Dienstag, 6. Oktober 2020

LAST AND FIRST MEN - Brutalismus und das Ende der achtzehnten und letzten Menschheit

LAST AND FIRST MEN
Island 2017/2020
Regie: Jóhann Jóhannsson
Erzählerin: Tilda Swinton



LAST AND FIRST MEN ist in gewissem Sinn das Vermächtnis des 2018 mit 48 Jahren verstorbenen isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, auch wenn es nicht als solches gedacht war: Die Musik ist seine letzte Komposition, und der Film seine erste und einzige Regiearbeit, wenn man davon absieht, dass er zuvor schon in antarktischen Gegenden einen kurzen Dokumentarfilm auf Super 8 gedreht hatte - in statischen Tableaus, wie es in der IMDb heißt, und damit anscheinend schon in einem ähnlichen visuellen Stil wie LAST AND FIRST MEN. Als Filmkomponist bekannt geworden ist Jóhann (das "Jóhannsson" bedeutet "Sohn von Jóhann", ist also, wie in Island üblich, kein Familienname) vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Denis Villeneuve, aber er schrieb auch Musik für andere Regisseure, für Theaterprojekte und für Soloalben. Sein plötzlicher und zunächst rätselhafter Tod in Berlin, wo er gelebt hatte, wurde durch eine Überdosis Kokain im Zusammenspiel mit Erkältungsmedikamenten verursacht. Eine vorläufige Fassung von LAST AND FIRST MEN lief bereits 2017 mit Live-Orchesterbegleitung bei einem Festival in Manchester, aber Jóhann arbeitete weiter an der Musik dazu und konnte sie nicht mehr fertigstellen. Sein musikalischer Mitstreiter bei diesem Projekt, der in Israel geborene und in Berlin lebende Yair Elazar Glotman, komplettierte die Komposition und leitete die Aufnahme. Auch der endgültige Schnitt von LAST AND FIRST MEN wurde erst posthum erledigt. Seine Premiere erlebte der fertige Film heuer auf der Berlinale. Er lief auch auf weiteren Festivals, z.B. neulich in Vancouver.
LAST AND FIRST MEN besteht aus drei nur lose verknüpften Ebenen - der visuellen und zwei akustischen. Für die Filmaufnahmen (auf körnigem 16mm) reiste Jóhann mit seinem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen kreuz und quer durch die Staaten des früheren Jugoslawien und filmte die dort so genannten Spomeniks. Das sind von den 60er bis in die 80er Jahre im Stil des Brutalismus errichtete Monumente aus Stein, Beton und Metall, die im ganzen Land an die Opfer von Krieg und Faschismus erinnern sollten. Die Spomeniks wurden von politischen Entscheidungsträgern von Marschall Tito bis hinab zu Kleinstadtbürgermeistern in Auftrag gegeben und sollten noch einen weiteren Zweck erfüllen, nämlich in dem ethnisch und religiös inhomogenen Land die nationale Einheit zu befördern. Wie wir heute wissen, ohne langfristigen Erfolg.
Etliche der prominentesten und visuell spektakulärsten Spomeniks, wie etwa das Denkmal für die Revolution der Einwohner von Moslavina oder die Nekropole für die Opfer des Faschismus bei Novi Travnik (die David Bordwell an die Kunst australischer Aborigines erinnert, während ich eher an Skulpturen europäischer neolithischer oder bronzezeitlicher Kulturen und wieder andere Leute an die Etrusker dachten), bilden also die visuelle Ebene von LAST AND FIRST MEN. Die Kamera fährt dafür mit sehr langsamen und langen Bewegungen, Drehungen und Zooms an den rohen Monumenten entlang, oft in Blickrichtung von unten nach schräg oben, so dass regelmäßig auch der Himmel im Blick ist. Menschen sind dagegen nie zu sehen. Die Idee dazu wurde Jóhann 2010 durch den Bildband eines holländischen Fotografen über Spomeniks eingegeben. Schon vorher hatte er den unbestimmten Drang, einmal einen größeren Film zu drehen, aber es fehlte die zündende Idee dafür.
Die eine der beiden akustischen Ebenen bildet die von Jóhann und Yair Elazar Glotman komponierte Musik. Während 2017 in Manchester offenbar noch ein großes Orchester im Vordergrund stand, verschob sich im weiteren Verlauf der Arbeit am Score der Fokus in Richtung Kammermusik, auch wenn noch ein Orchester (das Budapest Art Orchestra) in den Credits genannt wird. Klassische Instrumente, wie das von Jóhanns häufiger Mitstreiterin Hildur Guðnadóttir gespielte Cello, Percussion, elektronische Klänge (neben moderner Gerätschaft kam auch das mittlerweile auch schon historische Ondes Martenot zum Einsatz) und ätherisch-abgehobene Vokalisen bilden einen getragen dahinfließenden Score mit dunkler Grundstimmung. Es wirkt wie ein Requiem - und genau das ist es ja auch, siehe übernächster Absatz.
Die andere akustische Ebene besteht aus einem von Tilda Swinton gesprochenen Text, der auf Olaf Stapledons Debütroman Last and First Men beruht. Ich habe den Roman nicht gelesen, dafür aber Star Maker, ein anderes Hauptwerk des englischen Autors. Dieser Roman zeugt von schier grenzenloser Fantasie und schwingt sich zu erstaunlichen metaphysischen Höhen auf, bleibt dabei aber spannend und unterhaltsam. Selbiges gilt offenbar auch für Last and First Men. Es geht darin um die ganze zukünftige Geschichte der Menschheit - genauer gesagt, der Menschheiten - in den nächsten zwei Milliarden (!) Jahren. Immer wieder kommt es zu apokalyptischen Katastrophen, aus denen eine neue Menschheit hervorgeht, und jede dieser menschlichen Spezies unterscheidet sich mehr oder weniger deutlich von den Vorgängern - eine Zusammenfassung findet man im oben verlinkten Wikipedia-Artikel. Wir, von der Steinzeit bis noch ein paar hunderttausend Jahre in der Zukunft, sind die erste dieser Spezies, die First Men. Die letzte und achtzehnte Spezies, die Last Men, lebt in zwei Mrd. Jahren auf dem Neptun.
Diese letzten Menschen verfügen über telepathische Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich zu einem kollektiven Super-Bewusstsein zusammenschließen und damit auch die gemeinsame Vergangenheit erforschen können. Doch die Tage der letzten Menschheit sind gezählt. Eine Art Supernova in galaktischer Nachbarschaft hat katastrophale Auswirkungen auf die Sonne, die nun unaufhörlich immer heißer wird und sich ausdehnt - in heutiger Terminologie würde man sagen, sie wird zu einem Roten Riesen - und die Lebensbedingungen im gesamten Sonnensystem zerstört. Das wird zwar noch Jahrtausende dauern, ist aber unabwendbar. So bleibt der 18. Menschheit nur, in Würde das Ende abzuwarten. Zwei wichtige Dinge sind aber noch zu erledigen. Erstens, mit zahlreichen Sonden Lebenskeime in alle erdenklichen galaktischen Winkel zu senden, in der vagen Hoffnung, dass einige davon auf günstige Bedingungen treffen und eine neue Evolution hervorbringen. Die Erfolgsaussichten dieser Mission sind aber höchst ungewiss, und die letzte Menschheit wird nichts mehr über den Erfolg oder Misserfolg erfahren. Und zweitens, telepathisch Kontakt mit den First Men (also mit uns) aufzunehmen. Genau das ist der ganze Roman, und der von Tilda Swinton vorgetragene Text: Der aus ferner Zukunft telepathisch übertragene kollektive Bericht der achtzehnten an die erste Menschheit über das, was alles in der Zukunft geschehen wird (aus unserer Sicht) bzw. in der Vergangenheit geschehen ist (aus Sicht der Last Men auf dem Neptun), wobei sich der Film auf die letzte Phase der 18. Spezies beschränkt. Stapledons Roman wurde von Jóhann und einem José Enrique Macian adaptiert. Ob das bedeutet, dass sie nur die passenden Textstellen auswählten, oder ob sie frei nach dem Roman einen eigenen Text schrieben, geht aus den mir bekannten Informationen nicht hervor. Tilda Swinton trägt den Text nüchtern vor, fast unterkühlt, auch wenn man eine gewisse Melancholie herauslesen mag. Das war von der ersten Idee an so geplant, und Swinton war Jóhanns Idealbesetzung, wie er 2017 in einem Interview anlässlich der Vorführung in Manchester sagte.
Die Musik und der Text kommen sich gegenseitig nicht in die Quere, es gibt aber auch keine klar erkennbaren Verbindungen, und das gilt auch für die Bilder der Spomeniks. Man mag dabei an verfallende Technik oder auch Kultstätten irgendeiner der vergangenen Menschheiten denken, aber klare Hinweise gibt der Film nicht. In LAST AND FIRST MEN ihres geografischen, historischen und politischen Kontexts entkleidet, wirken fast alle Spomeniks im Film ziemlich abstrakt. So bleibt viel Raum für freies Assoziieren. Und bei mehrfacher Sichtung des Films kann man sich mal auf die eine und mal auf die andere seiner Ebenen konzentrieren und ihn dabei ganz unterschiedlich wahrnehmen. Wer aber eine geschlossene Einheit von Bild und Ton erwartet, der wird mit LAST AND FIRST MEN nicht recht glücklich werden. Unter den Filmen der letzten Jahre ist LAST AND FIRST MEN sicher einer der ungewöhnlichsten. Wirklich singulär ist er aber nicht, steht er doch in der Tradition so extravaganter Werke wie Christopher Youngs OBJECT LESSON (1941) oder José Val del Omars erstaunliches TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA. Ob solche Traditionslinien Jóhann bewusst waren, steht aber auf einem anderen Blatt.
LAST AND FIRST MEN ist bei der Deutschen Grammophon in zwei Editionen erschienen, die den Film auf Blu-ray und zusätzlich die Musik auf CD bzw. Schallplatte enthalten. Booklet und Menü sind englischsprachig, und für den gesprochenen Text gibt es optionale engl. Untertitel, aber Swintons Aussprache ist ohnehin tadellos und sehr gut verständlich. - Wer mehr über Spomeniks wissen will, findet in der Spomenik Database eine gute Anlaufstelle. Und in der Ausgabe 09/2020 der Zeitschrift GEO findet sich ein schön bebilderter Artikel über den Brutalismus, in dem außer Spomeniks auch die Sowjetunion und andere frühere Ostblockstaaten zu ihrem Recht kommen.

Sonntag, 16. August 2020

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT: Neorealismus und Sexploitation in den Appalachen

SPRING NIGHT SUMMER NIGHT (fälschlich auch SPRING NIGHT, SUMMER NIGHT; Sexploitation-Version MISS JESSICA IS PREGNANT)
USA 1967
Regie: Joseph L. Anderson
Darsteller: Larue Hall (Jessie), Ted Heimerdinger (Carl), John Crawford (Virgil), Marj Johnson (Mae), Mary Cass (Rose), Betty Ann Parady (Donna), Ronald B. Parady (Tom), David Ayres (Lou), Jon Webb (Frank), Bob Jones (Jacob), Tracy Smith (Chris), Isabel Stott (Großmutter)


We gotta get out of this place
If it's the last thing we ever do
We gotta get out of this place
'Cause girl, there's a better life for me and you


(Eric Burdon und die Animals im Sommer 1965, als SPRING NIGHT SUMMER NIGHT gedreht wurde)
Diesmal geht es um einen Film, der vielleicht ein Klassiker des amerikanischen Independent-Kinos hätte werden können - doch in Wirklichkeit ist er kläglich gescheitert und verschwand für Jahrzehnte komplett in der Versenkung, bis er in einem langwierigen Prozess, der sich rund 15 Jahre hinzog, wieder hervorgeholt und restauriert wurde und seine verdiente Würdigung erfuhr.

Jessie und Carl, Mae und Virgil
Regisseur Joseph L. Anderson (in den Credits als J. L. Anderson) war und ist in Theorie und Praxis des Films gleichermaßen bewandert. Nachdem er in jungen Jahren beim militärischen Geheimdienst CIC war, war er in den 50er Jahren an Filmproduktionen in Japan beteiligt, z.B. Daniel Manns THE TEAHOUSE OF THE AUGUST MOON mit Marlon Brando, Glenn Ford und Machiko Kyō, und er hatte auch mit Kurosawa zu tun. 1959 veröffentlichte er zusammen mit Donald Richie, dem 2013 verstorbenen Altmeister der amerikanischen Japan-Rezeption, The Japanese Film: Art and Industry, das erste ernstzunehmende Buch über den japanischen Film in englischer Sprache, er beteiligte sich führend an einem Kongress des New American Cinema in Yellow Springs (Ohio), bei dem u.a. auch Albert und David Maysles und Shirley Clarke zugegen waren, und er schrieb eine große Zahl an Artikeln über Filmthemen in diversen Zeitschriften. In den 60er Jahren lehrte er Film an der Ohio University in der beschaulichen Kleinstadt Athens im Südosten des Bundesstaats, die gut 20.000 Einwohner aufweist (nicht zu verwechseln mit der Ohio State University in der Hauptstadt Columbus, an der Anderson zuvor auch tätig war). Anfang der 60er Jahre drehte er einige Kurzfilme, und als Teil der Ausbildung der Studenten machten diese auch welche, doch dann reifte die Idee, dass man auch mal zusammen einen Spielfilm herstellen sollte, um den Nachwuchs an größere Aufgaben heranzuführen. Mit einem seiner fortgeschrittenen Studenten (graduate student), Franklin Miller, und einem weiteren Partner, Doug Rapp, nahm er das Projekt in Angriff. Die drei kannten sich schon länger und waren befreundet, Miller hatte auch schon an Andersons Kurzfilmen als Musiker, Cutter und teilweise an der Kamera mitgearbeitet. Als Dreh- und Handlungsort des Films waren die Ausläufer der Appalachen im südöstlichen Ohio vorgesehen, also im erweiterten Umkreis von Athens. Ursprünglich war geplant, ein Bühnenstück aus den 30er Jahren als Vorlage zu nehmen. Aber das lief gerade am Broadway, was komplizierte Verhandlungen und erhöhte Kosten wegen der Rechte bedeutet hätte, und so ließ man die Idee fallen und verlegte sich auf einen eigenen Stoff.

