu schnell aus den örtlichen Kinos weg.

AD ASTRA
auch zu aus in Richtung Sterne verschwunden (zumindest aus den örtlichen Kinos weg).

ICH WAR ZUHAUSE, ABER
...dieser Film war leider nirgendwo in meiner Nähe zu sehen.



Und nun zum klassischen Herzstück meiner Endjahrestexte:
Die besten, nicht-aktuellen Erstsichtungen
(erst eine Top-10, dann noch ein paar Filme zum Auffüllen bis zur Anzahl der Jahreswochen)


1
POINT DE CHUTE (Robert Hossein: Frankreich 1970)
Robert Hossein, das zeigte die ihm gewidmete Retrospektive in Frankfurt, war als Regisseur ziemlich besessen von kammerspielartigen Settings in isoliert-verlassenen Häusern mit reduziertem Personal. Je weiter sein Werk als Regisseur voranschritt, umso mehr Zeit nahm das Kammerspiel ein, umso reduzierter wurde die Anzahl der Figuren, umso weniger wurde geredet. In seinem letzten Film seiner ersten Schaffensperiode hat er das Konzept auf die extremste Spitze getrieben: fast der komplette Film spielt in einem isolierten Strandhäuschen, mit nur zwei Figuren, über weite Strecken ohne Dialoge, weil Hossein das gesprochene Wort zunehmend mit seiner ausdrucksstarken Inszenierung, den Blicken seiner Darsteller und der wunderschönen musikalischen Untermalung seines Vaters ersetzt hatte. Johnny Hallyday, der Handlanger, und Pascale Rivault, die entführte junge Frau, verlieben sich in der Stockholm-Syndrom-Situation nach und nach ineinander. Worte sind angesichts der getauschten Blicke fast überflüßig. Das Schicksal und Robert Hossein (als Regisseur und Autor sowie als Darsteller des brutalen Gangster-Bosses) werden das Paar gnadenlos zermalmen. Ein erschütternd schöner, trauriger Film, der mich für mehrere Stunden völlig zerschmettert zurück gelassen hat. Auch materialfetischistisch ein großer Höhepunkt des Jahres mit einer wunderschönen, kristallinen, fast ungespielten 35mm-Kopie, die mit einer atemberaubenden Schärfe projiziert wurde.


2
HERBSTROMANZE (Jürgen Enz: BRD 1981)
Tatsächlich das unfassbare Meisterwerk, als das er vom Hofbauer-Kommando vor einigen Jahren wieder entdeckt worden ist. Auch hier ein Film voller Blicke: sehnsüchtig, begierig, aggressiv, verschüchtert, eifersüchtig, angstvoll, skeptisch. Ein Mittagessen, bei dem die Comic-Relief-Figur des Films ununterbrochen über das Leben als Schauspieler schwadroniert, steckt nur mit den Blicken der Figuren ihre gegenseitigen Beziehungen, Animositäten und Begierden ab. Schon nur für diese Szene völlig unglaublich! Und dann gibt es natürlich das Porzellanpferdchen, die in einer verträumten Reitbild sublimierte lesbische Liebesszene, die manische Musik.

3
COME, QUANDO, PERCHÈ (Antonio Pietrangeli [& Valerio Zurlini]: Italien/Frankreich 1969)
Antonio Pietrangeli gehörte 2019 zu meinen großen Entdeckungen des Jahres, nachdem Uwe vom KommKino Nürnberg ihn mir Ende 2018 in höchst begeisterten Tönen gelobt hatte. Eigentlich nur ein Melodrama über eine gelangweilte Ehefrau (Danièle Gaubert), die ihren Ehemann (Philippe Leroy) während eines Urlaubs mit dessen besten Freund (Horst Buchholz) betrügt – das ganze mit einer Intensität, die mich an das Beste von Douglas Sirk erinnerte: besonders der Moment, wo Paola hinter einer Fensterscheibe einem Feuerwerk in totaler Einsamkeit zuschaut. Dann diese lange Liebesszene: unglaublich offenherzig, sehr erotisch, vibrierend, und doch gänzlich unexploitativ. Armando Trovajolis Score trägt auch hier entscheidend zur Atmosphäre des Films bei. Pietrangeli starb kurz vor Ende des Drehs bei einem Unfall (der Film wurde von Valerio Zurlini fertiggestellt): was hätte er noch alles für großartige Filme drehen können!


4
THE NAKED PREY (Cornel Wilde: USA/Südafrika 1965)
Der für mich bislang der beste Film aus Cornel Wildes loser Trilogie der menschlichen Abgründe: THE NAKED PREY funktioniert auch sehr unmittelbar als puristischer Actionfilm. Für weitere Gedanken verweise ich gerne auf Hans Schmids tollen Text über Cornel Wilde (hier).


5
PANDORA AND THE FLYING DUTCHMAN (Albert Lewin: UK 1951)
Ein Film von einer fast überwältigenden, barocken Sinnlichkeit, mit fiebrigen Bildern, die von fiebrigem, todessehnsüchtigen Begehren handeln. Die schiere Intensität erinnerte mich etwas an Sirk, an Powell und Pressburger und hinterließ mich völlig sprachlos.


6
SPELL (DOLCE MATTATOIO) (Alberto Cavallone: Italien 1977)
Der Regieaußenseiter Alberto Cavallone macht dort weiter, wo Giulio Questi bei ARCANA aufgehört hat. Der "neorealistische", semi-dokumentarische Blick auf ein kleines Bergdorf kreuzt sich mit dem schreienden Wahnsinn, den inzestuösen Begierden, den grotesken Sexfantasien, der brutalen ehelichen Gewalt, der Verlogenheit der katholischen Kirche und der Perspektivlosigkeit der Kommunisten. Ein Film so wild, wie sich Buñuel seine eigenen Filme höchstens geträumt hat. Gesehen beim Terza Visione.


