Montag, 23. August 2021

Anatomie eines Mordes ...

... in den griechischen Bergen

ANAPARASTASI (REKONSTRUKTION)
Griechenland 1970
Regie: Theo Angelopoulos
Darsteller: Toula Stathopoulou (Eleni Gousis), Yannis Totsikas (Christos Gikas), Thanos Grammenos (Elenis Bruder), Michalis Fotopoulos (Kostas Gousis), Petros Hoedas (Staatsanwalt), Alexandros Alexiou und Yannis Balaskas (Polizeioffiziere), Theo Angelopoulos (Journalist)

Der Schauplatz des Verbrechens und der Rekonstruktion
Theo Angelopoulos untersucht in seinem ersten eigenen Spielfilm (er war schon 1965 ungenannter Co-Regisseur bei einer Musikkomödie) die Ursachen und die Nachwirkungen eines Verbrechens. Er wurde dazu von einem echten Mordfall inspiriert, von dem er in einer Zeitungsnotiz gelesen hatte. In der fiktiven Version kehrt der Ehemann und Familienvater Kostas Gousis, der Jahre als Gastarbeiter in Deutschland verbracht hatte, in sein Heimatdorf im gebirgigen Epirus im Nordwesten Griechenlands heim. Seine Frau Eleni empfängt ihn scheinbar herzlich - und bringt ihn kurz danach gemeinsam mit ihrem Geliebten Christos um, indem ihn die beiden mit einem Strick erdrosseln. Die Konstellation erinnert etwas an die klassische Geschichte von Agamemnon, Klytaimnestra und Aigisthos, aber die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich und wird von Angelopoulos nicht vertieft. Auch der gelegentlich zu lesende Hinweis auf James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice und dessen Verfilmungen führt nicht viel weiter. Angelopoulos geht es mehr um eine Zustandsbeschreibung ausgemergelter Seelen, einer ausgemergelten Landschaft, und eines ausgemergelten Landes, und wie diese voneinander abhängen. Angelopoulos rekonstruiert das Verbrechen - und damit die Zusammenhänge von Individuen, Landschaft und Land - in einer Reihe von nichtchronologischen Rückblenden, und REKONSTRUKTION, die wörtliche Übersetzung von ANAPARASTASI, ist ein sehr treffender Titel dafür.

Eleni und Christos, die Mörder
Es beginnt mit einem achtminütigem Prolog vor den Credits. Eine karge Gebirgslandschaft im April 1970; es regnet. Man befindet sich nicht außerhalb der Zivilisation, so sind Strommasten zu sehen, aber es ist schon ein recht trostloser Ort. Ein Sprecher aus dem Off nennt in sehr sachlichem Ton einen der Gründe, indem er Bevölkerungszahlen des fraglichen Dorfs verkündet: 1939 1250 Einwohner, 1965 nur noch 85. Der Grund: Die Männer ziehen in die Großstädte Thessaloniki und Athen oder gleich nach Deutschland. Zurück bleiben die Alten (die dann irgendwann sterben), ein Teil der Frauen und Kinder, und nur sehr wenige erwachsene Männer. Elenis Liebhaber und Komplize Christos ist einer davon, er ist im Ort sowas wie der Dorfgendarm oder ein amtlich bestellter Flurwächter. Auf der nicht asphaltierten und im Regen schlammigen Passstraße hält ein klappriger Bus, ihm entsteigt jener Kostas, der bald tot sein wird. Der Anfang der Geschichte bildet also auch den Anfang des Films, aber danach wird die Chronologie aufgebrochen. Die meisten Häuser im Dorf bestehen aus nicht verputzten Natursteinmauern. Alles wirkt karg, trostlos, verlassen, und der Regen verstärkt noch die trübe Atmosphäre. Wenigstens wirkt das Innere von Kostas' Haus einigermaßen wohnlich, aber sein jüngster Sohn kennt ihn nicht, weil er zu lange weg war.

Kostas kommt nach Hause und ist für seinen jüngsten Sohn ein Fremder
Nach der nun folgenden Titelsequenz muss man sich als unvorbereiteter Zuseher komplett neu orientieren. Ein Mann geht durch die Tür in Kostas' Haus, hinter der Tür lauert schon der Attentäter, legt ihm die Schlinge um den Hals und zieht (scheinbar) zu. Das "Opfer" ist aber nicht Kostas, sondern ein von der Polizei gestelltes Double. Das Verbrechen ist weitgehend geklärt und wird nun bei einem Ortstermin rekonstruiert, Eleni und Christos müssen dabei mitwirken - den tatsächlichen Mord bekommt man im Film nie zu sehen. Beide legen ein Geständnis ab, aber sie schieben sich gegenseitig die Hauptschuld zu und behaupten, dass der jeweils andere die Schlinge zugezogen hat und sie selbst nur widerwillig in das Verbrechen hineingezogen wurden. Von der Eintracht eines Liebespaars, das sie ja waren, ist nichts übriggeblieben. Überhaupt wirken sie nie im Film wie ein glückliches Paar. Ob sie das vor dem Mord waren, lässt Angelopoulos offen. Jedenfalls bekommt man den Eindruck von zwei Verzweifelten, die aneinander hängen, weil sie sonst nichts haben. Die Rekonstruktion der Tat und die Geständnisse bilden chronologisch gesehen den Schluss der Handlung. Welcher Version am Ende das Gericht glauben wird, und zu welchen Strafen die Täter verurteilt werden, ist nicht mehr Gegenstand des Films.

Die Tat wird rekonstruiert
Die beiden ersten Szenen von REKONSTRUKTION bilden also die Pole der Handlung, und der große Rest des Films zeigt in zeitlich voneinander abgegrenzten Sequenzen verschiedene dazwischen liegende Episoden. Zunächst gilt es, die Leiche zu entsorgen. Die vorgesehene Deponierung in einem Fuchsbau erweist sich als nicht realisierbar, weil er zu klein dafür ist. Schließlich verscharren die beiden Kostas in der Nacht vor ihrer Mauer. Doch am nächsten Morgen erkennt Eleni, dass sich das frische Grab sehr deutlich dunkel am Boden abzeichnet. Sie improvisiert, indem sie sofort das verräterische dunkle Rechteck zu einem Beet erweitert und darin Zwiebeln setzt. Tage später fahren Eleni und Christos per Anhalter in einem LKW in die Provinzhauptstadt Ioannina. Christos gibt sich in einer Pension als Kostas Gousis aus, er kauft eine Eisenbahnfahrkarte nach Athen auf den Namen Kostas Gousis, er gibt einen alten Brief von Kostas an Eleni erneut auf. Kostas' Abreise, seine Rückkehr nach Deutschland, soll vorgetäuscht werden. Doch das sind lediglich dilettantische Versuche zweier Amateure, die auf Dauer nicht von Erfolg gekrönt sind. Im Dorf tuschelt man über Kostas' Verbleib, und eine ältere Frau, vielleicht eine Verwandte von Kostas, beschuldigt Christos in aller Öffentlichkeit unverblümt, ihn umgebracht zu haben. Schließlich informiert die Frau die Polizei über den Verdacht.

Die Leiche wird entsorgt
Auch Elenis Bruder taucht auf und stellt bohrende Fragen. Als Eleni erfährt, dass Christos bei der Vertuschungsexpedition in Ioannina von einem Zeugen erkannt wurde, hält sie dem Druck nicht mehr stand und offenbart sich dem Bruder, bei dem bald die "staatsbürgerliche Pflicht" gegenüber dem Familiensinn obsiegt. So fliegt schließlich alles auf, und die beiden Täter werden verhaftet. Nicht nur die Polizei unter Führung eines Staatsanwalts ermittelt vor Ort, sondern es trifft auch ein Journalistenteam aus Athen ein (den Chefreporter spielt Angelopoulos selbst) und befragt und filmt Dorfbewohner, die beiden Täter und den Staatsanwalt, so dass die "Rekonstruktion" quasi gedoppelt wird. Der Staatsanwalt erklärt den Journalisten, dass zweifellos Elenis moralische Verkommenheit die Triebfeder des Verbrechens sei.

Die Polizei rückt an und beginnt die Untersuchung
Doch in Wirklichkeit entfalten sich nach und nach die Facetten der Misere des ganzen Landstrichs. Schwere Arbeit für wenig Lohn, Armut, Perspektivlosigkeit, Landflucht, und der in Deutschland lockende relative Reichtum auch für einfache Gastarbeiter. Aber auch antiquierte soziale Normen sind ein Teil des Problems. Als am Schluss der Film zum Ortstermin zurückkehrt und Eleni und Christos nach ihren Geständnissen abgeführt werden, stürzen sich die Dorffrauen wie Furien auf Eleni. Nur mit Mühe können sie von den uniformierten Polizisten davon abgehalten werden, Eleni gleich an Ort und Stelle zu lynchen. Doch frappierenderweise wird der ebenfalls anwesende Christos von den Erinnyen überhaupt nicht behelligt. Hier offenbaren sich, wie zuvor schon im Zitat des Staatsanwalts, gesellschaftlich determinierte Schuldzuweisungen. Oder anders ausgedrückt, die wütenden Dorfweiber werden zum ausführenden Organ des Patriarchats. Wie zur Illustration der desolaten Verhältnisse herrscht über weite Strecken des Films schlechtes Wetter, oft regnet es, oder es hat Nebel. In der zweiten Hälfte gibt es dann doch noch Sonne, aber da sind die Protagonisten schon so in ihre Misere verstrickt, dass die Trübnis nicht weichen will.