Familie mit Kindern und Großmutter
Anderson, Miller und Rapp begannen 1963 ernsthaft mit ihren Recherchen für die Handlung und Location-Suche im ruralen Hügelland und schrieben dann also ein Original-Drehbuch für den Film. Doug Rapp war auch für die Hauptrolle vorgesehen, aber dann starb er noch vor den Dreharbeiten bei einem Motorradunfall. Anderson und Miller ließen sich davon nicht entmutigen, sondern trieben nun zu zweit das Projekt voran. Während Anderson allein die Regie übernahm, waren er und Miller gemeinsam die Produzenten und erledigten auch zusammen den Schnitt. Aber bei der familiären Atmosphäre beim Dreh gab es ohnehin keine strenge Arbeitsteilung - fast jeder übernahm mehrere Aufgaben, für die gerade jemand gebraucht wurde. Franklin Miller, immerhin einer der beiden Produzenten, war sich etwa nicht zu schade, eigenhändig den Dolly anzuschieben, und er fuhr auch mal einen Traktor eine Meile zum Drehort. Seine Frau Judy, die eigentlich nichts mit Film zu tun hatte, war continuity girl, ansonsten bestand die Crew aus Filmstudenten, was ja der ursprüngliche Zweck des ganzen Projekts war. Vor allem kamen gleich drei angehende Kameramänner zum Einsatz. Was nach einer potentiellen Problemquelle klingt, erwies sich als Glücksgriff, denn die Kameraarbeit ist eine der großen Stärken von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT. Nicht wenige Szenen wurden mit zwei Kameras gleichzeitig gefilmt, und dann meist zwei Handkameras, was einige äußerst dynamische Schnittfolgen ermöglichte.

Die Farm
Die Dreharbeiten fanden schließlich in zwei Monaten im Frühsommer 1965 im Perry County statt, das direkt ans Athens County angrenzt, und dort vor allem in und bei der Siedlung Shawnee, sowie im etwas weiter südlich gelegenen Meigs County, wo die Farm stand. Nur einige Szenen in einer Bar, auf die ich noch zurückkomme, wurden in Athens gedreht (aber es gibt in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT überhaupt keine Studioaufnahmen), und ein oder zwei Szenen mussten etwas später gedreht werden, weil die alle 17 Jahre massenweise auftretenden Zikaden die Straßen verunstalteten. Obwohl es sich also in einem gewissen Sinn um einen Studentenfilm handelt, wurde von allen auf professionelle Arbeitsweise geachtet - die Studenten sollten ja lernen, wie es im "richtigen" Filmgeschäft zugeht. Deshalb wurde auch mit zwar etwas alten, aber industrietauglichen 35-mm-Kameras gedreht, und nicht, wie bei solchen Projekten eher üblich, auf 16 mm. Die Nachvertonung übernahm ein professioneller Tontechniker, der sich modernes Equipment aus New York besorgt hatte und damit, neben anderen Arbeiten, viele weitere Studentenfilme aus Athens veredelte. Gekostet hat das alles am Ende 25.000 bis 30.000 Dollar, also auch für damalige Verhältnisse fast ein Nichts für einen Spielfilm.


Worum geht es nun? Die Handlung dreht sich um eine Familie, die ein Farmhaus etwas außerhalb der Siedlung bewohnt. Es ist eine ärmliche, vergleichsweise rückständige Gegend. Zwar kann sich auch hier fast jeder irgendeinen fahrbaren Untersatz leisten, aber das "stille Örtchen" der Farm ist ein abseits vom Haus stehendes Plumpsklo. Der Film beschäftigt sich nicht weiter damit, wie die Farm bewirtschaftet wird - SPRING NIGHT SUMMER NIGHT ist ein Drama, aber keine Pseudodokumentation über das Landleben. Trotzdem vermittelt er über seine präzisen Bilder eine Ahnung der Lebensumstände dort. Die Familie (den Familiennamen Roy erfährt man erst spät und nebenbei) besteht aus dem Vater Virgil, der Mutter Mae, dem erwachsenen Sohn Carl, seiner nur wenig jüngeren Schwester Jessie, sowie vier jüngeren Geschwistern (und eine Oma gibt es auch noch, aber sie spielt in der Handlung keine Rolle). Carl ist der Sohn von Virgils erster Frau, die bei seiner Geburt gestorben ist, die anderen Kinder sind von Mae. Während die vier jüngeren Kinder noch unbeschwert sind, sind Virgil, Mae, Carl und Jessie unzufrieden mit ihrem Dasein, was dazu führt, dass man sich gegenseitig auf die Nerven geht. Früher gab es am Ort, wie vielerorts in den Appalachen, ein Kohlebergwerk, das für Prosperität sorgte. Mae trauert diesen Zeiten hinterher, denn irgendwann war das Bergwerk unrentabel geworden und wurde geschlossen, und seitdem ging es mit der Gegend bergab. Mae, die auch das Leben in der Großstadt und in Kalifornien kennengelernt hat, sieht sich nun hier in der Abgeschiedenheit versauern und kompensiert das mit häufigen (zu häufigen für Virgils Geschmack) Besuchen in der Bar, wo sie sich mit Bekannten trifft. Virgil sieht durch Carls Aufsässigkeit seine Autorität schwinden, und auch er trauert alten Zeiten hinterher. Wenn ihm Mae auf die Nerven geht, erinnert er an seine erste Frau, die den traditionellen Vorstellungen von einer Ehefrau wohl mehr entsprochen hat als die eigensinnige Mae. Und in einer langen Sequenz, als er in der Bar sitzt und zu tief ins Glas geschaut hat, erzählt er seinem Gegenüber (der nie antwortet, so dass es sich eigentlich um einen Monolog handelt) von den besseren Zeiten, als er bei der Armee in Europa stationiert war. Damals hatte er genug Geld, keine Sorgen, und für ein paar Schachtel Zigaretten konnte man jede Frau bekommen. Dann geht er ins Grundsätzliche: Man versucht, sein Leben richtig zu führen, aber irgendwie klappt das nie richtig. Und er meint, er hätte besser nie hierher zurückkehren sollen.


Carl wiederum möchte sich von Virgil und Mae nichts mehr sagen lassen, und er sieht am Ort absolut keine Perspektiven für sich. Deshalb will er weg, und er versucht, Jessie zu überreden, mit ihm zu kommen. Doch die ist zögerlich. Zwar ist sie auch nicht wirklich glücklich hier, aber sie glaubt nicht, dass es woanders besser ist. Carls Drängen hat einen Grund, der lange nicht ausgesprochen wird, der sich aber in Gesten und Blicken langsam offenbart: Er ist heimlich in Jessie verliebt. Das wird offensichtlich in einer Szene in der oben erwähnten Bar, die proppenvoll ist, weil eine Bluegrass-Band zum Tanz aufspielt. Carl, der angetrunken ist, wird handgreiflich und macht Jessie eine Szene, weil die mit anderen jungen Männern tanzt. Diese Sequenz ist ein früher Höhepunkt im Film. Anderson und Miller griffen dafür zu einem Trick: In Absprache mit dem Besitzer annoncierten sie, dass am fraglichen Termin eine Art Spielgeld ausgegeben wird, das man in der Bar (und nur dort) gegen echte Getränke eintauschen konnte, und zwar in rauen Mengen. Wenn sich die beiden Filmemacher Jahrzehnte später korrekt an die Zahlen erinnerten, dann reichte es für 20 Flaschen Bier pro Kopf. Diese mit Alkohol bezahlten Komparsen sollten sich ansonsten benehmen wie immer und sich nicht um das Filmteam kümmern. Der Plan ging auf. Die Schauspieler, die dem Drehbuch folgten, die Bluegrass-Band und die angeheiterten Komparsen, die tranken, tanzten und sich unterhielten, bilden eine untrennbare Einheit und sorgen für eine sehr dicht und dynamisch gefilmte Szene.


Nach dem Streit in der Bar folgt die Schlüsselszene des Films. Carl hat Jessie regelrecht in sein altes Auto gezerrt und fährt in der Dunkelheit heimwärts. Durch die Windschutzscheibe sieht man, dass sie sich in angespannter Atmosphäre unterhalten, aber man hört nichts davon. Nach einem Schnitt sieht man eine Großaufnahme von Jessie in der Morgendämmerung. Sie sieht etwas betreten und ängstlich aus, dann geht sie schweigend davon. Carl zieht sich die Hose hoch über den nackten Hintern. Huch! War das wirklich das, wonach es aussieht? Der Film lässt einen hier bewusst einige Zeit im Unklaren, aber, um es vorwegzunehmen, die beiden haben nächtens in irgendeiner Wiese miteinander geschlafen. Und damit ist die Spring Night vorbei.

Remmidemmi in der Bar
Harter Schnitt. Carl steigt am hellichten Tag aus einem Auto, das ihn mitgenommen hat, und geht die letzten paar hundert Meter zur Farm. Man könnte zunächst meinen, dass es der Tag nach dem Tabubruch ist, doch wie man in den folgenden Minuten erfährt, war Carl direkt danach in die Großstadt Columbus entschwunden, ohne vorher Bescheid zu sagen, und ohne von dort zu schreiben oder anzurufen, so dass keiner wusste, wo er war. Und nun, Monate später, wir sind jetzt im Sommer, ist er wieder da. (Es wurden auch Szenen mit Carl in Columbus gedreht, aber die haben es dann nicht in den Film geschafft.) Seinen Aussagen nach wollte er Geld verdienen, aber schlechtes Gewissen oder Unsicherheit nach dem Fehltritt war wohl der eigentliche Grund (und er hat auch nicht viel verdient und musste sogar sein Auto verkaufen). Bei seiner Rückkehr ist Jessie gerade die einzige im Haus - und man sieht, dass sie schwanger ist. Damit wird ohne Worte bestätigt, was man schon ahnte. Aber Jessie hat niemandem verraten, wer der Vater des Kindes ist, und sie macht sehr deutlich, dass es dabei bleiben wird. Carl ist also vorerst nicht in Gefahr. Doch die Situation nagt an Virgil, der meint, dass er dadurch zum Gespött im Ort wird, und er bedrängt Jessie pausenlos, mit dem Namen des "Täters" herauszurücken. Aber eigentlich interessiert sich außer Virgil selbst und Jessies Freundin Donna niemand sonderlich dafür, nicht einmal Mae.

Jessie tanzt mit Tom, was Carl nicht gefällt; Streit zwischen Virgil, Mae und Rose
Bei Carls Rückkehr sind Virgil und Mae wieder einmal in der fraglichen Bar und geraten in Streit. In den wird auch Maes etwas angetrunkene Freundin Rose verwickelt. Um sich wichtig zu machen, oder um Virgil eins auszuwischen, macht sie ihm weis, dass Tom Morgan der Vater sei, ein früherer Schulkamerad von Jessie. In Wirklichkeit hat Rose keine Ahnung, aber Virgil fällt darauf herein. An der Tankstelle im Dorf stellt er Tom zur Rede und will ihn zum "Geständnis" zwingen. Nur mit Mühe kann er von Tom und dem Tankstellenbesitzer Lou beschwichtigt werden. Unterdessen hatten Carl und Jessie viel Zeit, um ihre Situation zu besprechen. Einerseits stehen da noch Vorwürfe im Raum, aber andererseits kommt man sich auch entgegen. Carl sei betrunken gewesen, meint Jessie entschuldigend, doch der erwidert, nicht so betrunken, dass er nicht mehr gewusst hätte, was er tat. Und Jessie sagt, sie hätte das Geschehen auch stoppen können, wenn sie gewollt hätte. So wird klar, dass das in jener Nacht keine Vergewaltigung war. Und Carl rückt nun damit heraus, dass er Jessie liebt, dass er deshalb zurückgekehrt sei, und dass er eine gemeinsame Zukunft mit ihr will. Aber Jessie hält das aus offensichtlichen Gründen für unmöglich und absurd. Carl hat aber einen vagen Hoffnungsschimmer, an den er sich klammert. Wie der Dorftratsch weiß, führte Mae damals, als sie Virgil heiratete, ein lockeres Leben mit vielen Männerbekanntschaften. Vielleicht ist also Virgil gar nicht Jessies Vater? Dann wären die vermeintlichen Halbgeschwister gar nicht biologisch verwandt, und die Situation wäre viel entspannter.

