Sonntag, 3. Januar 2021

2020 im persönlichen Rückblick



Ein unschönes Jahr vorbei...



Festivals, Filmveranstaltungen, Reihen


Ich bin seit 2017 zu einem regelmäßigen Besucher von Filmfestivals, Filmwochenenden, Filmretrospektiven geworden. 2019 bin ich auf ein Rekord von 11 solcher Veranstaltungen gekommen. Die Vorstellung von zwei Wochen Pauschalurlaub am Strand im Sommer gehört zu den wahrscheinlich Top-Ten meiner Visionen von der Hölle. Lieber verbringe ich meinen Urlaub über verlängerte Wochenenden verteilt bei Kinoveranstaltungen. Im Pandemiejahr – wobei angesichts der aktuellen Situation klingt das zu "abgeschlossen" ("in diesem ersten Pandemiejahr" wäre wohl korrekter) – fiel das goEast-Festival in der gewohnten Form aus, das heiß geliebte Terza Visione fiel aus, nach einer Phase, in der Kino wieder möglich war, fiel auch das Karacho-Festival des Actionfilms in Nürnberg aus, ebenso das herbstliche Italo-Filmwochenende. Zwei Veranstaltungen in Frankfurt, eine zum unabhängigen anglophonen Horrorkino der 1970er Jahre und eine zum spanischen Kino der Post-Franco-Ära, wurden vorerst verschoben. Ich habe auf Sweet Movies Mitte März verzichtet (das gerade noch knapp stattfand). Und nicht zuletzt wurde das Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art nicht nur einmal (für den April-Termin), sondern zweimal (für den alternativen November-Termin) verschoben und schließlich in einer reinen Online-Edition ausgetragen: als Teil des Orga-Teams, dem ich seit Dezember 2019 angehöre, war das eine aufreibende, stressige und immer wieder frustrierende Situation. Die Austragung in der Online-Edition hat mich in meinem seit 2017 erneuerten Glauben an das Kino als physischer Ort von Film verstärkt, um es mal positiv zu formulieren.


Angesichts der Umstände bin ich sehr dankbar, dass ich immerhin drei sehr schöne Filmveranstaltungen dieses Jahr besuchen konnte. Der 19. außerordentliche Filmkongress des Hofbauer-Kommandos fand Anfang Januar 2020 statt. Aufgrund eines ebenfalls Anfang Januar begonnenen neuen Jobs konnte ich nur das Zeitfenster zwischen Freitag Abend und Sonntag späten Nachmittag besuchen. Doch trotzdem: wieder Unfassbares, Unglaubliches, Faszinierendes... Ivana Massettis unklassifizierbarer DOMINO, gereicht als "Edel-Videoknüppel" am Samstag Nachmittag, der anfänglich befremdliche, aber dann zunehmend faszinierende Partyhöllen-Reportfilm MALLE, die exklusiven Sondervorstellungen zeitgenössischer 16mm-Kopien der Schwulenpornos ADAM & YVES und DRIVE aus Jack Deveaus Produktionsfirma Hand in Hand...

An die Kopienverfügbarkeit der letztgenannten knüpfte auch das Filmwochenende "Good Hot Stuff: Hommage Hand in Hand" des Filmkollektiv Frankfurt im September (ursprünglich im April geplant), auf der fünf Filme von Hand in Hand zu sehen waren. Eine schöne Gelegenheit, Jack Deveaus LEFT-HANDED (der beim 17. Hofbauer-Kongress digital lief) in analoger 16mm-Form wieder neu zu entdecken; Peter De Romes großartigen ADAM & YVES erneut zu sehen; hinter dem Titel GOOD HOT STUFF endlich den passenden Film, nämlich ein Selbstportrait der Produktionsfirma zu erleben – und den Herausgeber des sehr lesenswerten Filmbuchs "Good Hot Stuff. The Life and Times of Gay Film Pioneer Jack Deveau" wie auch des bereits hier kurz angeschnittenen Filmbuchs "Stories from the Trenches: Adventures in Making High Octane Hollywood Movies with Cannon Veteran Sam Firstenberg", den wunderbaren Marco Siedelmann, persönlich kennen zu lernen.

Der letzte Kinorausch des Jahres dann das 3. Filmarchäologen-Symposium in Nürnberg im Oktober. Ein Tag früher angereist, um noch ein bisschen King Vidor (RUBY GENTRY) und ein bisschen Kirk Douglas (Brian De Palmas THE FURY in einer 16mm-Kopie) zu genießen. Dann drei Tage lang Vergessenes aus der Filmgeschichte, in oft fragilen 35mm-Kopien: ödipale Erotik auf griechischen Inseln, Späße, Intrigen und Verwechslungen in der Welt der schummerigen Münchner Vergnügungsclubs, eine brachiale, gnadenlose, finstere und unvergessliche koloniale Dystopie in einem Inselparadies, kleine Vignetten von Liebesspielen im Italien der 1960er Jahre... Auch ein Höhepunkt dieser Tage war meine Beteiligung an einer ersten "Ernte" des Filmarchäologen-Projekts (https://www.forgotten-film-entertainment.de/filmarchaeologe), als ich zusammen mit dem wunderbaren Peter aus Hamburg im Saal des KommKino den Audiokommentar zu einem Film einsprechen konnte, der beim 1. Filmarchäologen-Symposium zu sehen war.


Das 35mm-Kino des Film e.V. Jena war weiterhin eine Quelle der Cine-Freude. DER NAME DER ROSE, ein Film, den ich seit meinen frühen Teenagerjahren nicht mehr gesehen hatte, erstrahlte in einer wunderschönen Kopie, die die wunderbaren, rauchig-neblig-dampfenden Bilder wunderbar zur Geltung brachte. Ein wirklich ganz herausragender, schöner Film. Gesehen habe ich ihn übrigens am Abend des 5. Februar 2020: da war Corona in Europa noch nicht so ein großes Thema, dafür wurde aber an dem Tag in meinem Heimat-Bundesland, Thüringen, der Vertreter einer Partei, die sich "liberal" schimpft, mithilfe von Nazis zum Ministerpräsidenten gewählt. Ein Hauch von Putsch-Atmosphäre, das Gefühl, dass irgendetwas in der gelebten Demokratie unwiederbringlich kaputt gegangen ist, schnürte wohl nicht nur mir den Magen zusammen. So komisch es klingt, aber dieser Kriminalfilm (ich würde fast sagen: "Spät-Giallo"?), der in einem norditalienischen Kloster im Mittelalter spielt, konnte gerade mit seiner Geschichte, die auch von politischen Intrigen und weltanschaulichen Kämpfen handelt, das ungute Gefühl im Bauch für kurze Zeit exorzieren.

Genauso mit einem unguten Bauchgefühl ging ich beim 35mm-Kino in die Vorstellung von APOCALYPSE NOW am 4. März, als Corona nun doch auch in Europa ein Thema wurde. Präsentiert wurde der Film in einem unerwarteten Double-Feature: eine bulgarische Kurzdokumentation aus den 1970er Jahren mit dem deutschen Titel DAS KÄNGURU lief als Vorfilm. APOCALYPSE NOW, den ich schon in einer der ursprünglichen Kinofassungen und in der Redux-Fassung kannte, erwies sich für mich bei dieser erneuten Sichtung interessanterweise als verkappte absurde, schwarze Komödie: die ersten zwei Drittel sind von einem finsteren, fiesen, galligen, verzweifelten Humor durchzogen. APOCALYPSE NOW war dann auch der letzte Film, den ich im Frühjahr 2020 im Kino sah, bevor die Kinos für über drei Monate dicht machten.

Im Spätsommer, als Kino für kurze Zeit wieder möglich war, dann noch mal zwei grandiose Höhepunkte, mit Eloy de la Iglesias LA SEMANA DEL ASESINO, der auf der großen Leinwand und auf 35mm noch mal eine Wucht und Intensität in ganz anderen Dimensionen entfaltete; sowie Carpenters ASSAULT ON PRECINCT 13.




Private Retrospektive Sam Firstenberg


Meine intensive Beschäftigung mit Sam Firstenberg zwischen April und Juli gehörte ebenfalls zu meinen großen filmischen Höhepunkten des Jahres. Über die Entstehung dieser Liebe zu Firstenbergs Filmen habe ich hier schon geschrieben. Ich belasse es hier erst mal bei einer Liste der gesehenen Filme nach Präferenz und dem Hinweis, dass noch weitere Besprechungen von Filmen Firstenbergs folgen werden:


Crème de la crème:

NINJA III: THE DOMINATION (1984)

REVENGE OF THE NINJA (1983)

BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO (1984)

AMERICAN NINJA (1985)


Grand film malade:

RIVERBEND (1989)


Herausragend: 

MOTEL BLUE (1997)

AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION (1987)

AVENGING FORCE (1986)


Sehr gut:

THE INTERPLANETARY SURPLUS MALE AND AMAZON WOMEN OF OUTER SPACE (2003) [Hinweis: sehr verstrahlt]

THE ALTERNATE (2000)

SIMPATYA BISHVIEL KELEV (1979)

AMERICAN SAMURAI (1992)


Sehenswert mit deutlichen Abstrichen:

QUICKSAND (2002)

OPERATION DELTA FORCE (1997)


Eine bizarre und außergewöhnliche Erfahrung (suspension of classic film standard expectations strongly recommended):

MCCINSEY'S ISLAND (1998)


Für detailverliebte Firstenberg-Komplettisten:

TROPICAL HEAT: "Double Fault" (1992)

TROPICAL HEAT: "Frame Up"(1992)

TROPICAL HEAT: "Going To The Dogs"(1992)


Für fortgeschrittene Firstenberg'ianer:

CYBORG COP (1993)

CYBORG COP II (1994)


Für professionelle Firstenberg'ianer:

SPIDERS II: BREEDING GROUND (2001)

BLOOD WARRIORS (1993)



... und leider noch nicht gesehen:

ONE MORE CHANCE (1981)

NESHIKA BAMETZACH (1990)

DELTA FORCE 3: THE KILLING GAME (1991)

TROPICAL HEAT: "Deadly Switch" (1992)

TROPICAL HEAT: "Over My Dead Body" (1992)



Kino- und Filmjahr 2020


Und das aktuelle Filmgeschehen? Nun... Nicht viel gesehen, aber hier die Höhepunkte:


MALLE (Johannes Lehnen: Deutschland 2020)

– gesehen beim Hofbauer-Kongress im Nürnberger KommKino

Johannes Lehnen, Bekannter eines Hofbauer-Kommandanten, hielt zwischen 2015 und 2018 Szenen aus seinen jährlichen Aufenthalten in Mallorca mit seiner Digitalkamera (oder sogar Handykamera?) fest. Geplant war ursprünglich ein Spielfilm mit seinen Co-Urlaubern als Protagonisten (einige Szenen davon sind im Film noch enthalten), doch die exzessive Partykultur für größtenteils deutsche Touristen lieferte dann doch genug interessantes Material. Was in den ersten Minuten wie ein verwackeltes Urlaubsvideo aussieht, entwickelte in seinen knapp 70 bis 80 Minuten einen zunehmenden Sog: ein voyeuristisches, aus der Position eines stillen Beobachters gefilmtes, teilweise geradezu obsessives, in seiner Dokumentation der Exzesse gnadenloses und dennoch auch immer zärtliches Kaleidoskop einer enthemmten Party-, Trink- (und Drogen-)gemeinschaft.

Besonders in Erinnerung geblieben: drei hart verkaterte Männer, die in einem Schnellimbiss früh morgens gefrühstückt haben, dann sehr, sehr, sehr, sehr mühsam aufstehen (wobei die zwei verhältnismäßig fittesten den dritten, wirklich kaputten stützen müssen) und langsam, über Hunderte Meter hinweg zum Strand torkeln. Eine viele Minuten andauernde Szene in einer einzigen Plansequenz, die schließlich endet, als die Männer am Stand ankommen: die Kamera wendet sich dann ab, lässt die drei Männer ihrem Schicksal und begibt sich auf die Suche nach etwas Neuem.

Oder eine Obersicht auf die Tanzfläche eines Lokals, wahrscheinlich gefilmt von einer Empore: zu sehen ein tanzendes Paar mit einer Frau, die offensichtlich erotisches Interesse signalisiert und einem Mann, der nur Interesse für sein Getränk hat, schließlich irgendwann völlig fertig auf den Boden herunterschlafft und sich dann einen Schuh auszieht (Verzicht als wichtiges Motiv des Films, so Hofbauer-Kommandant Andi nach dem Film: Männer, die lieber trinken, als eine erotische Begegnung zu riskieren).

Oder der völlig regungslos im Gang des Hotels liegende Mann: in einer statischen Einstellung gefilmt; nach einiger Zeit Angst, was denn nun mit dem Mann los ist; und schließlich bricht das Schnarchen los, und durch die echolastige Akustik des Hotelgangs verwandelt sich das Schnarchen in eine geradezu kunstvolle Kakophonie.