7
I QUATTRO DELL'APOCALISSE (Lucio Fulci: Italien 1975)
Trotz der Massaker, Folterungen, Vergewaltigungen und des Kannibalismus ist I QUATTRO DELL'APOCALISSE der wahrscheinlich zärtlichste und melancholischste Film Lucio Fulcis, den ich bislang gesehen habe, vor allem, weil er sich emotional komplett seinen vier Protagonisten hingibt. Das überträgt sich auch auf den Zuschauer, und ich war in der zweiten Hälfte fast permanent am Rande der Tränen. Es ist auch ein utopischer Film, weil er das Schicksal der Menschheit auf die Schultern von Außenseitern konzentriert (ein Falschspieler, eine Prostituierte, ein Alkoholiker, ein Wahnsinniger) – und die Menschheit trotzdem an der Welt langsam zugrunde geht.

8
QUESTO SI CHE È AMORE (Filippo Ottoni: Italien 1978)
Der Junge im aseptischen Glaskäfig, oder meine bisherige Krönung unter den "lacrima movies": der bislang schönste, intelligenteste, warmherzigste und tatsächlich auch witzigste unter den italienischen Kindersterbe-Melodramen der 1970er Jahre (es schlummert auch ein vergnügter Buddy-Movie in ihm). Der kranke Junge hat in seiner abgeschlossenen Welt mehr Weisheiten angesammelt als alle Erwachsenen; nur das wirkliche Leben fehlt ihm. Um das zu bekommen, muss er wieder geboren werden und dann sterben. Gesehen bei Terza Visione.

9
ICH (Roswitha vom Bruck: BRD 1972)
Der Sexploitationfilm aus einer weiblichen Perspektive: ein filmischer Bildungsroman über das Ausprobieren von Dingen und den langsamen Ausbruch aus einer höllischen Ehe oder ehelichen Hölle. Gesehen beim 18. Hofbauer-Kongress.

10
DIE TOTENSCHMECKER (Ernst Ritter von Theumer: BRD 1979)
Der Heimatfilm als Horrortrip in die dunklen Ecken der teutonischen Seele. Gesehen beim 18. Hofbauer-Kongress.


REQUIEM POUR UN VAMPIRE (Jean Rollin: Frankreich 1971)
Ein paar öde Landstriche, ein wahrscheinlich denkmalgeschütztes Schloss und zwei hübsche junge Schauspielerinnen: mehr braucht Rollin nicht, um ein im jeglichen Wortsinne fantastischen Vampirfilm zu drehen. Aus seinen "trivialen" Schauplätzen zaubert er ganz ohne Spezialeffekte (denn Film an sich ist Rollins Spezialeffekt) eine mysteriöse Parallelwelt, die ganz für sich spricht (konsequenterweise gibt es in den ersten 40 Minuten keine Dialoge).


FANTASMI A ROMA (Antonio Pietrangeli: Italien 1961)
Eine Wohngemeinschaft von Geistern kämpft nach dem Tod des irdischen Hausbewohners gegen die Gentrifizierung ihres Wohngebäudes – wenn nötig auch mit Mitteln der Kunstfälschung: ein wunderbar entspannte und amüsante Komödie, voller Zärtlichkeit für die lebenden wie auch toten Figuren, mit einer leisen Poesie veredelt.


GRAZIE ZIA (Salvatore Sampere: Italien 1968)
Der gelähmte Junge und seine Tante, vereint in einer inzestuösen, sadomasochistischen Beziehung. Unglaublich, dass dieser Film das Debüt eines 24-Jährigen war. Zusätzlich in den Irrsinn gepeitscht von einem unglaublichen Score Ennio Morricones mit Kinderchor (meiner Meinung nach einer seiner großartigsten und unterschätztesten).

COL CUORE IN GOLA (Tinto Brass: Italien/Frankreich 1967)
Ein paar Monate vor Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO dekonstruiert Tinto Brass mit den gleichen Hauptdarstellern (Jean-Louis Trintignant und Ewa Aulin) den Giallo. Was bei Questi auch als antikapitalistische Satire entwickelt wurde, ist bei Brass' BLOW-UP-"Ripoff" vor allem ein Spiel mit den Formen: Split-Screens, wilde Point-of-Views, Animationseinblendungen, halsbrecherische Montagen und Farbe-Schwarzweiß-Wechsel.


CHARMANTS GARÇONS (Henri Decoin: Frankreich 1957)
Zizi Jeanmaire verdreht als Tänzerin auf der Suche nach einem Mann für's Leben (bzw. für eine Nacht) allen Männern den Kopf. Mit dabei: Gert Fröbe als schmieriger Großindustrieller, der sie ständig "in seiner Limousine mitnehmen" möchte, Daniel Gélin als Gentleman-Räuber, François Perrier als unentschieden-schwächlicher Ehemann (also: einer anderen Frau) und Henri Vidal als Boxer, der zum Wohle seiner Muskeln und zum Leidwesen Jeanmaires lieber auf Sex verzichtet. Mir ist mehrmals vor Verwunderung oder Begeisterung die Kinnlade herunter geklappt.