Nach der ominösen Nacht schleicht Jessie betreten davon
Anfangs möchte Jessie nichts von dieser Idee hören, doch Carl beschwatzt sie so lange, bis sie es zumindest nicht mehr ausschließt. So machen sich die beiden schließlich auf in die inzwischen wieder gut gefüllte Bar, um Mae zu befragen. Doch das wird zu einer herben Enttäuschung. Mae ist erst einmal erstaunt über die indiskrete Frage, ob Virgil wirklich Jessies Vater ist. Doch sie ist nicht doof und erkennt schnell, was dahinter steckt. Damit ist also Carl zunächst mal für Mae als der Kindsvater enttarnt. Und zu allem Überfluss kann sie die Frage nicht beantworten - wie sie glaubhaft versichert, weiß sie selbst nicht, wer Jessies Vater ist. Als Jessie und Carl danach in der Dunkelheit (wir sind jetzt in der Summer Night) frustriert und ratlos nach Hause gehen, begegnet ihnen zufällig Virgil. Er fängt Streit an wegen Carls langer unentschuldigter Abwesenheit, in der er auf dem Hof benötigt worden wäre. Carl platzt jetzt regelrecht heraus damit, dass er der gesuchte Übeltäter ist. Es kommt zum Handgemenge, Virgil zückt sogar sein Gewehr, aber Carl nimmt es ihm weg und schlägt ihn nieder. Als sich Virgil wieder aufrappelt, ist er nur noch ein Häufchen Elend. Am nächsten Morgen steigen Carl und Jessie in den Bus und fahren weg - irgendwohin. Schweigend sitzen sie nebeneinander und blicken ins Leere. Ende offen.

Carls Freund Frank fährt eine BMW, Jacob ein langsameres Gefährt, und die Autos auf der Farm sind nicht mehr ganz neuwertig
Jugendliche Tristesse und Perspektivlosigkeit in einer Kleinstadt im Nirgendwo - das erinnert thematisch an Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW (1971), und auch Barbara Lodens WANDA von 1970 wird in diesem Zusammenhang gern genannt, mit einer etwas älteren Protagonistin, aber im Rust Belt und damit näher an den Appalachen angesiedelt als das Texas von Bogdanovich. - Joseph Anderson brachte seinen Studenten nicht nur die praktischen Dinge des Filmemachens bei, sondern machte sie auch mit aktueller und älterer europäischer Filmkunst vertraut, neben den damals aktuellen "neuen Wellen" auch mit dem Neorealismus, und dabei nicht nur den Klassikern, sondern auch Nachzüglern wie den Frühwerken von Ermanno Olmi. Und der Neorealismus sollte auch als Vorlage für die Produktionsweise von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT dienen: Drehen vor Ort an Originalschauplätzen mit wenig oder gar keiner Studiozeit, Einsatz von Laiendarstellern neben professionellen Schauspielern, und aus dem Leben einfacher Leute gegriffene Themen. Im Cast von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT finden sich keine bekannten Namen, aber die vier Hauptrollen wurden nicht von Amateuren, sondern mindestens semiprofessionellen Bühnendarstellern gespielt. Es gab keine Castings, sondern Anderson hatte alle Kandidaten schon irgendwann auf der Bühne gesehen und für gut befunden und sprach sie an, ob sie nicht in einem Film mitspielen wollten.

Mae lässt sich von ihren Freunden in die Bar abholen
Ted Heimerdinger aus Youngstown, einem ehemaligen Zentrum der Stahlindustrie, hatte am Kenyon College in einer Kleinstadt in Ohio (wo auch Franklin Miller geboren wurde) irgendwann die jährlich verliehene Paul Newman Trophy für Dance & Drama als bester männlicher Schauspieler erhalten (Paul Newman, der selbst aus Ohio stammte, hatte in Kenyon studiert), und Marj (vollständig Marjorie) Johnson stand in Kenyon oft gemeinsam mit Heimerdinger auf der Bühne (während sie in SPRING NIGHT SUMMER NIGHT seine Stiefmutter ist, war sie in Ibsens "Rosmersholm" seine Frau). Angeblich war es Marj Johnson, die Paul Newman aufgrund seines Talents riet, eine Schauspielkarriere anzustreben. Auf jeden Fall lebte sie damals in Mount Vernon in unmittelbarer Nähe des Kenyon College. Larue Hall hatte einen Abschluss an der Ohio University gemacht, und sie war schon als Schauspielerin aktiv, als sie das Angebot für ihre Rolle erhielt. Sie drehte auch Filme in Europa, darunter in Island, aber darüber konnte ich nichts herausfinden. Mary Cass, die meist angesäuselte Rose im Film, war auch schon in Columbus und in New York auf der Bühne gestanden. Tom Morgan und Donna werden von Ron und Betty Ann Parady gespielt, und ich nehme an, dass die Paradys damals miteinander verheiratet waren, habe aber keine Bestätigung dafür gefunden. Falls das tatsächlich der Fall war, waren sie spätestens 1970 wieder geschieden. Beide verfolgten ab den 70er Jahren Karrieren als TV- und Theaterschauspieler. Ron, der auch einige Jahre einen Lehrauftrag für Theater an der Northwestern University in Illinois hatte, war beispielsweise in einigen Folgen der Krimiserie HILL STREET BLUES zu sehen. Noch erfolgreicher war Betty, die sich nun Hersha Parady nannte, denn sie ergatterte eine Serienrolle in Michael "Little Joe" Landons LITTLE HOUSE ON THE PRAIRIE (UNSERE KLEINE FARM), was ihr bis heute treue Fans bescherte. Die Rolle des Virgil wird in der IMDb und anderen Quellen dem Schauspieler John Crawford (1920-2010) angedichtet, aber das ist der Falsche. Der weniger bekannte richtige Crawford ist John W. Crawford (1931-2017). Er war u.a. Bühnenkomiker, der Grimassen wie Jerry Lewis schnitt, er spielte in Musicals wie "Oklahoma", er trat in Radio und Fernsehen auf, und als Produzent und Regisseur hat er sich auch betätigt. Hier findet man einen Nachruf, den er zum größten Teil selbst verfasst hat. Während also die Hauptrollen mit richtigen Schauspielern besetzt sind, werden Nebenrollen von lokalen Amateurdarstellern ausgefüllt, und einige der Filmschaffenden hinter der Kamera treten auch in Minirollen auf.

Das Plumpsklo
1967 war man mit der Postproduction fertig, und SPRING NIGHT SUMMER NIGHT wurde in diesem Jahr beim Filmfestival von Pesaro in Italien gezeigt, allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Laut Anderson und Miller hatten die überwiegend linken italienischen Kritiker nicht verstanden oder akzeptiert, dass man in den USA ein Auto besitzen und trotzdem arm sein konnte, und waren deshalb gegen den Film eingestellt. Einige Schweizer und deutsche Kritiker sollen den Film in Pesaro gelobt haben, aber die waren wohl deutlich in der Unterzahl. Mehr Erfolg versprach man sich dann vom New York Film Festival 1968, wo SPRING NIGHT SUMMER NIGHT im Programm war - aber dann wurde er kurzfristig und ohne große Umstände wieder aus dem Programm geworfen, zugunsten von FACES von John Cassavetes. Und das war es dann schon fast mit SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in seiner ursprünglichen Form. Es gab einzelne, halb private Vorstellungen hier und da in Ohio, aber der Film fand keinen Verleih für einen regulären Vertrieb, obwohl Willard Van Dyke, ein Pionier des amerikanischen Independentfilms und damals Filmkurator am Museum of Modern Art in New York, dafür die Werbetrommel rührte (Van Dyke, der 1966 eine Vorabversion gesehen hatte, war wohl auch dafür verantwortlich, dass der Film nach Pesaro geschickt wurde). Als die Lage schon sehr betrüblich war, kam ein Rettungsangebot mit Pferdefuß von Joseph Brenner Associates.

Bei Donna; rechts unten Rose
Joseph Brenner war ab den frühen 50er Jahren für dreieinhalb Jahrzehnte einer der führenden unabhängigen Distributoren von Genre- und (S)Exploitationfilmen in den USA. Er kaufte beispielsweise alte Horrorfilme auf, darunter Tod Brownings FREAKS, und verschaffte ihnen ein Re-release (oder auch mal ein Re-re-release). Immer warb er mit spektakulären und oft spekulativen Plakaten und Trailern. Beispielsweise bewarb er MAU-MAU (1955) von Elwood Price, eine Doku über die gleichnamige Freiheitsbewegung im Kenia der 50er Jahre, mit dem mehr als fragwürdigen Slogan "Weird, mysterious love rites, performed by sex-mad natives!". Oft versprach die aggressive Werbung viel mehr, als der jeweilige Film einhielt. Zu Brenners Strategie gehörte auch, ein und demselben Film gleichzeitig oder nacheinander mehrere Titel zu verpassen. Das selbst für damalige Verhältnisse zahme Nudisten-Drama ELYSIA (1934) von einem Carl Harbaugh hieß dann bei Brenner zunächst ELYSIA, VALLEY OF THE NUDES. Dort, wo ein Titel mit dem Wort NUDES auf Schwierigkeiten stieß, hieß der Film dann aber LAND OF THE SUN WORSHIPPERS, in besonders liberalen Gegenden wiederum NAKED AND UNASHAMED NUDISTS. Brenner importierte auch jede Menge geeignet erscheinender Filme aus Europa. Roger Fritz' MÄDCHEN MIT GEWALT hieß bei ihm nacheinander THE BRUTES, GIRL AND THE BRUTES und schließlich CRY RAPE. Zu Brenners Maßnahmenkatalog gehörte es auch, die Filme unter seinen Fittichen mit Schnitten und/oder nachgedrehten Sexszenen "nachzubessern". Dieses Schicksal ereilte sogar Fritz Umgelters Komödie MIT EVA FING DIE SÜNDE AN von 1958, der dann 1962 bei Brenner THE BELLBOY AND THE PLAYGIRLS hieß. Kein Geringerer als Francis Ford Coppola (unter Mitwirkung seines Studienfreunds Jack Hill, später eine Exploitation- und Blaxploitation-Größe und noch später ein Favorit von Tarantino), drehte unter Brenners Aufsicht die eingeschobenen Szenen. Ab den 70er Jahren importierte Brenner bevorzugt italienische Genre-Ware - Gialli, Poliziotteschi, Horror. Die manchmal länglichen Titel kürzte er dabei gerne auf ein Wort, so hieß Sergio Martinos I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE bei Brenner kurz und griffig TORSO. Brenners Manipulationen an bestehenden Filmen machten auch vor aktuellen einheimischen Werken, denen bislang der Erfolg versagt blieb, nicht halt (und damit kommen wir langsam wieder zum eigentlichen Thema). So gab es da einen offenbar begabten Nachwuchsregisseur namens Martin Scorsese, dessen erster Spielfilm I CALL FIRST aber keinen Verleih finden wollte. Brenner bot sich an, unter zwei Bedingungen: Es sollten Nacktszenen eingefügt werden, und der Titel sollte in WHO'S THAT KNOCKING AT MY DOOR geändert werden. Scorsese tat, wie ihm geheißen, und drehte die Sexszenen mit Harvey Keitel in einem Bordell in Amsterdam. - Joseph Brenner verabsäumte es, sich rechtzeitig auf die Video-Revolution einzustellen, die ihm schließlich in den 80er Jahren das Wasser abgrub. Seinen letzten Film, Michael Stanleys ATTACK OF THE BEAST CREATURES, brachte er 1985 in Umlauf. Dreizehn Jahre später starb Brenner.

Zeit zum Nachdenken über die Situation
1968 geriet nun auch SPRING NIGHT SUMMER NIGHT in die Fänge von Joseph Brenner, und wie der geneigte Leser schon ahnt, war das an Bedingungen gebunden: Der Film musste durch Schnitte "gestrafft" werden, es mussten nachgedrehte Sexszenen eingefügt werden, und der Titel musste zu MISS JESSICA IS PREGNANT geändert werden. Zum letzten Punkt sollte man wissen, dass "pregnant" (schwanger) eines der Worte war, die vom Production Code für Hollywoodfilme praktisch verboten waren. Zwar war der Production Code in den 60er Jahren erodiert und wurde 1967 formell abgeschafft, und für einen abseits von Hollywood agierenden Distributor wie Brenner hatte er ohnehin nie Gültigkeit. Trotzdem war MISS JESSICA IS PREGNANT damals noch ein spekulativer, wenn auch nicht wirklich reißerischer, Titel. Joseph Anderson war alles andere als begeistert, biss aber zähneknirschend in den sauren Apfel und willigte in die Bedingungen ein, damit sein Film überhaupt noch irgendwie unter die Leute kam. Die geforderten Sexszenen hat er selbst inszeniert. Noch weniger begeistert war allerdings Franklin Miller. Er beteiligte sich nicht an der "Nachbearbeitung", und seiner eigenen Aussage nach hat er MISS JESSICA IS PREGNANT nie angesehen. Geholfen hat die Brenner-Kur wenig. MISS JESSICA IS PREGNANT wurde im Februar 1970 auf seine Tour durch die Autokinos der USA geschickt. Nun ist der Februar kein besonders günstiger Monat für Autokinos, außerdem lief der Film immer in Double-Bills, also zusammen mit einem anderen Film, und füllte dabei die Rolle des B-Films aus. (Wobei der jeweilige "A-Film" eigentlich auch eher ein B-Film war - es ist halt alles relativ ...) Zwar lassen sich Vorführungen von MISS JESSICA IS PREGNANT noch bis 1974 nachweisen, aber er war trotzdem ein ziemlicher Flop. Statt also wenigstens zu einem Sexploitation-Klassiker zu werden, verschwand SPRING NIGHT SUMMER NIGHT bzw. MISS JESSICA IS PREGNANT komplett in der Obskurität. Dafür gab es noch ein kriminalistisches Nachspiel: Irgendjemand hatte MISS JESSICA IS PREGNANT bei den Behörden als "pornografisch" angezeigt, und so erschien eines Tages ein Trupp vom FBI aus Cincinnati bei Anderson, befragte ihn und durchsuchte sein Haus in Athens nach belastendem Filmmaterial. Man fand allerdings nur wissenschaftliche Lehrfilme, die Anderson für die eine oder andere Universität gedreht hatte, und anderes harmloses Material, und die Sache verlief dann wohl im Sand.

