Dienstag, 21. Dezember 2021

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Endlich wieder Terza! Das meisterwartete Kinoereignis 2021 fand vom 25. bis 29. August 2021 statt. Nach mehreren Ausgaben in Nürnberg und in Frankfurt am Main ging es dieses Jahr nach Karlsruhe: um der großen Zuschauerschaft in Pandemiezeiten genügend Abstand zu ermöglichen, brauchte es ein größeres Kino als im Frankfurter Filmmuseum, und dieses fand sich mit der Schauburg in Karlsruhe, Heimat der in Off-Festivalliebhaberkreisen geschätzten 70mm- und Technicolor-Festivals. Statt hybrid oder online oder remote oder was auch immer – mehr Kino! Ein Saal mit 350 Plätzen und einer riesigen Cinerama-Leinwand.

Wie immer beim Terza gilt: die Filme liefen auf 35mm-Kopien. Doch auch da gab es dieses Jahr Ausnahmen (nämlich: 70mm).



Mittwoch, 25. August 2021


ab 19.00 Uhr




ARRIVERDERCI ROMA

Regie: Roy Rowland

Italien/USA 1957

105 Minuten, dF

Der Schlagersänger Marc Revere (Mario Lanza) reist nach Rom, um dort seine nach einem Eifersuchtsstreit entschwundene Verlobte Carol (Peggie Castle) zu suchen. In der Ewigen Stadt kommt er bei seinem entfernten Cousin Beppo (Renato Rascel) unter und freundet sich mit der jungen Raffaela (Marisia Allasio) an, die sich in ihn verliebt.

Beschwingt und leicht startete das 7. Terza mit einem italienisch-US-amerikanischen Musical, das ganz auf den italienischstämmigen US-Startenor Mario Lanza zugeschnitten war. In ihrer schönen Einführung sprach Bilquis Castaño Manias unter anderem über die sehr schwierigen Produktionsumstände des Films: Lanza, zu diesem Zeitpunkt schon von schwerem Alkoholismus geprägt (er starb zwei Jahre später), erwies sich als sehr kapriziöser und schwieriger Star, der sich immer wieder über die billigeren Produktionsbedingungen in Italien (im Vergleich zu den USA) echauffierte und (alkoholbedingt) immer wieder Probleme mit seiner Stimme hatte. Am fertigen Film merkt man das kaum an: ARRIVERDERCI ROMA wirkt wie ein locker aus der Hüfte geschossener Film und keineswegs wie das Ergebnis einer Produktionshölle. Gleichwohl Lanza natürlich die tragende Säule des Films ist, bietet der Film auch viele andere Attraktionen.

Am großartigsten ist ARRIVERDERCI ROMA nämlich dann, wenn er Plot Plot sein lässt und sich vollkommen selbstvergessen in seinen Revuenummern verliert. "There's Gonna Be a Party Tonight" ist ein früher glorreicher Höhepunkt, bei dem Mario Lanza zusammen mit seinen Kumpanen zunächst mit Einkäufen aus einem Laden herauskommt, und anschließend singend, tanzend und akrobatierend durch das populäre Viertel spaziert und sämtliche Passanten zu einer großen Sause einlädt. Eine Explosion aus Musik, Bewegung, Gewusel, Lebensfreude, gefilmt in langen, eleganten und trotz ihrer scheinbaren Einfachheit völlig umwerfenden Kamerafahrten. Die Szene kulminiert an der menschengefüllten Außentreppe eines populären Wohngebäudes (ein Ausschnitt ist hier zu sehen).

Hier einige Worte zum besonderen Kinosaal in der Karlsruher Schauburg mit seiner 7 x 17 Meter großen, leicht gekrümmten Leinwand: es war ein absolutes Fest in Sachen Kino-Immersion. Bei ARRIVERDERCI ROMA fiel dann auch recht schnell auf, dass besonders seitliche Kamerafahrten (gerade natürlich in Cinemascope) wesentlich "swooshig'er" erlebbar waren als auf kleineren, "normalen" Leinwänden (geschweige denn auf einem Bildschirm). Der Detailreichtum von ARRIVERDERCI ROMA war teils absolut atemberaubend: die Feier, die nach "There's Gonna Be a Party Tonight" in Beppos Wohnung stattfindet, zeigte geradezu ein musikalisches Panoramagemälde der Lebensfreude (gleichwohl nebenbei hier der zentrale Konflikt des Films angedeutet wird: Raffaela liebt Marc, doch er beachtet sie nicht und tanzt einfach mit einer anderen Frau).

Mit dem "eigentlichen Superstar des Films" (Zitat aus Bilquis' Einführung), nämlich Rom, ist alles möglich. Nach eben beschriebener Sause lädt ein unbekannter, aber sehr dankbarer Partygast Marc, Raffaela und Beppo zu einer Hubschrauber-Spritztour ein (sic!). Alle vier steigen ein (Beppo nimmt seine Gitarre mit, man weiß ja nie, wann man sie braucht) und dann fliegen sie über Rom. Und dieser Flug hat es in sich: nicht nur Plot, sondern auch Musical-Nummern werden mehrere Minuten lang völlig links liegen gelassen für einen Entdeckungsflug durch die Lüfte der Ewigen Stadt: Ruinen in Vororten, moderne Neubauten, die Innenstadt mit dem Kolosseum, das Viktor-Emanuelsdenkmal – all dies wird aus der Luft besichtigt. Für mehrere Minuten stoppt der Film, um Rom dieses Kino-Tribut zu setzen.

Angesichts von so vielen, im positiven Sinne "selbstzweckhaften" Attraktionen ist es geradezu ein Schock, als Marc dann doch endlich wieder seine entflohene Verlobte zufällig trifft und dann wieder ein wenig Plot abgearbeitet werden muss, um schließlich in einem denkbar grausamen Happy-End zu münden: Marc und Raffaela finden doch zusammen, während Beppo, der sich während des Films in Raffaela verliebt hat und sich zunehmend als eigentlicher Sympathieträger von ARRIVERDERCI ROMA erwiesen hat (Marc entpuppt sich doch als recht egoistische, selbstgefällige – mit Verlaub – Arschgeige: die Einladung "There's Gonna Be a Party Tonight" beispielsweise spricht er aus für Delikatessen, die nicht mit seinem Geld gekauft wurden), ganz alleine und traurig zurückbleiben muss.