AL OTRO LADO DEL ESPEJO (Jess Franco: Spanien/Frankreich 1973)
Von den lächerlich wenigen Franco-Filmen, die ich bislang kenne (12 Stück) ist AL OTRO LADO DEL ESPEJO die provisorische Krönung. Ein meisterhafter Film, entschleunigt und (alp)traumhaft, verführerisch und musikalisch (da die von ihrem toten Vater besessene Protagonistin Jazzpianistin ist, gibt es herrlich ausgedehnte Konzertpassagen).

DIE STORY (Eckhart Schmidt: BRD 1984)
Kokain ist die Droge der Stunde im Münchener Schickeria-Milieu, in dem ein Journalist nach den Mördern seiner Verlobten sucht, und so wirkt dieser Film wie auf Droge: aufgeputscht, erregt, geil, scheinbar klar sehend und doch alles wie durch einen Schleier wahrnehmend. Ein wunderbarer Neo-Noir!

DER PARTYPHOTOGRAPH (Hans-Dieter Bove: BRD 1968)
Ein nichtsahnender Fernsehtechniker (großartig: Rolf Zacher) gerät in die frivole Welt der Nacktfotografie, als ihm eine Mappe mit Aktbildern in die Hände gerät und er für den Fotografen gehalten wird. Bald wird er zum unfreiwilligen Gastgeber für die heißesten Parties der Stadt. Flott, rasant und zwischendurch zum Schreien lustig.


IL MAGNIFICO CORNUTO (Antonio Pietrangeli: Italien/Frankreich 1964)
Eine "self-fulfilling prophecy" in erlesenen Schwarzweißbildern: Ugo Tognazzi ist geradezu besessen von der Idee, dass ihn seine Gattin Claudia Cardinale betrügen wird und steigert sich in geradezu absurde Fantasien hinein. Trotzdem der Film Heuchelei in der Ehe thematisiert (Tognazzi hat seine eigene Frau gleich zu Beginn betrogen – mit Michèle Girardon), bleibt er doch stets humanistisch und verständnisvoll, wenn er die Schwächen des Protagonisten enthüllt. Am Ende ist alles gut: er ist rundum glücklich, weil er seine Angst davor, dass seine Frau ihn betrügen könnte, endlich überwunden hat – und sie hat sich endlich einen Liebhaber genommen.

BORA BORA (Ugo Liberatore: Italien/Frankreich 1968)
Zwei Italiener bringen ihren entfesselten Ehekrieg in das polynesische Paradies: traditionelle Vorstellungen von Ehe und Männlichkeit und koloniale (und sexuelle) Ermächtigungsfantasien werden in exquisit grausamen Scope-Bildern vor der malerischen Kulisse Französisch-Polynesiens ausgetragen. Der Film spaltete die kleine Zuschauerschaft in Nürnberg heftig. Einige fanden den Film rassistisch und sexistisch, andere fanden die Darstellung von Rassismus und Sexismus zwar nicht bejahend, aber doch fast unerträglich. Nach BORA BORA und LOVEMAKER würde ich Ugo Liberatore – das ist natürlich stark vereinfacht – als eine Art italienischer Paul Verhoeven sehen: als sehr intelligenter Provokateur, der schonungslose Filme über (strukturelle) Gewalt, sexuelle Unterwerfung und alles überwältigende Obsessionen dreht.


LETZTES AUS DER DA DA ER (Jörg Foth: DDR 1990)
Chronologisch der erste Film aus dem Programm "DEFA: 4. Generation" beim 2. Jenaer Paradies-Filmfestival. Was sich letztes Jahr schon angedeutet hat, wurde hier konkret: in den DEFA-Produktionen der Jahre 1988 bis 1992 versteckte sich etwas, was man vielleicht als "verhinderte zweite ostdeutsche nouvelle vague" bezeichnen könnte. Verhindert, weil die Filmemacher nach der Wende von der nun "gesamtdeutschen" Filmindustrie größtenteils auf den Müllhaufen der deutschen Kinogeschichte geworfen wurden; weil ihre schwierigen, sperrigen und provokativen Filme mit der internationalen Öffnung des Kinomarkts kaum noch jemanden im heimischen Kinomarkt interessierten; weil die Filme in einem Umbruch entstanden und oft schon vor Ende ihrer Produktion "veraltet", von äußeren Ereignissen "überholt" waren, umgeschrieben und umgedreht werden mussten und dadurch noch mehr "gebrochen" wirken mussten.
Das (Anti-)Musical LETZTES AUS DER DA DA ER war der erste Film der Künstlerischen Gruppe DaDaeR, der als erste völlige Freiheit beim Filmen zugesichert wurde. Zwei Clowns, die aus dem Gefängnis ausgebrochen sind, tanzen, singen, trollen und prügeln sich durch trostlose, fast postapokalyptisch anmutende Vorstädte und verwüstete Fabriken, durch Schlachthöfe und offizielle Ministerialempfänge.