Meistens regnet es
REKONSTRUKTION begann mit einem Prolog, und er endet mit einem gut dreiminütigen Epilog und kehrt damit zum Anfang zurück. Nach dem Abtransport der geständigen Täter ist die jetzt absolut statische Kamera von außen auf die Vorderseite von Elenis Haus gerichtet. Nach ein Paar Sekunden kommt Christos von irgendwoher und geht ins Haus. Eine Weile passiert überhaupt nichts, dann kommt auch Kostas und geht hinein. Wenn man am Anfang gut aufgepasst hat, dann begreift man sofort (und wenn man weniger gut aufgepasst hat, dann spätestens beim zweiten Sehen), dass man das schon gesehen hat. Allerdings nicht, wie jetzt, das "Original", sondern die "Rekonstruktion" mit dem Double, und nicht von außen, sondern von innen durch ein Fenster nach draußen. Anders ausgedrückt, genau jetzt geschieht der Mord, während die weiterhin unbewegliche Kamera das Haus fixiert, aber nicht hineinsehen kann. Wieder passiert eine Weile nichts, dann kommen die drei Kinder von Kostas und Eleni von der Schule nach Hause und tollen noch etwas vor dem Haus herum.

Elenis Bruder macht seine Aussage und liefert sie damit aus, l.u. sitzend der Staatsanwalt, der Regisseur (mit Hut) als Reporter
REKONSTRUKTION entstand mitten in der Diktatur der Obristen um Georgios Papadopoulos. Das erforderte für Angelopoulos besondere Vorsichtsmaßnahmen, um nicht in die Fänge der Zensur zu geraten oder sich gar in persönliche Gefahr zu begeben - manches konnte nicht direkt gesagt oder gezeigt, sondern nur angedeutet werden. Das galt in noch verstärktem Ausmaß auch bei Angelopoulos' zweitem Spielfilm TAGE VON 36, der, wie der Titel schon andeutet, im Jahr 1936 im Vorfeld der Diktatur des Generals Metaxas spielt. Indem der Film etwas über die Zeit von Metaxas sagte, sagte er zwangsläufig (und von Angelopoulos gewollt) auch etwas über Papadopoulos und Konsorten aus. Doch auch hier gelang es dem Regisseur, durch gezieltes knapp-daneben-Blicken und zwischen-den-Zeilen-Sagen, den Film unbeschadet durch die Zensur zu bringen und trotzdem das auszusagen, was er zu sagen hatte, und vom aufgeschlossenen Teil des Publikums auch verstanden zu werden.

Links oben das "Mörderhaus"
Angelopoulos war berühmt (und bei manchen berüchtigt) für seine langen und sorgfältig durchkomponierten Plansequenzen in teilweise sehr langen Filmen. Dieser Inszenierungsstil deutet sich bei REKONSTRUKTION (und mehr noch bei TAGE VON 36) bereits an, aber beide Werke haben noch normale Spielfilmlänge, und die Geduld des Zusehers wird keineswegs über Gebühr beansprucht (der nächste Film DIE WANDERSCHAUSPIELER dauert schon fast vier Stunden, da scheiden sich dann die Geister). REKONSTRUKTION ist Angelopoulos' einziger Spielfilm in Schwarzweiß, und es ist ein teilweise sehr kontrastreiches Schwarzweiß, das nicht nur gut aussieht, sondern auch perfekt zur einerseits tristen und andererseits quasidokumentarischen Ausrichtung des Films passt. Angelopoulos hatte schon bei der ganz oben erwähnten Musikkomödie und dann 1968 bei seinem Kurzfilm EKPOMBI mit dem Kameramann Giorgos Arvanitis gearbeitet. Daraus wurde eine Arbeitsgemeinschaft fast für's Leben, denn Arvanitis filmte dann rund 30 Jahre lang, bis DIE EWIGKEIT UND EIN TAG von 1998, sämtliche Filme von Angelopoulos. In den 90er Jahren war schon Andreas Sinanos als zweiter Kameramann mit dabei, der dann ab den 2000er Jahren Arvanitis ablöste.

Manches an REKONSTRUKTION erinnert noch an den Neorealismus, und dazu gehört, dass mit Toula Stathopoulou eine von Angelopoulos entdeckte Laiendarstellerin die Hauptrolle spielt - sie war eigentlich Schneiderin, und beinahe Analphabetin. Aber sie war ein wahres Naturtalent, fand Gefallen an der Darstellungskunst und wurde professionelle Schauspielerin am Nationaltheater, und gelegentlich in weiteren Filmen. Angelopoulos setzte sie nach REKONSTRUKTION noch viermal ein. Auch fast alle anderen Dorfbewohner werden von ortsansässigen Laien gespielt, echte Schauspieler waren aber auch mit von der Partie. Gekostet hat der Film damals 13.000 Dollar, das wären heute inflationsbereinigt wohl rund 90.000 Euro.

Die Dorffrauen attackieren Eleni
Im letzten Jahr erfuhr REKONSTRUKTION wohl aufgrund des 50-jährigen Jubiläums wieder verstärkte Aufmerksamkeit, er lief 2020 auf der Berlinale und zum Jahreswechsel 2020/21 im New Yorker Museum of Modern Art. REKONSTRUKTION und ca. ein Dutzend weitere Filme von Angelopoulos sind in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und in England gab es REKONSTRUKTION zusammen mit den nächsten drei Spielfilmen in der Theo Angelopoulos Collection Vol 1, aber die ist mittlerweile wohl vergriffen. Schon 1971 lief REKONSTRUKTION einmal auf der Berlinale, genauer gesagt im Internationalen Forum des Jungen Films. Ein damals gemachtes ausführliches Interview mit dem Regisseur (plus ein etwas abgehobener Artikel über den Film) findet sich hier als PDF.

Mittwoch, 9. Juni 2021

Der merkwürdige Monsieur Victor

L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR (DER MERKWÜRDIGE MONSIEUR VICTOR)
Frankreich / Deutschland 1938
Regie: Jean Grémillon
Darsteller: Raimu (Victor Agardanne), Pierre Blanchar (Bastien Robineau), Madeleine Renaud (Madeleine Agardanne), Viviane Romance (Adrienne Robineau), Andrex (Robert Cerani), Georges Flamant (Amédée), Édouard Delmont (Kommissar Paroli), Charles Blavette und Armand Larcher (Inspektoren), Marcel Maupi (Rémi), Marcelle Géniat (Victors Mutter)

Im Hafen von Toulon
Toulon um 1930. Die südfranzösische Hafenstadt mit ihren verwinkelten alten Vierteln wird von braven Händlern und Handwerkern, Mitgliedern der Halbwelt und dem einen oder anderen Schurken bewohnt. Da ist zum Beispiel der integre, aber leicht aufbrausende Schuster Bastien, der mit der etwas leichtlebigen Adrienne in einer nicht spannungsfreien Ehe lebt. Zusammen haben sie einen kleinen Sohn. Gleich nebenan hat der gutbürgerliche Victor Agardanne sein Geschäft für Bekleidung und diesen und jenen Krimskrams. Er ist schon im fortgeschrittenen Alter, aber seine deutlich jüngere Frau Madeleine hat gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht, auch einen Sohn. Darüber ist Victor völlig aus dem Häuschen. Ohnehin in seinem Verhalten etwas fahrig und exaltiert, mit ausgeprägter Körpersprache, steigert er sich in einen nervösen Rausch der Fürsorglichkeit, und nebenbei schenkt er aus lauter Freude Bastiens Sohn Spielzeug aus seinem Laden. Wer so um den Nachwuchs besorgt ist, kann nur durch und durch ein Gutmensch sein - denkt man als Zuseher in den ersten Minuten. Doch weit gefehlt. Denn nebenbei ist Victor auch der Hehler und Vordenker einer Diebesbande, die aus den Ganoven Amédée, Robert und Rémi besteht. Die Bande hat gerade ein Schloss und eine Kapelle ausgeraubt, und so trifft man sich bei Victor im Hinterzimmer zur Übergabe der Beute. Im Umgang mit seinen Komplizen ist Victor überhaupt nicht nervös, sondern kalt und kontrolliert.

Zwei sehr unterschiedliche Paare - Bastien und Adrienne (oben), Victor und Madeleine
Aber diesmal läuft alles schief. Amédée hat genug davon, dass Victor den Großteil des Reibachs behält, ohne ein eigenes Risiko zu tragen. Diesmal will er ihm wesentlich mehr abpressen, und er droht, Victor in anonymen Briefen als Hehler zu denunzieren. Als er ihm ins Gesicht sagt, dass damit auch seine Frau und sein Kind hineingezogen werden und ihr Ruf ruiniert wird, verliert Victor die Kontrolle, und er ersticht Amédée in einer dunklen Seitengasse - und zwar unglücklicherweise mit einer Schusterahle von Bastien, die er zufällig gerade bei sich hatte, und die er in der Leiche zurücklässt. Noch dümmer für Bastien ist, dass Amédée Stunden zuvor mit Adrienne angebandelt hatte und Bastien deshalb eine heftige Auseinandersetzung mit ihm führte, die das ganze Viertel mitbekommen hat. So ist die Sache klar - Bastien hat Amédée aus Eifersucht erstochen! Der Film hält sich nicht mit Ermittlungen oder einem Gerichtsverfahren auf - in der nächsten Szene nach Untersuchung und Abtransport der Leiche ist Bastien schon zu zehn Jahren Straflager auf den Îles du Salut in Französisch-Guayana verurteilt, zu denen auch die berüchtigte "Teufelsinsel" gehört. Dort erfährt Bastien schon nach kurzer Zeit durch ein amtliches Schreiben, dass sich Adrienne in seiner Abwesenheit von ihm scheiden ließ. Es interessiert ihn kaum - wichtiger ist, wie er hier wegkommt.