Ein kleines Lieblingsdetail: auf einem Geländer im Eingangsbereich von Beppos Wohnung befand sich der abgetrennte, behelmte Kopf eine antiken, weiblichen Statue. Sie war immer wieder in mehreren Einstellungen prominent zu sehen, allerdings meist etwas verrutscht und an anderer Stelle. Continuity-Fetischisten würden wohl "Goof" schreien: ich sage eher, das ist ein Kuleschow-Effekt ohne Montage. Der Kopf schien eher ein "griechischer" (römischer?) Chor zu sein, der die Handlung aus dem Hintergrund heraus kommentierte. War die Szene fröhlich, blickte der Kopf fröhlich. War die Szene gerade traurig, blickte auch der Kopf traurig – freilich, ohne natürlich sich irgendwie geändert zu haben, es war ja der gleiche Kopf. In einer Szene war er aber gefährlich nah an der Kante des Geländers und ich befürchtete etwas, dass er herunterfallen könnte...



ab 21.45 Uhr


Die 7. Ausgabe des Terza hielt für die Zuschauer eine besondere Cine-Delikatesse bereit: über die fünf Tage verteilt lief eine kleine Retrospektive mit fünf Kurzfilmen von Peter Tscherkassky. Nun, Peter Tscherkassky ist Österreicher und seine Filme sind auch österreichische Produktionen – in seinen bildgewaltigen Experimentalfilmen benutzt er allerdings immer wieder "found footage" aus fremden Filmen, darunter eben auch italienische Genrefilme! Für die beiden Festivalleiter Andreas Beilharz und Christoph Draxtra war diese kleine Verbindung Grund genug, das Festival hier etwas über den Tellerrand hinaus schauen zu lassen.

Nicht jedem hat dieses Sonderprogramm gefallen. Ich persönlich fand es absolut großartig und auf jeden Fall eine große Bereicherung für ein ohnehin schon überreiches Programm.


DREAM WORK

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2001

11 Minuten

Aus den Träumen einer jungen Frau...

Peter Tscherkasskys Filme sind wilde und spektakuläre Formexplosionen – und dabei absolut materialfetischistisch. Found Footage wird verfremdet, verdunkelt, erhellt, zerschnitten, in Negativ invertiert, übereinander gelegt, die Tonspur wird gleichermaßen attackiert und bearbeitet. Zu sehen sind Filme, bei denen ich nach ihrem Erleben auf 35mm auf einer riesigen Kinoleinwand Zweifel habe, ob sie in ihrer entfesselten Wildheit digital überhaupt "abbildbar" sind.

DREAM WORK, einer von Tscherkasskys Filmen aus einer Cinemascope-Serie, ist in der Erinnerung mittlerweile etwas verblasst im Vergleich zu einigen anderen, die im Laufe des Festivals noch gezeigt werden sollten. Das mindert nicht den überwältigenden Einschlag, den meine erste Begegnung mit Tscherkassky hatte.





IL GATTO A NOVE CODE ("Die neunschwänzige Katze")

Regie: Dario Argento

Italien/Frankreich/BRD 1971

112 Minuten, OmU

Ein Einbruch in einem Institut für Genetik zieht eine Reihe von Morden nach sich. Der Journalist Carlo Giordani (James Franciscus) und der erblindete Rentner und Ex-Journalist Franco Arno (Karl Malden) versuchen zusammen, das Rätsel zu lösen, werden aber rasch selbst zur Zielscheibe des Mörders. 

Die erste Begegnung mit dem Film beim 1. Jenaer Paradies-Festival war eher unbefriedigend: Dario Argentos zweite Regiearbeit hatte mich mehr oder minder gepflegt gelangweilt. Meine Hoffnung, ihm bei der zweiten Sichtung (jetzt in vollständiger italienischer Originalfassung im Vergleich zur deutschen, um etwa 22 Minuten geschnittenen Kinokopie) näher zu kommen, wurde leider enttäuscht. Ich werde mit ihm irgendwie nicht warm.

Dennoch gibt es doch das eine oder andere, was ein wenig hängen geblieben ist. Die minutiösen, teilweise experimentellen Montagen, die mit fast subliminalen Bildeinschüben arbeiten (immer wieder ist ganz kurz eine Extremnahaufnahme auf Augen zu sehen), sehen schon ziemlich toll aus auf der großen Leinwand. Die Szene, die mir schon bei der ersten Sichtung als eine Art visueller Höhepunkt des ganzen Films im Gedächtnis blieb, nämlich die rasante Autofahrt der Catherine Spaak mit James Franciscus, war auch diesmal ein Fest: ein neckisches Spiel der Verführung (Spaak baggert Franciscus mit ihrem halsbrecherischen Fahrstil an) mit leichten Screwball-Elementen, aufgelöst in einer atemberaubenden Actionszene.

Und Karl Malden hat aus meiner Sicht zwar in besseren Filmen mitgespielt, aber er hat doch eine sehr schöne Rolle. Gerade Maldens Figur und ihre Interaktion mit der Nichte (aber auch mit Franciscus' Reporter) ist wunderbar – und tatsächlich noch mal ein Beweis, dass Argento eben kein kalter Formalist ist, dem Figuren egal sind. Letzteres wird auch gegen Ende in einem kurzen Augenblick sichtbar: Giordani erhebt schwere Beschuldigungen gegen Anna (Spaak), die dann aber in wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus zusammenfallen. In einem kurzen Blickwechsel zwischen den beiden, die sich vorher eigentlich lieb hatten, wird klar, dass etwas unwiderruflich kaputt gegangen ist. Ein sehr starker, emotionaler Moment, inhaltich weit entfernt von den schaulustigen Attraktionen, mit denen Argento gemeinhin assoziiert wird.

Ein klein wenig enttäuscht hat mich auch Ennio Morricones Score, der mir insgesamt etwas beliebig, austauschbar erschien. Doch auch hier: das zärtlich-einfühlsame Thema, das Franco Arno und seine Nichte geschenkt bekommen, bringt dem Film eine sehr ergreifende Emotionalität (hier zu hören). Und die Musikbegleitung zum Showdown, die eine funky-bluesige Basslinie und ein dissonant-kakophone Klänge aufeinandertreffen lässt (hier zu hören), frass sich fast bis zum Einschlafen als Ohrwurm in meinen Kopf.



Donnerstag, 26. August 2021


ab 12.30 Uhr


INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2005

17 Minuten

IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO... neu montiert und verdichtet.

Vor INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE lief der Trailer zu "Zwei glorreiche Halunken", nun lief der Film in einer Art ultrakondensierten, verfremdeten, verdichteten, zugespitzten Kurzfassung. Tscherkasskys Filme sind wie bereits gesagt keine "normalen" (also narrativen) Filme, sondern überwältigende, berauschende und hypnotisierende Totalerlebnisse. In INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE kulminiert in einer wilden Schiesserei: rasenden, stark verfremdete Bilder des Films mit einer stakkatoartigen Abfolge ohrenbetäubender Schüsse.


Weniger experimentell, dafür heiterer ging der erste, dem Western gewidmete Filmblock des Tages weiter...




SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR ("Die sieben Pistolen des MacGregor")

Regie: Franco Giraldi

Italien/Spanien 1966

93 Minuten, dF

Die sieben Brüder MacGregor wollen ihr Vieh in einer weitab ihrer Farm entfernten Stadt verkaufen. Dort werden sie vom Viehbaron Crawford, der zugleich örtlicher Gangster-Pate ist, zunächst ins Gefängnis gebracht. Später legen sie sich mit Crawfords furchterregendem Handlanger Santillana an.

Ein Film, der mit einer zünftigen Schiesserei beginnt, das ist schon mal gar nicht schlecht... Richtig großartig war aber, dass hier eine Bande zäher, harter Banditen und Viehdiebe zwei älteren Ehepaaren und Viehzüchtern gegenüberstanden: letztere etwas silbrig im Haar, knautschig im Gesicht, dafür aber mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit ordentlich viel Energie zum Ärschetreten – bzw. zum Totschießen von rüpelhaften Banditen. Dabei standen die zwei älteren Damen ihren jeweiligen Gemahlen in Sachen Sprüche- und vor allem Schießlust keineswegs nach, auch wenn die beiden Herren doch nicht nur mit Pistolen und Gewehren, sondern auch mit einer Mini-Kanone hantieren durften (und sich vor dem Abschuss noch streiten, wer abfeuern darf). Durch die Übermacht der Banditen kommen sie doch etwas in Bedrängnis, doch dann helfen ihnen die sieben jungen MacGregors in letzter Minute aus der Patsche (die Verwandtschaftsverhältnisse blieben etwas obskur und unklar – aber auf jeden Fall war es ein Klan!).

Der actionreiche Prolog setzte den Ton für den ganzen Film: es passiert immer irgendetwas Unterhaltsames in SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR, es gibt immer irgendeine schöne Idee zum Würzen der Vorgänge, es bewegt sich immer etwas und trotz Toten bleibt die Stimmung stets heiter, weit entfernt von Melancholie, Zynismus, Nihilismus und Bitterkeit vieler Italowestern, mit Komödienelementen, ohne in Klamauk zu fallen. Es ist ein "naiver" und "gutmütiger" (im besten Sinne dieser Worte) Genrefilm, der mit unzähligen schönen Einfällen punktet: die Gebrüder, die in der Knastzelle mit ihren gesammelten Stiefelsporen und einer Schnur eine Do-It-Yourself-Fräsmaschine bauen, um zu entkommen (einer der Brüder spielt für den Sheriff unentwegt Mundharmonika, um das Geräusch zu überdecken); der MacGregor, der sich als Doppelagent in Santillanas Bande eingeschmuggelt hat, unterhält sich mit seinem Bruder bei einer fingierten Schießerei an einem sichtgeschützten Ort, doch beide schießen immer mal wieder in die Luft, um für die Böswatze den Schein zu bewahren; eine spektakuläre Rettungsaktion in allerletzten Minute, bei der die sekundengenaue Sprengung eines Wasserturms eine zentrale Rolle spielt; und ein Duell-Showdown, bei dem ein Messerkampf in einem Brunnen mit Mühlrad endet – und schließlich auf das Mühlrad, dann in das Innere des sich drehenden Mühlrads verlagert wird – und last but not least: Cowboys in Schottenröcken! Das ganze begleitet von einer schwungvollen Musik des Meisters Ennio Morricone, die selbst Tote zu einer zünftigen Saloon-Schlägerei animieren dürfte (höre hier).


Vor dem Western-Block versprach uns Christoph mit SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR einen heiteren Film, "bevor wir euch danach in die Hölle schicken"...



ab 15.30 Uhr


ADDIO ZIO TOM ("Addio, Onkel Tom!")

Regie: Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi

Italien 1971

120 Minuten, dF

Zwei Journalisten aus Italien reisen in die Südstaaten vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, um über die Sklaverei zu berichten. Sie werden auf ihrer Tour mit einem menschenverachtenden System voller abscheulicher Gewalt konfrontiert.

Nach SVEZIA INFERNO E PARADISO und ROLF beim 4. Terza 2017, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH und SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim 6. Terza 2019 nun ADDIO ZIO TOM als "transgressiver" Film beim 7. Terza. Und tatsächlich war Jacopettis und Prosperis Post-Mondo-Mockumentary vielleicht noch kontroverser und schwieriger als der ohnehin herausfordernde L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH: mehrere Zuschauer fanden den Film abscheulich, ekelhaft, nannten ihn gar eine Körperverletzung... Reaktionen, die ziemlich verständlich sind. Ich persönlich halte ihn für einen Höhepunkt des 7. Terzas, für den beeindruckendsten Film des Festivals – wenngleich ich Mühe habe, ihn als "normalen" Film zu bezeichnen. Er bildet zweifelsohne eine eigene Kategorie.

Der Film ist eine fast zweistündige Nachstellung von Gewalttaten, Erniedrigungen, Übergriffen, Folterungen, Vergewaltigungen, Morden und allgemeinen dehumanisierenden Handlungen aus der Zeit der Sklaverei in den USA, nachgestellt von Darstellern, trotz vieler kleiner, in sich abgeschlossenen Episoden weitestgehend frei von dramaturgischer, narrativer Kohärenz. Ein infernalischer Film wahrlich!

Ein möglicher Ankerpunkt zur Aufdröselung, Interpretation, vielleicht Annäherung an dieses Monstrum findet sich meiner Meinung nach in einem wunderbaren Text von Oliver Nöding zu MANDINGO: vieles, was Oliver zu Richard Fleischers Film geschrieben hat, kann man sehr passend auf ADDIO ZIO TOM übertragen – meiner Meinung nach vielleicht sogar noch passender. MANDINGO mag von der "Totalität des Systems Sklaverei" handeln, doch ich finde, dass dies in Fleischers Film höchstens in Ansätzen wirklich umgesetzt wurde, weil eben MANDINGO noch an die dramaturgischen Regeln des Melodrama gebunden war. Jacopetti und Prosperi haben diese "Totalität" in ADDIO ZIO TOM nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umgesetzt: im Gegensatz zu Fleischer sind sie von erzählerischer Dramaturgie, von klassischen Spannungsbögen, von individuellen Protagonisten, vom Zwang einer mundgerechten Darreichung völlig befreit. Das System Sklaverei ist der Protagonist von ADDIO ZIO TOM und beherrscht (um nicht zu sagen: durchherrscht) über weite Strecken den Film inhaltlich und formal.