DER HUT (Evelyn Schmidt: Deutschland 1991)
In SHOWGIRLS freut sich Nomi Malone über ein Kompliment, das zu ihrem Kleid gemacht wird: sie habe es bei "Versayce" gekauft – währenddessen ihre drei Ansprechpartner ihr Lachen unterdrücken müssen, weil sie Versace nicht richtig ausspricht. DER HUT ist ein Film, der einige Jahre vorher diese etwa 30 Sekunden zu einem abendfüllenden Film gemacht hat. Eine Putzfrau, die aus Zufall einen teuren Designer-Hut ersteht, wird bei ihrem nun nach Jahren endlich genehmigten Urlaub im Fahrstuhl eines schicken Hotels vom Liftboy ausgelacht: der Beginn eines perfiden, sadomasochistisch angehauchten Psychokriegs zwischen den beiden. Ursprünglich sollte DER HUT eine Satire auf die Parallelwelt der Urlaubssanatorien für höhere Parteimitglieder werden, doch die Wende "überholte" den Film – der wiederum zu einer Satire umgedreht wurde über die post-sozialistischen, kapitalistischen Begierden von Ostdeutschen, die Leuten gegenüber stehen, die schon etwas länger Kapitalismus "praktizieren". Herausgekommen ist ein unglaublich bizarrer und faszinierender Film (als hätten Paul Verhoeven und Helge Schneider gemeinsam einen Film gedreht) voller sehr grotesker Momente (ein "romantisches" Abendessen mit Schnecken-Menü wird zum Alptraum), leicht sadistisch (der Film hat eine gewiße Freude daran, seine Figuren auflaufen zu lassen) und doch auch voller Poesie (wenn sich die beiden Kontrahenten zu einem intimen Date im obersten Stockwerk des Hotels treffen: einer mit bunten Luftballons gefüllten Edel-Lounge, von romantischer Popmusik beschallt). Gezeigt beim Paradies-Filmfestival in der Retrospektive "DEFA: 4. Generation". Leider Evelyn Schmidts vorerst letzter Film (viele Filme dieses Programms waren "letzte Filme").

DAS LAND HINTER DEM REGENBOGEN (Herwig Kipping: Deutschland 1992)
Dieser Film spielt in einem postapokalyptisch-steampunkigen Parallel-Universum, das als Stand-In für die dörfliche DDR der 1950er Jahre dienen soll. Dort verharrt die Dorfgemeinschaft in einer Art Zustand kollektiven Wahnsinns, noch völlig verroht vom Zweiten Weltkrieg. Selbst die Kinder sind verroht, grausam, quälen sich gegenseitig, wenn sie sich nicht an Tieren vergehen und diese in die Luft sprengen. In einer Art Nachstellung des 17. Juni (und seiner Niederschlagung) kommt es zu einem kollektiven Rausch aus Plünderung, Mord und Vergewaltigung. Gezeigt beim Paradies-Filmfestival in der Retrospektive "DEFA: 4. Generation".

MIRACULI (Ulrich Weiß: Deutschland 1992)
Der vielleicht "gebrochenste" und dadurch auch faszinierendste der beim Paradiesfilmfestival gezeigten "Wende-Flicks", in dem ein jugendlicher Delinquent beim Ableisten von Sozialstunden sich immer mehr in seine Tätigkeit als Fahrkartenkontrolleur hineinsteigert und sich schließlich als regelrechter mahnender Messias der Leipziger Straßenbahn gebiert. Ein dandyhafter, steinreicher Mann, der möglicherweise der Teufel höchstpersönlich ist und eine femme fatale entpuppen sich als besonders hartnäckige Schwarzfahrer. Dann landet er bei einer dekadenten Party an einem See, der wiederum über Nacht verschwindet. Man merkt MIRACULI deutlich an, dass er "von der Wende überholt" wurde, denn gerade die zweite Häflte wirkt wie nachträglich einem Film hinzugefügt, der sich zwischenzeitig verlaufen hat... aber gerade das macht ihn auch sehr außergewöhnlich. Großartig überhaupt, wie Weiß Leipzig (und teilweise Halle) im desolaten spätsozialistischen Zustand der Verwahrlosung als eine Art postapokalyptische Welt aus Verfall, Dreck und Leere darstellt. Das Sahnehäubchen ist aber Hauptdarsteller Volker Ranisch, der mit seinen sanften, traurigen, melancholischen Augen manchmal die Aura eines klassischen Slapstick-Darstellers aus der Stummfilmära hat. MIRACULI, Ulrich Weiß' leider vorerst letzter Film, lief beim Paradies-Filmfestival in der Retrospektive "DEFA: 4. Generation".

THE MODERNS (Alan Rudolph: USA 1988)
Paris in den 1920er Jahren: Alles ist Schall und Rauch in der US-amerikanischen Exil-Gemeinde. Vor allem Rauch, viel Rauch, der sich schwadenartig durch die Nachtcafés, Dachgeschosswohnungen, Ateliers, Luxusvillen, Boxringe zieht (und auf den Boulevards und Nebenstraßen und Brücken viel Nebel) und das ideale Habitat für die Intrigen um Kunstfälschungen bildet. Der Rauch und der Nebel, zusammen mit der oft bewegten Kamera, die teils ganze Szenen in Spiegeln filmt, machten aus THE MODERNS, gesehen auf einer kristallinen 35mm-Kopie bei einem Screening des Film e.V. Jena, zu einer der großen materialfetischistischen Offenbarungen des Jahres. Überhaupt: was für ein vergnüglicher Film, mit einem tollen Keith Carradine als Zeichner und Kunstfälscher, Linda Fiorentino als Femme-Fatale-Muse und Kevin J. O'Connor als immer wieder mehr oder minder tiefsinnige Bonmots angetrunken vor sich hinbrummender Hemingway. Außerdem ein lehrreicher Film: Sex lieber auf dem Boden vor der Badewanne als in der gefüllten Badewanne!


BEACH PARTY (William Asher: USA 1963)
Zwischendurch hatte ich Angst, dass die Nachbarn ob meines wiehernden Lachens wirklich die Polizei oder den Notarzt rufen... Dabei ist das Konzept des Films so einfach: ein Anthropologe erforscht das Sexualverhalten geschlechtsreifer Surfer an einem kalifornischen Badestrand und muss bald sein eher distanziertes Forschungsdesign auf "teilnehmende Beobachtung" umstellen. Die Krönung des ganzen ist natürlich Dorothy Malone als schwer verliebte Assistentin.