Victor in seinem Laden mit einer Kundin, und die Ganoven
Sieben Jahre später - wir sind jetzt in der Gegenwart von 1938. Die Tat von damals und die unbeabsichtigten Folgen für Bastien ließen Victor nicht unberührt. Natürlich hat er sich nicht selbst belastet, aber er hatte schon beim Prozess (unvorsichtigerweise, und ohne jeden Erfolg) behauptet, dass Bastien unschuldig sei. Seitdem arbeitet es in ihm, und er ist oft griesgrämig, ohne ersichtlichen Grund für sein Umfeld, worunter seine Ehe mit Madeleine etwas leidet. Und er hat seitdem Adrienne heimlich finanziell unterstützt, um die Ausbildung ihres Sohns an einer guten Schule zu sichern. Adrienne wiederum hat schon lange ein Verhältnis mit Amédées früherem Komplizen Robert, und nun haben die beiden auch geheiratet - wobei der immer noch halbseidene Robert vielleicht mehr an Victors Zahlungen als an Adrienne selbst interessiert ist. Und just zu dieser Hochzeit platzt die Nachricht herein, dass Bastien von der Strafinsel geflohen ist und in der Nähe von Toulon gesehen wurde. Bastien geht es nicht um Adrienne, die er längst abgehakt hat, sondern darum, seinen mittlerweile jugendlichen Sohn Maurice wiederzusehen. Die Polizei in Person des alten Kommissar Paroli (der auch ein Freund von Victor ist) ist alarmiert. Es wird eine Belohnung in Höhe von 20.000 Francs auf Bastien ausgesetzt, und Maurice soll zusätzlich als Köder für Bastien dienen. Das geht schief, weil sich Maurice strikt weigert, dabei mitzuspielen. Doch Robert kommt auf dieselbe Idee, und er hat mehr Erfolg, weil er ja schon seit Jahren ein Ersatzvater (wenn auch vielleicht kein besonders guter) für Maurice ist.

Ein Mord bahnt sich an
Bastien ist unterdessen ausgerechnet bei Victor aufgekreuzt. Nicht etwa, weil er ihm irgendwie auf die Schliche gekommen wäre und sich rächen will, sondern weil Victor damals für ihn ausgesagt hatte und Bastien nun ihn um Hilfe dabei bittet, an Maurice heranzukommen. Victor wird nun regelrecht von seinem Schuldkomplex überwältigt. Er nötigt Bastien, der eigentlich erst mal wieder verschwinden wollte, geradezu, bei ihm in der Wohnung unterzutauchen. Madeleine macht er weis, dass es sich um einen alten Freund handle (den er merkwürdigerweise bisher nie erwähnt hatte), der von der Fremdenlegion entwichen sei und jetzt untertauchen müsse. Madeleine riecht den Braten schnell und erkennt Bastien, aber sie hält dicht. Nach einigen Tagen im Haus der Agardannes hat sich Bastien in Madeleine verliebt, aber andererseits ist da sein Dank und seine Bewunderung für seinen vermeintlichen Vorzeigefreund Victor. Und auch Madeleine ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem oft unleidlichen Mann und dem jüngeren leidenschaftlichen Gast, der (vielleicht) ein Mörder ist. Am Ende hat Robert mit Hilfe von Maurice herausgefunden, was er wissen wollte. Er schickt, um die Belohnung zu kassieren, Victor die Polizei ins Haus. Der mutiert noch einmal kurz zum kühl überlegenden Verbrecher, der alles auf eine Karte setzt, aber es nützt nichts mehr. In einem finalen Tumult wird Victor als der wahre Mörder enttarnt, überwältigt und vor einer gaffenden Menge ins Gefängnis gefahren. Fin. Vielleicht wird es eine gemeinsame Zukunft für Bastien und Madeleine geben, aber das lässt der Film offen.

Bastien kehrt nach Toulon zurück ...
L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR ist eine deutsch-französische Coproduktion, aber gefühlt ist es ein rein französischer Film, weil er in Toulon spielt und alle Darsteller sowie der Regisseur Franzosen waren. Es gibt genug Aufnahmen, die erkennbar in und um Toulon gedreht wurden, aber die Einstellungen in Studio-Sets entstanden in den Berliner UFA-Ateliers. Einer der beiden Set-Designer des Films war Otto Hunte, der in den 20er Jahren an einigen der Hauptwerke von Fritz Lang maßgeblich beteiligt war. Insbesondere mit METROPOLIS hat er sich in die Geschichtsbücher der Filmarchitektur eingetragen, aber auch JUD SÜSS muss er sich ankreiden lassen. Einen wichtigen deutschen Beitrag zu L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR lieferte auch Kameramann Werner Krien. Stilistisch ist der Film eine Art von Bindeglied zwischen dem Poetischen Realismus Carné'scher Prägung und dem südfranzösischen Kino eines Marcel Pagnol - wobei letzteres doch etwas die Oberhand behält. Vor allem gibt es deutliche Parallelen zwischen Jean Grémillons Toulon und Pagnols Marseille-Trilogie (MARIUS, FANNY und CÉSAR, 1931-36): Ein malerisches Hafenviertel am Mittelmeer, das von allerlei illustren Kleinbürgern bewohnt wird, und auch in der Trilogie spielt Raimu mit César eine der Hauptrollen. Hätte Marcel Carné Regie geführt (oder Jacques Prévert das Drehbuch geschrieben), dann hätte Victor am Ende wohl der verdiente Tod ereilt, und vielleicht wäre auch Bastien als tragischer Held gestorben (wie Jean Gabin gleich zweimal bei Carné, während er in Grémillons GUEULE D'AMOUR diesem Schicksal entgeht). Doch so gilt hier eher die Devise "leben und leben lassen", auch wenn dann doch mal jemand stirbt, wie Amédée. Am Ende löst sich zwar nicht alles in Wohlgefallen auf, vor allem natürlich nicht für Victor, aber dräuende Schicksalsschwere und Fatalismus gibt es hier nicht. Die Anklänge an den Poetischen Realismus liegen mehr im Visuellen. Zwar gibt es reichlich südfranzösische Sonne, aber Grémillon und Werner Krien gelingen auch sehr atmosphärische Nachtaufnahmen. In seinem nächsten Film, REMORQUES von 1941, bei dem Jacques Prévert tatsächlich einer der Autoren war, kam Grémillon der fatalistischen Stimmung des Poetisches Realismus deutlich näher.

... und taucht bei strömendem Regen bei Victor auf
Der in der Normandie geborene Jean Grémillon (1901-1959, manche Quellen nennen 1898 als Geburtsjahr) war außerhalb Frankreichs lange Zeit mehr oder weniger vergessen, auch wenn etwa Jonathan Rosenbaum nicht müde wurde, den Regisseur und seine Filme zu preisen. Das änderte sich spätestens 2012, als Criterion in den USA ein DVD-Set mit drei Filmen herausbrachte, nämlich REMORQUES, LUMIÈRE D'ÉTÉ und LE CIEL EST À VOUS (1941/43/44). Diese Veröffentlichung fand viel positive Resonanz und machte Grémillons Namen zumindest in Cineastenkreisen wieder bekannter. Nachdem er in den 20er Jahren etliche Dokumentarfilme gedreht und daraus auch einen Avantgardefilm montiert hatte, folgten am Ende der Stummfilmzeit zwei beachtliche Spielfilme, aber mit dem Misserfolg seines ersten Tonfilms 1930 begann eine lange Durststrecke, in der er auch einige erfolglose Filme in Spanien drehte (deren einer immerhin von Luis Buñuel coproduziert wurde). Erst mit dem schon erwähnten GUEULE D'AMOUR von 1937 kam er daraus wieder hervor. Die drei Filme der Criterion-Box gelten als die Höhepunkte in Grémillons Schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er wegen notorischer Finanzierungsschwierigkeiten nur noch drei Spielfilme vollenden, danach drehte er wie am Beginn seiner Laufbahn wieder einige Dokumentarfilme. In seinen späten Jahren hatte Grémillon auch eine führende Position in der Cinémathèque Française. In seiner Hochphase arbeitete er zweimal mit Jean Gabin und mehrfach mit Madeleine Renaud als Hauptdarsteller, auch Nebendarsteller wie Charles Blavette beschäftigte er mehrfach.

Adrienne zwischen zwei Männern
Das südfranzösische Moment in L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR kommt nicht nur durch den Schauplatz zum Tragen, sondern auch durch die Darsteller, von denen mehrere aus der Region stammten und in vielen dort spielenden Filmen mitgewirkt hatten, insbesondere (aber nicht nur) in solchen von Pagnol. Einigen der Schauspieler sind wir in diesem Blog schon begegnet - Édouard Delmont (Kommissar Paroli) in Renoirs TONI und LA MARSEILLAISE sowie im weiter nördlich angesiedelten JE T'ATTENDRAI, Charles Blavette (der einen von Parolis Inspektoren spielt) gab den Titelpart in TONI, war beim Wahlkampffilm LA VIE EST À NOUS dabei und ebenfalls bei LA MARSEILLAISE, und Andrex (Ganove Robert) wiederum bei TONI und LA MARSEILLAISE. Marcel Maupi (Rémi) sind wir hier noch nicht begegnet, aber auch er stammte aus Marseille und spielte öfters für Pagnol. Pierre Blanchar dagegen kam aus noch südlicheren Gefilden, nämlich aus dem damaligen Übersee-Département Algerien. Nur die beiden weiblichen Hauptdarsteller stammten aus dem nördlichen Frankreich. Das schauspielerische Epizentrum von L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR bildet aber zweifellos Raimu (bürgerlich Jules Muraire, 1883-1946). Er hatte ein Heimspiel, denn er wurde in Toulon geboren. Wie schon erwähnt, spielte er auch eine Hauptrolle in der Marseille-Trilogie, und LA FEMME DU BOULANGER (DIE FRAU DES BÄCKERS, 1938) und LA FILLE DU PUISATIER (DIE TOCHTER DES BRUNNENBAUERS, 1940) inszenierte Pagnol nicht nur mit ihm, sondern geradezu für ihn als Hauptdarsteller. Beide Filme wurden in den letzten Jahren restauriert und liefen in diesen Fassungen auch schon auf arte - gute Gelegenheiten, Raimus Schauspielkunst, die viel Humanismus ausstrahlt, zu würdigen. In L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR weicht er in den Szenen, in denen er den Hehler gibt, signifikant von diesem Image ab. Das ist ein Ausweis seiner Fertigkeiten als Schauspieler, wirft aber ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem der Rolle auf. Man hat nie den Eindruck, dass er den fahrig-nervösen bürgerlichen Victor seiner Umgebung nur vorspielt, sondern er ist halt so - und dann ist er plötzlich der abgebrühte Verbrecher. Wie ist er denn nun wirklich? Anscheinend beides zugleich, und das will nicht recht zusammenpassen. Aber das ist nur ein marginaler Kritikpunkt am Film, Jammern auf hohem Niveau. Denn es macht einfach Freude, Raimu bei der Arbeit zuzusehen.