Virgil möchte von Jessie einen Namen hören
Die Wiederentdeckung begann vor 15 Jahren. Ein früherer Student von Franklin Miller programmierte eine kleine wandernde Filmschau mit dem Titel Rural Route Film Festival, die durch diverse Städte der USA tourte. Eher zufällig hatte er herausgefunden, dass auch Miller an einem passenden Film für die Tour beteiligt gewesen war, und er konnte ihn mit Mühe dazu überreden, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT herauszurücken - der wollte eigentlich keine schmerzhaften alten Erinnerungen aufgewärmt sehen. Es handelte sich um die einzige verbliebene Vorführkopie der Originalfassung des Films. Miller hatte sie wohl früher öfters seinen Studenten in Iowa vorgeführt, jedenfalls war sie schon sehr ramponiert. Trotzdem begeisterte SPRING NIGHT SUMMER NIGHT den damaligen Mitbetreiber eines Arthouse-Kinos in Albuquerque, wo das Rural Route Film Festival 2005 halt machte. Zusammen mit einem Filmrestaurator machte er es sich zur Aufgabe, SPRING NIGHT SUMMER NIGHT vor dem endgültigen Verlust zu retten und soweit wie möglich zu restaurieren. Die Initiative dazu ging also nicht von Anderson oder Miller aus, aber nachdem die Sache erst einmal in Gang gekommen war, beteiligten sie sich mit ihrer Expertise daran. Freilich ging es anfangs nur schleppend voran, weil kaum Geld dafür da war. Doch vor einigen Jahren stieß Nicolas Winding Refn dazu, der Material für seine alternative Streaming-Plattform byNWR suchte, und mit einer größeren Geldspritze aushalf. Dabei konnte auf das erfreulich gut aussehende Negativ zurückgegriffen werden, und das ist gleich mehreren Glücksfällen zu verdanken. Erstens hatte Joseph Brenner das Negativ nach seiner "Umarbeitung" irgendwann an Anderson und Miller zurückgegeben, was alles andere als selbstverständlich war. Zweitens wäre das Negativ beinahe ein Raub der Fluten geworden. Es lagerte in einem Keller der University of Iowa in Iowa City, wo Franklin Miller Professor war. 2008 traten der Iowa River und weitere Flüsse im Mittleren Westen über die Ufer, und das Universitätsgelände wurde überflutet. Aber ein beherzter Student von Miller rettete die mit dessen Namen beschriftete Kiste mit dem Negativ im letzten Moment vor den anrückenden Wassern. Das Negativ war freilich nicht das von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, sondern das von MISS JESSICA IS PREGNANT. So glaubte man lange, dass man die darin fehlenden Teile des Originalfilms mit dem zerschlissenen Positiv würde ersetzen müssen, was eine stark schwankende Bildqualität bedeutet hätte. Doch dann fand sich, drittens, wundersamerweise irgendwo ein Kanister mit fast allen Schnittabfällen beider Versionen des Films. Zwar war das Material stark fragmentiert, wie das bei Schnittabfällen eben so ist, aber mit dem Positiv als Referenz bereitete es keine grundlegenden Schwierigkeiten, alles in die richtige Reihenfolge zu bringen und digital zu scannen, und das Geld von Winding Refn erlaubte es, diese Arbeiten auf höchstem Niveau durchzuführen. So existiert jetzt also eine Fassung von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, die auf Blu-ray das Auge mit ihren klaren Schwarzweißbildern erfreut. Schon 2018, 50 Jahre nach dem gescheiterten ersten Anlauf, wurde der Film doch noch auf dem New York Film Festival gezeigt, und er lief auf weiteren Festivals. Er erschien auch wie geplant auf byNWR und kann dort nach wie vor kostenlos angesehen werden, in verschiedener Auflösung bis zu 1080p (also Blu-ray-Qualität) und wahlweise auch mit Untertiteln. Und heuer erschienen in den USA und in England zwei Blu-rays, die laut DVD Beaver bis auf Menue und Cover praktisch identisch sind, und die vorzügliches Bonusmaterial besitzen. Die US-Ausgabe von Flicker Alley hat zusätzlich auch eine DVD. Diese fehlt bei der englischen Edition von Indicator/Powerhouse, dafür ist diese zumindest bei den üblichen Quellen deutlich preiswerter. Beide Ausgaben sind regionalcodefrei.

Virgil monologisiert über frühere Zeiten
Franklin Miller übernahm nach seinem Studium einen Lehrauftrag für Film an der University of Iowa, wo er heute emeritierter Professor ist, und er verlegte sich auf experimentelle Filmtechniken, während er offenbar keinen weiteren Spielfilm mehr gemacht hat. Joseph Anderson dagegen inszenierte noch einen zweiten Spielfilm, mit dem heute unfreiwillig aktuellen Titel AMERICA FIRST (1972, gedreht im Sommer 1970). Neben David Prince, einem der drei Kameramänner von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, war dabei auch der heute arrivierte Ed Lachman an der Kamera, der auch einen Abschluss an der Ohio University in Athens erworben hatte und vielleicht von daher Anderson kannte. AMERICA FIRST lief laut IMDb 1972 auf mehreren Festivals, darunter in Deutschland auf der Veranstaltung, die heute Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg heißt, fand aber auch wieder keinen Verleih, und auch keinen zweiten Joseph Brenner. Peter Conheim, einer der beiden Restauratoren von SPRING NIGHT SUMMER NIGHT, schrieb über AMERICA FIRST: "It's a sort-of follow up to SNSN, though very different in tone. Filmed in color, in the same area, but more like ZABRISKIE POINT than SNSN!" Das gesamte Material von AMERICA FIRST befindet sich jetzt in den Händen von Conheim, und vorausgesetzt, das nötige Geld kann aufgetrieben werden, soll auch dieser Film restauriert und endlich veröffentlicht werden. Falls es wirklich dazu kommt, hat Ed Lachman seine Mitwirkung zugesagt. - Joseph Anderson hat später, neben anderen Tätigkeiten, auch Aufgaben im nichtkommerziellen Fernsehen der USA (Public Broadcasting Service) übernommen.


Es gibt die Geschichte, dass ausgerechnet Martin Scorsese von Joseph Brenner damit beauftragt wurde, die von diesem gewünschten Schnitte an SPRING NIGHT SUMMER NIGHT durchzuführen, und Scorsese soll (offenbar ohne Erfolg) erwidert haben "I think you should leave it like it is". Eine Bestätigung von Scorsese dafür scheint es aber nicht zu geben. Vielleicht ist das also nur eine schöne Legende.

Freitag, 15. Mai 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Editorische Notiz:
Viel Zeit ist vergangen zwischen dem 6. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione im Juli 2019 und heute. Der nachfolgende Text wurde so auch zwischen den Festivaltagen selbst und dem Tag der Veröffentlichung geschrieben, in kleinen Stücken, mit einem Fragment hier, einem Fragment dort, dazwischen immer wieder wochenlange Pausen. Das ist sicherlich nicht der ideale Weg, und eine zeitnähere Veröffentlichtung hätte der Qualität sicherlich besser getan. Aber es ist mir ein Herzanliegen, über diese besondere und besonders schöne Veranstaltung zu berichten.

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Es war einmal das italienische Kino...
Ein Cinemärchen in der Hölle des Sommers

Francoforte sul Meno
40°C
35mm


Donnerstag, 25. Juli 2019


18.00 Uhr

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (übersetzt in etwa: "Bete zu den Toten, töte die Lebenden", deutscher DVD-Titel: "Die Mörder des Klans")
Regie: Giuseppe Vari
Italien 1971
94 Minuten
Deutsche Kinopremiere
Eine Bande von Verbrechern wartet in einer isolierten Poststation darauf, dass die Ehefrau des Anführers Hogan (Klaus Kinski) eine Ladung mit kürzlich geraubtem Gold vorbeibringt. In der Poststation befindet sich – neben einer Handvoll von Postkutschen-Reisenden, die zufällig dort gestrandet sind – auch der mysteriöse Fremde John Webb (Paolo Casella). Dieser verspricht den Gangstern, sie bis an die mexikanische Grenze zu bringen. Die paranoiden Spannungen, die sich teilweise schon in der Station entladen haben, eskalieren auf dem Ritt durch die Wüste vollends...


Die Ruhe nach dem Sturm: Hogan mit einem seiner Opfer im Bildhintergrund

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO lief beim Terza Visione zum ersten Mal in einem deutschen Kino. In Deutschland auf DVD zunächst im falschen Bildformat und nur auf Deutsch und Englisch veröffentlicht, erlebte der Film in der Reihe "Western Unchained" eine Edition in Scope und mit italienischem Ton. Die Reihe erschien anlässlich des Kinostarts von DJANGO UNCHAINED und wurde von einer Liste mit Quentin Tarantinos liebsten Italowesterns inspiriert. Jetzt ist mir auch klar, dass sein THE HATEFUL EIGHT nicht nur bei Carpenters THE THING, sondern auch bei der ersten Hälfte von Varis PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO abkupferte.
Der Film ist ganz klar in zwei Teile strukturiert: ein Kammerspiel in der Poststation in der ersten Hälfte, ein langer Ritt durch die Wüste in der zweiten (wobei dieser Ritt ein wenig an Monte Hellmans THE SHOOTING erinnert). Unsicherheit und Paranoia bilden den roten Faden des Ganzen: Der Handlungsraum wird zwar scheinbar geöffnet, aber der psychologische Spielraum der Figuren noch weiter eingeengt.
Es gibt in der ersten Hälfte sehr viele, scheinbare "Expositionsdialoge", die aber keinerlei Expositionsfunktion haben: die Figuren reden in den Codes ihres Gewerbes und im Wissen auf eine Weise, dass ihr Gegenüber (aber nicht unbedingt der Zuschauer) weiß, was gemeint ist. Sie reden für sich, nicht für das Publikum. Das war einerseits ziemlich verwirrend – aber andererseits auch sehr modern und erinnerte mich ein wenig an Hong-Konger Gangsterfilme ab den späten 1980er Jahren.
Die Verwirrung, die sich im Poststation-Kammerspiel beim Zuschauer (na ja: also zumindest bei mir) entwickelt hat, überträgt sich allerdings auch auf die Figuren selbst. Die Machtbeziehungen zwischen Hogan und seiner Bande, zwischen der Bande und Webb, zwischen Webb und den zufällig dort gestrandeten Reisenden (und natürlich alle Überkreuz-Beziehungen) sind völlig unklar: wer unbewaffnet bzw. entwaffnet ist, ist nicht unbedingt der Machtlose. Hogan wird von seinen misstrauischen Untergebenen entwaffnet und zunächst in einem Zimmer im ersten Stockwerk eingesperrt – doch irgendwann stürmt er wutentbrannt nach unten und beginnt, alle Anwesenden nur mit seiner Körperhaltung, seiner Mimik, kleinen Gesten und einigen latent androhenden Bemerkungen zu verunsichern. Das funktioniert sehr gut, weil Hogan eben von Klaus Kinski gespielt wird und natürlich ist PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO auch eine große Kinski-Show. Mehr als in den großen Ausbrüchen, die eher selten, dafür umso eruptiver kommen, verbleibt Kinski eher in einem Zustand des permanenten Brodelns – vor oder nach dem lauten Knall ist er immer am bedrohlichsten.
Zu den Bedrohungen Hogans gehört, dass er eine der anwesenden Damen zum Singen auffordert. So fängt sie dann auch an, "Jingle Bells" zu singen. Das dauert eine ganze Weile, während Hogan gespannt lauscht und sämtliche anderen Anwesenden zu Salzsäulen erstarrt sind. Und dann... tja... dauert es noch etwas länger. Bis Hogan zum Liedwechsel animiert und dann die Melodie von "An der schönen blauen Donau" geträllert wird. Was sich so, in Worte gefasst, etwas lächerlich anhört, ist der erste große Höhepunkt von PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO: ein sehr unangenehmer, beklemmender und extrem spannungsvoller Moment.
Sehr interessant ist die zunehmend immer weniger verschleierte Tatsache, dass Kinskis Hogan offensichtlich impotent ist. Nachdem er in der Poststation einen seiner aufmüpfigen Schergen solange erschießt, bis sein Revolver leer durchdreht, kommt ein harter Schnitt zum zweiten Teil des Films: ein Tableau in einer gebirgigen Wüstenlandschaft, mit dem ganzen Troß, der im Bild von rechts nach links reitet – rechts im Bild schießt eine Gesteinsformation in Phallusform empor. Das wirkt mit dem harten Schnitt wie ein ironischer Kommentar auf Hogans "ultramännliche" Tat. Später wird Hogan von einer der zwei mitgenommenen Damen dazu herausgefordert, sie zu nehmen – er lässt sie daraufhin stattdessen von zwei seiner Schergen "stellvertretend" vergewaltigen. Zu sehen ist dabei nur Hogans eiskalt-berechnendes Gesicht, während er sich auf den Wachposten niedergelassen hat, von dem er einen seiner Schergen zwecks der Vergewaltigung abgelöst hat. Ein Moment, bei dem es einem eiskalt den Rücken herunterläuft.
Wenige Minuten vorher hatte sich die Kamera noch lasziv zwischen Kinskis Beine gekuschelt, während er sich, zum Nachtlager entspannend, breitbeinig in den Sand hingefläzt hat. Die Kamera in PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (Franco Villa, der auch Fernando Di Leos Polizeifilme fotografiert hat), sie ist sowieso fast ein eigener Protagonist in diesem Film: viele stark gekippte Perspektiven; Gesichter, die wie Felsen in den Vordergrund hineinragen; ruhig-elegische Tableaus und dynamische Handkameramomente. Gegen Ende finden Kinskis brodelnd-aufbrausendes Schauspiel und Villas grandiose Kamera zu einer absoluten Symbiose zusammen: in einem extremen Wutanfall schneidet Hogan die Kisten mit den Goldbarren von den Pferden, schlägt die Kisten auf, schrammt die Goldbarren mit seinem Messer an, läuft zum nächsten Pferd – alles gedreht in einer gerade auf der großen Leinwand atemberaubenden Handkamera, die ohne Schnitt von der Totalen bis hin zur Nahaufnahme reicht. (Das I-Tüpfelchen: ein Pferd weicht vor Hogan bzw. Kinski mehrmals weg, bis dieser sich mit gezücktem Messer heranpirscht und schließlich nach einigen Mühen doch die festgebundene Kiste abschneiden kann.)
Eines der markantesten Bilder im ganzen Film: nach einem guten Stück Gebirgsweg marschiert unsere Truppe durch eine richtige Sandwüste – man sieht dann in einer Nahaufnahme, wie ihre Füße im Sand Abdrücke hinterlassen, und diese Abdrücke sinken langsam durch rieselnden Sand wieder in sich zusammen. Was für ein wunderschönes Bild für die gesamte Situation: es ist nicht nur ein "vergänglicher" Sand, so vergänglich wie die Sicherheit der Protagonisten, sondern auch ein sehr "mühsamer" Sand, den zu durchschreiten allergrößte körperliche Energie abfordert.