SLALOM (Luciano Salce: Italien/Frankreich/Ägypten 1965)
Eine Art italienischer Rip-Off von Hitchcocks NORTH BY NORTHWEST, mit Vittorio Gassman als Cary Grant, der als ahnungsloses Opfer einer Spionage-Intrige von einer italienischen Ski-Station nach Ägypten entführt wird und dort durch Kairo und die Wüste rennt und flieht. Gesehen in einer kristallinen Technicolor-35mm-Kopie, die den Genuss auf ein ganz neues Niveau gehoben hat. Bei Gassmans rotem Pullover konnte man die einzelnen Maschen zählen und bewundern.

PERLE DER KARIBIK (Manfred Stelzer: BRD 1981)
Ein deutscher Biedermann kauft sich eine Braut aus der Karibik, die sich leider einfach nicht seinem tristen deutschen Alltag und seiner vergünstigt erstandenen Polstergarnitur anpassen möchte und einfach nicht versteht, dass "Hier ist Deutschland, hier werden Kartoffeln geschält!". Zum Brüllen komisch und zum Schreien schmerzhaft.

SOLO (Jean-Pierre Mocky: Frankreich/Belgien 1970)
"Mais je ne tiens pas à foutre le bon Dieu dans ma braguette, Mademoiselle. Ce serait inhabitable pour lui." (Ich versuche doch gar nicht, den lieben Gott in meinen Hosenschlitz hineinzuzwängen, Fräulein. Es wäre für ihn unbewohnbar) – Solche wunderbaren Bonmots sind das Sahnehäubchen zu einem tollen film noir: extrem konzentriert (er spielt größtenteils in Echtzeit in einer einzigen Nacht), spannend, gewitzt und zugleich sehr desillusioniert über den Verlauf von Mai 68.

THE CRAZIES (George A. Romero: USA 1973)
Rückblickend mag der Film wie ein Nachtrag zu NIGHT OF THE LIVING DEAD wirken oder wie eine Vorstudie zu DAWN OF THE DEAD – SUNRISE OF THE LIVING DEAD gewissermaßen, zumal er auch den Prozess des zivilisatorischen Zusammenbruchs zeigt, der einhergeht, wenn die Krise nicht lokal eingedämmt werden kann. Eigenständig gesehen ist THE CRAZIES vor allem ein fantastischer und ungemein pessimistischer Paranoia-Thriller, der keine Gefangenen nimmt, mit einer ungemein straffen, bedrängenden Inszenierung, die das Gefühl der Dringlichkeit und Beengung visuell ungemein stark auf den Zuschauer überträgt (in seinen oft stakkatohaften, assoziativen Montagen wohl Romeros "avantgardistischster" Film).


HUSH...HUSH, SWEET CHARLOTTE (Robert Aldrich: USA 1964)
Aldrichs Film gilt, aus natürlich naheliegenden Gründen, gemeinhin als "Neuauflage" von WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE?. Mir scheint HUSH...HUSH, SWEET CHARLOTTE jedoch zumindest in seiner Art, wie er mit völlig konträren, oft im Bruchteil einer Sekunde umkippenden Atmosphären arbeitet (melancholisch, grotesk, melodramatisch, horrormäßig, hysterisch, zärtlich, grausam, erhaben, vulgär, schreiend komisch, traurig), die emotionale Bandbreite seiner späteren Filme ab 1968 vorwegzunehmen. Mit anderen Worten: für mich ein großer Aldrich-Film.

WAIDMANNSHEIL IM SPITZENHÖSCHEN (Jürgen Enz: BRD 1982)
Dioramen der Gelüste, der Jägerzeremonien und der angeknabberten Büffets. Gesehen beim 18. Hofbauer-Kongress.

L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH (Cesare Canevari: Italien 1977)
Der härteste Film des Terza-Visione-Festivals 2019. Auf gewisse Weise ein bestialischer, aber auch ein extrem intelligenter Film, der möglicherweise auf ehrlichere und präzisere Weise über den Holocaust nachdenkt als "leichter" "konsumierbare" Holocaust-Dramen für das größere Arthouse-Publikum. Ich werde in einem bald erscheinenden Bericht zum Terza noch etwas mehr auf diesen Film eingehen.

UNE CORDE, UN COLT (Robert Hossein: Frankreich/Italien 1969)
Zu sagen, dass UNE CORDE, UN COLT Sergio Corbuccis grimmigen IL GRANDE SILENZIO oder Sam Peckinpahs THE WILD BUNCH wie völlig alberne Klamaukfilme aussehen lässt, wäre zwar übertrieben, aber nur leicht. In einer unglaublich schockierenden, und zugleich wunderbaren Szene stehen sich Michèle Mercier als grausame Rächerin und Robert Hossein als einsamer Pistolenheld gegenüber: während in einem nahegelegenen Hotel die entführte Tochter des gegnerischen Klans auf Geheiß Merciers von zwei ihrer Schergen vergewaltigt wird, schwören sich die beiden ehemaligen Liebhaber eine ewige Liebe, sehen aber trotzdem ein, dass diese Liebe unmöglich ist, weil der Klankrieg, in den sie geraten sind, sie beide auslöschen wird und sie sich keine Illusionen zu machen brauchen. Hossein inszeniert das ohne ein einziges Wort, nur mit Blicken und einer parallel geschnittenen Kamerafahrt auf beide Protagonisten – während wenige Meter daneben Abscheuliches sich abspielt. Gewalt erzeugt nur Gegengewalt: wenige Filme haben diese Worte so konsequent spürbar gemacht.