Atmosphärische Nachtaufnahmen
L'ÉTRANGE MONSIEUR VICTOR ist in Frankreich in einer ebenfalls restaurierten Fassung auf einer Blu-ray/DVD-Combo erschienen. Der Film hat darauf optionale englische Untertitel, beim Bonusmaterial (u.a. ein Audiokommentar und eine neue einstündige Doku) hielt man das aber leider für verzichtbar.

Sonntag, 16. Mai 2021

Black Power Coming Home

RIVERBEND
USA 1989
Regie: Sam Firstenberg
Darsteller: Steve James (Major Samuel Quentin), Margaret Avery (Belle Coleman), Tony Frank (Sheriff Jake), Julius Tennon (Sergeant Tony Marx), Alex Morris (Lieutenant Butch Turner), Troy Dale (Cook), Vanessa Tate (Pauline), Al Evans (Bürgermeister)


Titeleinblendung: wer genau hinschaut, erkennt die Black-Power-Faust im I


Marco Siedelmann: "It's your Howard Hawks movie in many ways"

Sam Firstenberg: "Wow, thank you. I'm sure happy to hear it!"


RIVERBEND ist möglicherweise Firstenbergs "grand film malade", sein "großer kranker Film" nach François Truffauts Definition: ein abgebrochenes, gestörtes Meisterwerk, das vielen Pannen und Fehlentscheidungen zum Opfer gefallen ist; ein fehlerhafter, "kaputter", dabei aber auch leidenschaftlicher, ehrlicher und absolut faszinierender Film. Es war Sam Firstenbergs erster Film nach seiner künstlerisch und kommerziell höchst erfolgreichen Zeit bei Cannon, wo er REVENGE OF THE NINJA, NINJA III: THE DOMINATION, BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO, AMERICAN NINJA, AVENGING FORCE, AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION gedreht hatte: seine wahrscheinlich besten Filme, zumindest aber die Höhepunkte seiner Karriere im Bereich kreative Kontrolle und finanzielle sowie materielle Ressourcenausstattung. Nach seinem Rausschmiss aus Cannon (dazu später mehr) erreichte Firstenberg nie mehr dieses Niveau an produktionstechnischen Annehmlichkeiten: wirklich winzige Budgets (selbst im Vergleich zu den schon übersichtlichen Budgets bei Cannon) und entsprechender Produktionsdruck, Einmischungen, Konflikte, Produktionspannen würden von nun an Firstenbergs weitere Karriere begleiten. Wo seine Cannon-Filme wie aus einem Guss erschienen, wurden ab 1989 produktionsbedingte Brüche, Pannen, Probleme in seinen Filmen sichtbar. Seine Brillanz als Regisseur wurde eher in kleinen Details deutlich. Das macht seine Post-Cannon-Filme nicht weniger interessant. Und RIVERBEND ist zumindest für mich der interessanteste aus dieser zweiten Karrierephase. 


Von den sagen wir mal weniger gelungenen Firstenberg-Filmen ist mir RIVERBEND der liebste, ja fast schon ein Herzensfilm. Es ist ein Film, der von seinem geringen Budget teils etwas gelähmt wirkt, der in seinen verfügbaren Sichtungsversionen zumal auch nur mit viel Geduld sichtbar ist, und trotzdem kann ich nicht anders, als ihn ganz fest in mein Herz zu schließen. Wie viele Filme haben schon die Ambition, Elemente von Western, Vietnamheimkehrerfilm, Anti-Rassismus-Drama, Blaxploitation und Melodrama zu vereinen, und das ganze auch noch mit dem wunderbaren Steve James in einer raren Hauptrolle, inszeniert von Sam Firstenberg mit seinem üblichen Gespür für atmosphärische Set-Pieces sowie dieser tollen Mischung aus geradezu herzerwärmender Naivität und diesem Willen, den maximalsten Spaß aus seinen Genre-Formeln rauszuziehen.


Wir befinden uns in der Kleinstadt Riverbend, Georgia, im Jahr 1966. Der schwarze Bevölkerungsteil der Stadt wird vom rassistischen Sheriff Jake regelrecht terrorisiert: seine rassistischen Beschimpfungen sind noch das harmloseste, vielmehr nimmt er sich heraus, Schwarze zu misshandeln und zu ermorden, als Geisel zu entführen und zu vergewaltigen. Der Film beginnt auch damit, dass Marcus Coleman, der einem Richter belastende Dokumente zur Anklage Jakes vorbeibringen will, vom Sheriff in den Rücken geschossen und getötet wird. Selbst einige Weiße protestieren gegen Jakes Treiben, so etwa der Stadtrat Cook, aber wirklich etwas unternehmen tut doch niemand, weil sie alle Angst vor Jake haben.

Eines Tages fährt ein Auto der Militärpolizei in der Gegend vorbei, mit drei Gefangenen: Major Samuel Quentin, Sergeant Tony Marx und Lieutenant Butch Turner werden gerade in Richtung eines Bundesgefängnisses gebracht, um dort vor ein Militärgericht gestellt zu werden (wie man später erfährt: weil sie in Vietnam einen Befehl zur Ermordung von Zivilisten verweigert haben). Mit einer List entkommen die drei Soldaten und flüchten in das etwas von der Stadt abgelegene Haus der frischgebackenen Witwe Belle Coleman, deren Ehemann kürzlich von dem Sheriff ermordet wurde. Eigentlich wollen die drei Soldaten sich nur für wenige Nächte dort verstecken und dann weiter fliehen. Major Quentin kriegt allerdings rasch mit, dass die schwarze Bevölkerung der Stadt von einem rassistischen Sheriff terrorisiert wird – und beginnt außerdem eine Affäre mit Belle. Er entscheidet sich, die Schwarzen in Riverbend zu unterstützen und die Stadt mit ihnen zu besetzen (nicht nur aus uneigennützigen Motiven: er will auch für den eigenen Fall eine Öffentlichkeit schaffen). Sergeant Tony, der sich eigentlich überhaupt nicht für die "Südstaaten-Hinterwäldler" und für diesen "Southern shit" interessiert, wird nur mit letzterem Argument überzeugt, mitzumachen.

Gesagt, getan: Major Quentin und seine beiden Adjutanten organisieren für alle schwarzen Männer der Stadt ein geheimes militärisches Ausbildungscamp im Wald. Als das Training zu Ende ist, übernehmen sie nachts die Kontrolle über die Stadt: überfallen das Sheriff-Büro und sperren Jake und seinen Gehilfen ein, verbarrikadieren und verminen die Zugangsbrücke zur Stadt, verhaften die weiße Bevölkerung der Stadt und sperren sie in der Kirche ein, um sie als Geiseln zu halten.

Als Staatspolizisten am nächsten Tag an die verbarrikadierte Brücke gelangen, kommt es zum ersten Scharmützel. Dem ranghöchsten Polizisten übermittelt Major Quentin seine Forderungen: der Gouverneur des Staates Georgia soll mit Vertretern der Presse innert 24 Stunden erscheinen, ansonsten werde er die Geiseln hinrichten lassen. Quentin will ebenso wenig wie einst in Vietnam Zivilisten ermorden und hat sorgsam darauf geachtet, die Stadtbesetzung ohne Blutvergießen zu organisieren. Doch unter den frischen Soldaten Riverbends steigt der Rachedurst gegen die ehemaligen Peiniger, ebenso wie bei Pauline, die vom Sheriff vergewaltigt wurde. Und um die Situation zu verschlimmern, gerät auch Tony zunehmend außer Kontrolle, weil seine Motivation, die Riverbender zu unterstützen, sinkt und zugleich seine Lust auf Gewalt steigt...


Oben: Major Samuel Quentin und Belle Coleman
Unten: Lieutenant Butch Turner und Sergeant Tony Marx mit ihrem militärischen Vorgesetzten


RIVERBEND krankt an vielen Stellen, und das ist im Angesicht der chaotischen und pannengeplagten Produktionsumstände (dazu gleich mehr) auch nicht wirklich verwunderlich. "But what I wanted to say is that such a subject really deserved a much better script and a much bigger production. Much bigger and much more serious. Because the script – as interesting as it was – wasn't deep enough when it comes to character development. A story like this calls for a deep understanding of the characters and a deep analysis of the situation the characters are involved in. This script didn't go deep enough", so Firstenberg selbst in dem Buch Stories from the Trenches: Adventures in Making High Octane Hollywood Movies with Cannon Veteran Sam Firstenberg.

Tatsächlich bleiben die meisten Figuren von RIVERBEND eher schablonenhaft, im schlimmsten Fall sind sie Klischees, im besten Fall unausgegorene Entwürfe. Belles Figur ist besonders undankbar: von der trauernden Witwe wird sie in Handumdrehen zur Liebhaberin des im Grunde aus dem Nichts reingeschneiten Quentin (und später "erklärt" sie das dann ihrem verstorbenen Ehemann, niederknieend an seinem frischen Grab, in einer Szene, die sehr daneben wirkt). Im weiteren Verlauf wird sie mehr oder weniger zur Stichwortgeberin degradiert. Die Liebesgeschichte zwischen ihr und Quentin wirkt eher kitschig und unglaubwürdig: zwar humpelte ihr Ehemann Marcus, was man als verklausulierte Impotenz lesen kann, so dass nahe liegt, dass es vor allem sexuelle Anziehung ist, die an Major Quentin fasziniert – doch tatsächlich ist eher Blümchenliebe und idealistische Komplizenschaft zwischen den beiden zu sehen und spätestens im letzten Drittel wirken die beiden unglaubwürdigerweise wie ein altes (und sexloses) Ehepaar, das sich schon seit Jahrzehnten kennt.