20.15 Uhr

LA MORTE SCENDE LEGGERA (übersetzt: "Sanft sinkt der Tod")
Regie: Leopoldo Savona
Italien 1972
86 Minuten
Deutschlandpremiere
Als der Gangster Darica (Stelio Candelli) eines Morgens nach Hause kommt, findet er seine Ehefrau ermordet wieder. Da er in der Nacht dubiose Gangstersachen gemacht hat, besitzt er kein Alibi und lässt sich, zusammen mit seiner Geliebten Liz (Patrizio Viotti) von befreundeten Juristen und Notabeln (die er aufgrund ihrer Verstrickungen im organisierten Verbrechen erpressen kann) in einem leerstehenden Hotel verstecken. Na ja... nicht ganz leerstehend.


Darica flüchtet vom Ort des Verbrechens weg – und geradewegs in sein Verderben rein

Der italienische Giallo ist ein Genre, von dem viele üblicherweise erwarten, dass schick gekleidete, hübsche Leute in bunten Pop-Art-Dekors aus eleganten Longdrink-Gläsern J&B trinken und sich dabei gepflegt ermorden. Nun, in LA MORTE SCENDE LEGGERA sind die Figuren eher dürftig gekleidet, von nur moderater Schönheit (der Hauptdarsteller sieht, besonders ohne Sonnenbrille, wie der kränkliche italienische Cousin des charismatischen, aber sicherlich nicht klassisch "schönen" Jack Palance aus), das Dekor des leerstehenden Hotels ist mit "trist" noch sehr nett umschrieben, und statt J&B gibt es irgendeine unbekannte Whiskymarke (wahrscheinlich gekauft in dem, was in Italien in den 1970er Jahren der "Discounter" war) und getrunken wird direkt aus der Flasche! Wenn man es genau nimmt: es geht um zwei Figuren, die in einem heruntergekommenen Haus eingesperrt sind, nicht rauskommen und langsam wahnsinnig werden. Ein echter "poverty-row"-Giallo – als solcher möglicherweise der vergessene italienische Neffe von Edgar Ulmers DETOUR: wie dieser ist LA MORTE SCENDE LEGGERA ein unglamouröser, von gallig-perversem Humor durchzogener und durch und durch billiger B-Film, der seine produktionsbedingten Einschränkungen nicht nur überwindet, sondern geradezu in einen cineastischen Triumph verwandelt.
Wer beim Lesen von Filmtexten gerne über aerodynamische Bestandteile von Autos denkt, soll das hiermit gerne tun. LA MORTE SCENDE LEGGERA beginnt nach einer kurzen Einleitung – und war daher ein idealer Folgefilm zu PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO – als ultratrockenes Kammerspiel mit nur zwei Personen zwischen einem schäbigen Hotelzimmer, einem leergefegten Treppenhaus und einem vollgemüllten Speisesaal und verwandelt sich nach und nach in einen surrealistischen Alptraum, in eine schaurige Odyssee durch versteckte Seelen(t)räume des Unterbewussten, in der eine Tür nach der anderen durchschritten wird. Das widerspiegelt den Seelenzustand des Protagonisten Darica: ein Mann, der nach eigener Aussage unschuldig am Mord an seiner Ehefrau ist (wie in DETOUR kann man seiner Selbstauskunft bezüglich seiner Unschuld glauben – oder auch nicht) aber unter extremem Druck steht, weil er natürlich als Hauptverdächtiger gilt. Was könnte beunruhigender auf ihn wirken, als im angeblich leerstehenden Hotel einen Mann zu treffen, der vor seinen Augen eine Frau ermordet und ihn dann auch noch bittet, bei der Beseitigung der Leiche Hilfe zu leisten... Wie die Psyche des Protagonisten bekommt auch der Film hier einen Sprung: Figuren tauchen ebenso unvermittelt wie bislang verborgene Hotelräume. Zu den Highlights gehört der Raum, den Darica selbst später als "absurder Raum" betitelt: groß und dunkel, mit einer isolierten Badewanne in der Mitte, darin eine badende Frau, am Rande des Raums im Hintergrund ein Bügelhalter, auf dem ein kleines Äffchen herumbalanciert und spielt. Darica wird mit immer mehr bizarren, surrealen Situationen in merkwürdigen Räumen konfrontiert – damit auch immer wieder auf seine eigene Schuld zurückgeworfen: vielleicht als Mörder seiner Frau, jedenfalls als Komplize beim Mord im Hotel. Gegen Ende entpuppt sich das ganze dann als eine Inszenierung: die Juristen und Notabeln, die Darica damit beauftragt hat, ihm ein Alibi zu bauen und ihn währenddessen zu verstecken, haben eine Filmcrew engagiert, um Daricas Hotel-Alptraum mithilfe von Schauspielern, selbstgebauten Dekoren und selbstgebauten Blutspritzeffekten zu inszenieren, ihn so an den Rand des Wahnsinns zu treiben und damit zu zwingen, ein Geständnis über die Ermordung seiner Ehefrau abzulegen. Die Inszenierung übertrifft die Realität, die ihr nachläuft. So wird LA MORTE SCENDE LEGGERA schließlich gar zu einem Film über das Filmemachen: ein Prozess, bei dem es unter anderem darum gehen kann, bestehende Ängste zu verstärken, zu kanalisieren, zu ästhetisieren – und aus Bauchgefühlen (manipulative) Bilder zu schaffen. Oder man ersetzt Ängste und Bauchgefühle durch Begehren und Lendengefühle: weil Darica und Liz im Hotel nichts zu tun haben, gucken sie sich zwischendurch einen Super-8-Porno an, geilen sich daran auf und haben Sex, während der Film weiter dreht und weiter rattert. Das sieht aus wie die "selbstzweckhafte" Sexszene, die jeder Giallo genreüblich eben haben muss, ist dann aber doch ein deutlicher Wink darauf, was gerade auf einer höheren Ebene in diesem Film läuft.
LA MORTE SCENDE LEGGERA geht es dabei sichtlich um mehr als um reine metareflexive Spielerei. Am Ende ist die Unschuld Daricas an der Ermordung seiner Ehefrau bewiesen, doch die Macht die er früher hatte, ist gebrochen: zu Beginn konnte er respektable Notabeln mit Wissen um ihre Verstrickung im organisierten Verbrechen noch erpressen. Am Ende wird er als elendes Häufchen und Nervenbündel aus dem Hotel weggebracht, während seine "legalen" Freunde die Oberhand gewonnen haben – mit Hilfe des Kinos bzw. des Filmemachens.

Wer noch mehr zu LA MORTE SCENDE LEGGERA lesen möchte, sei hier auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen.



22.30 Uhr

SUSPIRIA
Regie: Dario Argento
Italien 1977
92 Minuten (deutsche Fassung)
Die US-Amerikanerin Suzy (Jessica Harper) reist nach Freiburg im Breisgau, um an einer Ballettschule zu studieren. Nach einem schrecklichen Mord geschehen weitere mysteriöse Dinge mit okkultem und magischem Hintergrund... 


Suzy in einem samtig tapezierten Korridor der unheimlichen Schule

SUSPIRIA gehört wahrscheinlich zu den meistbesprochenen italienischen Genrefilmen überhaupt und ich bezweifle, dass ich da besonders viel hinzuzufügen habe. Bei meiner mittlerweile fünften Sichtung gab es keine großen Offenbarungen, keine völlig neuen, bislang unentdeckten Blickwinkel – wenngleich sich fast jedes einzelne Bild immer wieder als verblüffend schön entpuppte. Vielleicht nur ein kleines Detail: SUSPIRIA ist zwar ein sehr lauter Film, aber zwischendurch arbeitet er auch mit totaler Stille: absolut muxmäuschenstill war es dann für mehrere Sekunden im Saal, jedes Geräusch scheinbar verschluckt.
Am ehesten fühlte ich so etwas wie ein (cineastisches) Heimatgefühl: die Verblüffung, wie toll der Film aussieht, ging einher mit dem Empfinden, das meiste doch so gut wie einen alten Freund zu kennen. Da gibt es keine großen Überraschungen, aber doch ein schönes Wohlsein...
Das Hauptereignis des Abends war allerdings die 35mm-Kopie selbst: eine originale Technicolor-Erstaufführungskopie. SUSPIRIA wurde, wie Andreas, einer der beiden Leiter des Festivals, in seiner schönen Einführung erklärte, auf Eastmancolor-Negativ gedreht, dann allerdings im Technicolor-Kopierwerk in Rom auf ein Technicolor-Positiv gezogen und zwar unter sehr präzisen Anweisungen Dario Argentos und seine Kameramanns Luciano Tovoli: Moderne Filter, die beim Ziehen des Positivs verhindern sollten, dass Farben auf der Kopie zu stark "ausbluten", an den Rändern verlaufen, zu grell, intensiv und leuchtend werden, sollten für diesen Film deaktiviert werden, um den ganz speziellen, im Kern expressionistischen Look zu erzeugen. SUSPIRIA ist also nicht nur in der Kamera und am Schneidetisch entstanden, sondern auch im Kopierwerk. Die Umwandlung des Negativs in das Positiv gehörte noch zum kreativen Entstehungsprozess. Restaurierungen des Films, die auf das Kamera-Negativ zurückgreifen (als angebliche "Ur-Quelle" des Films) – und das sind, wie ich dann einige Monate später erfuhr, alle – unterschlagen also den letzten, maßgeblichen Schritt in der Entstehung des Films.
Nun... von SUSPIRIA gibt es gefühlt ein Dutzend "Restaurationen" pro Jahr, aber tatsächlich dürfte diese nichtrestaurierte (es gab auch nichts zu "restaurieren": die Kopie war kristallklar, wohl fast ungespielt), originale 35mm-Aufführung nicht zu toppen sein.* Die Farben des Films wirkten irreal, und waren dabei doch so lebendig. Im Foyer des Filmmuseums wurde während des Festivals in Dauerschleife eine Anteaserung einer Sonderausstellung zur digitalen Revolution der Medien projiziert und darunter war auch ein Filmclip aus SUSPIRIA zu sehen: wie flach und leblos wirkte das digital totgefilterte Bild im Vergleich zur Kopie. Suzy läuft im Korridor mit den roten, samtbezogenen Wänden an der Haushälterin vorbei, die gerade einen spitzen, bedrohlich glänzenden Gegenstand aus Silber poliert. Die samtige Textur des roten Wandbezugs ist nur noch zu erahnen, während Suzy erschreckend wächsern aussieht, als könnte sie die Schwester der mechanischen Puppe aus Fellinis CASANOVA oder die potentielle Protagonistin eines "lacrima movie" mit einer seltenen Hautkrankheit sein. Meine DVD zuhause ist zum Glück nicht so "tot-ge-HD't" – dem Erlebnis einer originalen 35mm-Erstaufführungskopie reicht sie aber absolut nicht das Wasser. (Ein Erlebnis, das ich im Oktober bei "Terrore a Norimberga. Festival des italienischen Horrorfilms" wiederholen durfte: hier wurde diese Kopie, die im Besitz des KommKinos ist, noch einmal gezeigt).