Oder der lange lange Gang der kleinen Urlaubsgemeinschaft durch größtenteils leere Straßen zwischen dem Hotel und der Partymeile. Und unvergesslich: die Neon-Lichter der Partymeile, darunter ein Lokal namens "Die Partyfabrik" (original deutsch im Text) – wäre der wahrscheinlich ideale Alternativtitel.

MALLE gehörte zu den Höhepunkten des Hofbauer-Kongresses. Sein Blick ist wie gesagt gnadenlos, unsentimental, und trotzdem auch nie moralisch überheblich, verurteilend oder denunziatorisch. Der Film zeigt, sagt aber nicht, wie man sich zum Geschehen positionieren soll (MALLE ist zudem auch weitestgehend dialogfrei: Wortfetzen sind zu hören, aber die Geräuschkulisse der Straßen, der Musik, der Meereswellen dominieren die Tonebene): vielleicht neben der ultrarohen Ästhetik ein Grund, warum dieser Film offenbar noch nicht richtig in Kinos lief? Denn eines ist sicher: die große Leinwand hat er auf jeden Fall verdient!


UNHINGED (Derrick Borte: USA 2020)

– gesehen im Kino am Markt, Jena

Tatsächlich der einzige aktuelle Film, den ich dieses Jahr in einer regulären Kinoauswertung gesehen habe. Eine knallharte, fiese Exploitation-Granate: UNHINGED nimmt keine Gefangenen; er schießt zuerst und stellt erst später Fragen. Beginnend mit dem Prolog, in dem Russell Crowe an einem dunklen, regnerischen Abend in ein Haus eindringt, ein Paar ermordet und das Haus in Brand setzt; über die opening credits, in dem News-Reporter über steigende Kriminalität berichten und der Eindruck einer entsicherten Granate durch die fragmentierten, zersplitterten News-Bilder gestützt wird; bis schließlich zur Konfrontation zwischen dem Amokläufer und der jungen Mutter, die eben ihren Job verloren hat und ihren künftigen Peiniger bei einem kleinen Hänger im Straßenverkehr angeschnauzt hat... Der physische, im wörtlichen Sinne körperliche Dreh- und Angelpunkt des Films ist natürlich Russell Crowe als fetter, schnaufender, grunzender, schwitzender, manischer, völlig gewaltenthemmter und dabei doch eiskalt berechnend vorgehender Amokläufer.


EIN CALLGIRL FÜR GEISTER (Klaus Lemke: Deutschland 2020)

– gesehen in der Mediathek eines staatlichen Fernsehsenders

80 Jahre geworden – und dann einen frischen, luftigen, lockeren, unbekümmerten, verspielten, plotbefreiten und witzigen Film gedreht, den man vielleicht eher von einem 25-Jährigen erwarten würde. Es geht um einen Schriftsteller, der das Cover seines künftigen Buches in Buchhandlungen an echten Büchern ausprobiert. Um eine mögliche Serienkillerin in Venedig und einem Inspektor aus Italien, der dann in München den Fall untersucht. Ein abgehalfterter Popstar soll ein Comeback haben. Dazwischen geht es mal ins Kino (mit ausgedehnten Ausschnitten aus Lemkes LIEBE SO SCHÖN WIE DIE LIEBE) oder auf eine schicke Feier, wo auch ein Handtaschendieb unterwegs ist. Lemke wandert ab und zu auch mal durch das Bild... Ein kleiner, frischer Sommernachtstraum von einem Film.


COLOR OUT OF SPACE (Richard Stanley: USA/Portugal 2019)

– gesehen auf DVD

Der erste abendfüllende Spielfilm Richard Stanleys nach 27 Jahren: das ist schon ein freudiges Ereignis (wenn man sein Meisterwerk HARDWARE kennt). Ganz so ein tolles Meisterwerk war COLOR OUT OF SPACE nicht, und ich muss sagen, dass ich weit über eine Stunde gebraucht habe, um in den Film reinzukommen. Am Ende steht dennoch ein sehr außergewöhnlicher Film über die Hölle des Familienlebens, mit einem ganz grandios aufspielenden Nicolas Cage und vielen gelungenen, bizarr-surreal-grotesken Bildern.



Nachgeholt von 2019

ONCE UPON A TIME ...IN HOLLYWOOD (Quentin Tarantino: USA/UK/China 2019)

Wahrscheinlich nicht Tarantinos bester Film (ich bleibe bei DEATH PROOF), aber tatsächlich sein luftigster und freister. Zweieinhalb Stunden dauern die meisten seiner Filme, weil er immer wieder den Plot "anhält", um seinen Figuren Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, doch diese Entfaltungsmöglichkeiten waren immer gehemmt in einem Korsett von "Tarantino'ismen", plotbefreit, aber doch sehr eng gescripted. In ONCE UPON A TIME ...IN HOLLYWOOD fällt das immer wieder über lange Strecken weg, und aus Tarantino-Figuren werden tatsächlich echte Charaktere. Und die Plotbefreiung wird tatsächlich zu einem Ausloten von Zeit, die vergeht, zu einem Auskosten kleiner Momente, zu einem Raum für unverbindliche Plaudereien. Der schönste Moment war für mich dann auch das Gespräch zwischen dem verkaterten und verzweifelten Rick Dalton und der neunmalklugen Kinderdarstellerin Trudi auf dem TV-Western-Set, und die kleine Shopping-Tour Sharon Tates, die schließlich in einem Kinobesuch endet, wo sie sich enorm über die Reaktion des Publikums auf ihren Film freut.



Die besten, nicht-aktuellen Erstsichtungen



1

LA SINDROME DI STENDHAL (Dario Argento: Italien 1996)

aka Dario Argentos MARNIE

In den ersten sieben Minuten gelingt es Argento, das Stendhal-Syndrom nicht zu erklären, sondern den Zuschauer selbst durchleiden zu lassen, zusammen mit der Protagonistin Anna Manni (Asia Argento) beim Besuch der Uffizien in Florenz einen Zustand von Schwindel, Verwirrung, Sinnestäuschungen zu durchstehen. Der Film durchbricht nicht inhaltlich, aber formal die Vierte Wand, weil jegliche Grenze zwischen Anna und dem Zuschauer aufgelöst wird. Der Zuschauer, der sich auf LA SINDROME DI STENDHAL einlässt, wird in den folgenden zwei Stunden Annas Reise in den Wahnsinn miterleben und mitlieiden. Der Film enthält auch ein weiteres Meisterwerk von Maestro Ennio Morricone: ein täuschend simples Motiv, das unaufhörlich im Kreis dreht und den Zuschauer in den Strudel von Annas Passionsgeschichte unerbittlich hineinzieht.

LA SINDROME DI STENDHAL hat mich emotional völlig gerädert und stundenlang den Tränen nahe zurückgelassen. Er ist wohl nicht Argentos bester Film (diese Auszeichnung behält nach meinem bisherigen Sichtungsstand PROFONDO ROSSO), aber sein schönster, emotionalster, leidenschaftlichster, obsessivster. Als "mangelhaftes" und gerne verlachtes Spätwerk eines großen Regisseurs über die Kämpfe einer einsamen Frau gegen männliche Gewaltstrukturen und ihre inneren Dämonen hat er mich stark an Hitchcocks MARNIE erinnert (für mich Hitchcocks zwar nicht bester, aber schönster Film).

Als weitere Lektüre empfehle ich Robert Zions Artikel zu dem Film.



2

DOMINO (Ivana Massetti: Italien 1988)

Eine unklassifizierbare Mischung aus Science-Fiction, Sexfilm, Stalker-Thriller, Cyber-Punk-Noir, Experimentalfilm, Essay über die Möglichkeiten eines Billie-Holiday-Biopics und Brigitte-Nielsen-Fetisch-Film (wobei im Grunde praktisch alles in diesem Film ein Fetisch ist). Gesehen beim Hofbauer-Kongress, und nun tatsächlich der Film dieser wunderbaren Veranstaltung, der zumindest in Sichtweite unfassbaren DER ZWEITE FRÜHLING spielt. Einige Ankerpunkte mehr gibt es hier in Roberts Sehtagebuch bei den Eskalierenden Träumern (einfach in den Einträgen zum 11.01 suchen).



3

MONELLA (Tinto Brass: Italien 1998)

Die junge Lola verdreht allen Männern (und einigen Frauen) im Dorf den Kopf (sogar die Seminaristen riechen im Verborgenen an ihrem Fahrradsattel), doch eigentlich will sie nur einen haben: ihren Verlobten, den Bäckerlehrling Masetto. Den will sie aber auch sofort haben, doch der wehrt sich, Jungfräulichkeit bis zur Ehe und so (also: für die Frau – einen schönen Puffbesuch wird er sich doch gönnen können!). Also heißt es für Lola, tief in der Trickkiste zu wühlen und vielleicht das eine oder andere von ihrem libertinären Stiefvater zu lernen, damit Masetto zum Akt überzeugt wird.

Eine wunderschöne, sonnendurchflutete, manchmal mit einem kleinen Schauer abgekühlte, dann mit heißen Rock'n'Roll-Beats wieder auf Hochtouren gebrachte, lustvolle und hedonistische Sommerkomödie. Gefilmt in anbetungswürdig schönen, rauchigen, sanften Bildern



4

COSA AVETE FATTO A SOLANGE? (Massimo Dallamano: Italien/BRD/UK 1972)

Ein ganz großer Giallo. Mit seiner Geschichte um Internatsschülerinnen, die von einem Killer ermordet werden, der ihnen Dolche und Sicheln zwischen die Beine rammt zweifelsohne exploitativ bis zum Anschlag – und dennoch ist es zugleich ein einfühlsamer, poetischer und wie Dallamanos späterer LA POLIZIA CHIEDE AIUTO ein zutiefst melancholischer, trauriger, verzweifelter Film. Kameramann Aristide Massaccesi (als Regisseur später unter dem Namen Joe D'Amato bekannt) erschafft unvergessliche Bilder von beängstigender Schönheit und Poesie: Elizabeth, die den Hörer am Ohr versunken ihrer Lieblingsplatte zuhört, die ihr Liebhaber über das Telefon vorspielt; die völlig verstörte Titelheldin, die auf dem Karussellpferd reitet; das im Gras zurückgebliebene Kätzchen eines Mordopfers. Musikalisch ist das alles von einer der Großtaten Ennio Morricones begleitet, der zwischen herzzerreissender Ballade und harten Dissonanzen alterniert.

Aufgrund einer technischen Panne bei meiner Heimvideo-Edition des Films musste ich bei der Erstsichtung den Film etwa 25 Minuten vor Ende abbrechen. Nach einem unkompliziertem Umtausch mit dem britischen Label "musste" ich zwecks Qualitätskontrolle den Film natürlich noch mal schauen, also knapp drei Wochen später. Der Film offenbarte bei der Zweitsichtung noch mehr seine Schönheiten.



5

LA MAISON DES BOIS (Maurice Pialat: Frankreich 1971)

Ein ausladendes und doch intimes Panorama des französischen Landlebens im Ersten Weltkrieg. Größtenteils völlig plotbefreit und komplett nur in kleinen Augenblicken schwelgend: der Ministrant, der voller anerkennender Worte genüsslich vom Messwein kostet; das Familienbad im Garten; träges Herumliegen nach dem großen Picknick.



6

LA DRÔLESSE (Jacques Doillon: Frankreich 1979)

Ein junger Mann entführt ein Mädchen und hält sie in seinem Zimmer, einem umrangierten Heuschober im elterlichen Bauernhof, gefangen. Was er zunächst dem Mädchen als Spiel vorgaukelt, entwickelt nach und nach zu einer Art Freundschaft und Liebe zwischen zwei Außenseitern... LA DRÔLESSE ist trotz allem ein Film von großer Zärtlichkeit, Einfühlsamkeit, Poesie und Menschlichkeit – gerade weil die latente Bedrohlichkeit und Abgründigkeit der Grundsituation nie aufgelöst wird. Zwei junge Außenseiter bauen in einem falschen Leben, in dem sie verachtet werden, ein "richtiges Leben" auf. Eine Art fragile Utopie, die jederzeit kippen kann. Ein unglaublicher, schwieriger und dann irgendwie auch nicht schwieriger Film, der mich völlig fassungslos zurückgelassen hat.