LES SCÉLERATS (Robert Hossein: Frankreich 1960)
Robert Hossein liebt laborartige Kammerspielsituationen: hier stehen sich zwei Häuser gegenüber, das Wohnhaus eines ärmlichen Arbeiterpaars und ihrer Tochter (Perrette Pradier), und die schicke Design-Villa eines reichen Paars (Hossein und Michèle Morgan), das die Nachbarstochter als Hausmädchen einstellt und sie immer tiefer in den ehelichen Strudel aus Hass und Wahnsinn hineinzieht. Es ist völlig unglaublich, was Hossein hier filmisch mit dem engen Setting anstellt (mit Treppen, mit Fensterfronten, die auf die Straße hinausgehen, mit der Tiefe des Raumes, die in entlegenere Zimmer weist) und damit jegliche Spur von "Theater" ausmerzt. Unvergesslich der Moment, wo Perrette Pradier auf dem Rücken der nackten Michèle Morgan herumläuft (um sie zu massieren). Ganz großes Kino die hasserfüllt herausgezischten russischen Schimpftiraden Hosseins gegen Michèle Morgan, wenn sie wieder einmal zu tief ins Glas geschaut hat.


THE FALL OF THE HOUSE OF USHER (Roger Corman: USA 1960)
Ein großartige Demonstration, wie man aus einem minimalen Budget einen prunkvoll erscheinenden Film drehen kann: eine echte Augenweide von einem Atmosphärenfilm, jedes Scope-Bild der leicht zerfallenden Villa durchtränkt vom Usher'schen Wahn. Eine lange Alptraum-Sequenz in monochromem Rot und Blau nimmt Romeros Zombies vorweg.

FEUER UND EIS (Willy Bogner: BRD 1986)
Ein Skifahrer verliebt sich in eine Skifahrerin – und fantasiert die ganze Zeit darüber, wie er mit ihr... Ski fahren wird. So entwickelt sich eine unglaubliche Nummern-Revue spektakulärer Skiabfahrten: von milimetergenau durchgetakteten Skifahrten durch rappelvolle Bergrestaurants und -terrassen über fast surreale Loopings in extremer Zeitlupe und eine ausgedehnte schwarzweiß-stumme Slapstick-Nummer bis hin zu nächtlichen Fahrten durch Feuer und Explosionen. Ein sublimierter Ski-Porno, vom "Quereinsteiger" Bogner mit ordentlich Karacho inszeniert und von Emil Steinberger mit einer ziemlich verstrahlten Synchronisation veredelt. Gesehen beim Karacho-Festival des Actionfilms.


DEDICATO A UNA STELLA (Luigi Cozzi: Italien/Japan 1976)
Girl meets (elderly) Boy à la "lacrima" – leukämiekranke Teenagerin verliebt sich in abgehalfterten Konzertpianisten. Von den italienischen Krankheitsmelodramen, die ich kenne, der impressionistischste: über weite Strecken ist er als Abhäng-Film mit Road-Movie-Charakter inszeniert, dreht am Schluss die Schleusen dafür umso weiter auf.

ŒIL POUR ŒIL (André Cayatte: Frankreich/Italien 1957)
André Cayatte, einer der "Qualitäts"-Prügelknaben der Cahiers du cinéma, schickt Curd Jürgens in seinem grimmigen Rache-Thriller in die Syrische Wüste: eine Einblendung "Directed by Robert Aldrich" hätte am Ende dieses Films nicht überrascht. Sein struktureller Minimalismus und seine absolute Geradlinigkeit ist anbetungswürdig: in der zweiten Hälfte geht es tatsächlich nur noch um zwei Männer, die zusammen durch die Wüste laufen und dabei langsam verdursten. Ein Schlag in die Magengrube, der noch lange nach dem niederschmetternden Finale nachwirkt. Gesehen beim Karacho-Festival des Actionfilms (wo der Film eigentlich nicht wirklich reinpasste und dann eben doch sehr gut passte).


SALT AND FIRE (Werner Herzog: Deutschland/Frankreich/Mexiko/Bolivien/USA 2016)
Nach einem unglaublich vergnügt hanebüchenen Entführungsplot schickt Herzog Veronica Ferres mit zwei blinden und tauben Jungen in die Wüste! Ein leider völlig unterschätzter Film, der so verspielt und lustvoll ist, dass man ihn glatt für wahnsinnig halten könnte.


THE APARTMENT (Billy Wilder: USA 1960)
So... endlich den Film gesehen, in dem Jack Lemmon Nudeln mit einem Tennisschläger abseiht. Natürlich passiert noch viel mehr. Lustiges, Zärtliches, Rührendes. Und nicht zu vergessen der Moment, wo Fred MacMurray anstelle eines Weihnachtsgeschenks einen Geldschein an Shirley MacLaine übergibt – einer meiner schockierendsten und unfassbarsten Filmaugenblicke des Jahres.


DOVÈ VAI TUTTA NUDA? (Pasquale Festa Campanile: Italien 1969)
THE APARTMENT, durch den Fleischwolf der commedia all'italiana gedreht: Kleinangestellter Tomas Milian, der seine Wohnung für die Schäferstündchen seines Chefs manchmal freilässt, heiratet im Suff aus Versehen eine englische Dame, die so offenherzig spricht wie sie gerne einfach mal nackt herumläuft. Milian als Vollblut-Komiker zu sehen ist einfach wunderbar, doch das Sahnehäubchen ist Vittorio Gassman als tollpatschiger Einbrecher Rufus mit langer Silberhaar-Perücke (sic!) und Monokel, der einige absolut unfassbare Solo-Slapstick-Nummern zum Besten gibt, stets begleitet von einem eigenen fetzigen Subthema Armando Trovajolis.