*Mit allerdings der deutlichen Einschränkung, dass die deutsche Kinofassung von SUSPIRIA gekürzt war (einige Frames bei Gewaltszenen und einige Dialogszenen). Wirklich "original" wäre eigentlich eine ungekürzte, italienische Erstaufführungskopie




Freitag, 26. Juli 2019

12.30 Uhr

L'ULTIMO PARADISO (deutscher Titel: "Das letzte Paradies")
Regie: Folco Quilici
Italien 1955
88 Minuten (deutsche Fassung)
In mehreren kleinen Episoden erzählt L'ULTIMO PARADISO vom Leben (und Lieben) in Polynesien: die Männer eines Stamms beweisen ihren Mut beim Bunjee-Jumping; ein kleiner Junge, der wie sein Vater Perlentaucher werden soll, muss seine Ängste vor dem Wasser und den Haien überwinden; ein junger Mann, der einem prekären Dasein als Fischer entfliehen will, entdeckt das Leben als Minenarbeiter und erkundet die Stadt Papeete; ein junges Paar, gebürtig von zwei verschiedenen Inseln, bereitet sich zur Hochzeit vor...
L'ULTIMO PARADISO ist ein ethnografischer Dokumentarfilm mit mehreren, von lokalen Komparsen gespielten Szenen, allerdings ohne Dialog, sondern nur mit Off-Kommentar (soweit ich mich erinnere – und natürlich bezieht sich das auf die gezeigte deutsche Kinofassung). Das Programmheft des Festivals wies bereits darauf hin: L'ULTIMO PARADISO ist ein bisschen wie ein Missing Link in einer langen Reihe von Filmen mit (semi-/pseudo-)dokumentarischem Anspruch bzw. Hintergrund: Robert Flahertys ethnografische Dokumentarfilme – – Friedrich Wilhelm Murnaus TABU (an dem Flaherty auch beteiligt war) – – der italienische Neorealismus – – L'ULTIMO PARADISO – – der italienische Mondo-Film (und von letzterem aus schließlich zum Kannibalenfilm).
Wenngleich in dieser "Ahnenreihe" gleich der Mondo-Film folgt: L'ULTIMO PARADISO ist noch ein sehr "sanfter", "zahmer", man könnte sagen "familienfreundlicher" Film. Im zeitgenössischen Kontext, also in den 1950er Jahren, dürfte er ästhetisch wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt sein von Dokumentarfilmen aus der Disney-Schmiede (z. B. der "People & Places"-Serie, die ich selbst allerdings nicht kenne). Kindergerecht – für das geneigte erwachsene Publikum gab es dann trotzdem leicht bekleidete, junge Menschen (Frauen wie Männer) zu sehen und "goutieren".
Ich könnte nicht sagen, dass der Film mich völlig begeistert hat: viel eher hat er mich recht angenehm und sanft in den Tag eingeführt (zumal ein Tag mit zunehmend härteren Filmen). Besonders visuell war er natürlich eine Wonne: eine farbechte Ferraniacolor-Kopie (Agfacolor nachempfunden). Das Blau des Meeres war also genauso intensiv wie das Grün der Palmblätter und das dunkle Orange des Sonnenunterganges: viele gekonnt festgehaltene Postkarten-Motive in Scope – oft zum Dahinschmelzen.
L'ULTIMO PARADISO bediente natürlich westeuropäische Fantasien von der unberührten, zivilisationsfernen und freien Südsee und seinen schönen, leicht bekleideten Bewohnern. Und doch gelang ihm das auch paradoxerweise nicht vollkommen, denn die pathetische Einführung, die das eben geschriebene bestätigte, stieß sich im weiteren Verlauf immer wieder an den Bildern, an den Wegen der dargestellten Figuren und Komparsen. Die Fischer zum Beispiel: kein Traumjob, sondern ein knallharter Knochenjob, der zudem auch hochgradig gefährlich ist (Haiangriffe und die Gefahr, zu ertrinken), aber zugleich nur zum Allernötigsten reicht. Zumindest sind das die Bilder, die wir sehen, während der Off-Kommentator scheinbar nie merkt, dass hier keine Südseetraummänner spaßig tauchen gehen, sondern Arbeiter unter prekären Bedingungen schuften.
Genau dieser Armut will einer der jungen Männer entfliehen, und der Off-Kommentator wird nicht müde zu betonen, dass das eigentlich nicht geht, weil er doch dazu determiniert sei, auf seiner Insel bei seinen Leuten zu bleiben (ob da Reste von Blut-und-Boden-Gedankengut in die deutsche Filmfassung eingeflossen ist, sei dahin gestellt – da müsste man wohl schauen, wie die italienische Fassung das kommentiert). Als der junge Mann nach Tahiti umzieht und dort Arbeit in einem Steinbruch findet, ist der Off-Kommentator trotzdem erst einmal ganz begeistert: endlich habe der Mann eine Arbeit gefunden, die ihm gefällt. Die Bilder zeigen etwas anderes: nämlich eine Knochenarbeit in einem Steinbruch, bei dem Männer in der prallen Sonne schwere Steine herumschleppen. Dieser Paradox machte den Film sehr interessant: die Bilder zeigten sehr wohl Armut und prekäre Arbeitsverhältnisse, der Off-Kommentator thematisierte das aber überhaupt nicht.
Noch schöner wurde es, als der junge Mann durch ein Stadtfest in Papeete zum Nationalfeiertag (also: 14. Juli) begleitet wurde. Der junge Mann hat sich zurecht gemacht und geht durch die Tanzlokale auf der Suche nach einer Tanzpartnerin. Nach mehreren Abweisungen beschließt er, zu trinken. Und als das rauschende Fest vorbei ist, fährt er dann wieder auf seine Heimatinsel zurück. Der Off-Kommentar sieht das gleich als Bestätigung, dass der junge Mann nicht in die "große" Stadt, sondern nur auf "seiner" Insel glücklich werden kann. Als Zuschauer haben wir einen Arbeitsmigranten gehen, dessen Arbeit in der Stadt genau so prekär war wie in seinem Heimatdorf und der dann noch nicht einmal Sex mit einer Frau haben konnte und deshalb noch mal doppelt frustriert war...
Aber ganz ohne Sex geht es dann doch nicht. Die letzte Episode des Films zeigt das Anbahnen einer Hochzeit und schließlich die Hochzeitszeremonie. Da trifft sich die ganze Dorfgemeinschaft, es wird viel getanzt, und besonders ein älterer Herr (was für ein Charaktergesicht!) lächelt dabei immer etwas wissend. Das Paar geht dann in der Lagune baden und umschwimmt schließlich einen im Wasser aufgestellten Totem in Phallusform.

Eine der Gefahren von Sex (auch praktiziert in einer Pazifiklagune) ist die Geburt von Kindern... Also weiter mit Kindern!



15.45 Uhr

QUESTO SI CHE È AMORE (übersetzt etwa: "Ja, das ist wirklich Liebe", Alternativtitel, von den Kuratoren in Anlehnung an den englischen Verleihtitel vorgeschlagen: "Am Tag, als der Weihnachtsmann weinte")
Regie: Filippo Ottoni
Italien 1978
102 Minuten
Deutschlandpremiere
Der Junge Tommy (Sven Valsecchi) leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung (Agammaglobulinämie): er kann keine Antikörper bilden und muss deshalb im Krankenhaus in einem aseptischen Glaskäfig leben. Essen bekommt er durch eine Sepsis-Schleuse, Besucher "anfassen" kann er nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Am meisten freut er sich auf den gelegentlichen Besuch seines besten Kumpels Larry (Mauro Curi) und dessen Hundes Peluche. Seine Eltern (Christopher George & Gay Hamilton) haben sich "draußen" voneinander entfremdet, stehen kurz vor der Scheidung und vernachlässigen darüber, ihren Sohn regelmäßig (und gemeinsam) im Krankenhaus zu besuchen. Dieser will seine Eltern wieder zusammenbringen – und dafür notfalls auch aus seinem Käfig in die lebens- und keimgesättigte Außenwelt ausbrechen.
Leukämie und Gehirntumore waren die üblicherweise die Krankheiten, an denen die Kinder in den sogenannten "lacrima movies" starben (zu diesem Subgenre des Melodramas und speziell L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA schrieb ich anlässlich des Terza 2018). QUESTO SI CHE È AMORE sollte dem Fass noch den Boden ausschlagen und das Konzept des Kindersterbe-Melodramas mit einer noch extremeren und exploitativeren Prämisse auf eine unerhörte Spitze treiben: ein Kind, das so krank ist, dass es in einem Glaskäfig leben muss! Zum Glück gehen solche Kalkulationen nicht immer auf: von den rührseligen Melodramen um sterbende Kinder, die ich bislang geschaut habe (insgesamt sieben Stück) war QUESTO SI CHE È AMORE für mich der subtilste, intelligenteste, warmherzigste, humorvollste und schönste!
Filippo Ottonis Filmografie ist relativ übersichtlich und dabei doch recht eklektisch: ein ländliches und offenbar zappendusteres Familien-Melodrama, eine Giallo-Komödie/-Parodie, eine von Cannon co-produzierte Klamauk-Komödie und ein wiederum von Cannon co-produzierter Film, der wie eine Mischung aus Musikfilm und Melodrama aussieht – und eben QUESTO SI CHE È AMORE. Außerdem war Ottoni einer von 9 Autoren, die an Mario Bavas Giallo/Proto-Slasher/schwarzer Kapitalismusgroteske REAZIONE A CATENA mitgeschrieben haben und Synchron-Regisseur für die italienischen Dialoge von Andrej Tarkovskijs NOSTALGHIA. Ein eher unbekannter Filmemacher also, aber für mich einer der Helden des Terza Visione 2019. Er hat auch das Drehbuch zu QUESTO SI CHE È AMORE geschrieben, zusammen mit Enrico Oldoini (in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur umtriebiger Autor, sondern auch Regisseur) und Sonia Molteni (die auch am Drehbuch von Luigi Cozzis großartigem "lacrima movie" DEDICATO A UNA STELLA mitgearbeitet hat).
Wenn die Grundidee von QUESTO SI CHE È AMORE wirklich nur darin bestand, die Krankheit des Kindes noch krasser zu machen, dann ist am Schluss doch ein extrem komplexer und intelligenter Film dabei heraus gekommen: ein Feuerwerk an Spiegelungen, Dualismen, Dialektik. Erwachsene & Kinder; "Realismus" & "Naivität"; Lüge & Wahrheit; draußen & drinnen; Mensch & Tier; Konvention & Rebellion; Stellvertreter-Kommunikation & direkter Dialog; Sein & Schein; Körperlichkeit & Imagination; Leben & Tod; geboren werden & sterben. Diese Gegensätze werden (manchmal plakativ, manchmal subtil) gegenübergestellt, durcheinander gewirbelt, teils vom Kopf auf die Füße gestellt, dass einem ganz schwindelig werden kann.
Die italienischen Kindersterbe-Melodramen sind meiner Meinung dann am besten, wenn sie ihre kindlichen Protagonisten ernst und als "volle" Figuren nehmen (die schwächeren Filme zeigen sie tatsächlich "nur" als klein und niedlich und süß und traurig – "Tristkinder", wie das Hofbauer-Kommando sie nennt). Von den "lacrima movies", die ich bislang gesehen habe, gibt es allerdings bislang keinen einzigen, der seine kindlichen Protagonisten derartig ernst genommen hat, wie QUESTO SI CHE È AMORE. Der Gegensatz zwischen Kindern und Erwachsenen wird im Prinzip auf den Kopf gestellt: die Kinder benehmen sich wie Erwachsene, während sich die Erwachsenen "kindisch" benehmen. Der kranke Tommy, das ist völlig klar, ist ein extrem intelligenter Junge, der – trotzdem er in einem Glaskäfig lebt (oder vielleicht genau deshalb) – sehr genau weiß, dass die Ehe seiner Eltern sich in Brüchen befindet – während die beiden draußen noch zaghaft überlegen, ob und wie sie es ihm beibringen sollen; der auf sehr geschickte Weise seinem Vater eine liebevolle und doch auch tadelnde Botschaft zukommen lässt, als dieser ihn einfach nicht mehr besuchen kommt, nämlich als Audiotape zu einem Singwettbewerb in der TV-Sendung seines Vaters – einer der großen emotionalen Momente des Films (die stets durch ein erstaunliches understatement charakterisiert sind – hier eine ungefähre Impression dieser Song-Szene); der wahrscheinlich bei vollem Bewusstsein, welchen Preis er dafür zahlen wird, aus seinem Käfig ausbricht, um einige Stunden in Freiheit zu leben, mit seinem Freund Larry zu verbringen und seine Eltern wieder zu sehen. Sein Vater währenddessen spielt in dieser ganzen Zeit mit Puppen: er ist TV-Moderator einer Kindersendung und spricht dabei mit einer Handpuppe (als Bauchredner). Diese Puppe nimmt er, als er seinen Sohn dann doch mal im Krankenhaus besucht, mit und benutzt sie dann auch als "Schutzschild": als Papa redet er bemüht abgebrüht und "männlich" mit seinem Sohn – nur über seine Stellvertreter-Puppe, also in einer "Rolle", traut er sich seinem Sohn zu sagen, wie sehr er ihn liebt. Eine völlig unglaubliche Szene, weil sie einerseits sehr emotional ist, und andererseits doch unfassbar hart, weil das kleine, kranke Kind tatsächlich offener spricht als der erwachsene Mann.
Wie der Film mit der Eingeschlossenheit des Protagonisten umgeht und es reflektiert, ist ebenfalls sehr faszinierend. Zu Beginn sehen wir Tommy vor dem Hintergrund eines Waldes Rollschuh fahren – erst nach und nach, während die Kamera zurückfährt, merkt man, dass der Wald eine Tapete ist. Und schließlich, dass der Protagonist des Films in einem hermetischen Glaskäfig lebt. Und dass das im Grunde niemals thematisiert wird, aber doch stets reflektiert. Wenn der Vater sich in der Wohnung seiner neuen Lebensgefährtin befindet, sieht er im Zieraquarium eigentlich nicht einen Fisch, sondern seinen eigenen Sohn. Nach seinem Ausbruch aus dem Krankenhaus, als Tommy mit Larry den Zoo besucht, erkennt er sich plötzlich selbst in einem Affen, der in einem zootypischen Glaskäfig sitzt. Hier wird das beachtliche schauspielerische Können Sven Valsecchis deutlich: die Selbsterkenntnis Tommys zeigt sich nur in seinem Blick – ganz ohne Worte.
Tommys Leben im Käfig ist extrem unsinnlich: das Essen schmeckt nach nichts, er sieht immer nur die gleiche Umgebung und er kann seine Besucher nicht berühren, oder zumindest nicht richtig, nämlich nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Seine Mutter greift in die Handschuhe und umarmt ihren Sohn Tommy "durch die Glaswand" hindurch: auch hier gehen die genreimmanente, rührselige Sentimentalität und die "harte", intellektuelle Reflexion des Films über die Ungeheuerlichkeit von Tommys Leben Hand in Hand. Tommy lebt eine Dystopie des "neuen Fleisches" (QUESTO SI CHE È AMORE gibt eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein von David Cronenberg in den 1980er Jahren gedrehtes Melodrama über ein sterbendes Kind hätte aussehen können).
Und doch gibt es für Tommy (und auch für die Zuschauer) immer wieder Abwechslung, wenn zum Beispiel Kumpel Larry seinen Hund Peluche in das Krankenhaus schmuggelt, indem er ihn in einem Textil-Wäschekorb versteckt. Tommy macht ein ganz verwundertes Gesicht, als Larry einen Wäschekorb vor die Glaswand fährt – doch dann fließt aus einer Ecke des Korbs ein gelber Strahl und Tommy begreift, was Larry gemacht hat. Und dann geben sich nicht nur die beiden Jungs mit den Gummihandschuhen die Hand, sondern auch Peluche wird auf seine Hinterbeine gestellt, während seine Vorderbeine in die Gummihandschuhe gesteckt werden (worüber der Hund offenbar nur mäßig erfreut ist): damit können sich dann Tommy und Peluche gegenseitig befühlen – also indirekt zumindest. QUESTO SI CHE È AMORE ist auch ein wunderschöner Film über Freundschaft und nicht zuletzt auch ein großartiger Buddy-Movie, der auch über die Chemie zwischen den beiden Jungs so gut funktioniert. Nicht zu vernachlässigen ist, dass der rothaarig-lockige Mauro Curi mit seinem natürlichen Charisma wahrscheinlich der heimliche, eigentliche Star des Films ist (was danach beim Essen auch mehrere Co-Zuschauer bestätigt haben).
Im letzten Viertel schließlich entscheidet sich Tommy dazu, seinen Käfig zu verlassen und in die reale und sinnliche Welt zu tauchen. Sein (de facto) Gang in den Tod ist gleichzeitig seine Wiedergeburt und wird fast wortwörtlich so inszeniert: nachdem er sehr geschickt den Sicherheitsmechanismus der Essensschleuse K. O. gestellt hat, kriecht er durch diese wie durch den Geburtskanal. Sein Todesurteil (er wird mit Keimen in Kontakt kommen und in wenigen Stunden sterben) ist zugleich sein neues Leben. Tommy "muss" sterben, um für kurze Zeit "richtig" leben zu "können". Für einige Minuten wird QUESTO SI CHE È AMORE zu einem richtigen Knastausbruchfilm – inklusive Larry, der mit Peluche zur vereinbarten Zeit als Komplize draußen wartet, um den Ausbrecher abzuholen. Eine unglaubliche Explosion der Gefühle überrannt den geneigten Zuschauer, als Tommy und Larry sich endlich wirklich berühren und umarmen. Danach knuddelt Tommy noch kurz mit Peluche, und dann läuft das Trio zu seinen Tagesabenteuern los. Es war für mich wahrscheinlich der größte "kleine" Moment des Terza Visione 2019 und das Tolle ist, dass er ohne Sperenzchen und verblüffend nüchtern in einer Totalen gefilmt wird: auch an dieser Stelle vertraut der Film ganz dem Zuschauers, diesen Moment emotional und intellektuell zu "begreifen".
"Warum hast du mir nie erzählt, wie toll das ist" fragt Tommy seinen Freund Larry, als die beiden in einem Park im Gras herumtollen. Larry ist von der Frage überfordert, reagiert aber kurz darauf sehr spontan mit einem grenzenlosen Erschrecken, als Tommy kurzzeitig unsanft hinfällt: "Questo si che è amore" – das ist wirklich Liebe.
Der Film endet – wie viele seiner Genre-Genossen – mit dem Tod des Protagonisten. Tommy hat sich zusammen mit Larry den Weg zum Wochenendhäuschen seiner Eltern erkämpft. Wieder befindet er sich in einer Art Glaskäfig, doch nun sitzen seine Eltern wiedervereint (machen wir uns nichts vor: wahrscheinlich nur auf Zeit) mit ihm in diesem Käfig – an ihnen gebettet sinkt er in seinen allerletzten Schlaf. Larry schaut sich das von draußen durch das Fenster an: es beginnt zu schneien, es ist Weihnachten...