7

PARADISE LAGOON aka THE ADMIRABLE CRICHTON (Lewis Gilbert: UK/USA 1957)

Das englische Klassensystem von den Füßen auf den Kopf gestellt, oder: Auf der Südseeinsel hört dich niemand nach deinem Butler klingeln! Nach einem Schiffbruch muss sich eine Urlaubexpedition englischer Adeliger auf einer einsamen Südseeinsel neu organisieren – und aufgrund seines unermüdlichen, durch nichts zu erschütternden Organisationstalents wird der Butler zum Gouverneur. Eine gute Gelegenheit, um klassenübergreifenden Gelüsten freien Lauf zu lassen (während die Lady sich nach dem Butler sehnt, werfen die noblen Herren ein Auge auf die Kammerzofe). Und vielleicht sogar eine gelebte Utopie? So unglaublich vergnügt diese heitere Komödie ist, so enthält sie doch das für mich tragischste Bild des Jahres neben dem Zusammenbruch Annas: der Gouverneur beendet seine eigene Hochzeit und die ganze Utopie – und tritt den Rettern der Inselgesellschaft wieder als Butler entgegen.



8

BIJOU (Wakefield Poole: USA 1972)

BIJOU als CITIZEN KANE des Schwulenpornos zu bezeichnen, führt wohl ein bisschen auf eine falsche Fährte, da der Film über weite Strecken ein reines Kammerspiel ist: ein Mann, der in einem exklusiven Club bzw. möglicherweise in seinem eigenen Unterbewusstsein stellvertretend in die Fantasien einer verunglückten Frau einspringt. Vielleicht wäre ein Vergleich mit der Stargate-Sequenz aus 2001: A SPACE ODYSSEY angebrachter: BIJOU ist ein psychedelischer Trip, nicht durch das Weltall, sondern durch erotische Fantasien. (Nur die aufwendige Orchestermusik, die stets organisch aus den Bildern zu erwachsen scheint, kann ich mangels Credits nicht zuordnen: Eigenkomposition oder unbekanntes klassisches Stück?)



9

PHASE IV (Saul Bass: USA/UK 1974)

Speaking of Stargate-like trippy sequences... Ein großartiger ökologischer Horrorfilm. So verblüffend geradlinig (im Grunde ein 3-Figuren-Kammerspiel – oder wenn man möchte ein 25-Millionen-Kammerspiel). So furchterregend: keine Riesenameisen, sondern ein analytischer Blick auf die Funktionsweisen der Ameisenkolonien – oder nur das Zeigen ihrer Arbeitsergebnisse.


10

SPITI STOUS VRAHOUS (George Zervoulakos: Griechenland 1974)

Sonne, Strand und Zweisamkeit am Ägäischen Meer. Ein junger Mann zu Besuch beim Ferienhäuschen seines Vaters, wo seine Stiefmutter bis zur Ankunft ihres Mannes alleine wohnt, arbeitet und in Sachen Archäologie forscht. Nach einer Phase der Distanziertheit die Annäherung, dann eine wilde, leidenschaftliche Liebe. Eine Utopie grenzenloser Liebe, die etwa bis zum letzten Drittel anhält, wenn Rivalinnen und die kapitalistische Zerstörungswut des Vaters reinfunken. Umwerfend schön und sinnlich.



11

UN HOMME À ABATTRE (Philippe Condroyer: Frankreich/Spanien 1967)

Ein privates Todeskommando jagt in einer ungenannten, spanischsprachigen Stadt einen ehemaligen KZ-Lagerkommandanten. Ich zitiere aus einer meiner eigenen Rezensionen: "Nicht der explosive Actionfilm, den Titel und Cover versprechen – HETZJAGD ist vielmehr ein ebenso ruhiger wie nervenzerfetzender Thriller erster Güte. Mehr als ein echter Polit-Thriller ist er vor allem ein Blick in menschliche Abgründe: die Nazi-Jäger sind rastlose Getriebene, die von ihren eigenen Obsessionen nach und nach gefressen werden, der eine (der Chef der Operation und ehemaliges Opfer des Gejagten) zur Verdrängung neigend, die anderen (unbeteiligte Söldner) sichtlich gewaltgetrieben – und voyeuristisch. Ein großer Teil von HETZJAGD besteht tatsächlich daraus, dass einige Männer unbeobachtet das Leben eines anderen akribisch anschauen, beobachten, auflauern, fotografieren, filmen, begutachten, aufzeichnen. Und damit auch ein alternatives Leben, das sie haben könnten, verdrängen – eine kleine Spur Menschlichkeit schleicht sich ein, als Nils (Jean-Louis Trintignant) eine Frau kontaktiert, die in der Nachbarschaft Schmidts wohnt, und die er ab und zu aus Muße beobachtet. Ein seltener Nebenpfad in einem ultraminimalistischen, knochentrockenen und sehr geradlinigen Film, der in einer besseren Welt wesentlich bekannter wäre."


12

THE HOTEL NEW HAMPSHIRE (Tony Richardson: UK/Kanada/USA 1984)

Eine absolute Wundertüte von einem Film entfaltete sich, nachdem ich ihn ohne jegliche Vorkenntnis in einer Fernseh-Mediathek aufgrund des bekannten Regisseurs startete: Neuengland-Nostalgie, Hotelfilm über zwei Kontinente und zwei Welten, Teenager-Lust, lustvolle Geschwisterliebe im schmerzhaften Verzicht, zärtliche Geschwisterliebe, aus dem Nichts hineinstürzende Highschool-Gang-Rapes, asketische Wienerische Terroristen, die Entstehung eines Romans, eine bittersüße Rachegeschichte, das Auslöschen der lustvollen Geschwisterliebe in einem ausgedehnten Sex-Marathon, Lachen, Weinen, Verwirrung, Trauer.



13

L'ETRUSCO UCCIDE ANCORA (Armando Crispino: Italien/BRD/Jugoslawien 1972)

Durch den deutschen Titel ("Das Geheimnis des gelben Grabes") habe ich – warum auch immer einen Abenteuerfilm erwartet, allenfalls einen Gothic-Horror-Film... Und wurde auf falschem Fuß angenehm von einem meisterlichen Giallo überrascht, der den Vergleich mit den großen Argentos, Bavas, Fulcis und Dallamanos nicht zu scheuen braucht. Vorzüglich fotografiert (Erico Menczer) und musikalisch begleitet (Riz Ortolani) glänzt der Film vor allem auch mit seinem unzuverlässigen Hobby-Ermittler-Protagonisten: ein schwer alkoholsüchtiger Archäologe, der betrunken zu erratischem Verhalten und heftigen Gewaltausbrüchen neigt, der die Liebe seines Lebens einmal fast ermordet hat, zu harten Filmrissen und großen Gedächtnislücken neigt – und potentiell vergessen hat, dass er selbst der Mörder sein könnte.



14

NOMADS (John McTiernan: USA 1986)

John McTiernans Debutfilm, inszeniert mit der Meisterschaft und Sicherheit als ob hier ein Altmeister mit 30 Jahren Erfahrung am Werk war: ein Anthropologe (Pierce Brosnan) verfolgt in Los Angeles eine Straßengang in dem Verdacht, dass sie vielleicht Dämonen in Menschengestalt sind. Ein übernatürlich angehauchter Thriller, der den Zuschauer in Unsicherheit stehen lässt mit seinen Andeutungen und seinen Perspektivbrüchen (wir erleben größtenteils den point of view einer Ärztin, die zwischendurch im Geist des Anthropologen steckt).



15

ACH JODEL MIR NOCH EINEN: STOSSTRUPP VENUS BLÄST ZUM ANGRIFF (Georg Tressler: BRD/Österreich 1974)

Amazonen from outer space landen in Bayern, um dort zwecks Reproduktion Samen zu tanken und merken rasch, dass die natürliche Extraktion in freier Wildbahn mehr Spaß macht als die Extraktion unter kontrollierten Laborbedingungen. Beim geneigten Zuschauer extrahiert diese herrliche Sexklamotte unkontrolliertes Lachen mit Tendenz zu lautem Wiehern und spontanen Freudensprüngen.


16

NEW YORK CITY INFERNO (Jacques Scandelari: Frankreich 1978)

Jacques Scandelari, ehemaliger Werbefilmer für Haute-Couture-Label, folgt einem Franzosen, der in New York seinen verschwundenen Liebhaber sucht und sich durch das Gay New York forscht. Der rohe dokumentarische Look hat etwas von cinema verité mit stark experimentellem Einschlag, die Tonspur wird mit Originalsongs der Village People bereichert. NEW YORK CITY INFERNO ist auch ein großartiger New-York-Film, der eine dreckige, hektische, ungeordnete, wilde und gefährliche Stadt zeigt, mit semi-dokumentarischen Impressionen des Meatpacking District und von Greenwich Village: auch als Nicht-Einheimischer zeigt sich Scandelari als geistiger Verwandter Scorseses, Lumets und Friedkins (letzterer hat den Film in Vorbereitung auf CRUISING garantiert gesehen).



17

DER FAHNDER: "Bis ans Ende der Nacht" (Dominik Graf: Deutschland 1992)

Ich zitiere mal aus der Rezension, die ich zur DVD-Box der 4. Staffel von DER FAHNDER geschrieben habe: "Schmieriger Puff, explodierende Hosen, Machtmänner, die sich genüsslich auspeitschen und unwissentlich dabei beobachten lassen, wilde Stroboskop-Parties, ein permanenter 16mm-Filmkorn-Schleier aus dichtem Nebel und Rauch, eine Polizeistation am Rande des Nervenzusammenbruchs – alles explodiert dann in einer überhitzten Geiselnahme im Präsidium, täuschende Ruhe kehrt ein, während die Nerven in einem Dreipersonenkammerspiel zerfetzt werden. Wenn man, nachdem alle Gewissheiten und ein Teil des Inventars niedergebrannt worden sind, mit schlotternden Knien, zitternden Händen und einer Angstschweißpfütze zu den Füßen wieder in das Morgengrauen entlassen wird, hat man ein unvergessliches Stück deutscher Fernsehgeschichte erlebt."



18

MARIA'S LOVERS (Andrei Konchalovsky: USA/Israel 1984)

Ein "Kollateral-Fang" meiner Beschäftigung mit Sam Firstenberg und Cannon. Die Geschichte um einen Weltkriegsveteranen (John Savage), der die Ehe mit seiner großen Jugendliebe (Nastassja Kinski) nicht vollziehen kann (bei Folterungen im japanischen Kriegsgefangenenlager dachte er, um die Qualen durchzustehen, an sie; jetzt erinnert er sich an die Folterungen, wenn er mit seiner Frau im Bett liegt), war Konchalovskys erster US-amerikanischer Spielfilm und erste Cannon-Produktion. Der Film scheint im Schatten seines berühmteren RUNAWAY TRAIN zu stehen, zu Unrecht, denn MARIA'S LOVERS ist fantastisch fotografiert und gespielt (zu sehen sind auch ein gealterter Robert Mitchum, ein frecher Keith Carradine und ein junger John Goodman), humanistisch, mit Feingespür für große Tragik und kleine Heiterkeiten, für flüchtige Erregung und andauernde Entfremdung. Toll!



19

BREAKIN' (Joel Silberg: USA 1984)

Noch ein "Kollateral-Fang" meiner Beschäftigung mit Sam Firstenberg und Cannon: Pflichtprogramm, wenn man Firstenbergs Sequel gesehen hat. Auch dieser Film ein Beweis für die Vielfalt von Cannon und für die hohe Qualität, die Golans und Globus' Produktionfirma erreichen konnte. Ein Augenschmaus von einem Film, dies- und jenseits der Musicalnummern. Ein großartiger Charakterfilm, bei dem man nicht anders kann, als permanent mit Kelly, Turbo und Ozone zu fiebern, zu lachen, zu tanzen, zu weinen. Ein kleiner Höhepunkt ist natürlich unter anderem der Besentanz Turbos.

Trauriger Nachtrag: Adolfo Quiñones alias Shabba Doo, der Ozone gespielt hat, ist am 30. Dezember 2020 verstorben.



20

"Ears, Eyes and Throats: Restored Classic and Lost Punk Films 1976-1981"

Hierbei handelt es sich nicht um einen Film, sondern um eine kuratierte Auswahl von Kurzfilmen:

• DEAF/PUNK (Richard Gaikowski: USA 1979)

• IN THE BEGINNING WAS THE END: THE TRUTH ABOUT DE-EVOLUTION (Chuck Statler: USA 1976) 

• THE RESIDENTS: THIRD REICH ‘N’ ROLL (Graeme Whifler: USA 1976)

• THE RESIDENTS: HELLO, SKINNY / ONE MINUTE MOVIES (Graeme Whifler: USA 1980)

• MX-80 SOUND: WHY ARE WE HERE? (Graeme Whifler: USA 1980) 

• RENALDO AND THE LOAF: SONGS FOR SWINGING LARVAE (Graeme Whifler: USA 1981) 

• IN THE RED (Liz Keim / Karen Merchant: USA 1978) 

• MOODY TEENAGER (Richard Gaikowski: USA 1980)

• DEBT BEGINS AT 20 (Stephanie Beroes: USA 1980)

Hintereinander gesehen eines der wahrscheinlich schönsten Kurzfilmprogramme, die man sich vorstellen kann. Konzise kuratiert und doch vielfältig: von einer Dokumentation über die Symbiose zwischen Punkrock und einem Gehörlosen-Club über surreale Musikclips bis hin zu einem Stück cinéma vérité à la punk, das von einem romantischen (gespielten?) Subplot aufgelockert wird. Zu sehen hier bei byNWR.