DO MA DAAN – PEKING OPERA BLUES (Tsui Hark: Hong Kong 1986)
Die ersten 20 bis 30 Minuten haben mich mit ihrer unglaublichen Rasanz und dem radikalen Mangel an Exposition (alles passiert "in media res") wie eine Dampfwalze überrollt: Eine Juwelendiebin, eine Schauspielerin und zwei Revolutionäre inmitten von Intrigen, Aufführungen, absurd-witzigen Versteck- und Maskaradespielen, wilden Prügeleien, brutalen Folterungen, spektakulären Verfolgungsjagden, und ein bisschen Liebe. Meine Überforderung schlug dann in Liebe um, als die Juwelendiebin (?) und die Revolutionärin in einer dunklen Straße unter einer Laterne stehen: für einen Moment bleibt der Film für eine kurze Zeitlupe fast stehen – und als der Film wieder die normale Geschwindigkeit erreicht, fängt es an zu schneien. Pure Kinomagie und große Liebe. Gesehen beim Karacho-Festival des Actionsfilms.

IRAN SARAY-E MAN AST (Parviz Kimiavi: Iran 1999)
Ein Autor, dessen Buch über klassische persische Dichtung immer wieder neue Auflagen von der Zensur erhält, begegnet auf dem Weg zu den Bürokraten in der Wüste immer wieder den Subjekten seiner Forschung, die mit ihm über Wein, Weib und das Leben philosophieren. Zwischendurch gibt es auch noch Zeit, einen Brunnen zu bauen und durch die Kanalisation Teherans zu waten. Zufällig gesehen (leider nur auf einer Blu-ray) bei einer Retrospektive zum Regisseur Parviz Kimiavi in Frankfurt – um die Zeit bis zum ersten Robert-Hossein-Film totzuschlagen.


THE CHILDREN'S HOUR (William Wyler: USA 1961)
(Auch) ein furchterregender Kinderhorrorfilm. Ein soziologischer Film über kollektive Niedertracht und Grausamkeit. Wie offenbar meistens bei Wyler ein toller Schauspielerfilm (bzw. hier konkret Schauspielerinnenfilm: Hepburn und MacLaine zerreissen das Bild manchmal geradezu!). Interessant erschienen mir die immer wieder aus dem Nichts kommenden, sehr merkwürdigen und irritierenden Jump-Cuts.


L'ANTICRISTO (Alberto De Martino: Italien 1974)
Ich verehre William Friedkin, aber ich halte THE EXORCIST für einen seiner schwächeren Filme (auch wenn es trotzdem ein sehr guter Film ist). De Martinos "Ripoff" ist meiner Meinung nach der stärkere Film, emotional involvierender und wesentlich menschlicher, weil er im Kern auch um die Vereinsamung und Verzweiflung einer gelähmten jungen Frau handelt. Ohne die absolut wunderbare Carla Gravina als melancholische Großbürgertochter, obszönitätenspuckende Besessene und männermordende femme fatale wäre L'ANTICRISTO in seiner extremen Intensität kaum denkbar. Zunächst in einer DVD-Fassung gesehen, später noch einmal in einer leider unvollständigen 35mm-Kopie bei "Terrore a Norimberga".

KARIN E BARBARA LE SUPERSEXYSTAR (Giorgio Grand: Italien 1988)
Eine der spektakulärsten Filmvorführungen, die ich dieses Jahr gesehen habe. "Schamlos intim" (so der deutsche Titel) lief als "35mm-Sneak" bei einer öffentlichen Testvorführung in Jena. Von den etwa 80 Zuschauern waren am Ende knapp noch 40 übrig (oder aus pessimistischer Sicht: immerhin 40!), über 20 Zuschauer verliessen den Saal schon vor dem ersten Rollenwechsel. Sie verpassten einen auf eine ganz eigensinnige Weise ausgezeichneten Pornofilm mit einer gereiften Karin Schubert und einem blutjungen Rocco Siffredi. Einen Film über das animalische Schauen: in einer der ausgedehnten Sexszenen in der freien Natur (wir befinden uns auf einem Wochenendhäuschen im ländlichen Italien) blickt immer wieder ein Pferd auf das selbstvergessene Paar; wenn dieses in der Totalen eingefangen wurde, lief das Pferd im Hintergrund herum (und später erinnerte ein Sattel im ohnehin sehr extravagant eingerichteten Wohnzimmer – der riesige Porzellandalmatiner: noch ein animalischer Blick! – an das Pferd). Ein Film über das offene, überraschte, entdeckende Schauen: die kleine Ferien- und Sexgemeinschaft schaut sich in einer Art öffentlichen Testsichtung ein Pornotape mit mutmaßlicher Beteiligung einer berühmten Schauspielerin an. Ein Film über den allmählichen Zusammenbruch der italienischen Filmindustrie: es soll eine Luxusvilla sein, doch die Lampenschirme sind schon eingedellt, die Sofas schon leicht abgerockt, das Budget reicht nicht mehr für das originale "House of the Rising Sun", sondern nur für eine Synthie-Kopie davon – und trotzdem wird drüber hinweggesehen und allen Widerständen zum Trotz Kino gemacht. Großes Kino, wie es sich an diesem 10. Mai 2019 für zumindest einige von 40 Leuten erwies.