Auch Sheriff Jake schrammt hart an der Karikatur vorbei: ein dauerhaft Vulgaritäten, Anzüglichkeiten, Beschimpfungen und Drohungen ausspuckender Mann, den man in nur wenigen Sekunden zu hassen liebt. Die personifizierte, hässliche Fratze des Rassismus (worüber man, abgesehen von einer kurzen Szene im Stadtrat, fast vergessen könnte, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist, kein individuelles).

Major Quentins Figur kann und muss sich auch voll und ganz auf Steve James' Charisma verlassen, während die Abgründe von Tonys Figur nur sehr oberflächlich angedeutet werden. Butch hingegen ist im Trio fast nur Beiwerk und bekommt gesamten Film gerade mal zwei kurze Szenen, in denen er etwas sagt.


Oben: Sheriff Jake und Stadtrat Cook (Produzent Troy Dale in einer Nebenrolle)
Unten: Pauline und der Bürgermeister


Aber genug des Jammerns... RIVERBEND ist gerade in seiner Verbindung von Western und Vietnamheimkehrer-Film ungemein faszinierend. Um den Verweis auf Hawks aus dem Eingangszitat wieder aufzunehmen: RIVERBEND wirkt ein bisschen wie der in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung engagierte, vergessene und unterschlagene gemeinsame Cousin von RIO BRAVO und dem ersten Rambo-Film FIRST BLOOD, der dann auch noch gegen seine beiden Verwandten rebelliert. 2020 habe ich mehrmals gelesen, dass Spike Lees DA 5 BLOODS (2020) der erste Film sei, der spezifisch schwarze Vietnamveteranen-Geschichten erzähle, aber RIVERBEND widerspricht dem ganz offensichtlich. Die rohe Brutalität, mit der Sheriff Jake gegen Schwarze vorgeht, wirkt manchmal übertrieben, aber wie wir wissen ist sie selbst im Jahr 2020 und 2021 leider noch von großer Aktualität.

Der Vietnamheimkehrerfilm (denn auch das ist er, nicht nur ein Actionfilm) FIRST BLOOD handelte von einem Außenseiter, der "seinen" ganz "persönlichen" Vietnamkrieg in ein kleines Provinzstädtchen brachte und dort entfesselte. RIVERBEND reichert dieses Motiv (Vietnamsoldaten bringen "ihren" Krieg in die US-Heimat zurück) nun mit dem afroamerikanischen Kampf um Bürgerrechte an: die Soldaten kehren aus einem Krieg in einem fernen Land zurück, doch das Land, für das sie gekämpft haben, führt nun wiederum Krieg gegen sie selbst. Im Gegensatz zu John Rambo geht es aber nicht darum, angespuckt zu werden, sondern auf offener Straße "legal" ermordet zu werden. Während Rambo einen "persönlichen" Krieg kämpfte, führt Quentin einen politischen und gesellschaftlichen Kampf, einen Krieg gegen Rassismus.

(Trotz der Unterschiede zu Rambo: Das Motiv des Verrats durch die Vorgesetzten taucht auch in RIVERBEND auf. Als sich Quentin in Vietnam weigerte, gefangen genommene Frauen und Kinder zu ermorden, wurde er degradiert, dann ebenso seine sich weigernden formalen Nachfolger Tony und Butch – und alle wurden dann von den eigenen Leuten bombardiert)

Ein weiterer Unterschied zu den Rambo-Geschichten ist, dass RIVERBEND, obwohl er als Actionfilm gilt und als solcher vermarktet wurde, eher als eine Art (revisionistischer) Western erzählt ist: eine Kleinstadt wird von einem brutalen Verbrecher terrorisiert (wobei dieser Verbrecher der Sheriff ist), ein Revolverheld und seine zwei Gehilfen kommen in den Ort und sagen dem Verbrecher den Kampf an (wobei dieser Revolverheld ein von der Militärpolizei gesuchter Soldat ist). So entspinnt sich dann ein RIO BRAVO unter umgekehrten Vorzeichen.

Hinzu kommt dann auch eine Prise Southern Gothic Americana: wie in all seinen Filmen hat Firstenberg ein besonderes Flair für die Räume, in dem der Film spielt. Diese sind in RIVERBEND an einer Hand abzuzählen: es gibt einen zentralen Platz in Riverbend, wo auch das Büro des Sheriffs und das Gebäude der Stadtverwaltung stehen, dazu eine Grünfläche mit einem kleinen Pavillon – trotz der Autos fast wie aus einem Western oder einem Tennessee-Williams-Melodrama, das in den 1920ern spielt. Dann die Kirche, in der die Geiseln gefangen genommen werden. Belles großes, aber auch etwas verfallenes Haus außerhalb der Stadt. Eine Kneipe für ein schwarzes Publikum außerhalb der Stadt. Und natürlich die symbolische Brücke, die zur Stadt führt, die Marcus Coleman zu Beginn auf seinem (gewaltsam unterbrochenen) Weg zum Richter überquert und schließlich verbarrikadiert und dann belagert wird. Ein kleine, abgeschlossene Welt, in die Major Quentin und seine beiden Adjutanten eintreten.


Der Town Square von Riverbend (gedreht wurde in Texas)

Die besetzte Brücke, die Riverbend mit der Welt verbindet


RIVERBEND ist in Firstenbergs Filmografie auch ein recht einzigartiger Hybrid. Über seine ursprünglichen Pläne für seine Karriere ist Firstenberg in Stories from the Trenches und in anderen Interviews ein bisschen ambivalent: er betont immer wieder, dass er schon immer US-amerikanisches Genre-Kino drehen wollte – und spricht andererseits auch von seinen Ambitionen, sozial engagiertes Kino zu machen (so wie in seinem ersten abendfüllenden Film, ONE MORE CHANCE, über einen entlassenen Häftling, der seinen Sohn sucht). In RIVERBEND löst sich diese Dichotomie auf: es ist gleichzeitig ein "social problem film" und ein Genrefilm, Anti-Rassismus-Film und Western in einem.

Bevor Firstenberg RIVERBEND drehen konnte, "musste" er erst einmal bei Cannon rausfliegen... In wenigen Jahren hatte er sich als zuverlässiger Regisseur bei Menahem Golans und Yoram Globus' unabhängiger Produktionsfirma etabliert, mit AMERICAN NINJA hatte er einen von Cannons größten Kassenhits inszeniert. Ein Auftrag folgte dem nächsten: am letzten Tag des Schnitts (Firstenberg war beim Editing seiner Cannon-Filme stets von Anfang bis Ende involviert) von AVENGING FORCE flog er nach Südafrika, um nahtlos und ohne jegliche Pause AMERICAN NINJA 2: THE CONFRONTATION zu drehen. In Südafrika, während des Drehs, wurde Firstenberg von Menahem Golan gedrängt, nach dem Dreh sofort nach L.A. zurückzukehren, um einen nächsten Film, diesmal mit Chuck Norris, zu inszenieren. Firstenberg weigerte sich, sondern nahm nach dem Ende des Südafrika-Drehs ohne Rücksprache zwei Wochen Urlaub in Israel mit seiner Frau und seiner Tochter. Das brachte ihm wieder zornige Anrufe Golans (der ihn doch ausfindig gemacht hatte): der Cannon-Chef orderte ihn dringend in die USA. Zurück in den USA erwies sich das alles als nicht ganz so dringend, wie Golan das hatte klingen lassen: in den ersten Zügen geplant wurde MISSING IN ACTION 3, den Firstenberg inszenieren sollte. Nach sechs Filmen (darunter großen Kassenschlagern) hintereinander wollte er nun aber über eine Anpassung seines Gehalts sprechen, was Golan so sehr "erfreute", dass kein Wort mehr mit seinem besten Ninja-Regisseur wechseln wollte und die Kommunikation zwischen beiden danach nur noch indirekt über Firstenbergs Agent lief. Während diese Diskussionen liefen, wurde Firstenbergs Ehefrau schwanger: eine Schwangerschaft mit Komplikationen, die sie ans Bett fesselte. Firstenberg entschied sich, bis zur Geburt seines zweiten Kindes nicht mehr zu arbeiten: eine Entscheidung, die Golan dazu brachte, Firstenberg gänzlich von Cannon zu verbannen. Die Regie von BRADDOCK: MISSING IN ACTION III wurde dem Regie-Neuling Aaron Norris, Chucks jüngerem Bruder, übertragen (der Dreh auf den Philippinen wurde zu einer Katastrophe, als ein von Cannon gemieteter Armeehubschauber abstürzte und vier Menschen dabei starben). Firstenberg verblieb bis zur glücklichen Geburt seiner zweiten Tochter bei seiner Ehefrau, arbeitete aber nie wieder mit Menahem Golan zusammen und war bei Cannon erst einmal raus (er inszenierte später noch AMERICAN SAMURAI für die kurzlebige Reinkarnation von Cannon unter Yoram Globus, ohne Menahem Golan: auch das keine glückliche Erfahrung für Firstenberg, als der Chef der Post-Produktion den Film umschneiden ließ. Nach dem Rezept von Orson Welles schickte Firstenberg ein Memo an den Cannon-Produktionschef Christopher Pearce, in dem er seine Schnittentscheidungen erklärte, was allerdings ignoriert wurde. AMERICAN SAMURAI ist auch tatsächlich der einzige Film, von dessen Endschnitt-Fassung sich Firstenberg explizit distanziert).