ZÉRO DE CONDUITE (Jean Vigo: Frankreich 1933)

Wieviel Truffaut für LES 400 COUPS hier abgekupfert hat! Und tatsächlich: der Film nimmt um 25 Jahre die "nouvelle vague" vorweg. Wahnsinn! Die Kissenschlacht... die Kissenschlacht!



AFRICA ADDIO (Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi: Italien 1966)

Eine der zwiespältigsten, schwierigsten, denkwürdigsten Filmerfahrungen des Jahres. Meine Erfahrungen mit Mondo-Filmen waren bislang sehr beschränkt (SVEZIA INFERNO E PARADISO von Luigi Scattini, eine interessante, wenn auch eher negative Erfahrung, und Sergio Martinos AMERICA COSÌ NUDA COSÌ VIOLENTA, auch interessant, aber eher negativ). AFRICA ADDIO hat viele Gemeinsamkeiten mit diesen Filmen, doch die Unterschiede sind meiner Meinung nach ausschlaggebend: Jacopettis und Prosperis Film ist zum einen wesentlich besser und schöner fotografiert, weitaus mehr über Bilder als über den Off-Kommentar erzählt, visuell schlichtweg faszinierender. Und er hat vor allem ein breiteres emotionales Spektrum. SVEZIA INFERNO E PARADISO und AMERICA COSÌ NUDA COSÌ VIOLENTA kennen nur Häme, Schadenfreude, Überheblichkeit und eine garstige Verbindung von Puritanismus und Bildzeitungs-Voyeurismus. AFRICA ADDIO nutzt das alles bisweilen auch, keine Frage, aber er kennt auch Gefühle wie Trauer: die vom Helikopter aufgenommenen Bilder ermordeter Araber während der Sansibar-Revolution sind natürlich auch problematisch (gelten allerdings als einzige visuelle Zeugnisse der Massaker), doch sie vermitteln vor allem Trauer und Fassungslosigkeit. Auch Introspektion ist in zahlreichen, nicht-erzählenden "Übergangsbildern" zu spüren. Überhaupt längere Einstellungen mit mehr Luft. Dann die Bilder vom Trampolin-Springen und Musizieren und Tanzen am südafrikanischen Strand: ungehemmte, ungetrübte Lebensfreude – ein fast surrealer Moment in einem Film, der hauptsächlich von Gewalt handelt. Und immer wieder in italienischen Filmen: diese völlig unfassbare Musik – hier der möglicherweise großartigste Disney-Score, den Disney nie genutzt hat, ein herzzerreissender Schmachtfetzen von Riz Ortolani.


THE PRODUCERS (Susan Stroman: USA 2005)

Auch wenn es mir leid tut: aber Stromans Remake gefällt mir so viel besser als Mel Brooks' Original. Es war allerdings trotzdem ein schwieriger Film für mich: schwierig, nicht 150 Mal vor Lachen, Freude, Jubilieren, Verwunderung, Fassungslosigkeit vom Stuhl zu fallen. Den Gnadenschuss hat mir fast Uma Thurman als Ulla gegeben: so sehr ich sie bislang ganz gerne mochte (bekannt hauptsächlich aus Tarantino-Zusammenhängen) – aber hier beweist sie sich in der Königsdisziplin der Komödie als wahrlich große Schauspielerin.


ADAM & YVES (Peter De Rome: USA 1974)

Zwei Männer, ein Amerikaner und ein Franzose, begegnen sich in Paris und beginnen eine anonyme Liebesaffäre, bei der sie sich ihre Namen nicht verraten, sich dafür aber ihre Erinnerungen und Fantasien teils philosophisch, teils poetisch, teils popkulturell, meistens auf jeden Fall erotisch erzählen. Jean Cocteau und Greta Garbo, Pariser Impressionen und New Yorker Nostalgie, griechische Mythologie und amerikanische Blaxploitation geben sich die Klinke in die Hand, jede weitere Episode begleitet von einem eigens komponierten Score von Kammermusik über großes Orchester bis zum ausgedehnten Blues-Jam (die Credits gehen an David Earnest*) – und dazwischen Flanieren durch Paris. Gesehen beim Hofbauer-Kongress im Januar, später noch mal bei der Hand-in-Hand-Retrospektive im September.

*Musik war sowieso ein zentraler Bestandteil der Hand-in-Hand-Filme: ein großer Teil Eigenkompositionen, die der Komponist in Zusammenarbeit mit dem Cutter entwickelte



LES VAMPIRES (Louis Feuillade: Frankreich 1915-16)

Ich erwähnte vorhin 1933 als Geburtsjahr der "nouvelle vague" mit ZÉRO DE CONDUITE. Vielleicht ist das immer noch zu spät gesetzt und 1915 passt doch besser. Als großer Rivette-Fan sehe ich die allumfassende Verschwörung in Paris, die labyrinthartige Parallel-Stadt in der Unterwelt, das Kartographieren der Stadt in Einheiten der Verschwörungsgeschichte: es weht sehr viel vom Geist von LES VAMPIRES in PARIS NOUS APPARTIENT, OUT 1, CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU und LE PONT DU NORD. Und natürlich ist da Godards, später Rivettes Stammschauspielerin Anne Jamet, die sich Juliet Berto nannte, um in OUT 1 und CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU tatsächlich in Irma Veps Fußstapfen zu treten (Irma Vep, die eine ihrer Figuren Juliette Berteaux nannte).

Und LES VAMPIRES ist natürlich auch eine absolute Gaudi (während Feuillades FANTÔMAS mich ziemlich gelangweilt hat und auf Dauer eher zur Pflichtsichtung wurde): die unerschöpfliche Fantasie in Sachen Genre-Schmankerln (vom vergifteten Handschuh über die Zylinderhut-Bombe bis zur elektrisch-lautlosen Kanone), die wunderschöne, verführerische und wandlungsfähige Musidora, der verspielte Marcel Lévesque als Sidekick Mazamette (der immer wieder die vierte Wand bricht und dem Publikum belustigt zuzwinkert). Die Cinemathèque Française hat den Serial tagweise veröffentlicht: die ersten fünf Episoden habe ich gleich am Stück verschlungen. Danach musste ich brav warten – sonst hätte ich wohl tatsächlich bis drei Uhr morgens durchgeguckt.



LE MEURTRIER (Claude Autant-Lara: Frankreich/BRD/Italien 1963)

Wenn Hitchcock NORTH BY NORTHWEST in Südfrankreich gedreht hätte, wäre wohl so etwas wie LE MEURTRIER rausgekommen. Die Geschichte von überkreuzter Schuld und übertragener Schuld wird in wunderbar knackigen, kontrastreichen und tiefenscharfen Cinemascope-Bildern erzählt und von einem modernistisch-dissonanten Piano-Score Antoine Duhamels getragen. Maurice Ronet mag als Hauptdarsteller vielleicht blass wirken – oder er ist vielleicht einfach die Erdung für zwei besonders wilde Performances von Gert Fröbe (als schuldiger, rechtlich aber schon längst entlasteter Mörder mit klobigen Umgangsformen und noch klobigerer Brille) und Robert Hossein (als Polizist, der sich nach und nach als Sadist erweist, Fröbe auch mal die Brille vom Gesicht runterreisst, schallende Ohrfeigen verteilt oder sogar eine kleine Martial-Arts-Show vorführt).

Trauriger Nachtrag: Robert Hossein, der LE MEURTRIER mit seiner manischen Darstellung des sadistischen Polizisten bereichert hat, auch sonst ein toller Schauspieler und großartiger Regisseur, ist am 31. Dezember 2020 verstorben.



SILENT RAGE (Michael Miller: USA 1982)

Chuck Norris jagt einen Zombie-Serienkiller, verführt zwischendurch romantisch seine Ex-Freundin dazu, wieder seine Freundin zu sein und verteilt dazwischen ein paar Roundhouse-Kicks in einer Biker-Kneipe. Klingt erst mal blöd, ist aber tatsächlich ein großartiger, sehr präzise und effizient inszenierter Thriller. Der Text im Blog "Sauft Benzin, ihr Himmelhunde" (aus dem Dialog ist hier ein Dreiergespräch mit einem Spezialisten für Serienmörder in der Popkultur geworden) zu diesem Film ist mein allerliebster Text in diesem ohnehin tollen Projekt und eine große Lektüreempfehlung meinerseits.


DER FAN (Eckhart Schmidt: BRD 1982)

Ein Film wie ein verkitscht-süßer Schmonzetten-Traum, der sich nach und nach in einen finsteren, abgründigen Alptraum verwandelt. Aber gab es überhaupt eine klare Grenze zwischen den beiden?

Ganz zufällig sah ich DER FAN knapp eine Stunde nach Lars von Triers THE HOUSE THAT JACK BUILT: letzterer kein schlechter Film, aber ein bisschen schulbubmäßig in seinen bemühten Provokationen, wenn man ihn unmittelbar mit DER FAN vergleichen kann. Schmidts Film jedenfalls nagte wesentlich länger (pun partially intended) an mir als von Triers verblüffend schnell verpuffter Film.



NINJA III: THE DOMINATION (Sam Firstenberg: USA 1984)

Stellvertretend für Firstenbergs schönste Filme nehme ich also NINJA III: THE DOMINATION, der Film, der die nunmehr (unter anderem in Firstenbergs ebenfalls wunderschönem REVENGE OF THE NINJA) erprobte Formel des Ninja-Films mit so disparaten Elementen wie dem Exorzistenfilm, dem Poltergeistfilm und dem Disco-Tanzfilm bereichert. Die tolle Lucinda Dickey als vom Geist eines toten und rachesüchtigen Ninjas besessene phone repair woman und Aerobic-Trainerin gibt aber auch alles: tanzt ihre Schülerinnen und Schüler bei heißen Beats in Grund und Boden, verprügelt mal locker ein paar üble Typen in einem Hinterhof, keift, schreit und flucht in einer Exorzisten-Gedächtnisszene auf eine Weise, dass Linda Blair vor lauter Schreck nie wieder ein Bröckchen Erbsensuppe rauswürgen wird, mordet als dunkle femme fatale Polizisten im Hallenbad-Whirlpool, wenn sie sie nicht gerade mit Hilfe von strategisch günstig auf dem Dekolleté verteilten Tomatensaft verführt.


TRACK OF THE CAT (William A. Wellman: USA 1954)

Jonathan Rosenbaum deutete an (wenn man einen seiner Gedanken weiterspinnt) , dass TRACK OF THE CAT der beste Western sei, den Carl Theodor Dreyer nie drehte. Wellman hingegen wollte ausprobieren, wie man einen Schwarzweißfilm in Farbe drehen könnte. Herausgekommen ist auf jeden Fall ein sehr bemerkenswerter, exzentrischer Schneewestern über eine gestörte Familie am Rande des kollektiven Nervenzusammenbruchs. Dazu noch ein großartiger Robert Mitchum als de-facto-Schurke. Und diese vergebliche Jagd nach der wilden Bergkatze...



THE GUNFIGHTER (Henry King: USA 1950)

Weniger augenscheinlich exzentrisch und "arty" als TRACK OF THE CAT, aber dennoch in Rosenbaums Liste "A Dozen Eccentric Westerns". Die Geschichte eines ehemaligen Revolverhelden, der von seinem eigenen Ruf verfolgt und für ihn sogar wortwörtlich gejagt wird, erzählt als brodelndes Kammerspiel im Inneren eines Saloons. Ohne Schnickschnack und große Effekte, dafür mit einem umso direkteren emotionalen Einschlag.



MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW (Jerzy Kawalerowicz: Polen 1961)

Nunsploitation made in post-stalinist Poland! Mehr zu diesem oberflächlich ruhigen, aber unterschwellig unglaublich wilden Film hat Manfred hier schon geschrieben.



LA VISITA (Antonio Pietrangeli: Italien/Frankreich 1963)

Heutzutage würde man sagen: Tinder date gone terribly wrong. Eine Bäuerin in der tiefen Provinz (Sandra Milo) und ein Buchhändler aus Rom (François Périer) lernen sich über eine Kontaktanzeige kennen. Er besucht sie zum Kennenlernen – und rasch kommt bei viel Gelächter für den Zuschauer heraus, dass sie nicht ein rückständiges Landei ist und er keineswegs der kultivierte Städter, als der er sich sieht. Als Extra-Schmankerl gibt es Mario Adorf als "Dorftrottel" (der intuitiv sehr schnell begreift, dass der Bewerber nichts für seine liebste Schutzpatronin ist).