QUE LA BÊTE MEURE (Claude Chabrol: Frankreich/Italien 1969)
Chabrol in den Jahren zwischen 1969 und 1977 erscheint mir mit jedem weiteren Film zunehmend faszinierender. Auch JUSTE AVANT LA NUIT und LES NOCES ROUGES waren toll, aber QUE LA BÊTE MEURE würde ich hier exemplarisch nennen. Jean Yanne als dermaßen niederträchtiger Schurke zu sehen macht einfach unglaublich viel Spaß. Und diese lange Plansequenz, die als bedrückend-grausames Tableau der versammelten Empfangsgesellschaft endet, voller peinlich dahin gestammelter Trivialitäten.


COPKILLER (L'ASSASSINO DEI POLIZIOTTI) (Roberto Faenza: Italien 1983)
COPKILLER funktioniert auch jenseits des natürlich sehr spannenden Besetzungscoups, New-Hollywood-Star Harvey Keitel und Sex-Pistols-Sänger John Lydon (Johnny Rotten) zusammenzubringen, als toller Psycho-Thriller über einen allmählichen Austausch von Identitäten, Schuld und Persönlichkeit zwischen dem mutmaßlichen Polizistenserienkiller und dem Polizisten, der ihn in einer mit Schmiergeld finanzierten Luxuswohnung gefangen hält.


BEDLAM (Mark Robson: USA 1946)
Mark Robsons letzte (und gefloppte) Zusammenarbeit mit Val Lewton wird gerne als Horrorfilm bezeichnet, doch eigentlich handelt es sich um eine sehr sehr schwarze, bitterböse Komödie, die einen immer wieder staunen lässt, wie (für die 1940er Jahre verhältnismäßig) progressiv psychische Krankheiten und damit einhergehende soziale Isolation behandelt werden. Wer zu achtlos mit den "Verrückten" spielt, wird eben selbst verrückt...


THE SERVANT (Joseph Losey: UK 1963)
Wieder ein Film, dessen zutiefst komödiantisches (zugegeben sehr schwarz und bitter – und manchmal "versteckt" in den ironischen Bildkompositionen) Potential immer wieder übersehen wird: eine Art perverse Katz-und-Maus-Screwball-Komödie, die schließlich zur sadomasochistischen Buddy-Komödie wird.


GROßE FREIHEIT NR. 7 (Helmut Käutner: Deutschland 1944)
Der Urvater des Reeperbahn-ploitation-Films. Auch ein Triumph des frühen Farbfilms und natürlich eine wunderbare Hans-Albers-Show. Und dann immerzu diese Glanzlichter!



Mit dem Zweiten sieht man besser
Zwei Filme, die ich bei der Zweitsichtung mit vollkommen anderen Augen neu entdeckt habe.


SEVEN CHANCES (Buster Keaton: USA 1925)
Im September 2017 gesehen und unter den okay'ischen "lesser" Keaton-Filmen eingeordnet... Die Wiedersichtung ordnet ihn jetzt meiner Meinung nach unter den ganz großen Keatons, neben THE GENERAL, THE NAVIGATOR, SHERLOCK JR., COPS und THE GOAT. Natürlich sind die finalen Stunts, als Keaton vor erratisch hinunterrollendem Gestein flieht, absolut fantastisch. Aber die titelgebenden sieben Chancen, die beschleunigte Brautschau inmitten einer mondänen Gesellschaft: die absolute Beherrschung des Raumes in der Höhe und Tiefe (diese unfassbare Tiefenschärfe!) und Breite (der lange Schwenk durch die Teegesellschaft), die geschickten Beschleunigungen und Entschleunigungen des Tempos, das perfide und doch lustige und zärtliche Ausloten von Urängsten sozialen Versagens, die große Poesie reinen visuellen Erzählens (die auf ihn regnenden Schnipsel des zerrissenen Antrags), die übergroße Komik des reinen visuellen Erzählens (die Mutter mit dem Kleinkind und der Zeitung!), dazu das perfekt getime'te Schauspiel... unglaublich – wie konnte ich das nur beim ersten Mal übersehen. Was für ein großartiger Film!


...E TU VIVRAI NEL TERRORE! L'ALDILÀ (Lucio Fulci: Italien 1981)
Im Januar 2015 übermüdet auf einer DVD im richtigen, aber nichtanamorphen Format mit matschigem Bild gesehen und dann noch in Erwartung eines "klassischen" Horrorfilms: keine gute Voraussetzung. Seit Sommer 2017 entdeckte ich Lucio Fulci mehr und mehr als großartigen Regisseur, und die Wertschätzung von L'ALDILÀ steigerte sich zumindest intellektuell. Die Vorführung beim "Terrore a Norimberga" bot den idealen Anlass, ihn mit ganz neuen Augen zu sehen: in einem wahrlich entfesselten Cinemascope, in einer kristallin-sinnlichen 35mm-Qualität, die völlig neue Details offenbart hat. Fulci war voll und ganz ein Kino-Regisseur und seine Filme wirken im Kino wirklich anders als auf einem Bildschirm. Nicht nur visuell: L'ALDILÀ ist ein phänomenal lauter Film und assoziiert auch akustisch manche völlig disparate Szenen (die Krankenbahre, die ein Pfleger an dem rothaarigen Mädchen vorbeirollt, macht die gleichen Geräusche wie später die angreifenden Bibliotheksspinnen). Die Horrorszenen waren zweifelsohne großartig und gerade die letzten paar Minuten waren reinste Kinomagie, aber in Erinnerung wird mir vor allem ein kleiner, unscheinbarer Moment bleiben: Catriona MacColl hat das Zimmer 36 betreten, zieht den Vorhang beiseite und ein Schwall von Staub, gebrochen von den goldenen Strahlen des Sonnenaufgangs, ergießt sich durch den Raum.