Es begann also Firstenbergs Post-Cannon-Karriere, und seinen nächsten Auftrag bekam er nicht von einem Filmproduzenten, nicht von einem Filmstudio – sondern von einem texanischen Bauunternehmer-Ehepaar! Troy Dale und Regina Dale hatten sich in Fassaden-Dekorationselemente spezialisiert, waren damit steinreich geworden, verkauften einen Teil ihres Geschäfts und hatten jetzt Lust, Geld im Filmgeschäft zu investieren. Ihre Sekretärin, Valerie Vance, vermittelte den Kontakt zu ihrem Ehemann, Samuel Vance, selbst nach eigener Aussage ein Vietnamveteran, der ein Filmdrehbuch in der Schublade hatte. Das Doppel-Paar Dale und Vance tat sich also zusammen und entschied sich, einen Film auf Grundlage von Samuel Vances Drehbuch zu machen. Dafür brauchten sie einen schwarzen Hauptdarsteller und so begannen sie in der Actionabteilung der Videothek ihres Vertrauens zu recherchieren. Sie kamen auf Steve James, dem charismatischen Nebendarsteller in AMERICAN NINJA. Die Credits im Video gaben einen gewissen "Sam Firstenberg" als Regisseur aus. Also sollten Steve James und Sam Firstenberg mit von der Partie sein. Gemäß dieser Erzählung von Marcus Manton, dem Cutter von RIVERBEND (vorher auch von Firstenbergs BREAKIN' 2: ELECTRIC BOOGALOO und AMERICAN NINJA), kamen also Hauptdarsteller und Regisseur auf diese Weise zu diesem Projekt (diese Geschichte über die Auswahl von Hauptdarsteller und Regisseur anhand eines geliehenen Videos erzählt Firstenberg selbst nicht, auch wenn er die Anfänge des Projekts durch die Ehepaare Dale und Vance bestätigt).


Abgesehen von Firstenberg, Steve James, Margaret Avery und Assistent David Womark (ein ehemaliger Kommilitone Firstenbergs an der Filmhochschule in L.A. und langjähriger Cannon-Veteran) war die Drehcrew fast komplett lokal, also texanisch. Gedreht wurde in sechs Wochen à sechs Drehtage in April und Mai 1988 in den texanischen Gemeinden Maypearl, Venus und Waxahachie (mit knapp über 18.000 Einwohnern im Jahr 1990 die größte der drei). Diese drei Drehorte teilt sich RIVERBEND übrigens mit BONNIE AND CLYDE. Das Period-Feeling war mit relativ geringen Mitteln zu erreichen, da diese Städtchen Ende der 1980er Jahre nicht wesentlich anders als Mitte der 1960er Jahre aussahen.

Steve James war natürlich schon damals bekannt aus diversen Nebenrollen in Actionfilmen von Cannon (darunter Curtis Jackson in AMERICAN NINJA). RIVERBEND war eine seltene Hauptrolle für den vielleicht schauspielerisch nicht besonders filigranen, dafür aber umso mehr charismatischen und markanten Darsteller. Damals war noch nicht vorauszusehen, dass RIVERBEND zu seiner späten Karrierephase gehören würde: James verstarb 1993 mit nur 41 Jahren an Krebs.

Mit Margaret Avery war sogar eine Oscar-nominierte Schauspielerin (1985, als Nebendarstellerin für Spielbergs THE COLOR PURPLE) dabei, auch wenn die Figur der Belle leider nicht besonders mit Komplexität glänzen darf. Eine sehr denkwürdige, geradezu bombastische Performance gibt auch der Texaner Tony Frank, der viel für das Fernsehen gedreht hatte (aber auch Nebenrollen für Walter Hill, Oliver Stone und Clint Eastwood): für den im echten Leben ganz und gar antirassistisch eingestellten Frank war die Rolle des Sheriff Jake besonders herausfordernd.


Das Projekt gestaltete sich aus Firstenbergs wie auch Mantons Sicht von Anfang an eher schwierig. Die Ehepaare Vance und Dale, die von Problemen des Filmemachens kaum etwas verstanden, stellten sich offenbar sehr beratungsresistent. Samuel Vances Originaldrehbuch war extrem lang und Firstenberg empfahl sowohl dem Vance- als auch dem Dale-Ehepaar, es zu kürzen, um eine praktikable Arbeitsgrundlage zu haben. Doch er wurde angewiesen, das Drehbuch Seite für Seite zu verfilmen: "He (the producer) focused on maximizing his investment instead of concentrating on seeking less material but rather make it better material. His attitude was 'I want every page filmed!' So from my point of view, this was not good, but it was his investment, his intention, and he did not listen to me." Mit anderen Worten: Firstenberg musste ein in dieser Form und in diesem Umfang eigentlich unfilmbares Drehbuch filmen, mit einem eher mäßigen Budget und in einer Drehtagzahl, die die bereits nicht üppige Anzahl der üblichen Drehtage bei Cannon noch unterschritt.


Die Quitting kam dann, als das Material abgedreht war und geschnitten werden musste: Marcus Manton begann, den Film zu schneiden. Aufgrund der enormen Fülle des Materials kam er nur langsam voran. Bei der Hälfte des geplanten Films war er schon bei über anderthalb Stunden Laufzeit: der in dieser Form geschnittene Film hätte also über drei Stunden gedauert. Dale ließ daraufhin den Schnittprozess abbrechen. Es war genau das passiert, wovor Firstenberg gewarnt hatte: ein zu langes Drehbuch, zu viel Drehmaterial – alles zu viel. Manton wurde angeordnet, den Work-in-Progress-Schnitt zu verwerfen und das ganze Material nunmehr so schnell wie möglich auf eine "normale" Spielfilmlänge nach Gutdünken zusammenzuschneiden. In dem Buch Stories from the Trenches bemerkt Manton dann auch: "It would have been much smarter to cut the whole thing down in the first place, and put all the money into the ninety minutes. This way they put it into three hours and threw half of it away." Manton sieht RIVERBEND aus heutiger Sicht auch als völlig zerschnitten: "I don't remember feeling it plays as a movie."


Irgendwann während des Prozesses kam es dann auch zu einem Streit zwischen Samuel Vance und Troy Dale: Dale bootete die Vances aus und übernahm das Projekt in eigene Hände. Nach der Fertigstellung von Mantons Schnitt fügte er auch selbst die Musik bei – mit einem nicht immer sicheren Händchen: die wiederkehrende, bluesige und dann in leichten Variationen wiederkehrende Titelmelodie ist recht gelungen, aber an manch anderer Stelle klingt es so, als hätte Dale bei Aerobic-Trainingsvideos den Score geklaut: Szenen, die mit der passenden Musik wahrscheinlich viel emotionaler wirken könnten, werden teils "sabotiert".


Ein versöhnliches, fast utopisches Ende


In Stories from the Trenches spart Firstenberg nicht mit Kritk an dem, was nicht so gut gelaufen ist (das Gespräch zwischen Quentin und Belle auf ihrer Terrasse, die die Romanze beginnt, sieht er als misslungen und emotional nicht involvierend), steht aber, wie auch bei den meisten seiner Filme, durchaus fest dahinter: "All those moments ended up in the movie exactly the way I envisioned them to be. [...] Let's say RIVERBEND is ninety-five percent my version." Zwischen den Zeilen meint man auch zu spüren, dass Firstenberg RIVERBEND einen besonderen Platz in seiner Filmographie einräumt. Der Bemerkung Marco Siedelmanns, dass der Film an einigen Stellen doch zu dunkel sei, widerspricht Firstenberg vehement und verweist auf die schlechte Qualität der verfügbaren Versionen.

RIVERBEND kam tatsächlich nie in eine reguläre Kinoauswertung. Der Film wurde beim Houston Film Festival im Frühjahr 1989 gezeigt. Zum Vertrieb wurde er an Paramount verkauft. Paramount soll wohl einige Testscreenings durchgeführt haben, die nicht besonders erfolgreich ausfielen und hat danach den Film nur auf VHS herausgebracht (Firstenberg vermutet, dass der Film thematisch zu explosiv war und deshalb als Direct-to-Video-Actioner vermarktet wurde). Die Subfirmen von Paramount, die für den Vertrieb verantwortlich waren, existieren nicht mehr und die Rechte bleiben ungeklärt. Firstenberg schreibt zwar, dass der Film an keine anderen Länder verkauft wurde, aber auf IMDb findet sich ein Hinweis auf eine deutsche Videopremiere und in der OFDb finden sich gleich zwei deutsche VHS-Fassungen (wenngleich keine Spur auf eine Kinoauswertung).

Der Film ist bislang nur auf VHS verfügbar, im beschnittenen Format von 1.33:1 statt 1.85:1. Der Film läuft da 96 Minuten (in vielen Quellen ist als Originallänge 106 Minuten zu finden). Rips einer solchen VHS-Version findet man online, eines davon auf Sam Firstenbergs persönlichen YouTube-Channel (in einem der Kommentare dort merkt er an, dass es ein Herzensprojekt war, diesen Film wieder verfügbar zu machen). Die Bildqualität ist leider grausig, eine unheilvolle Allianz aus trübstem VHS-Matsch und völlig ausgefransten digitalen Pixelwolken und macht die Sichtung unabhängig vom Standpunkt zum Film leider zu einer harten Durchhalteprobe.

Sonntag, 21. Februar 2021

In eigener Sache: Audiokommentar zu "Gangster sterben zweimal"


Wer auf "Whoknows Presents" meine Texte liest, sollte in der Regel ein bisschen Zeit mitbringen. Und wer mich gerne lange liest, kann mir demnächst auch lange zuhören, sogar über 100 Minuten: am 19. März erscheint Mino Guerrinis Heist-Movie GANGSTERS '70 ("Gangster sterben zweimal") in einer wunderschönen Liebhaber-Bluray-Edition beim Label Forgotten Film Entertainment, zum ersten Mal ungeschnitten und im korrekten Scope-Bildformat (hier bestellbar direkt bei Forgotten Film Entertainment). Unter den zahlreichen Bonusmaterialien befindet sich unter anderem auch ein Audiokommentar mit dem wunderbaren Robert Wagner von Eskalierende Träume sowie meiner Wenigkeit. Wir fachsimpeln zusammen unter anderem über die Verbindungen zwischen Mickey Mouse und Mario Bava, über Nasenstift-Fetischismus und die niederschmetternde Glamourlosigkeit von Lunches unter Kriminellen, über die Nutzung von Rouge bei alternden Männern und exklusive Auto-Sonderserien von Lamborghini... Wem das zu langweilig wird, kann natürlich auch zum anderen Audiokommentar mit Udo Rotenberg und Konstantin Hockwin switchen. Oder einfach wieder zum Filmton wechseln...