ITALIA A MANO ARMATA (Marino Girolami: Italien 1976)

Der poliziesco all'italiana in "Reinform" ist das italienische Subgenre, für das ich mich bislang am wenigsten begeistern kann (mehr als ein "war ganz okay" bleibt oft nicht hängen). ITALIA A MANO ARMATA hat mir hingegen die Schädeldecke fast weggesprengt: fängt bei 180 an und legt dann noch mal eine Schippe drauf, wenn Maurizio Merlis Schnurrbart erst mal richtig zornig wird.



ICH DENKE OFT AN HAWAII.... (Elfi Mikesch: BRD 1977)

Teutonische Plattenbau-Tristesse, mediterran-pazifischer Camp und persönliche Fantasien.



MANIAC (William Lustig: USA 1980)

"Trübmörder", versprach sich ein Nürnberger Kollege mal bei einem Gespräch nach einem Film beim Giallo-Filmwochenende. Ja, das Leben als Triebmörder ist trüb in diesem dreckigen, heruntergekommenen, grauen, kalten, vernebelten New York.



EXODUS (Otto Preminger: USA 1960)

In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren musste ja gefühlt jeder amerikanische Regisseur einen "Monumentalschinken" drehen, der in einem historischen Palästina spielt – EXODUS ist gewissermaßen Premingers "Monumentalschinken", gewandelt zu einem fesselnden, zeitgenössischen Polit-Thriller. Viele Lieblingsmomente. Einer von ihnen: Ari Ben Canaan, getarnt als britischer Offizier, bittet einen virulent antisemitischen echten britischen Offizier, der sich gerade gerühmt hat, Juden von weitem zu erkennen, nach einem Fremdkörper in seinem Auge nachzuschauen.



SOLDIER BLUE (Ralph Nelson: USA 1970)

Mit seinem Ruf, einer der brutalsten US-Westerns aller Zeiten zu sein, kann einen SOLDIER BLUE dann doch überraschen. Nach dem zugegeben sehr heftigen Prolog entwickelt sich der Film für gut zwei Drittel seiner Laufzeit in einen Roadmovie mit sehr starkem, kaum verschleierten Screwballkomödien-Einschlag: eine zarte Romanze zwischen einem naiven Soldaten und einer toughen, völlig illusionsbefreiten Hawksian Woman. Then tragedy strikes...


NACH DIRNDL ODER LEDERHOS GEHT'S JETZT AUF MÜNCHNER MADEL LOS (Rolf Olsen: BRD/Schweiz 1969)

Die Tochter eines Sittendezernenten bessert ihr Studiengeld in einem Lokal auf, das Papa schließen will – während der Lokalbesitzer sich als "Kosta Kokaleikas" beim Sittendezernenten als alter Schulfreund vorstellt, sanften (Erpresser)druck ausübt und seiner Frau den Kopf verdreht. Wer weiß, wie hart Rolf Olsen die Daumenschrauben filmischer Eskalation anziehen kann, ist für diese "einfältige Verwechslungskomik" (Filmdienst) vorgewarnt, wenn auch kaum vorbereitet. Eine große Komödie (in Deutschland bisher leider nur sehr klein ausgewertet).


"Fata Marta" (Antonio Pietrangeli), in: LE FATE (Luciano Salce, Mario Monicelli, Mauro Bolognini, Antonio Pietrangeli: Italien/Frankreich 1966)

Vier erotische Episoden von vier Regisseuren. In "Fata Sabina" von Salce verdreht eine Autostopperin den Autofahrern den Kopf (die Episode punktet mit einem unglaublich erotischen Moment, als einer der Autofahrer anhält, um mit seiner Verlobten zu telefonieren, ihr zärtliche Worte zuhaucht, während die Fee Sabina sich ihm immer mehr annähert). Monicellis "Fata Armenia" um eine bettelarme Betrügerin, die einen Kinderarzt um den Finger wickelt, war für mich die schwächste, zumal grobklotzigste Episode. Bologninis "Fata Elena" suggeriert fast so etwas wie eine Zeitschleifengeschichte, wenn ein Mann sich mit seiner gelangweilten Nachbarin vergnügt, nur um dann seine eigene Ehefrau zuhause gelangweilt vorzufinden – mit dem Nachbarsgatten unschuldig daneben sitzend.

Antonio Pietrangelis "Fata Marta" (sein letzter vollendeter Film vor COME, QUANDO, PERCHÈ) war dann der unbestrittene Höhepunkt: auf einer eleganten Villenfeier der Schönen und Reichen stürzt sich die Ehefrau (Capucine) eines reichen Arztes im schwer betrunkenen Zustand geradezu auf den Butler Giovanni (Alberto Sordi), um sich im Bett dann umso devoter hinzugeben ("Mach mich zu deiner Sklavin!"). Am nächsten Tag tritt Giovanni seinen neuen Job an – ausgerechnet bei Marta als neuer Arbeitgeberin. Die zeigt ihm die kalte Schulter, tut so, als wäre nie etwas gewesen... bis sie dann wieder etwas trinkt. In knapp einer halben Stunde (die längte Episode von LE FATE) entspinnt Pietrangeli eine von Klassenbewusstsein getrübte und zugleich von sadomasochistischen Spitzen gewürzte "amour fou", eine Achterbahnfahrt, ein Wechselbad von eisiger Kälte und brodelnder Hitze.


L'URLO (Tinto Brass: Italien 1970)

Als "unrealistische und narrativ konfuse Farce" wird L'URLO im "Dizionario dei film" bezeichnet (die italienische Entsprechung des "Lexikon des internationalen Films"?). Tatsächlich der wohl wildeste Trip von einem Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Eine Art Intervention zu 1968 (das Jahr, in dem der Film gedreht wurde, bevor ihn die Zensur zwei Jahre lang auf Eis legte): Musical, Klamauk, Kannibalenfilm, Roadmovie, Sexfilm, anarchistisches Manifest, Knastfilm, Screwball-Komödie, Polit-Essayfilm, absurde Komödie, Kriegsfilm – alles da, teilweise gleichzeitig. Überwältigend.


NOA NOA (Ugo Liberatore: Italien 1974)

Wie der phonetisch ähnliche BORA BORA von Liberatore spielt auch NOA NOA auf einer Südseeinsel und erzählt die mögliche Nachgeschichte der Meuterer der "Bounty", nachdem sie zusammen mit einigen Tahitianern auf einer unbewohnten Insel eine Kommune gründen. Die ehemaligen Freiheitskämpfer entpuppen sich nach und nach als tyrannische Kolonialisten, als brutale Gewalttäter, als skrupellose Sklaventreiber, die eine Utopie in ein Blutbad verwandeln. (In diesem Licht könnte man NOA NOA auch als besonders brachialer Post-68er-Katerfilm sehen)

Die Restauration der vorgeführten italienischen 35mm-Kopie war ein Akt bedingungsloser Kinoliebe jenseits jeglicher Vernunft. Die Kopie hatte einen Ölschaden (sic!) über die komplette Länge, wurde in einer dreistelligen Stundenarbeitszeit gereinigt und wieder vorführbar gemacht (zusätzlich wurde Film dann noch eigenhändig untertitelt), wenngleich viel vom Schaden noch zu sehen war. Klebestellenmassaker und ein leichter Braunstich erhöhten den "grindhouse'igen" Charakter der Vorführung. Der Film sah daher tatsächlich auch "hässlich" aus, im Gegensatz zum farbenfrohen, sonnigen BORA BORA: durchgehend bewölkt, mit gedämpften Farben, viel tristes Grau. Ob der Film in einem besseren Zustand "schöner" wäre: schwer zu sagen. Die "Hässlichkeit" passte zu diesem unerfreulichen, harten und doch faszinierenden Film.



THE CASSANDRA CROSSING (George Pan Cosmatos: Italien/UK/BRD 1976)

Vielleicht lasse ich mich von solchen All-Star-Vehikeln zu leicht beeindrucken. Vielleicht ist meine Meinung, dass die Besetzung Burt Lancasters für jeden Film bereits die halbe Miete ist, zu dogmatisch. Aber es will mir einfach nicht gelingen zu verstehen, warum dieser toll inszenierte Film im kollektiven Filmgedächtnis so sehr als "baddie" verankert ist. Er geht problemlos mit einem Dutzend Figuren um, für die heutzutage wohl mindestens zweieinhalb Qualitätsserienstaffeln draufgehen müssten. Er inszeniert auf den Punkt seine verschiedenen Atmosphären zwischen Ensemblefilm, Katastrophenfilm, Melodrama, Quasi-Horrorfilm und Paranoia-Politthriller. Von A bis Z zum Nagelkauen. Ich verstehe diese Einschätzung einfach nicht.



MY DINNER WITH ANDRE (Louis Malle: USA 1981)

Der ultimative Gesprächsfilm. Ein Schmankerl für Ohren-Voyeure. Ein Traum für Leute wie mich, die bei Tischgesprächen manchmal gerne einfach nur konzentriert und gespannt zuhören.


POLIZEIRUF 110: WÖLFE (Christian Petzold: Deutschland 2016)

Ein melancholischer Krimi über Alkoholismus, Werwölfe, türkische Nazis, einsame Wölfe, unerwiderte Liebe.



DEAD END DRIVE-IN (Brian Trenchard-Smith: Australien 1986)

Eine Dystopie über das Abschieben von unerwünschten Elementen in ein Lager: ein umzäuntes, ansonsten aber regulär laufendes Autokino (in dem unter anderem Brian Trenchard-Smiths THE MAN FROM HONG KONG läuft). Soweit, so spaßig, und tatsächlich holt der Film einiges aus seiner Prämisse heraus. Im letzten Drittel kommt dann noch einiges an Würze dazu: einige der Gefangenen werden selbst zu kleinen Faschisten, als auch massenhaft Asiaten inhaftiert werden. Der simpel gestrickte Exploitationfilm bekommt plötzlich eine anfänglich ungeahnte politische Dimension.



ONE-EYED JACKS (Marlon Brando: USA 1961)

Noch ein exzentrischer Western. Voller brodelnder Leidenschaft. Mit einem perversen Racheplan, der keinen schnöden Mord, sondern die Verführung der Stieftochter vorsieht. Mit einer sadomasochistischen Folterung als metaphorische (wenn auch reversible) Kastration. Dazwischen die Blicke voller lustvoller Hassliebe zwischen Marlon Brando und Karl Malden.



SCARFACE (Howard Hawks: USA 1932)

Mir fällt nichts ein, was moderne Gangsterfilme (Post-)New-Hollywoods haben, was nicht schon in SCARFACE enthalten ist. Die dynamische Inszenierung, das hohe Tempo, der gerade noch in der Pre-Code-Ära mögliche Inzest-Subplot, die für 1932 verblüffende Härte, die Aufstieg-und-Fall-Epik (in kompakten anderthalb Stunden erzählt). Der Film hat viele tolle Momente (besonders die Blicke der Frauen – Hawksian women at their toughest), aber fast vom Stuhl gefallen bin ich, als das Vergehen der Zeit mit einem Abrisskalender visualisiert wurde – dessen Blätter von einer Maschinenpistole weggeschossen werden!


RITA, SUE AND BOB TOO (Alan Clarke: UK 1987)

Alan Clarke kann nicht nur Schläge in die Fresse, sondern in dieser Geschichte um einer Dreieck-Beziehung zwischen zwei Schülerinnen und einem verheirateten Mann auch lustig und sexy (gleichwohl die Darstellung des trist-grauen Alltags in Thatchers England kaum schmeichelhafter ist als in MADE IN BRITAIN oder THE FIRM).



... AND THE PURSUIT OF HAPPINESS (Louis Malle: USA 1986)

Der Blick eines Außenseiters auf die USA als multikulturelles Land – eines Außenseiters, der tatsächlich seinen Blick und sein Ohr zu vergeben hat: ... AND THE PURSUIT OF HAPPINESS erzählt nicht über Einwanderer, sondern spricht mit ihnen und lässt sie vor allem erzählen. Und lässt seinen Blick ruhen. Durch diese Erzählweise wird die Aneinanderreihung von Trivialitäten, von Alltagsnormalitäten fast zu einer Art Utopie.

In Deutschland nur als "Bonus" bei MY DINNER WITH ANDRE erschienen. Schade, der Film könnte durchaus eine eigenständige Veröffentlichung vertragen (Criterion ordnet ihn zumindest in einer Louis-Malle-Dokumentarfilm-Box ein).


GOOD HOT STUFF (Jack Deveau: USA 1975)

Ein augenzwinkerndes und sehr vergnügliches Selbstportrait der Produktionsfirma Hand in Hand, mit Darsteller und Production Coordinator Mark Woodward, der als eine Art Gastgeber durch verschiedene Aspekte der Produktion von Schwulenpornos führt, den Zuschauer mit den Mitgliedern der "Hand-in-Hand-Familie" bekannt macht und Filmausschnitte präsentiert.