In seiner Annäherung an ein unmenschliches System, an exzessive und barbarische Massenverbrechen ist der Vergleich mit L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH durchaus spannend: die Erklärung (oder besser: die Entlastung), dass die Täter einfach böse und schlechte Menschen sind und die Opfer einfach erbarmungswürdige und gute Menschen sind, verweigert der Film. Die meisten Sklavenhalter in diesem Film sind freundlich und höflich auftrende Menschen, die ihre zwei Gäste immer zuvorkommend begrüßen. Einige sind sogar äußerst kumpelhafte, blödend-witzige Typen (wobei aber auch gerne mal einem Konkurrenten in den Hinterkopf geschossen wird). Nur die Sklavenhalter des Prologs, die bei einem grotesken Festmahl besucht werden (schwarze Kinder kauern unter dem Tisch und werden zwischendurch wie Tiere mit Essensresten gefüttert), treten offen feindselig, explizit anti-europäisch und anti-katholisch. Dennoch: Nettigkeit und Niedertracht sind in ADDIO ZIO TOM stets zwei Seiten der gleichen Medaille.

Dass Sklaverei ein System ist, das nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer (wobei Täter und Opfer sehr vielschichtige Kategorien sind: was der Film auch durchaus zeigt) korrumpiert, zu Mittätern an ihrem eigenen Platz im System macht, zeigt der Film immer wieder auf verstörende Arten. Am harmlosesten ist ein befragter Sklave, der in seinem Interview seine eigene Stellung als Sklave als letztendlich gar nicht so unbequem rechtfertigt: als "freier" Arbeiter wäre er nicht viel besser dran, als Sklave wird er zumindest als teure Investition gut gepflegt. Wesentlich ruppiger geht es zu, wenn ein Sklave zur Kastration verurteilt, und eine größere Menschenmenge von Sklaven sich an dem Schauspiel ebenso wie eine weiße Passantin voller Schadenfreude delektiert.

ADDIO ZIO TOM spielt nicht nur auf "Onkel Toms Hütte" an (deren Autorin hat zu Beginn des Films beim grotesken Festmahl einen Auftritt, wo sie als durchaus selbstgerechte Person rüberkommt), sondern spielt mehrmals auch indirekt auf GONE WITH THE WIND an. Manche Szenen des Films wirken durch die Figuren-Konstellation ein wenig wie eine groteske "Hinter den Kulissen"-Reportage über den Wirtschaftsalltag in der Tara-Plantation. Da geht es drunter und drüber, in der Küche herrscht der blanke Irrsinn, es wuselt hin und her, kleine Kinder essen die Kirschen von den frisch dekorierten Kuchen herunter oder toben wild herum, währenddessen geht es im Schlafzimmer der weißen Töchter ebenso chaotisch zu, die große "Mammie" kommandiert auch ihre jungen Herrinnen gerne rum, während verzweifelt versucht wird, ein Kleidungsknäuel wieder in einzelne Bestandteile zu trennen, damit die jungen Damen fein gekleidet zum Bankett erscheinen können. Wenn dann das Bankett vorbei ist, lässt die "Mammie" Abends die jungen schwarzen Mädchen antreten, kontrolliert ihre genitale Sauberkeit und schickt sie dann als Sexobjekte in die Gästezimmer der männlichen Hausgäste (dieser Teil wurde in GONE WITH THE WIND übergangen).

Das Perfide an ADDIO ZIO TOM ist, dass er die Zuschauer durch seine Inszenierung während seiner Laufzeit zum aktiven Teil des Systems Sklaverei macht. Es gibt praktisch keine vierte Wand in diesem Film, die die Zuschauerschaft vor dem ganzen Schmutz und der extremen Gewalt schützt. Am unangenehmsten ist die Szene, in der die Kamera zum Point of View einer der beiden italienischen Journalisten (bzw. eigentlich des Kameramanns selbst) wird: eine sehr junge, vielleicht allenfalls 13-jährige Sklavin kommt in das Zimmer, bietet ihren Körper dem Mann an, reibt sich im Bett quasi an ihn, während sich der Mann eine Zeitlang dagegen wehrt. Der Zuschauer wird hier direkt zum Kinderschänder, zum Vergewaltiger gemacht. ADDIO ZIO TOM überrollt dich nicht nur und drückt dich flach auf den Boden (das ist ja erst mal gar nicht so schwer): er reisst dich dann auch wieder hoch und zwingt dich, mitzumachen.

Den Zuschauer zum Rädchen des Systems Sklaverei machen: das schafft auf unterschwellige Art auch die dramaturgisch völlig erratische Form und der Non-Stop-Modus in der Präsentation von Gewalttaten und Abscheulichkeiten. Es entsteht eine Art Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt: noch eine Gewalttat, noch eine Abscheulichkeit, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine... Das Präsentierte wird zur "Normalität" innerhalb des Universums, die der Film präsentiert. Die Totalität des Systems Sklaverei erreicht den Zuschauer allmählich fast schon unterbewusst.

In einigen wunderschönen, elegisch in Zeitlupe gefilmten Bildern tollen ein weißes Mädchen und ein schwarzer Junge zusammen über eine Wiese. Der sanfte Hügel, der die beiden verdeckt, verschwindet durch die Kamerafahrt allmählich und man sieht, dass das weiße Mädchen den schwarzen Jungen an einer Halskette führt. Ein kurzzeitig im Rahmen dieses Films utopisch erscheinendes Bild verwandelt sich mit einer kleinen Perspektivverschiebung in einen Alptraum – bzw. führt uns zurück in die "Normalität" der Sklaverei.

Diese elegischen Bilder sind auch ein integraler Bestandteil des Films: ADDIO ZIO TOM ist visuell absolut atemberaubend, formal wahnwitzig in seinen wilden Kamerafahrten, Zooms, Schwenks, seinen extremen Weitwinkel- und Fischaugen-Einstellungen, seinen minutiös elaborierten Bildkompositionen in Scope, teils gefilmt im Dämmerlicht zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Jacopetti und Prosperi hatten sich schon in AFRICA ADDIO als große visuelle Stilisten erwiesen und das gleiche Team macht auch bei ADDIO ZIO TOM ganze Arbeit. Das ganze auf einer Cinerama-Leinwand zu sehen dürfte den Effekt noch einmal potenziert haben.