Noch zwei Bemerkungen:
Erstens: Ich habe QUESTO SI CHE È AMORE im Sommer 2019 gesehen und einen großen Teil des Textes im Januar/Februar 2020 beendet. Die aktuelle Corona-Situation könnte manchen dazu einladen, tagesaktuelle Betrachtungen in die Besprechung eines Films über einen sich aufgrund einer gefährlichen Krankheit in Dauerquarantäne befindlichen Kleinkindes einfließen zu lassen – ich fände das persönlich eher uninteressant. Deshalb belasse ich es bei diesem Hinweis.

Zweitens: wer mehr zu QUESTO SI CHE È AMORE lesen möchte, sei auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen. Besonders interessant darin der Satz: "Schnörkellos in der Aussprache gesteht Ottoni einem Kind im Grundschulalter die emotionale Reife zu, einen selbstbestimmten Tod zu sterben." Und sehr interessant auch die Qualifizierung als "italienischer Ozu-Film".


Nach dem Abendessen in einer "klimatisierten" Pizzeria (entweder war das mit der Klimaanlage ein Marketing-Gag, oder wir sollten heilfroh sein, dass sie "klimatisiert" war, sonst wären wir wahrscheinlich in Flammen aufgegangen) folgten zwei Filme, die auf den ersten Blick extrem gegensätzlich erscheinen: eine Musik-Komödie ("musicarello") und ein berüchtigter Nazi-Exploitation-Schocker. Doch bei näherem Hinsehen war das schon sehr genial und passend kuratiert: man könnte sagen...

...das inoffizielle thematische Double-Feature "Die junge Frau und der Faschist"



20.00 Uhr

IO NON PROTESTO, IO AMO ("Ich protestiere nicht, ich liebe")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien 1967
97 Minuten
Deutschlandpremiere
Caterina (Caterina Caselli) unterrichtet die Grundschulklasse eines kleinen Fischerdorfes mit außergewöhnlichen Methoden – nämlich singend. Dem Baron (Livio Lorenzon), der seine politischen Einstellungen aus der Zeit zwischen 1922 und 1944 weiter pflegt, passt das gar nicht: er intrigiert gegen Caterina, um sie aus dem Dorf zu vertreiben. Als ein Cousin aus den USA, der mit Plattenverkäufen steinreich geworden ist, zu Besuch kommt, eröffnen sich dem Baron ganz neue Möglichkeiten, die störrische Lehrerin "einzuhegen"...


Die junge Frau und der Faschist I:
Der Baron und Caterina und seinem Fiebertraum

Nach Domenico Modugnos Wahnsinnsfilm TUTTO È MUSICA 2018 nun erneut ein eher untypischer "Musicarello" aus der Spätphase des Genres beim Terza. IO NON PROTESTO, IO AMO kann bei oberflächlicher Betrachtung durchaus auch als eskapistische Unterhaltung genossen werden, aber wenn man genau darüber nachdenkt, ist es ein unglaublich finsterer Film, der bereits ein Jahr vorher den Kater der 68er-Bewegung vorwegzunehmen scheint. Dann sieht man nicht einen Film, in dem eine singende Lehrerin sich mit dem stockkonservativen Dorf-Notabeln streitet, sondern eine pessimistische Bestandsaufnahme von Italiens "Bewältigung" des Faschismus, mit einer Gegenwart, in der politische Gegner nicht mehr deportiert, gefoltert, vergewaltigt und ermordet, sondern gekauft oder besser gesagt verkauft werden. Im Laufe des Films verwandelt sich dann Caterina auch von einer freigeistigen Lehrerin nach und nach in einen nichtssagenden Popstar, bevor sie dann ihre eigentliche Bestimmung als Hausmutti findet und nicht nur auf Popstarruhm, sondern auch auf eine "Karriere" als Lehrerin verzichtet, vor einem wunderschönen Sonnenuntergang mit ihrem künftigen Ehemann stehend (ein Mann, der sich anfänglich als geradezu putzig- schüchterner Dorfarzt präsentiert, um im Laufe des Films immer mehr seine dunklen Seiten als machistisches und latent gewaltbereites Arschloch und potentieller "wife beater" herauszukehren – eine interessante und ambivalente frühe Rolle für Mario Girotti alias Terence Hill).
Die Erzählstrategie von IO NON PROTESTO, IO AMO scheint mir zumindest teilweise jene von Paul Verhoevens SHOWGIRLS vorwegzunehmen: eine junge idealistische Frau mit großen Träumen, die der Film angesichts eines übermächtigen Systems (in beiden Fällen die Unterhaltungsindustrie, bei Verhoeven mit einem Schuss Hollywood-Metapher, bei Baldi mit Italiens faschistischer Vergangenheit im Hinterkopf) völlig auflaufen lässt. Caterina Caselli ist meiner Meinung nach keine besonders gute, charismatische Schauspielerin, aber dieses "Defizit" passt ausgezeichnet zum Film, wenn man ihn "gegen den Strich" schaut. IO NON PROTESTO, IO AMO ist ziemlich klar zweigeteilt: in der ersten Hälfte kämpft die freigeistige Lehrerin Caterina gegen den "Baron", dem sie ein Dorn im Auge ist. Die zweite Hälfte, nach der Traum-Offenbarung des Baron (dazu gleich mehr), zeigt Caterinas langsamen, vom Baron in die Wege geleiteten Aufstieg zum Popstar. Dadurch, dass Caselli eben recht "farblos" spielt, wirkt ihr Fall (also dass sie auf den Baron und seine Pläne, sie zu "vermarkten", reinfällt) umso überzeugender.
Die zweite Hälfte war für mich teilweise eine Geduldsprobe – aber ich bin davon überzeugt, dass das zum Konzept des Films gehört (ein "normalerer" Film hätte den Kampf Caterinas gegen den Baron wahrscheinlich abendfüllend gezeigt, und nicht nach der Hälfte abgebrochen). Die opening credits zeigen Caterina Caselli, wie sie am Strand eine Singstunde abhält (mit dem Lied "Il sole non tramonterà") und die wunderschöne Kamera Enzo Barbonis (später Regisseur zahlreicher Filme mit Terence Hill und Bud Spencer) fängt ihre Unterrichtsstunde in sehr erlesenen Bildern mit langsamen, eleganten Schwenks und Fahrten ein (siehe hier). Ihr Ausbruch der Liebe nach einem Treffen mit ihrem Verehrer, dem Dorfarzt Gabriele, wirkt etwas zu viel des Guten, wenn sie "Cento giorni" singt, ist aber immer noch recht elegant gefilmt. Aber die Rock'n'Roll-Nummer, die sie dann – als "bad girl" in schwarzem Leder gekleidet – zum Besten gibt, wirkt im Vergleich dazu steif, verkrampft, gestellt, ohne Schwung und ist dazu noch verblüffend statisch gefilmt. Als der Baron sich vom Gegner der singenden Lehrerin zum Manager des aufsteigenden Popsternchens, kommt der ganze Film fast zum Stillstand, hangelt sich von einem scheinbar gelangweilten Nebenplot zur nächsten hüftsteifen Nummer: es zieht sich alles wie ein Kaugummi, dass es fast grausam ist – und ich denke, genau das will der Film auch sein. Hinzu kommt noch, dass viele weitere Sachen "madig" werden: Gabriele, der schüchterne Dorfarzt, entpuppt sich immer mehr als latent aggressiver Macho, der Caterina verbal immer nachdrücklicher bedrängt und offensichtlich eine Frau braucht, der er seinen Willen aufdrängen kann (und diese bekommt er am Ende).
Es gehört wohl zu den Grausamkeiten des Films, dass die irrsinnigste und spaßigste Nummer nicht Caterina, sondern dem Baron bzw. seinem Fiebertraum gehört (nachdem er auf die Idee gekommen ist, sie nicht aus dem Dorf zu vertreiben, sondern sie zu verkaufen): Er sitzt in einem mit knallbunten Luftballons gefüllten Raum auf einem Thron, lässt sich von seinem Hausdiener Sandwiches in Geldbündelform bringen, die er genüsslich verspeist, während die zwei hübschen Sekretärinnen seines Cousins und Caterina um ihn herum tanzen. Wie gesagt: ein Fiebertraum – deshalb wohl der irrsinnigste Moment des Films und wahrscheinlich der farbigste (hier zu sehen). Die Kopie von IO NON PROTESTO, IO AMO war leider stark rotstichig, doch die Farben haben im Fiebertraum des Barons dem Rotstich ein wenig getrotzt.
Gegen Ende, nach der letzten Nummer von Caterina als Star (auch diese zieht sich qualvoll in die Länge), erklärt sich auch der Titel des Films, der von ihr Caterina als Erklärung zu ihrem Rücktritt wortwörtlich ausgesprochen wird: "Ich protestiere nicht, ich liebe" – das ist nicht eine kämpferisch 68er-Aussage über die subversive Kraft der Liebe, sondern eine Kapitulationserklärung. Der Film filmt ihren Rücktritt als kleinen Sieg über den geldgierigen Baron, der jetzt kein Geld mehr mit ihr machen kann – aber dieses scheinbare Happy gehört zu den perfidesten, die man sich nur denken kann. Die Zeile "Ed invece la corsa della vita per me si è già fermata negli occhi tuoi" aus dem Lied "Cento giorni" (Und stattdessen hat der Lauf meines Lebens in deinen Augen geendet) bekommt retrospektiv einen ganz besonders bitteren Geschmack.