... denn die Hauptattraktion der Edition bleibt natürlich der Film selbst: eine Heist-Geschichte um einen alternden Gangster (Joseph Cotten), der frisch aus dem Gefängnis entlassen einen letzten großen Coup, nämlich einen Raubüberfall auf einen Geldtransport am Flughafen, wagen möchte – wobei schon recht früh vieles schief geht. Klingt zunächst sehr klassisch, doch schon nach wenigen Minuten fällt auf, dass "Gangster sterben zweimal" vor allem visuell ein ungemein aufregender Film ist: ein prachtvoller Scope-Film mit einer sehr expressiven Bildgestaltung, bei der immer wieder Figuren von Gegenständen an den Rand gedrängt werden, mit Jumpcuts und gekippten Perspektiven (teils kopfüber), einigen spektakulären Handkameraszenen, Zooms, dazu immer wieder lange Momente, die komplett in Spiegelungen gefilmt oder von gespiegeltem Glas verdeckt sind. Einige der kurzen, eruptiven Actionsequenzen und Schiessereien erinnerten Robert an die Actioninszenierung des Hong Konger Kinos der 1980er (hier sozusagen etwa 15 Jahre vorweg genommen). GANGSTERS '70 wird in der restaurierten Edition von Forgotten Film Entertainment als zweite Veröffentlichung der "Italo-Cinema Collection" fantastisch aussehen. Und er wird toll klingen: die Bilder werden von Egisto Macchis dissonant-avantgardistischen Score wunderbar getrieben.


Der Regisseur, Mino Guerrini, hatte mich in seinem an THE IPCRESS FILE angelehnten Eurospy-Film SICARIO 77, VIVO O MORTO schon beim Terza Visione 2018 mit seiner expressiven Inszenierung beeindruckt. Von den Darstellern ist natürlich vor allem Joseph Cotten bekannt, doch im Laufe des Films avanciert der eher unbekanntere Giulio Brogi zur eigentlichen schauspielerischen Attraktion des Films. Er spielt einen durch Drogensucht gefallenen Sportschützen-Champion, der unter Not in den Coup involviert wird. Seine Figur erinnert ein wenig an Yves Montands trinksüchtigen Scharfschützen in Jean-Pierre Melvilles zwei Jahre später in die Kinos gestarteten LE CERCLE ROUGE. Mit Melvilles Film teilt "Gangster sterben zweimal" auch die melancholische, schwermütige, pessimistische und bedrückende Atmosphäre und das Gefühl einer merkwürdig entvölkerten, abstrakten Genre-Parallelwelt (hier gleichwohl weniger amerika-fetischistisch).


"Gangster sterben zweimal" – der deutsche Verleihtitel ist tatsächlich sehr schön und treffend – ging, soweit ich es nachvollziehen konnte, trotz Vertrieb bin in die USA beim Publikum Ende der 1960er Jahre unter. Als poliziesco all'italiana kam er in Italien wohl zu früh, vor der großen Welle (und der Originaltitel war wohl nicht gerade sehr catchy). Als klassischer, amerikanisch inspirierter Heist-Movie kam er wohl zu spät (bzw. konnte nicht wie Melville mit publikumswirksamen Stars aufwarten). Seine größtenteils unsympathischen und schwierigen Charaktere machen ihn eher unwohlfühlig... Jetzt müsste aber endlich die Zeit für ihn gekommen sein. In vier Sichtungen innerhalb von knapp drei Monaten, vom ersten Kennenlernen bis zum gemeinsamen Einsprechen des Audiokommentars mit Robert, hat mich der Film immer wieder gefesselt und verblüfft.


Und jetzt kann er auch dich immer wieder fesseln und verblüffen, lieber Leser!

Montag, 15. Februar 2021

Dr. Wise erklärt, wie man das Virus besiegt - und wie man es nicht macht!



Der Film wurde 1919 vom britischen Local Government Board (LGB), das u.a. für Fragen der öffentlichen Gesundheit zuständig war, als Reaktion auf die verheerende Spanische Grippe in Auftrag gegeben. Sir Arthur Newsholme, der damalige Chief Medical Officer des LGB, dürfte den Anstoß dazu gegeben haben, der eigentliche Produzent war aber Joseph Best (der zuvor auch schon einen Film über Geschlechtskrankheiten gemacht hatte). Ob Best auch als Regisseur fungierte, und wer die sonstigen Mitwirkenden waren, weiß ich nicht. Der Film lief wohl im Vorprogramm der regulären Kinos, aber erst 1919, als die zweite Welle der Spanischen Grippe (die in England im Oktober 1918 begonnen hatte) schon im Abklingen war, und angeblich gab es auch nicht genügend Kopien für einen wirklich flächendeckenden Einsatz. Viele Kinobetreiber hatten auch keine Lust mehr, ständig "Public Information Films" vorführen zu müssen. Es ist also fraglich, ob DR. WISE ON INFLUENZA überhaupt eine größere Wirkung entfaltete. Nicht zuletzt als Reaktion auf die Pandemie und die unzureichenden Maßnahmen dagegen wurde 1919 in Großbritannien ein Gesundheitsministerium eingeführt, auf das die gesundheitspolitischen Aufgaben des LGB übertragen wurden.

DR. WISE ON INFLUENZA ist fast ein Unikum, denn ansonsten wurde die Spanische Grippe im britischen Film praktisch totgeschwiegen - weder im Spielfilm noch in Wochenschauen wurde sie thematisiert. Man wollte wohl zunächst in Kriegszeiten alles vermeiden, was die Bevölkerung in Panik hätte versetzen können, und nach Ende des Ersten Weltkriegs kam man nur schwer wieder aus diesem Modus heraus. Es scheint aber zumindest 1920 noch einen weiteren (und nur 90 Sekunden dauernden) Influenza-Film gegeben zu haben, den sich Christopher Addison, der erste Gesundheitsminister, als Erfolg auf die Fahnen schrieb. Angeblich haben den 30 Mio. Briten gesehen, so behauptete zumindest Addison. DR. WISE ON INFLUENZA hat in den Archiven des British Film Institute (BFI) die Zeiten überdauert und wurde im letzten Sommer aus naheliegenden Gründen erneut der Öffentlichkeit präsentiert. Die hier eingebettete Version wurde allerdings stark bearbeitet. Nicht nur die Farbe wurde künstlich hinzugefügt, es wurden auch viele Szenen stark gekürzt. Vielleicht wurde auch die Abspielgeschwindigkeit etwas erhöht. Auf dem YouTube-Kanal des BFI gibt es die unbearbeitete Version des Films, die dem ursprünglichen Seherlebnis offensichtlich viel näher kommt. Da hat man dann auch genug Zeit, um in Ruhe die Zwischentitel zu lesen.

Viele der vom fiktiven Dr. Wise empfohlenen Maßnahmen wirken für uns von der Pandemie Gebeutelten erstaunlich zeitgemäß und vertraut. Nur das Gurgeln mit Kaliumpermanganat würde man heute wohl nicht mehr empfehlen. Und es gibt im Film sogar Bilder des Erregers zu sehen! Oder etwa doch nicht? Nein, natürlich nicht. Bekanntlich wird die Grippe, und damit auch die Spanische Grippe, von Viren verursacht, und die konnte man in den damaligen Lichtmikroskopen überhaupt nicht sehen. Das gelang erst mit dem Elektronenmikroskop, doch das wurde erst in den 30er-Jahren entwickelt. Außerdem wimmelt und wuselt da nichts, sondern das Elektronenmikroskop liefert nur statische Bilder. Uns werden hier also x-beliebige Mikroben als angebliche Erreger untergejubelt (wenn nicht gar ein begabter Animationskünstler am Werk war). Freilich sollte man nachsichtig sein, denn das Influenzavirus wurde auch erst in den 30er-Jahren als Verursacher der Krankheit nachgewiesen - vorher zog man auch Bakterien in Betracht. Das BFI allerdings schrieb begleitend zur Neuveröffentlichung des Films: "Look out for some impressive microscopic footage of the deadly microbes in question [...]" - und das ist dann doch eine etwas dreiste Aufschneiderei. Aber zum Ausgleich dafür hat uns das BFI auch diesen lesenswerten Artikel von Bryony Dixon über den Film und seine Begleitumstände spendiert, in dem übrigens auch auf die Nöte der damaligen Kinobetreiber eingegangen wird, die den heutigen durchaus ähnlich waren. Interessante Informationen enthält auch dieser Artikel über die damalige Situation auf der Insel und die Maßnahmen des LGB.