Es sind auch diese Brüche, die ADDIO ZIO TOM so faszinierend machen: grauenerregende Abscheulichkeiten und zum Weinen schöne Bilder. Inhaltliche Brüche werden auch immer wieder deutlich sichtbar gemacht, der Film macht seine eigene Inszeniertheit, seine eigene Konstruktion transparent. Zu Beginn fliegt ein Helikopter über die Baumwollplantagen, über die Herrenhäuser der Sklavenhalter: der Rotorenwind fegt mit ordentlicher Zugkraft über die Baumwollarbeiter und die schick gekleideten Damen, die alle dem Kamerateam zuwinken. Beim Abschluss einer Versicherung für einen neu gekauften Sklaven wird die Vertragsunterzeichnung verzögert, weil der Füllfederhalter streikt – aus dem Off hält der Kameramann bzw. der italienische Journalist den Vertragspartnern einen modernen Kugelschreiber hin. Söldner, die entflohene Sklaven gejagt und getötet haben, arrangieren ihre "Beute" zu einem makabren Leichenberg, posieren damit vor einem Fotografen – und nach dem Schnappschuss werden die Toten lebendig, stehen auf und laufen aus dem Bildausschnitt raus. Und gegen Ende des Films gibt es einige "Vorblenden" mit einer neuen Rahmenhandlung: ein schwarzer Mann, der Anfang der 1970er an einem Strand einen Bericht über einen Sklavenaufstand liest und sich die geschilderten Morde in die Jetzt-Zeit imaginiert.

Die Krönung des Films ist, wie so oft im italienischen Kino, die Musik. Es gibt ein schwungvolles Thema (hier zu hören), das mich melodisch ein klein wenig an "Summer Vine" erinnert, mit Marschmusikelementen aber einem Drive, der zu einer Komödie ganz gut passen würde (vielleicht zu einer Militärkomödie? – passenderweise und natürlich völlig unpassenderweise ist er wohl als Teil einer Score-Kompilation italienischer Komödien aus den 1970ern erschienen). Das emotionale Herzstück ist allerdings das das melancholische, elegische, fast operatische Liebesthema (hier zu hören), das Ortolani wieder einmal als größten potentiellen Disney-Songkomponisten der Welt zeigt (und das Nicolas Winding Refn für sein DRIVE verwendet hat – wen es interessiert: hier ein kurzes Video mit einer Q-and-A-Einführung von Refn zu einem Screening von ADDIO ZIO TOM).

Ich schrieb vorhin von Brüchen: ADDIO ZIO TOM zeigt seine Abscheulichkeiten größtenteils ungerührt, ohne sichtbare moralische Positionierung (letzteres macht den Film wohl auch so schwierig: er bietet den Zuschauern keine Möglichkeit zur einfachen Distanzierung oder zur Selbstbestätigung). Es gibt jedoch einen sehr auffallenden Moment, in dem er einem der Opfer offensichtlich die Hand reicht und Mitgefühl bezeugt: auf einer Sklavenzuchtfarm, bei der junge Frauen zum Sex mit "Deckern" gezwungen werden, wird die Prozedur vom jovialen, freundlichen Unternehmenschef den italienischen Besuchern demonstriert. Eine junge Frau wird zu ihrem "Decker" geleitet. Der Film zeigt ihren Weg als lange, elegische Kamerafahrt in Zeitlupe, Ortolanis melancholisches Thema schwillt an, wer genau hinsieht, erblickt eine Träne, die ihr über das Gesicht läuft...


Ich könnte wahrscheinlich noch weitere 10.000 Zeichen zu ADDIO ZIO TOM schreiben. Und dann noch mal 10.000 mehr. Belassen wir es mal hier. Nach Ende des Films ging ein sehr kleiner Teil der Zuschauerschaft nicht auswärtig essen, sondern verblieb im Innenhof des Kinos und nahm das einmalige Cateringangebot der Kinoküche an. Bei Tomatensuppe und Quiche wurde weiter über das Erlebnis ADDIO ZIO TOM diskutiert. Mit dabei war auch Alexander Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn, der auch die Einführung zum Film gehalten hat. Er erläuterte noch einige Details zur gezeigten Kopie (diese war gekürzt um einige Passagen gegen Ende, als Schwarze in der Jetztzeit in einer Sklavenaufstandnachstellung einen weißen Haushalt attackieren und nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder ermorden; ebenso war der Abspann geschnitten, mit der Erklärung der Macher, dass dies ein Dokumentarfilm sei und die dargestellten Personen existiert haben und mit der Danksagung an die haitianische Regierung und besonders Präsident François Duvalier für die Hilfe beim Dreh) und zu verschiedenen Schnittfassungen des Films.

Gestärkt und bereit für einen wieder etwas "normaleren" Film...



ab 20.00 Uhr


UN KILLER PER SUA MAESTÀ ("Zucker für den Mörder")

Regie: Maurice Cloche, Federico Chentrens

Italien/Frankreich/BRD 1968

93 Minuten, dF

Ein mysteriöser Killer mit Hang zu Süßigkeiten (Bruno Cremer) versucht einen Potentaten aus dem Mittleren Osten (Lukas Amann), der in Rom weilt, zu ermorden. CIA-Agent Mark Stone (Kerwin Mathews) und sein Assistent Costa (Venantino Venantini) versuchen, den König zu beschützen und gleichzeitig dem Killer auf die Spur zu kommen.

Gemäß Howard Hawks besteht ein guter Film aus mindestens drei guten Szenen und keiner schlechten. UN KILLER PER SUA MAESTÀ hat gleich vier ganz tolle Szenen und nichts, was wirklich negativ auffällt – ein guter Film also, wenn auch für mich persönlich kein großer Höhepunkt des Terza.

Richtig Laune kommt schon mal auf, als Stone und Costa die Gemächer des Königs zwecks Absicherung begutachten müssen, und dabei quasi in dessen Harem hineinstolpern. Im Laufe des Films folgen dann auch drei großartige Actionszenen: ein Kampf zwischen Stone und einer größeren Schlägerbande in einer Tiefgarage, bei der schließlich auch ein halbes Dutzend leere Ölfässer zum spektakulären Einsatz kommen; eine Verfolgungsjagd durch einen Park mit überdimensionalen Skulpturen, die dann auch zum Verstecken und zum Runterspringen aktiv genutzt werden (der Höhepunkt des Films!); ein ausgedehnter Kampf im Lager eines Schlachthofs.

Der Protagonist Mark Stone ist, sagen wir mal... bodenständig (wer mäkeln möchte, würde ihn wohl als "farblos" bezeichnen), wird aber dafür von einer ganzen Menge toller Nebendarsteller flankiert. Natürlich zuallererst der Assistent Costa, gespielt vom wunderbaren Venantino Venantini, ein etwas einfältiger Typ, der ständig nur an Frauen denkt, seinen Körper mithilfe von Workout-Gurten stählt, die er auch mal an Hoteldeko anbringt (totale Zerstörung des Hotelzimmers erfolgt dann sogleich). Bruno Cremer geht natürlich immer, besonders wenn er einen süßigkeitensüchtigen Profikiller spielt. Und Gordon Mitchell als brutaler Schläger ist dann auch das Sahnehäubchen.



ab 22.30 Uhr



LA CASA 4 ("Witchcraft – Das Böse lebt")

Regie: Fabrizio Laurenti

Italien/USA 1988

95 Minuten, dF

Leslie (Leslie Cumming) und Gary (David Hasselhoff) untersuchen ein Haus auf einer neuenglischen Insel, in dem einmal eine Hexe gewohnt haben soll. Die Familie Brooks, unter anderem die schwangere Jane (Linda Blair), besucht zusammen mit einem Hausmakler das Gebäude, um es vielleicht aufzukaufen. Ein Sturm kommt auf und in dem einsamen Haus festgesetzt werden die Besucher von der Hexe in Schwarz (Hildegard Knef) heimgesucht.