Auch natürlich eine Art abendfüllender Werbefilm für die Firma, die sich damit als handwerklich kompetent und künstlerisch ambitioniert präsentierte. Als HISTOIRE D'HOMME war GOOD HOT STUFF der erste Schwulenporno, der einen regulären Kinostart in Frankreich hatte: der Film wurde in Frankreich sehr gut aufgenommen, Jack Deveau nicht nur als Schwulenpornograf, sondern als ernsthafter Filmemacher besprochen.

Und auch interessant: GOOD HOT STUFF war zugleich ein Abschreibungsprojekt für einen während der Produktion abgebrochenen Film (BAGDAD von James Bidgood, dem Regisseur von PINK NARCISSUS, der sich als extrem kreativ, aber auch logistisch sehr unzuverlässig erwies). Die fertig gedrehten Szenen des unvollendeten BAGDAD wurden mit einem Score versehen und innerhalb von GOOD HOT STUFF komplett gezeigt. Alleine für diese Orgienszenen in einem psychedelisch-barocken orientalischen Palast lohnt sich der Film!


BLACK CHRISTMAS (Bob Clark: Kanada 1974)

Ein wohl etwas zu offensichtlicher Midnight Movie für den 23. Dezember... Toll ist er aber auf jeden Fall. Besonders erwähnenswert sind schönen Nebencharaktere wie Mrs. MacHenry, die in wirklich jedem Winkel des Hauses ein Fläschchen zum Nippen versteckt hat, und Mr. Harrison, der statt einer Wirbelsäule offenbar einen Stock aus 100 % Puritanismus im Allerwertesten stecken hat – und mit Augen aus fast 100 % Melancholie blickt.




Die besten, nicht-aktuellen Erstsichtungen: lobende Erwähnungen


THE BROKEN BUTTERFLY (Maurice Tourneur: USA 1919)

SHIRAZ (Franz Osten: UK/Deutschland 1928)

OLIVIA (Jacqueline Audry: Frankreich 1951)

RUBY GENTRY (King Vidor: USA 1952)

GIDEON'S DAY (John Ford: UK/USA 1958)

LE TROU (Jacques Becker: Frankreich/Italien 1960)

THE WRONG BOX (Bryan Forbes: UK 1966)

OVOCE STROMŮ RAJSKÝCH JÍME (Věra Chytilová: ČSSR/Belgien 1970)

DOROTHEAS RACHE (Peter Fleischmann: BRD/Frankreich 1974)

LES GUICHETS DU LOUVRE (Michel Mitrani: Frankreich 1974)

LONG WEEKEND (Colin Eggleston: Australien 1978)

OVER THE BROOKLYN BRIDGE (Menahem Golan: USA 1984)

RIVERBEND (Sam Firstenberg: USA 1989)

SPANGLISH (James L. Brooks: USA 2004)

DOG EAT DOG (Paul Schrader: USA 2016)


So... 2020 vorbei!



Ich wünsche all unseren Leserinnen und Leser ein schönes und gesundes Jahr 2021. Möget ihr mit vielen interessanten Filmen gesegnet werden!

Montag, 21. Dezember 2020

Chicago - Weltstadt in Flegeljahren

"Dies ist die schönste Stadt der Welt: ein technischer Traum in Aluminium, Glas, Stahl, Zement und künstlichen Sonnen, fremdartig wie ein anderer Stern."
Heinrich Hauser: Feldwege nach Chicago, 1931

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, auch CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN
Deutschland 1931
Regie: Heinrich Hauser

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre existierte das Genre der "Großstadtsymphonien". Bekanntester Vertreter und Namensgeber des Genres war Walter (ursprünglich Walther) Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT, aber als erster Vertreter gilt gemeinhin RIEN QUE LES HEURES, den der gebürtige Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. Ein weiterer prominenter Vertreter war DER MANN MIT DER KAMERA von Dsiga Wertow (ursprünglich David, dann Denis Kaufman), der allerdings nicht in einer einzigen, sondern in drei oder vier Städten Russlands und der Ukraine entstand. Wertows mittlerer Bruder und Kameramann (bis sie sich verkrachten) Michail Kaufman realisierte 1927 zusammen mit einem Ilja Kopalin MOSKAU, und Boris, der jüngste der Kaufman-Brüder, war als Kameramann von Jean Vigo mit À PROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) immerhin an so etwas wie einer Mini-Großstadtsymphonie beteiligt. Kaum eine andere Stadt wäre mehr als Schauplatz einer Großstadtsymphonie prädestiniert gewesen als New York, die Metropole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, doch gerade dort wurde offenbar keine gedreht - es gab nur eine Reihe von kleineren Filmen, für die ich mir den Begriff Großstadt-Kammermusik ausgedacht habe.

Am Mississippi
Der deutsche Schriftsteller, Journalist und Abenteurer Heinrich Hauser ging jedoch nach Chicago, um dort seine Variante des Themas zu drehen, als Stummfilm - "wie es sich für eine Großstadtsymphonie gehört", ist man versucht zu sagen. Chicago war ein ausgezeichneter "Stellvertreter" für New York - war es doch damals (und noch lange danach, bis es vor ca. vier Jahrzehnten von Los Angeles überholt wurde) die zweitgrößte Stadt der USA. Und als ein Zentrum moderner Wolkenkratzer-Architektur, als Schauplatz wichtiger Entwicklungen in Jazz und Blues, und nicht zuletzt als Wirkungsstätte fast mythischer Gangsterkönige wie Al Capone besaß es genug Flair, um weit mehr zu sein als eine bloße Ansammlung von vielen Leuten. Tatsächlich hatte auch ein Ludwig Leher ebenfalls 1931 mit dem offenbar zweiteiligen EINE MODERNE RIESENSTADT einen in Chicago gedrehten Kulturfilm (wie man die damals vorherrschende Richtung im deutschen Dokumentarfilm nannte) vorgelegt. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN ist aber eher das Gegenteil eines Kulturfilms (darauf werde ich weiter unten noch zurückkommen). Er ist auch vielleicht keine Großstadtsymphonie im ganz strengen Sinn, ich würde aber trotzdem nicht zögern, ihm dieses Prädikat zuzuerkennen. Die sowohl von Cavalcanti wie von Ruttmann in ihren Filmen verwendete Idee, einen prototypischen Tag in der porträtierten Stadt von frühmorgens bis in die Nacht hinein chronologisch abzuhandeln, fehlt hier komplett. Stattdessen lässt sich WELTSTADT IN FLEGELJAHREN grob in fünf thematisch definierte Akte einteilen (die sich bereits in der Zensurkarte vom 14. September 1931 wiederfinden).

Der Charakter der Uferlandschaft ändert sich ...
Der erste Akt spielt noch gar nicht in Chicago, sondern zeigt die Anreise auf dem Mississippi, und zwar stilecht in einem Schaufelraddampfer, wie man sie aus vielen im 19. Jahrhundert spielenden Filmen kennt, und wie sie offenbar vereinzelt auch um 1930 herum noch im Einsatz waren. Der Fluss strömt breit und träge dahin, und das dynamischste Element in diesem Abschnitt ist das sich drehende Schaufelrad. Der Film konzentriert sich aber nicht auf das Geschehen an Bord, sondern das am Ufer: Baumwollplantagen wechseln sich mit lichten Wäldern ab, fast durchweg schwarze Arbeiter werden bei verschiedenen landwirtschaftlichen Tätigkeiten gezeigt. Die Arbeit ist wahrscheinlich nicht leicht, aber das Tempo ist sehr gemächlich im Vergleich zu dem, was uns dann in der Metropole erwartet. Teilweise wird noch mit Zugpferden statt motorisiert gearbeitet. Am Ende des Abschnitts erreicht der Mississippidampfer sein Ziel, und die Skyline taucht auf. Genau betrachtet liegt Chicago natürlich überhaupt nicht am Mississippi, sondern ist nur durch den Illinois Waterway mit diesem verbunden, aber diese Feinheit fällt bei Hauser unter den Tisch.

... und plötzlich ist man da
Dann sind wir mitten in der Stadt, und der zweite Akt behandelt den Schwerpunkt Verkehr. Ein riesiges Bahnhofsareal, Züge und Dampflokomotiven. So wie man es aus vielen in New York gedrehten Filmen kennt, besitzt auch Chicago eine Hochbahn (Chicago Elevated), und natürlich ließ es sich Hauser nicht nehmen, aus dem fahrenden Zug heraus zu filmen - Gegenstücke aus New York findet man in Jay Leydas A BRONX MORNING aus demselben Jahr, oder später Carson Davidsons 3rd AVE. EL. Eine besondere Attraktion ist der Loop, eine kreisförmige Schleife der Hochbahn im gleichnamigen Stadtzentrum - Hauser findet dafür in einem Zwischentitel die schöne Bezeichnung "Saugpumpe des Verkehrs". Trotz des ausgebauten Streckennetzes der Hochbahn hatte damals der Autoverkehr fast schon beängstigende Ausmaße angenommen, und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN findet auch dafür starke Bilder. In diesem zweiten Akt kommt der Film den klassischen Großstadtsymphonien am nächsten, und in einigen Szenen gerät Hauser sogar fast in die Gefilde der filmischen Avantgarde (ohne das Publikum damit irgendwie zu überfordern). Übermäßige Anstrengungen waren dafür nicht erforderlich. Da die Stadt ständig in Bewegung ist, musste es Hausers Kamera (die er selbst führte) nicht sein. Natürlich gibt es den einen oder anderen Schwenk, dazu die Fahrt in der Hochbahn, und zuvor auf dem Mississippi. Aber komplizierte Kamerafahrten, hektische Schnitte oder allzu ausgefallene Kamerapositionen findet man in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nicht.

Autos und Hochbahn
Im dritten Akt, der durch den wiederum sehr treffenden Zwischentitel "Im Labyrinth aus Glas und Steinen" eingeleitet wird, geht es um die (von Wolkenkratzern dominierte) Architektur und um die Arbeitswelt. Natürlich gibt es die obligatorischen Blicke von oben auf die menschlichen "Ameisen" am Boden, auch von unten steil nach oben, wie es zwei Jahre zuvor schon Robert Florey in seiner SKYSCRAPER SYMPHONY gemacht hatte. Es gibt Einblicke in das rationell durchorganisierte Arbeitsleben etwa in Großraumbüros und in Fabriken. Besonders eindrucksvoll sind die schwebenden Fließbänder in einer Traktorenfabrik. Außerhalb des Siedlungsgebiets sind riesige Schaufelbagger zu sehen, vergleichbar unseren Braunkohlebaggern, und im Zwischentitel werden sie als "die Saurier unserer Zeit" tituliert. Im Stadtgebiet werden permanent neue Wolkenkratzer hochgezogen, und wenn mal ein Gebäude abgerissen wird, dann wahrscheinlich nur, um ein noch höheres zu bauen. Am Ende des Abschnitts sind wir in den berühmt-berüchtigten Schlachthöfen von Chicago, die schon von Upton Sinclair literarisch verarbeitet wurden, und die Bert Brecht zu seinem auch 1931 erschienenen "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" inspirierten. Schaf- und Rinderherden werden in den Schlachthof getrieben - und kommen 40 Minuten später (wie uns ein Zwischentitel mitteilt) als Konservendosen wieder heraus. Das, was dazwischen passiert - also Bilder wie in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, die einem den Magen umdrehen - erspart Hauser freilich dem Zuseher.

1931 lagen die USA bekanntlich fest im Griff der Weltwirtschaftskrise, der Great Depression. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN lässt sich über 40 Minuten Zeit, um darauf zu sprechern zu kommen, aber dann, im vierten Akt, geht er explizit und ausführlich darauf ein. Als Aufhänger für die Überleitung dazu dient der seinerzeit in Chicago und darüber hinaus sehr bekannte "Landstreicher-Arzt", Sozialreformer und Anarchist Ben Reitman. Hauser machte seine persönliche Bekanntschaft, und Reitman ist der einzige, der in WELTSTADT IN FLEGELJAHREN als Individuum vorgestellt wird. Die Bilder, mit denen Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Armut und Not dargestellt werden, sind unverblümt und drastisch - so etwas gab es in kaum irgendeinem zeitgenössischen Hollywoodfilm zu sehen. Freilich bestand der damalige amerikanische Film nicht nur aus der Traumfabrik - gerade während der Wirtschaftskrise gediehen unabhängige linke Filmkooperativen wie Film and Photo League, Nykino oder Frontier Films, die das Elend ebenfalls realistisch abbildeten. Freilich dürfte keiner dieser Filme Hauser als Vorbild gedient haben. Dafür wurden eher die Filme der Weltfilm ins Feld geführt, des dokumentarisch-propagandistischen Zweigs von Willi Münzenbergs KPD-nahem Filmimperium (der Spielfilmzweig war die Prometheus, die Werke wie MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK oder KUHLE WAMPE produzierte, wobei letzterer Film dann von Lazar Wechslers Praesens Film übernommen wurde). Gerade die schonungslose Darstellung der Armut wurde von den deutschen Kritikern sehr gelobt, wobei nicht selten ein gewisser Antiamerikanismus durchschien, mit dem Tenor "endlich zeigt mal jemand die Schattenseiten des angeblichen Wunderlands". Hauser selbst war eine solche Motivation jedoch fremd. Hier gibt es eine gewisse Parallele zu Luis Trenkers DER VERLORENE SOHN von 1934, der das Elend in New York ebenfalls drastischer zeigt als fast alle Hollywoodfilme seiner Zeit. Auch bei Trenker lässt sich kein eigentlicher Antiamerikanismus ausmachen, sondern in seinem Fall eher eine allgemeine Kritik des modernen, urbanen Kapitalismus als Kontrastfolie zu einer Verherrlichung des Naturmystizismus in den heimischen Bergen (den man aber auch etwas dubios finden kann). Bei Hauser stellt sich gelegentlich eine gewisse ironisierende Wirkung ein, wenn etwa offenbar arbeitslose Männer auf dem Rasen eines kleinen künstlichen Hügels herumlungern - und über ihnen thront das heroische Reiterstandbild des Bürgerkriegsgenerals und Politikers John Logan. Die meisten Bilder in diesem Abschnitt von WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sind aber ganz ironiefrei einfach nur deprimierend und erschütternd. Neben heruntergekommenen Stadtvierteln gibt es in der Peripherie auch regelrechte Slums mit windschiefen Bretterbuden zwischen Müllbergen, und ein Zwischentitel besteht nur aus dem einzigen Wort "Wracks".