Dienstag, 2. Februar 2021

Eine Seuche aus China und der Faschismus

BÍLÁ NEMOC (DIE WEISSE KRANKHEIT)
Tschechoslowakei 1937
Regie: Hugo Haas
Darsteller: Hugo Haas (Dr. Galén), Zdeněk Štěpánek (der Marschall), Bedřich Karen (Prof. Sigelius), Václav Vydra (Baron Krog), František Smolík (Krogs Buchhalter), Helena Friedlová (dessen Frau), Ladislav Boháč (Pavel Krog), Karel Dostal (Propagandaminister)

Wir befinden uns im Jahr 1937 in einer ungenannten und halb fiktiven europäischen Großmacht, die aber Parallelen zu Nazi-Deutschland aufweist. Das Land wird diktatorisch regiert von einem Marschall, dessen Name ungenannt bleibt und auch unwichtig ist - "der Marschall" ist im Film so eindeutig wie in der damaligen Realität "der Führer" oder "der Duce". Abgesehen von seinen Uniformen erinnert der Marschall äußerlich nicht sehr an Mussolini oder Franco und gar nicht an Hitler, eher an Juan Perón (der aber erst in den 40er Jahren die große Bühne betrat). Doch der Diktator verfolgt eine aggressive Aufrüstungspolitik, die in die Eroberung neuen "Lebensraums" münden soll, wie er in Reden vor den jubelnden Massen ganz unverblümt verkündet. Es wird nicht explizit gesagt, dass dieser Lebensraum "im Osten" liegen soll, aber die Parallele zu Hitlers Eroberungspolitik ist trotzdem offensichtlich. Erstes Ziel soll ein kleines und scheinbar wehrloses Nachbarland sein, das auch nicht namentlich genannt wird, in dem man aber zwanglos die damalige Tschechoslowakei erkennen kann. Eine wichtige Stütze der militärischen Pläne ist der Rüstungsindustrielle Baron Krog, der in seinen Fabriken nicht nur Flugzeuge und Panzer, sondern auch Giftgas produzieren lässt. Sein Neffe Pavel ist der Adjutant und zukünftige Schwiegersohn des Marschalls - die Allianz der deutschen Schwerindustrie (Krupp, Flick, Thyssen etc.) mit Hitler lässt grüßen.

Der Marschall hält eine Rede; der Zivilist links ist der Propagandaminister, der natürlich an Goebbels erinnert
BÍLÁ NEMOC ist also eine politische Allegorie auf die damaligen Zeitumstände, aber es gibt einen wichtigen zusätzlichen Punkt: Es grassiert eine tödliche Pandemie, die ihren Ursprung in China hat. Offiziell heißt die Krankheit Morbus Chengi, nach dem chinesischen Wissenschaftler, der sie in Peking erstmals nachgewiesen und beschrieben hat. Doch allgemein wird sie "die Weiße Krankheit" genannt, nach dem ersten Symptom: kleine weiße Flecken auf der Haut, in denen die Sinnesrezeptoren abgestorben sind. Die Flecken vergrößern sich, und die Haut und das Gewebe darunter gehen ähnlich wie bei Lepra in Verwesung über, was üblen Gestank und heftigste Schmerzen verursacht und in wenigen Monaten zum sicheren Tod führt. Anders als eine wohlbekannte heutige Pandemie wird die Weiße Krankheit von Bakterien verursacht. Sie befällt aber nur Personen ab einem Alter von ungefähr 45 bis 50, die Jüngeren sind immun. Ein Heilmittel gibt es nicht, und Prof. Sigelius, Leiter einer großen Klinik und wichtigste medizinische Autorität im Land, empfiehlt zur Behandlung nur Desinfektionsmittel gegen die Geruchsbelästigung und Morphium für die Kranken im Endstadium. Der Marschall aber spielt die Seuche herunter und wähnt sich immun, gewissen heutigen Staatenlenkern nicht unähnlich.

Prof. Sigelius - in seiner Klinik ein Diktator im Kleinen
Die Lage ändert sich, als der einfache Hausarzt Dr. Galén (der Name ist eine Referenz an Galen, neben Hippokrates berühmtester Arzt der Antike) in der Klinik von Prof. Sigelius vorstellig wird. Er hat nämlich als bislang einziger doch ein Heilmittel für die Seuche entdeckt und in seiner Armenpraxis erfolgreich angewendet. Nur sehr mühsam kann er den arroganten Professor, der gegenüber seinen Untergebenen und dem einfachen Arzt Galén selbstherrlich und gegenüber dem Marschall subaltern auftritt, davon überzeugen, in der Klinik einen kontrollierten Versuch mit dem Medikament zu gestatten. Doch dieser gerät zu einem vollen Erfolg, der auch dem Marschall nicht verborgen bleibt, und Sigelius sonnt sich in dem Erfolg. Es gibt aber einen Haken. Dr. Galén hatte sich ausbedungen, die Kranken in der Klinik selbst zu behandeln, und er weigert sich, die Rezeptur des Heilmittels an den Professor oder sonst irgendwen zu verraten. Genauer gesagt, er knüpft es an eine Bedíngung: Erst wenn der Marschall und andere bedeutende Staatschefs dem Militarismus abschwören und eine allgemeine Friedensordnung ausrufen, wird er seine Formel der Öffentlichkeit übergeben. Bis dahin wird er neben der genau bemessenen Zahl der Versuchspatienten in der Klinik nur die Armen in seiner Praxis behandeln. Als Galén in der Klinik einer Abordnung von Journalisten von seiner Bedingung berichtet, wird er vom erbosten linientreuen Sigelius hinausgeworfen und zieht sich erst mal in seine Praxis zurück.

Dr. Galén
Parallel zu diesen Entwicklungen hat der Film auch die Geschichte eines Angestellten von Baron Krog verfolgt. Zunächst nur ein kleines Licht, rückt er zum Chefbuchhalter auf, weil gleich eine Reihe seiner Vorgänger in dieser Position der Weißen Krankheit erlegen sind. Der Mann ist ein reaktionärer Kleinbürger, ein Mitläufer par excellence, der auch die Kriegspläne des Herrschers voll und ganz unterstützt. Erst als er bemerkt, dass seine Frau einen jener weißen Flecken vor ihm verborgen hält, setzt langsam ein Umdenken bei ihm ein, und schließlich landet er mit seiner Frau in Galéns Praxis. Noch jemand findet sich dort ein, nämlich inkognito Baron Krog. Der hat nämlich auch einen weißen Fleck an sich entdeckt und will sich die rettende Behandlung erschleichen, indem er einen Armen mimt. Dr. Galén bestätigt die niederschmetternde Diagnose, aber er durchschaut Krogs Schwindel und weigert sich, ihn zu kurieren. Der bricht daraufhin regelrecht zusammen und fleht den Marschall an, seine Kriegspläne aufzugeben. Als der sich natürlich weigert, erschießt sich der Baron. Kurz darauf beginnt der Einmarsch in das Nachbarland, doch der Widerstand dort ist erheblich größer als erwartet und zumindest vorerst nicht erfolglos. Und dann bemerkt der Marschall, dass auch er gegen alle seine Erwartungen von der Weißen Krankheit befallen ist. Im Handumdrehen ist nun alles anders: Der Marschall ruft seine Truppen zurück, lässt eine Friedensvereinbarung aufsetzen und ruft Dr. Galén zu sich. Doch der läuft direkt vor dem Präsidentenpalast einem aufgebrachten Mob in die Hände, der die neue Situation noch nicht begriffen hat ...

Der Marschall und Baron Krog, Partner im Geschäft und in der Politik
BÍLÁ NEMOC entstand in den Prager Barrandov-Studios, in den 30er Jahren das Zentrum der florierenden tschechoslowakischen Filmindustrie. Der Film beruht auf dem gleichnamigen dreiaktigen Bühnenstück von Karel Čapek (der auch die Vorlage für KRAKATIT geliefert hatte), das im Januar 1937 in Prag Premiere hatte, fünf Monate lang aufgeführt wurde und auch erfolgreich im europäischen Ausland lief - aber natürlich nicht in Deutschland. Der deutsche Gesandte in Prag fühlte sich sogar zu einer Protestnote bemüßigt. Der im mährischen Brünn/Brno geborene Hugo Haas (1901-1968) war damals sowohl als Schauspieler wie auch als Regisseur beliebt und erfolgreich. Haas als Dr. Galén, Zdeněk Štěpánek als der Marschall und Bedřich Karen als Prof. Sigelius (und vielleicht noch weitere Darsteller) hatten ihre Rollen schon auf der Prager Bühne gespielt und wiederholten sie dann im Film, den Haas auch inszenierte (im Gegensatz zur Bühnenfassung, bei der Karel Dostal, der Propagandaminister im Film, Regie führte). Der Film hält sich weitgehend an die Vorlage und er kam im Dezember 1937 in die Kinos. Haas inszenierte ohne größere filmische Höhepunkte, aber auch ohne größere Schwächen, und allein schon als zeitgeschichtliches Dokument ist er allemal noch sehenswert. Nur eine gewisse Naivität oder grundlosen Optimismus könnte man im Rückblick bemängeln - wenn doch nur alle Kriegstreiber und Faschisten so schnell umfallen würden wie der Baron und der Marschall ... Bekanntlich entwickelten sich die Dinge in der echten Tschechoslowakei schlechter als in ihrem halb-fiktiven Filmgegenstück. Der aus einer jüdischen Familie stammende Hugo Haas floh in die USA (sein Vater und sein Bruder Pavel, ein Komponist, wurden von den Nazis ermordet) und kam in Hollywood unter, vorerst aber nur als Schauspieler. Erst 1951 hatte er so viel Geld angespart, dass er eine kleine Produktionsfirma gründete und wieder als unabhängiger Regisseur, Produzent und sein eigener Hauptdarsteller arbeiten konnte. Es handelte sich dabei durchweg um Billigproduktionen, die aber interessant gestaltet waren und heute einen guten Ruf genießen, auch wenn sie damals wenig beachtet wurden. Seinen Lebensabend verbrachte Hugo Haas dann in Österreich, er starb 1968 in Wien.

Der Marschall besucht die Klinik, und das Personal steht stramm
BÍLÁ NEMOC wurde 2016 in einer internationalen Zusammenarbeit vom Nationalen Filmarchiv Prag und vom Ungarischen Filmlabor in Budapest mit Geldmitteln aus weiteren Ländern digital restauriert. Diese Version ist in sehr guter Qualität und mit wahlweisen englischen Untertiteln auf einem YouTube-Kanal, der vom Nationalen Filmarchiv Prag gemeinsam mit weiteren Institutionen betrieben wird, ansehbar, wird dort aber unerquicklich oft von Werbung unterbrochen. Die restaurierte Fassung ist auch einzeln und zusammen mit KRAKATIT auf Blu-ray erhältlich, und es gibt auch ältere DVDs, ebenfalls einzeln und zusammen mit KRAKATIT.