David Hasselhoff, Linda Blair und Hildegard Knef in einem Film! Das liest sich zu merkwürdig und irgendwie auch großartig, um wahr zu sein. Am Ende war der Film leider zu wahr, um großartig zu sein – oder so ähnlich... Produziert von Joe D'Amatos "Filmirage" wabert der Film somnambul vor sich hin: eine durchaus D'Amato'eske Atmosphäre, ohne jedoch die Meisterschaft von Onkel Joe zu erreichen und ohne wirklich die für dessen Filme typische, hypnotische Wirkung zu entfalten (zumindest nicht bei mir – der Film fand durchaus sehr begeisterte Anhänger).

LA CASA 4 ist ebenso wenig der vierte Teil einer Filmreihe wie ZOMBI 2 das Sequel eines anderen Films: "La casa" war in Italien der Verleihtitel von Sam Raimis THE EVIL DEAD (1981) und "La casa 2" der Titel von Raimis Sequel EVIL DEAD II (1987). Im Jahr 1988 sprang dann Umberto Lenzis Puppenhorrorfilm LA CASA 3 auf den Erfolgszug von Raimis Filmen, und kurz darauf folgte dann eben LA CASA 4 (der jedoch inhaltlich nicht mit LA CASA 3 zusammenhing). Nun... Filme, die irgendwie gleich aussehen im Titel, das passt ein bisschen zu Darstellerinnen, die in der Spätabendmüdigkeit und in dem etwas schlafwandlerischen Rhythmus des Films auch ein wenig ähnlich aussehen. So habe ich tatsächlich für fast zwei Drittel des Films Leslie Cumming und Linda Blair verwechselt, was den Film für mich zwischendurch noch viel rätselhafter gemacht hat, weil Leslies Figur, die Freundin von David Hasselhoffs Gary, ihm gegenüber immer betont, dass sie ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren will (die Hasselhoff'schen Cockblocking-Momente sind immer ein kleines Fest), aber andererseits auch schwanger ist – war da unbefleckte Empfängnis im Spiel? Ein anderer leicht übernächtigter Co-Zuschauer, der wie ich auch Teile des Films verschlief, hatte auch das gleiche Verwechslungsproblem.

Wie dem auch sei... LA CASA 4 zog etwas an mir vorbei, ließ mich gedanklich zwischendurch immer wieder aussteigen und schaukelte mich gegen Ende dann auch in eine fiese Sekundenschlaf-Attacke, die alptraumartiger war als das, was im Film selbst alptraumartig sein sollte: ein Sheriff und sein Assistent fliegen mit einem Helikopter zur Insel, um die verschollenen Protagonisten zu suchen; ich selbst nickte ein, schreckte wieder auf und sah, dass die beiden immer noch im Helikopter flogen und nach den verschwundenen Personen suchten – das passierte etwa drei, vier, fünf Mal. Jedes Mal, wenn ich wieder erwachte, war der suchende Helikopter noch da...



Freitag, 27. August 2021


ab 12.30 Uhr


HANNO CAMBIATO FACCIA ("Wettlauf gegen den Tod")

Regie: Corrado Farina

Italien 1971

92 Minuten, OmU

Der kleine Angestellte eines Autokonzerns Alberto Valle (Giuliano Esperati) wird vom Konzernchef Giovanni Nosferatu (Adolfo Celi) nicht nur befördert, sondern auch zu einem Wochenende auf dessen Landsitz eingeladen. Die luxuriöse Villa wirkt ebenso bedrohlich wie der Gastgeber.

Zweite Sichtung des Films. Auch diese leider wieder sehr unterwältigend.

Der Dracula-Stoff als antikapitalistische Allegorie: was sich auf dem Papier sehr verlockend liest, wirkte für mich extrem bleiern, träge, grobklotzig, thesenfilmig. Seine Themen (Konsum- und Überwachungsgesellschaft, Warenfetischismus, die totalitären Ansprüche des Kapitalismus, der Ausverkauf des 68er-Aufbruchs) trägt HANNO CAMBIATO FACCIA schon sehr an der Oberfläche, und zwar so, dass es auch der dümmste anzunehmende Zuschauer versteht. Der Film hat durchaus einen Fuß im Bereich des Paranoiafilms: eine große Korporation hält sämtliche Fäden über alle Bereiche des Lebens in der Hand, kontrolliert nicht nur die "systemrelevanten" Institutionen (Wirtschaft, Politik, Presse, Kirche), sondern auch sämtliche "oppositionellen" Stimmen, um den Schein zu wahren. Aus heutiger Sicht wirkt der Film so auch weniger "gesellschaftskritisch" und scharf analytisch als vielmehr wie eine grobklötzige, aus einem dumpfen Bauchgefühl heraus geborene Verschwörungserzählung.

Die Themendichte des Films passt auch überhaupt nicht zu dem, was man über weite Strecken sieht: ein Kammerspiel in einer Gruselvilla. Dieses bekommt auch keine Chance zur Entfaltung, wenn die allumfassende Totalität des Kapitalismus immer wieder in geschwätzigen Dialogszenen auf den Punkt gebracht werden muss. Hinzu kommt, dass der Valle-Darsteller Giuliano Esperati für mich besonders uncharismatisch, fad, farblos, uninspiriert wirkte: das passt einerseits zur thematischen Konzeption des Films, der eine unbedeutende Figur in die Rädchen einer kapitalistischen Maschinerie hineinwirft, machte den Film für mich auf die Dauer leider besonders anstrengend und träge.

Schade... Die Grundidee des Films ist eigentlich charmant, mit dem großartigen Adolfo Celi kann man eigentlich nichts verkehrt machen. Und die Farbdramaturgie des Films ist absolut beeindruckend in ihrer gnadenlosen Konsequenz: HANNO CAMBIATO FACCIA präsentiert sich fast ausschließlich in monochromatischen Braun-, Orange- und Grautönen, ohne jegliches Blau und Grün, ohne knalliges Rot (mit Ausnahme einer Ampel zu Beginn des Films, ein Hinweis auf die Farbechtheit der Agfa-Kopie). Die monochrome Farbpalette passt meiner Meinung nach irgendwie auch nicht zu den Themen des Films (dass Kapitalismus auch sexy, also entsprechend auch quietschbunt aussehen kann an der Oberfläche, fällt dem Film nicht ein), schafft aber eine durchaus ganz eigensinnige visuelle Atmosphäre.



ab 15.00 Uhr


SKY OVER HOLLAND

Regie: John Fernhout

Niederlande 1967

22 Minuten, 70mm

Ein Dokumentarfilm über die Niederlande in fliegenden, rasenden 70mm-Bildern.