...ideal, um in den nächsten Film zu starten, trotz des scheinbar riesigen Grabens, der zwischen einer Musikkomödie und einem Sadiconazista-Schocker liegt.



22.45 Uhr

L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ("Die letzte Orgie des Dritten Reiches")
Regie: Cesare Canevari
Italien 1977
95 Minuten
Deutschlandpremiere
Lise Cohen (Daniela Poggi), eine ehemalige Insassin eines Nazi-Konzentrationslagers, und Konrad von Starker (Adriano Micantoni), ehemaliger Kommandant dieses Lagers, treffen sich wenige Jahre nach dem Krieg wieder am Ort der Verbrechen, haben Sex und erinnern sich an ihre gemeinsame Vergangenheit: Nachdem Konrad mit zunehmend perfiden Folterungen vergeblich versucht hatte, Lises Geist zu brechen, verliebte er sich in sie und machte sie zu seiner Geliebten.


Die junge Frau und der Faschist II:
Konrad und Lise in der Hölle des Nazi-Lagers

Die Vorstellung von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH begann mit einer Erklärung von Andreas, einem der beiden Leiter und Kuratoren des Terza Visione: der Sinn des Festivals bestehe darin, das italienische Kino in all seinen Facetten, seinen Subgenres, seinen Atmosphären zu zeigen, und dazu gehöre auch Nazi-Exploitation. Nach dieser ausdrücklichen Verteidigung der Entscheidung, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH zu zeigen, erwiesen sich Roberts einleitende Worte als besonders wertvoll, um den Film, wenn nicht zu verstehen, so sich doch ihm zumindest anzunähern. Besonders der allgemeine Hinweis auf Bourdieus These, dass das Perfide von Herrschaft darin besteht, dass die Ausgeschlossenen bzw. die Opfer in den Selbsthass getrieben werden. Auch ein Schlüssel (wobei Indiz vielleicht das bessere Wort ist) zum Verständnis des Films war ein Missverständnis meinerseits: ich dachte, Robert hätte in seinen Ausführungen zu Regisseur Cesare Canevari gesagt, dass die Figuren in seinen Filmen meistens wie Geister erscheinen (Robert meinte allerdings explizit den Western MATALO!). Zumindest erschien es mir dann, dass Lise die ganze Zeit wie ein Geist durch L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH wandle.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ist ohne Zweifel ein scheusslicher, bestialischer und zutiefst verstörender Film und genau das wollte er höchstwahrscheinlich auch sein. Robert hat in seinen einführenden Worten richtig gesagt: es macht keinen Spaß, diesen Film zu sehen. Das Subgenre der "Nazi-Exploitation" gilt gemeinhin als Bodensatz des Exploitation-Kinos (gleichwohl seine Wurzeln u. a. mit Viscontis LA CADUTA DEGLI DEI im "respektablen" Autoren- und Kunstkino liegen), aber in vielerlei Hinsicht erscheint mir L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH als Anti-Exploitation-Film, unter seiner wilden und rauen Oberfläche als sehr intelligenter Film über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Film lässt seine Protagonistin Lise durch die Hölle gehen. Er verlangt auch seinen Zuschauern alles ab. Und er macht sich selbst auch nichts einfach.
Zu den großen Stärken (je nach Blickwinkel auch: Perfidien) von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH gehört, dass er gleichermaßen Täter- und Opferperspektive einnimmt und keiner der beiden Seiten irgendetwas "schenkt". Lises Figur ist besonders "schwierig": sie lässt sich nicht zum hilflosen Opfer machen, weil sie die ganze Zeit unnahbar, kalt, abwesend erscheint. Daniela Poggi spielt sie – ja, wie ein Geist, eine Untote, die während des ganzen Films (abgesehen vielleicht des letzten Drittels) geradezu apathisch wirkt. "Diese arme Lise"... "Das hat sie aber toll gemacht"... "Lise ist ein Vorbild"... Nein, so etwas kann man über Lise nicht sagen und das ist vielleicht das intellektuell Anregendste an dem Film: L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von den Zuschauern eine intellektuelle Draufsicht, weil er mit dieser sperrigen Figur, mit diesem wandelnden Geist, keine Möglichkeit von Identifikation bietet. Der Film will auch nicht "Betroffenheit" auslösen (Betroffenheit, die man dann auch wieder ablegen kann, wenn es vorbei ist, um zum "normalen Tagesgeschäft" überzugehen). Opfer des Nationalsozialismus sind nicht per se gute Menschen: das erscheint extrem kalt; aber da der Film aber auch keinerlei Relativierung betreibt, ist es vielleicht nicht weniger als konsequent und letztendlich wohl weniger exploitativ als SCHINDLER'S LIST, der kleine süße Mädchen in roten Mänteln auffährt, um die Emotionen der Zuschauer zu erwecken.
Umgekehrt gilt es ebenso: "Das ist ja ein scheusslicher Mensch"... so etwas kann man über Konrad nicht sagen. Es geht in L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht um Konrad, sondern um den wahnsinnigen Terror des Nationalsozialismus, in dem er auch nur ein Rädchen ist. Um erneut den Vergleich zu SCHINDLER'S LIST zu eröffnen: Konrad ist keine Nazi-Karikatur wie Amon Göth mit der leicht grotesken Darstellung Ralph Fiennes', er ist ein (um Christopher Browning zu paraphrasieren) ganz normaler Mann, der die Handlungsspielräume innerhalb des nationalsozialistischen Systems nutzt.
Autor-Regisseur-Produzent Cesare Canevari war ein großer Stilist, denn allen inhaltlichen Abscheulichkeiten zum Trotz sieht L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH atemberaubend aus. Man siehe schon nur die Anfangsszenen, in denen sich Lise und Konrad auf dem Gelände des ehemaligen Lagers wieder treffen und ihre stürmischen Umarmungen mit Erinnerungsfetzen aus ihren Erlebnissen während des Nationalsozialismus in einer assoziativen Montage kollidieren. Von vielen Bildern des Schreckens abgesehen dringt auch immer wieder eine surreale, verträumte Poesie durch den Film. Unvergesslich der Moment, wenn Lise, mittlerweile die Geliebte Konrads, in einem eleganten Pelzmantel gekleidet auf einem Boot einen See durchquert, während die Kamera um das Boot herumkreist: sinnlich schön, und zugleich hoffnungsvoll, weil Lisa der Hölle der Folterungen (für einen ganz kurzen Moment) entkommen ist und doch niederschmetternd, weil das wie eine symbolische Flussüberquerung in den Tod wirkt. Dass der Film so dermaßen kontrolliert gut aussieht, wirkt fast wie eine "konzeptionelle" Schwäche, aber es demonstriert auch immer, dass L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht ein gedankenlos heruntergekurbeltes Machwerk, sondern ein schwieriges Kunstwerk ist.
Christoph, einer der beiden Leiter des Festivals, betonte in einem Gespräch nach dem Film, dass die verbal geäußerten Gewaltfantasien noch wesentlich schlimmer seien als das, was der Film rein visuell zeige (nicht, dass letzteres besonders zurückgenommen wäre). Das erschien mir im Nachhinein als sehr erhellender und interessanter Punkt: der Film lässt oft durch die Äußerungen der Folterer, die ihre Opfer mit noch entsetzlicheren Qualen drohen, noch entsetzlichere Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen, als die auf der Leinwand zu sehen sind. Im Grunde keine besonders "originelle" filmische Technik, aber hier besonders effektiv angewandt. L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH handelt nicht nur von der Macht der Bilder, sondern auch von der Macht der Worte. Exemplarisch ist das lange Bankett-Dîner mit den Leitern des Lagers: einer von ihnen äußert die Fantasie äußert, ermordete Juden auch nach ihrem Tod zu "verwerten" und lässt anschließend ein Ragout aus einem ermordeten Häftling servieren. Im Nachhinein scheint mir seine lange, lange, lange Rede, in der er umständlich seine Idee präsentiert, als der schrecklichste Moment im ganzen Film.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von seinen Zuschauern Mündigkeit, Reife, Reflexionsvermögen: heutzutage, nachdem eben unter anderem SCHINDLER'S LIST auf gewisse Weise einen internationalen "Standard" des Umgangs mit dem Holocaust im "respektablen" Kino gesetzt hat, ist er vielleicht sogar noch überfordernder als zu seiner Zeit. Im Gegensatz zu SCHINDLER'S LIST verweigert L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH seinen Zuschauern, eine schöne Zeit im Kino zu verbringen und dann mit einem guten und erhabenen Gefühl wieder den Saal zu verlassen. Canevari bietet keinen Trost, keine Erhebung, keine "Moral der Geschichte", keine "Lektion, die wir lernen können", keine Beruhigung, dass das alles Geschichte ist, keine Gewissheit, dass das "Böse" besiegt wurde.
Am Ende läuft Liese weg, nachdem sie Konrad bei der letzten Vereinigung erschossen und anschließend in ein brennendes Feuer geworfen hat. Während des Films sieht man sie oft mit einem lethargischen Gesichtsausdruck und leeren Augen. Doch in diesem Schlussbild scheinen ihre Augen leerer denn je zu sein. Das ist emotional noch viel niederdrückender als der Gedanke, dass sie (wie in einigen Schnittfassungen des Films*) in tödlicher Umarmung mit Konrad stürbe.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH war sicherlich der schwierigste Film des Terza 2019 – ich merke es daran, dass ich doch große Mühe hatte, die Eindrücke des Films in Worte zu fassen – aber ohne jegliche Zweifel ein Höhepunkt. Ich bin Andreas und Christoph sehr dankbar dafür, dass sie ihn ins Programm aufgenommen haben.

* in einigen Schnittfassungen des Films sind am Ende "alle tot", wie Robert in seiner Einführung erläuterte. Die gezeigte italienische Kinofassung aus der Cineteca Nazionale in Rom war gekürzt: viele Nacktbilder (mit Penissen, wie Robert versprochen hatte) aus einer frühen Szene mit einer Soldateninspektion fehlten wohl, die Ermordung und anschließende Verbrennung einer Gefangenen nach dem infamen, kannibalistischen Bankett wurde auch gekürzt (diese eine Kürzung wurde glaube ich auch angekündigt) und einer längeren Montage, in der Häftlinge gefoltert werden, fehlten weniger sichtbar als vielmehr hörbar zahlreiche Frames (weil hier die Tonspur ganz offensichtlich durcheinander kam).

Mehr zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH findet sich in Roberts Sehtagebuch bei Eskalierende Träume. Da hat Robert natürlich nicht nur zu Canevaris Film, sondern auch zu allen anderen von ihm gesehenen Filmen des Festivals geschrieben und das ist auch sehr lesenswert!

Auch Frank Castenholz hat in seinem Text zum Terza Visione im Weird-Magazine ein paar Worte zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH geschrieben, durchaus mit einigen kritischen Tönen. Ebenfalls sehr lesenswert (auch durch die Ausführungen zu vielen anderen Filmen und zum Terza-Visione-Festival im Allgemeinen).

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Der zweite Teil meines Berichts zum Terza Visione Festival folgt... Wann genau, weiß ich noch nicht. Sicher ist, dass ich solch unglaubliche Filme wie Renato Polsellis MANIA, Mario Bavas QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE und Alberto Cavallones SPELL (DOLCE MATTATOIO) nicht unbesprochen lassen möchte!