Brücken
Doch Hauser lässt seinen Film mit einer positiven Note ausklingen. Die letzten acht oder neun Minuten, also der kurze fünfte und letzte Akt, zeigt diejenigen, die (noch) nicht unter die Räder gekommen sind, bei ihren Freizeitaktivitäten. Ein Vergnügungspark mit Riesenrad, Achterbahn und weiteren Attraktionen, ein Park mit Ruderbooten auf einer Wasserfläche, ein völlig überfüllter Sandstrand am Michigansee, und dergleichen mehr. Der letzte Zwischentitel lautet "Die Akteure danken", und danach bilden fröhliche Kinder und Jugendliche, die direkt in die Kamera grinsen, die letzte Einstellung.

WELTSTADT IN FLEGELJAHREN hatte im Oktober 1931 in Berlin Premiere, und wie oben schon angedeutet, wurde er von der Filmfachpresse und etlichen Tageszeitungen sehr positiv rezensiert. Und doch ist er gescheitert. Das hing damit zusammen, dass Hauser und sein Produzent Hubert Schonger eine spezielle Form der Auswertung vorgesehen hatten. Der aus dem Schwäbischen stammende gelernte Ingenieur Schonger (1897-1978) hatte 1923 in Berlin die Naturfilm Hubert Schonger gegründet. Der Name war Programm. Schonger produzierte zunächst reihenweise Naturfilme, die damals als ein Teil des Kulturfilmsektors betrachtet wurden. Doch im Lauf der Zeit verbreiterte er sein Spektrum immer mehr, machte auch Spielfilme, vor allem viele Märchen- und sonstige Kinderfilme. Zeitweise hatte er auch seinen eigenen Verleih. In den 50er und 60er Jahren machte er viele Heimat- und Bergfilme, aber er produzierte auch junge Nachwuchsregisseure wie Peter Fleischmann, Klaus Lemke und Marran Gosov. Der Zufall wollte es, dass Heinrich Hauser und Hubert Schonger im Abstand von 23 Jahren, aber nur wenige Kilometer entfernt voneinander starben, der eine in Dießen und der andere in Inning, beides am Ammersee westlich von München gelegen.

1929 hatten die Degeto (Deutsche Gesellschaft für Ton und Bild), die mit der heutigen ARD-Tochter außer dem Namen kaum noch etwas verbindet, und die Gesellschaft Urania eine Arbeitsgemeinschaft gegründet mit dem Ziel, in Sonntagvormittags-Matineen in ausgewählten Berliner Kinos anspruchsvolle Kulturfilme vorzuführen - einer der vielen (und meist nur mäßig erfolgreichen) Versuche, dem "guten Film" zum Durchbruch zu verhelfen. Nach einer Vorab-Aufführung für die Presse hatte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN nun am 4. Oktober 1931 seine Premiere in der ersten dieser Matineen, und vom 9. Oktober bis zum 12. November lief er im Programmkino "Kamera, Unter den Linden", dessen Träger, die Gesellschaft für den Guten Film, auch Mitglied der Degeto-Urania-Kooperation war. Danach hätte WELTSTADT IN FLEGELJAHREN eigentlich im Vorprogramm der regulären Kinos laufen sollen. Doch dafür war die Anerkennung als "Lehrfilm" notwendig. Nur mit diesem Prädikat nämlich waren die Kinobetreiber berechtigt, eine Ermäßigung der "Lustbarkeitssteuer" für die Vorführungen in Anspruch zu nehmen. Ohne Anerkennung als Lehrfilm waren die vom Publikum wenig geliebten Kulturfilme praktisch unverkäuflich. Und WELTSTADT IN FLEGELJAHREN wurde nun vom zuständigen offiziösem Gremium, der "Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht", wider Erwarten aus Schongers Sicht, und sehr zu dessen Verdruß, die Anerkennung verweigert. Außer seinem kurzen Einsatz in Berlin lief WELTSTADT IN FLEGELJAHREN auch in den Niederlanden (wie er dahin kam, weiß ich nicht) und verschwand dann für Jahrzehnte in Schongers Archiv.

Häusermeer
"[...] Bilder, die in keinem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen. Das wirre Durcheinander des Ganzen ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Lehrfilm nicht sein soll. Eine Anerkennung als Lehrfilm konnte überhaupt nicht erst in Erwägung gezogen werden. Der Ausschuss sah auch nicht die Möglichkeit, einen Weg für eine Verarbeitung des vorhandenen Bildmaterials zu einem den Anforderungen genügenden Bildstreifen aufzuzeigen." - so steht es in der Begründung der "Bildstelle", die nach ihrem Vorsitzendem auch Lampe-Ausschuss genannt wurde. Das zog Reaktionen nach sich. Das KPD-Blatt Rote Fahne beschwerte sich:
Der junge Schriftsteller Heinrich Hauser hat einen sehr anständigen Reportagefilm geschaffen: Weltstadt in Flegeljahren. Er zeigt deutlich die Klassengegensätze, die in der Riesenstadt Chicago besonders krass hervortreten. Er verschweigt nicht, dass es hinter den pompösen Wolkenkratzerkulissen tiefes Elend und Massenarbeitslosigkeit gibt. [...]
Das war der republikanisch-deutschen Behörde, die darüber zu bestimmen hat, ob ein Film als Lehrfilm gilt und Steuerermäßigung genießt, zuviel des Guten. [...]
Wir erkennen messerscharf, dass diese "Anforderungen" Lüge und Gehirnverkleisterung heißen, und dass deshalb der Film nicht [sein] darf… Lehre ist in der Amtssprache des kapitalistischen Staates der Fachausdruck für Verschweigen und Schwindeln. Und ein Film, der die Wahrheit zeigt, kann eben nicht "lehrhaft" sein.

(Rote Fahne, Berlin, Nr. 213, 23. November 1931. Beilage.)

Noch ausführlicher reagierte der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim. In einem "Paukerfilme" betitelten Artikel feuerte er eine ganze Breitseite gegen den konventionellen Kulturfilm ab, bevor er sich dann Hauser zuwandte:
[...] Aber daneben blüht in alter Unfrische der Kulturfilm, wie er nicht sein soll. [...]
Diese Filme sind wie Fremdenführer für alte Engländerinnen. Das Kinopublikum liebt sie nicht. Es frisst sich durch sie hindurch wie durch einen Grützewall, um ins Schlaraffenland der Harry Piel und Lilian Harvey zu gelangen. Der Kinobesitzer kümmert sich in diesem Fall wenig um die Unlust seiner Kunden. Er spielt den Film im Vorprogramm, weil er dann weniger Lustbarkeitssteuer zu bezahlen hat. Diese Vergünstigung verschafft ihm ein pädagogisches Konsortium: der Lehrfilmausschuss des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, [...]
Dieser Ausschuss hat ein gut Teil Schuld daran, dass die meisten Kulturfilme so langweilig ausfallen. […] Es genügt nicht, daß ein Kameramann eine Weltreise gemacht hat. Der schönste indische Tempel, das seltsamste Naturschauspiel bleibt grau und gleichgültig, wenn nicht ein Filmkünstler an der Arbeit ist, der Gefühl für fesselnde Einstellungen, für Bildpointen, für demonstrative Kameraführung, für lebendigen, eleganten Schnitt hat, Das sind keine ästhetischen Mätzchen, sondern diese Mittel dienen unmittelbar der Sache. Aber die Volksbildner mögen das nicht. Langeweile gehört für sie zur Würde des Unterrichts. Der warme Atem der Wirklichkeit beunruhigt sie. Und so fordern sie Filme, in der alles schön der Reihe nach heruntergedreht ist. [...]
Solche Methoden sind für Atlanten und Lehrbücher am Platze, aber mit diesen kann und soll der Film nicht konkurrieren. Die Herren Lehrer wollen ihn dazu zwingen. Sie fallen dem Künstler in den Arm. Er soll mit seiner Kamera umgehen wie der Landmesser mit dem Theodoliten. Ein Beamter mit Mützenschirm im Nacken. [...]
In der Schulstube soll Ruhe und Ordnung sein, auch wenn draußen Gewalt, Armut und Widersinn herrschen. [...]
Heinrich Hauser, der hochbegabte junge Wort- und Bildkünstler, hat es gewagt, seinen Chicago-Film, der ausgezeichnet ist und also die eben skizzierten Forderungen in keiner Weise erfüllt, [...] einzureichen. Das Papier vibriert. Den Herren zittert die Lippe. Der Film wird nicht nur abgelehnt, nein, er ist eine Zumutung, ein Tiefschlag in die edelsten Weichteile der Pädagogik. [...]
Hausers Film ist nicht sanft und nicht unverbindlich, sondern unhöflich und ganz klar in der Stellungnahme. [...]
Dieser Film [AMERIKA VON HEUTE eines gewissen Oberingenieur Dietrich W. Dreyer] hat den Lehrfilmschein erhalten. Der Hauserfilm nicht; denn er zeigt ein Stück Welt, und die Welt ist heute in einem Zustand, den die Pädagogen nicht gern lehrreich nennen.

(Rudolf Arnheim: Paukerfilme. In: Die Weltbühne, Berlin, XXVII. Jg. 5, 2. Februar 1932, S. 185ff.)

Blick nach oben ...

Heinrich Hauser, ein Schriftsteller in Unrast


Heinrich Hauser (1901-1955) war in erster Linie Schriftsteller, Fotograf und Journalist, er war aber auch, wie die FAZ am 29. 01. 2006 schrieb, "Matrose in Kiel, Wachmann in Hamburg, Freikorpssoldat in Weimar, Bergmann in Duisburg, Schafscherer, Koch und Schwimmlehrer in Sydney, Polizist auf den Philippinen, Autoschlosser in Chile. Er war Student und Schmuggler, See- und Ehemann, bevor er 1925 den Erfahrungsüberschuss ausschlachtete und anfing, Feuilletons über den "Organismus eines Lastkraftwagens" oder den "Gesang der Presslufthämmer" für die "Frankfurter Zeitung" zu schreiben und an seinem ersten, noch stark vom Expressionismus geprägten Jugendbeziehungsdrama "Das zwanzigste Jahr" zu arbeiten." Und das ist nur eine geraffte Übersicht über die diversen Jobs, die Hauser irgendwo in der Welt ausübte, um sich über Wasser zu halten, und um Stoff für seine Reportagen und Reisebeschreibungen zu finden. Politisch erscheint er im Rückblick widersprüchlich und schwer durchschaubar. 1918 erlebte er als Kadett der Marine die Novemberrevolution aus der Nähe mit, 1919 war er Mitglied eines Freikorps, das auf Anweisung von Reichspräsident Friedrich Ebert und seinem Wehrminister, dem "Bluthund" Gustav Noske, die Autorität der Weimarer Regierung in diversen Städten durchsetzte, wo sie vom Spartakusaufstand und ähnlichen Erhebungen der Arbeiter- und Soldatenräte gefährdet war. Als aber 1920 der Kapp-Putsch eben jene demokratische Weimarer Regierung beseitigen wollte, brachte ihm Hauser Sympathien entgegen - um dann 1925 als Journalist der linksliberalen Frankfurter Zeitung beizutreten, wo Geistesgrößen wie Siegfried Kracauer zu seinen Kollegen zählten. Hauser schrieb aber auch für diverse andere Blätter, darunter auch für die faschistoide Schwarze Front des NSDAP-Abtrünnigen Otto Strasser.