Dieses Jahr gab es beim Terza eine kleine Premiere, möglich dank der technischen Ausstattung des Schauburg-Kinos: nämlich eine 70mm-Projektion! Doch leider hat die Kopie des Hauptfilms ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE große Teile ihrer Farbpracht eingebüsst und war nur noch monochromatisch rötlich angehaucht zu sehen. SKY OVER HOLLAND lief als nicht-italienischer Vorfilm dann auch, um wenigstens in einem Kurzfilm 70mm nicht nur in seiner ganzen Schärfe, sondern auch in seiner Farbpracht zu erleben.

"Guck doch mal, was für coole Sachen wir mit 70mm alles anstellen können!" dürfte das Leitmotto von SKY OVER HOLLAND gewesen sein. Rasende Sturzflüge aus dem wolkigen Himmel auf Wiesenlandschaften, wahnwitzige Verfolgungsjagden in den Amsterdamer Grachten, wuselige, extrem tiefenschafte, an Bosch-Gemälde erinnernde Impressionen von Viehmärkten – und wieder zurück in den Himmel mit einem Blick auf geometrisch angeordnete Felder verschiedenfarbiger Tulpen (gewissermaßen die Mondrian-Tableaus des Films).

Ein Sensationsfilm wahrlich, ideal für eine überdimensionierte Leinwand wie jene in der Karlsruher Schauburg.




ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE ("Herkules erobert Atlantis")

Regie: Vittorio Cottafavi

Italien/Frankreich 1961

103 Minuten, 70mm, dF

Androkles, der König von Theben zieht mit Herkules, dessen Sohn und deren Helfer Timoteus auf eine Schifffahrt, um den Drohungen gegen Theben aus der Ferne auf den Grund zu gehen. Ihr Schiff kentert, Androkles verschwindet, Herkules und seine beiden Begleiter müssen ihren König in Atlantis suchen. Dort erwarten eine intrigante Herrscherin und viele kaputtgezüchtete Zombie-Krieger. 

"Die Anfangskeilerei der Herkuleskumpane ist so hinreißend inszeniert und mit so wendiger Kamera aufgenommen, daß ich sie dem steifen Pathos in Eisensteins vielgerühmter Schlacht auf dem Peipussee ohne Bedenken vorziehe." So ist es in einer zeitgenössischen Rezension in der Filmkritik zu lesen. Tatsächlich kann ein Film, der mit so einer beschwingten Tavernenschlägerei anfängt, gar nicht schlecht sein. In einem Western wäre das eine schöne Saloonschlägerei und der running gag der ganzen Szene besteht darin, dass Herkules zwar anwesend ist, sich aber aktiv darum bemüht, uninvolviert zu bleiben, weil er gerade isst und trinkt. Sein Eingreifen, während um ihn herum sich alle prügeln, besteht nur darin, das Verschütten seines Weines und eine Schädigung seiner Hammelkeule zu verhindern.

Der britische Bodybuilder Reg Park war als Herkules schon einmal beim Terza 2018 zu sehen, nämlich in Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA. Als Präsenz ist er mir in Cottafavis Film nun besser in Erinnerung geblieben, zum einen, weil ich bei letzterem nicht zwischendurch eingeschlafen bin, zum anderen, weil seine Darstellung des Herkules doch wesentlich sympathischerer als im Bava-Film. So trägt Park den Film auch mühelos auf seinen monumentalen Schultern – natürlich auch nicht zuletzt, weil ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE einfach auch ein toller, im positiven Sinne "naiver" Genrefilm voller schöner Attraktionen ist. Da gibt es nicht nur Parks ölige Muskeln zu bewundern, sondern auch eine Gummi-Einhorn-Eidechse (na ja, eine Monster-Eidechse mit einem Horn), verstrahlt aussehende Mutantenkämpfer, ausladende Palastinnenräume voller Prachtsäle und dunkler, geheimnisvoller Verliese – und am Ende wird Atlantis in einer geradezu rauschhaften Zerstörungsorgie dem Boden gleichgemacht, dass es nur so explodierte und donnerte.

Trotz der wunderbar knackigen Schärfe der Kopie wurde das Sichtungsvergnügen durch den Rotstich doch etwas gezügelt: lediglich ein leichter, sepiafarbener Hauch war an blaßer, monochromer Restfarbe übrig geblieben. Vielleicht hätte mich der Film mehr umgehauen in voller Farbpracht: so bleibt "nur" ein sehr kurzweiliges, flottes Abenteuer-Vergnügen in Erinnerung.


Machen wir hier kurz vor Hälfte des Programms eine kleine Pause. Im zweiten Teil werden uns dann unter anderem hungrige Kannibalen und vereinsamte deutsche Soldaten, rebellische Knastinsassinnen und verliebte Kreuzritterinnen begegnen.

Montag, 23. August 2021

Anatomie eines Mordes ...

... in den griechischen Bergen

ANAPARASTASI (REKONSTRUKTION)
Griechenland 1970
Regie: Theo Angelopoulos
Darsteller: Toula Stathopoulou (Eleni Gousis), Yannis Totsikas (Christos Gikas), Thanos Grammenos (Elenis Bruder), Michalis Fotopoulos (Kostas Gousis), Petros Hoedas (Staatsanwalt), Alexandros Alexiou und Yannis Balaskas (Polizeioffiziere), Theo Angelopoulos (Journalist)

Der Schauplatz des Verbrechens und der Rekonstruktion
Theo Angelopoulos untersucht in seinem ersten eigenen Spielfilm (er war schon 1965 ungenannter Co-Regisseur bei einer Musikkomödie) die Ursachen und die Nachwirkungen eines Verbrechens. Er wurde dazu von einem echten Mordfall inspiriert, von dem er in einer Zeitungsnotiz gelesen hatte. In der fiktiven Version kehrt der Ehemann und Familienvater Kostas Gousis, der Jahre als Gastarbeiter in Deutschland verbracht hatte, in sein Heimatdorf im gebirgigen Epirus im Nordwesten Griechenlands heim. Seine Frau Eleni empfängt ihn scheinbar herzlich - und bringt ihn kurz danach gemeinsam mit ihrem Geliebten Christos um, indem ihn die beiden mit einem Strick erdrosseln. Die Konstellation erinnert etwas an die klassische Geschichte von Agamemnon, Klytaimnestra und Aigisthos, aber die Ähnlichkeit ist nur oberflächlich und wird von Angelopoulos nicht vertieft. Auch der gelegentlich zu lesende Hinweis auf James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice und dessen Verfilmungen führt nicht viel weiter. Angelopoulos geht es mehr um eine Zustandsbeschreibung ausgemergelter Seelen, einer ausgemergelten Landschaft, und eines ausgemergelten Landes, und wie diese voneinander abhängen. Angelopoulos rekonstruiert das Verbrechen - und damit die Zusammenhänge von Individuen, Landschaft und Land - in einer Reihe von nichtchronologischen Rückblenden, und REKONSTRUKTION, die wörtliche Übersetzung von ANAPARASTASI, ist ein sehr treffender Titel dafür.