... und nach unten
1933 war er dann plötzlich (oder vielleicht auch nicht plötzlich) ein Anhänger des Nationalsozialismus, und er ließ gegen den Widerstand des S. Fischer Verlags eine Widmung an Hermann Göring in eines seiner Bücher setzen. Doch die Begeisterung für die Nazis schwand wieder. Von seinen insgesamt fünf Ehefrauen waren Nr. 2 und 3 jüdischer Herkunft, und er half ihnen bei der Flucht aus Deutschland. 1938 ging er selbst in die USA, kehrte aber für eine Reportage für ein amerikanisches Magazin nochmal nach Deutschland zurück, erlebte die Novemberpogrome mit, war angewidert und emigrierte 1939 endgültig in die USA, wo er seine letzten beiden Ehefrauen kennenlernte. 1945 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel "The German Talks Back", das einige Beachtung fand, und in dem er sich als Sprachrohr des "besseren Deutschland" positioniert. Ende 1948 kehrte er mit seiner fünften Frau nach Deutschland zurück und 1949 wurde er Chefredakteur des gerade gegründeten Stern, nahm aber schon nach vier Monaten wieder den Hut, weil er mit Henri Nannen nicht wirklich kompatibel war. Er trank und rauchte zuviel, und mit seiner Gesundheit ging es bergab. Er wollte sich auch von seiner letzten Frau trennen, nahm aber davon Abstand, als sie an Krebs erkrankte und er glaubte, dass sie bald sterben werde. Doch 1955 starb er selbst mit 53 Jahren, und seine Frau überlebte ihn um sechs Jahre. Wie auch immer das alles zusammenpasst - Hauser war jedenfalls ein "unbehauster" Abenteurer und Tausendsassa, der schon mit Jack London und Joseph Conrad verglichen wurde.

Vermutlich 1923 hatte Hauser die Bekanntschaft von F.W. Murnau gemacht, ich weiß aber nicht, ob der ihm irgendwas über das Filmemachen beibrachte. Heinrich Hauser machte zwischen 1928 und 1931 drei Filme, wobei beim ersten unklar ist, ob er überhaupt fertiggestellt und vorgeführt wurde (mehr darüber weiter unten). 1930 unternahm er im Auftrag einer Reederei eine Fahrt auf dem Segelschiff Pamir, in 110 Tagen von Hamburg nach Chile. Diese Fahrt protokolliert er gleich dreifach: Er fotografiert, er macht (wie bei WELTSTADT IN FLEGELJAHREN im Alleingang) Filmaufnahmen, und er führt ein Reisetagebuch. Der Reisebericht erscheint noch 1930 als Buch mit dem Titel "Die letzten Segelschiffe" und wird mehrfach neu aufgelegt, der korrespondierende Film von 1931 heißt WINDJAMMER UND JANMAATEN. DIE LETZTEN SEGELSCHIFFE. Er wird zunächst von Hauser selbst verliehen und kommt dann unter die Fittiche von Hubert Schonger. WELTSTADT IN FLEGELJAHREN entsteht nach demselben Modus: Hauser bereist allein mit einem Auto Teile der USA, fotografiert und filmt im Alleingang, und führt Reisetagebuch. Das Buch zum Film erscheint auch noch 1931 und heißt "Feldwege nach Chicago".

Mehrspurige Zugbrücke und Industrieszenen
Der filmische Nachlass von Schongerfilm, wie Hubert Schongers kleines Imperium nach dem Krieg hieß, kam 1984 in die Obhut des Bundesarchiv-Filmarchiv nach Koblenz, und damit auch der seit 1931 vor sich hin schlummernde WELTSTADT IN FLEGELJAHREN. In Koblenz wurde dann zunächst eine Restaurierung mit analoger Technik und eine Duplizierung auf Sicherheitsfilm in Angriff genommen. Die dadurch erstellte Fassung wurde im März 1995 in einer Veranstaltung im Berliner Arsenal-Kino erstmals vorgeführt, die von dem Filmhistoriker Jeanpaul Goergen betreut wurde. Goergen hat auch durch seine Recherchen die weitgehend vergessene Geschichte des Films wieder hervorgeholt und in einer kurzen Begleitpublikation zugänglich gemacht. Diese Fassung war dann alle paar Jahre mal hier und dort zu sehen, so 1998 im Münchner Filmmuseum, und 2003 auch erstmals in Chicago. 1998 wurde vom WDR auch eine experimentelle Fassung angefertigt, bei der vorgelesene Textpassagen aus "Feldwege nach Chicago" mit Geräuscheffekten kombiniert wurden, die dem nachempfunden waren, wie der Film hätte klingen können, wenn ein Originalton aufgenommen worden wäre. Zusätzlich wurden an originalen Kamerastandorten Hausers neue Aufnahmen (in Farbe) gedreht. Eine Kombination des Originalfilms mit den neuen Aufnahmen, mit der neuen Tonspur versehen, wurde im Dezember 1998 auf WDR 3 ausgestrahlt. Größere Breitenwirkung dürften diese Aktivitäten nicht entfaltet haben. Doch heuer ist WELTSTADT IN FLEGELJAHREN bei absolut Medien in Kooperation mit arte auf DVD und Blu-ray erschienen, nachdem er das volle Programm der digitalen Bildrestaurierung erfahren hatte. Diese Veröffentlichung hat zwei Tonspuren: Die gerade erwähnte vom WDR (freilich ohne die 1998 neu gedrehten Bilder), und eine vom Komponisten Andy Miles neu geschriebene jazzige Musik, die vom WDR Funkhausorchester eingespielt wurde, und die den Film sehr gut unterstützt. Mit den Texten aus "Feldwege nach Chicago" und den Geräuscheffekten wird aus WELTSTADT IN FLEGELJAHREN sozusagen ein Pseudotonfilm gemacht. Das ist keine schlechte Idee, und Hausers Texte fügen dem Film manch interessante Information hinzu, die man den Bildern allein nicht entnehmen könnte. Doch letztlich gefällt mir die nur mit Musik unterlegte Fassung besser, weil sie mehr filmischen Fluss erzeugt - nur hier hat sich bei mir das echte Feeling einer Großstadtsymphonie eingestellt. Der korrekte Titel des Films lautet WELTSTADT IN FLEGELJAHREN, mit dem Untertitel EIN BERICHT ÜBER CHICAGO, doch die aktuelle Veröffentlichung hat den Titel CHICAGO - WELTSTADT IN FLEGELJAHREN erhalten.


Heinrich Hauser in Irland


1932-33 drehte Robert Flaherty, der gelegentlich als "Vater des Dokumentarfilms" bezeichnet wird (was natürlich nur mit Einschränkungen zutrifft), auf Inishmore, der größten und westlichsten der Aran Islands vor der irischen Westküste, mit Unterstützung durch seine Frau Frances Material für einen semidokumentarischen Film. "Semi" deshalb, weil Flaherty, wie es seine Art war, inszenierend stark in das Geschehen eingriff - so bildete er aus nicht miteinader verwandten echten Inselbewohnern eine fiktive Filmfamilie. MAN OF ARAN erschien 1934 und wurde einer von Flahertys besten und erfolgreichsten Filmen. Als ich nun über Hauser zu recherchieren begann und in Wikipedia las, dass er 1928 einen Film mit dem Titel MAN OF ARAN gedreht hatte, hielt ich das zunächst für eine Ente. Ich sollte zumindest teilweise Recht behalten, denn den Film gibt es zwar, zumindest ein Fragment davon, aber der Titel ist sicher unzutreffend. Hauser hatte sich mit dem irischen Schriftsteller Liam O'Flaherty angefreundet, der 1896 auf Inishmore geboren wurde. O'Flaherty war übrigens ein Verwandter von John Ford, der 1935 seinen Roman "The Informer" verfilmte - Fords Mutter Barbara Feeney, geb. Curran, wurde ebenfalls auf Inishmore geboren. Zusammen reisten Hauser und O'Flaherty im Juni 1928 auf die Heimatinseln des Iren, um dort Material für einen Irland-Film zu drehen. Dieser sollte keineswegs nur auf Aran entstehen, sondern mindestens auch in Dublin, vielleicht auch anderswo, wurde gedreht oder sollte zumindest gedreht werden.

Kinder spielen auf der Straße, und ein General wacht über seine arbeitslosen Schäfchen ... oder?
Heute existiert noch ein Fragment der Aufnahmen von Aran mit einer Länge von 375 Metern. Als 1995 WELTSTADT IN FLEGELJAHREN seine Wiederauferstehung feiern konnte, war das Fragment noch nicht bekannt, doch Jeanpaul Goergen, der weiterhin in Schongers Nachlass recherchierte, konnte es dann im Bundesarchiv-Filmarchiv aufspüren und zuordnen und 1998 in einer weiteren Veranstaltung im Berliner Kino Arsenal der Öffentlichkeit präsentieren. Goergen hatte damals das Fragment, das keine Titelkarten aufweist, einfach ARAN genannt. Doch schon 1989 war in einem Artikel über Hauser im mehrbändigen Mammutwerk "Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933" dessen irische Filmunternehmung fälschlich mit Flahertys MAN OF ARAN in Verbindung gebracht worden, und nach der Entdeckung des Fragments wurde ihm von irgendwem der falsche Titel übergestülpt, der eigentlich keinen Sinn ergibt, weil es in dem Film eben nicht nur um die Aran-Inseln gehen sollte. Im März 1956 schrieb der Schriftsteller Hans Bütow in einem Artikel in der FAZ: "Sie [Hauser und O'Flaherty] haben auch zusammen einen herrlichen Film von Irland, seiner wilden und melancholischen Landschaft gemacht, von dem keine Kopie mehr existiert." Es ist unklar, wieviel damals gedreht wurde, und ob der Film jemals öffentlich aufgeführt wurde, aber zumindest Bütow scheint ihn gesehen zu haben. Hauser selbst berichtete im August 1928 in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung über seine Dreharbeiten (wobei er "Aran" durchgehend falsch als "Arran" schreibt). Darin geht es zwar nur um die Inseln und nicht um weitere Drehorte, er schreibt aber, "daß wir auf die Arraninseln zu einem bestimmten Zweck gekommen sind: um Teile eines Irlandfilms hier aufzunehmen" - und bestätigt damit selbst, dass da noch mehr kommen sollte. Übrigens geht Hauser in diesem Text auch auf die verwendete Ausrüstung ein. Im Gegensatz zu seinen nächsten beiden Filmen hatte er hier zwei Kameras dabei, eine große und schwere, die nur mit Stativ benutzt werden konnte, und eine kleine, leichte, die auch als Handkamera taugte. Und dann polemisiert er etwas gegen die seiner Meinung nach zu klobige Filmtechnik:
[...] Ich will die Menschen so filmen, daß sie nichts davon wissen, daß sie sich unbeobachtet fühlen, ebenso wie wilde Tiere. Das alles ist Jagd, und der Apparat für diese Jagd müßte wie ein Gewehr gebaut sein, ein Ding, das man an die Backe zieht und abschießt. [...]
Die Kamera des Berufsoperateurs ist ein schweres und schwerfälliges Instrument [...]
Da sind die kleinen Apparate, die man in den Händen halten kann [...] viel besser, sie sind einem Gewehr ähnlicher. [...]
Und warum gibt es nicht ein Federwerk, das wirklich lautlos läuft, ohne das Geräusch einer alten Weckuhr, das nicht nur wilde, sondern selbst ganz zahme Tiere und Menschen in die Flucht treibt.

Armenviertel und regelrechte Slums
Wenn Hauser in den 60er Jahren noch gelebt und Filme gemacht hätte, wäre er vielleicht ein Vertreter des Cinéma vérité oder des Direct Cinema geworden. Es gab übrigens einen Vorläufer der Filmkamera, der tatsächlich wie ein Gewehr aussah, nämlich das fotografische Gewehr des Étienne-Jules Marey.

Wracks
Vor einigen Monaten veranstaltete die Abteilung für Filmstudien der New York University ein Online-Symposion, in dem es um frühe deutsche Naturfilme ging, und darin kamen auch Schonger und Hauser vor, und das Fragment von Aran wurde komplett gezeigt. Hier bei Vimeo gibt es ein gut einstündiges Video davon, und das Fragment von Aran wurde auch als eigenes Video ausgekoppelt. Goergen präferierte 1998 eine Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde (fps), was bei der Länge von 375 Metern eine Dauer von 18 Minuten ergibt. Hier dauert das Video 13:47 Minuten, was auf eine Abspielgeschwindigkeit von 24 fps hindeutet. Der eingeblendete Timecode ist natürlich ärgerlich, die Fassung im Bundesarchiv-Filmarchiv ist aber frei davon. Die vier Filmhistoriker, die diese Veranstaltung gestalteten, haben sich hier für DIE ARAN-INSELN als Titel entschieden.
Vergnügungspark
Die Akteure danken