Eleni und Christos, die Mörder
Es beginnt mit einem achtminütigem Prolog vor den Credits. Eine karge Gebirgslandschaft im April 1970; es regnet. Man befindet sich nicht außerhalb der Zivilisation, so sind Strommasten zu sehen, aber es ist schon ein recht trostloser Ort. Ein Sprecher aus dem Off nennt in sehr sachlichem Ton einen der Gründe, indem er Bevölkerungszahlen des fraglichen Dorfs verkündet: 1939 1250 Einwohner, 1965 nur noch 85. Der Grund: Die Männer ziehen in die Großstädte Thessaloniki und Athen oder gleich nach Deutschland. Zurück bleiben die Alten (die dann irgendwann sterben), ein Teil der Frauen und Kinder, und nur sehr wenige erwachsene Männer. Elenis Liebhaber und Komplize Christos ist einer davon, er ist im Ort sowas wie der Dorfgendarm oder ein amtlich bestellter Flurwächter. Auf der nicht asphaltierten und im Regen schlammigen Passstraße hält ein klappriger Bus, ihm entsteigt jener Kostas, der bald tot sein wird. Der Anfang der Geschichte bildet also auch den Anfang des Films, aber danach wird die Chronologie aufgebrochen. Die meisten Häuser im Dorf bestehen aus nicht verputzten Natursteinmauern. Alles wirkt karg, trostlos, verlassen, und der Regen verstärkt noch die trübe Atmosphäre. Wenigstens wirkt das Innere von Kostas' Haus einigermaßen wohnlich, aber sein jüngster Sohn kennt ihn nicht, weil er zu lange weg war.

Kostas kommt nach Hause und ist für seinen jüngsten Sohn ein Fremder
Nach der nun folgenden Titelsequenz muss man sich als unvorbereiteter Zuseher komplett neu orientieren. Ein Mann geht durch die Tür in Kostas' Haus, hinter der Tür lauert schon der Attentäter, legt ihm die Schlinge um den Hals und zieht (scheinbar) zu. Das "Opfer" ist aber nicht Kostas, sondern ein von der Polizei gestelltes Double. Das Verbrechen ist weitgehend geklärt und wird nun bei einem Ortstermin rekonstruiert, Eleni und Christos müssen dabei mitwirken - den tatsächlichen Mord bekommt man im Film nie zu sehen. Beide legen ein Geständnis ab, aber sie schieben sich gegenseitig die Hauptschuld zu und behaupten, dass der jeweils andere die Schlinge zugezogen hat und sie selbst nur widerwillig in das Verbrechen hineingezogen wurden. Von der Eintracht eines Liebespaars, das sie ja waren, ist nichts übriggeblieben. Überhaupt wirken sie nie im Film wie ein glückliches Paar. Ob sie das vor dem Mord waren, lässt Angelopoulos offen. Jedenfalls bekommt man den Eindruck von zwei Verzweifelten, die aneinander hängen, weil sie sonst nichts haben. Die Rekonstruktion der Tat und die Geständnisse bilden chronologisch gesehen den Schluss der Handlung. Welcher Version am Ende das Gericht glauben wird, und zu welchen Strafen die Täter verurteilt werden, ist nicht mehr Gegenstand des Films.

Die Tat wird rekonstruiert
Die beiden ersten Szenen von REKONSTRUKTION bilden also die Pole der Handlung, und der große Rest des Films zeigt in zeitlich voneinander abgegrenzten Sequenzen verschiedene dazwischen liegende Episoden. Zunächst gilt es, die Leiche zu entsorgen. Die vorgesehene Deponierung in einem Fuchsbau erweist sich als nicht realisierbar, weil er zu klein dafür ist. Schließlich verscharren die beiden Kostas in der Nacht vor ihrer Mauer. Doch am nächsten Morgen erkennt Eleni, dass sich das frische Grab sehr deutlich dunkel am Boden abzeichnet. Sie improvisiert, indem sie sofort das verräterische dunkle Rechteck zu einem Beet erweitert und darin Zwiebeln setzt. Tage später fahren Eleni und Christos per Anhalter in einem LKW in die Provinzhauptstadt Ioannina. Christos gibt sich in einer Pension als Kostas Gousis aus, er kauft eine Eisenbahnfahrkarte nach Athen auf den Namen Kostas Gousis, er gibt einen alten Brief von Kostas an Eleni erneut auf. Kostas' Abreise, seine Rückkehr nach Deutschland, soll vorgetäuscht werden. Doch das sind lediglich dilettantische Versuche zweier Amateure, die auf Dauer nicht von Erfolg gekrönt sind. Im Dorf tuschelt man über Kostas' Verbleib, und eine ältere Frau, vielleicht eine Verwandte von Kostas, beschuldigt Christos in aller Öffentlichkeit unverblümt, ihn umgebracht zu haben. Schließlich informiert die Frau die Polizei über den Verdacht.

Die Leiche wird entsorgt
Auch Elenis Bruder taucht auf und stellt bohrende Fragen. Als Eleni erfährt, dass Christos bei der Vertuschungsexpedition in Ioannina von einem Zeugen erkannt wurde, hält sie dem Druck nicht mehr stand und offenbart sich dem Bruder, bei dem bald die "staatsbürgerliche Pflicht" gegenüber dem Familiensinn obsiegt. So fliegt schließlich alles auf, und die beiden Täter werden verhaftet. Nicht nur die Polizei unter Führung eines Staatsanwalts ermittelt vor Ort, sondern es trifft auch ein Journalistenteam aus Athen ein (den Chefreporter spielt Angelopoulos selbst) und befragt und filmt Dorfbewohner, die beiden Täter und den Staatsanwalt, so dass die "Rekonstruktion" quasi gedoppelt wird. Der Staatsanwalt erklärt den Journalisten, dass zweifellos Elenis moralische Verkommenheit die Triebfeder des Verbrechens sei.

Die Polizei rückt an und beginnt die Untersuchung
Doch in Wirklichkeit entfalten sich nach und nach die Facetten der Misere des ganzen Landstrichs. Schwere Arbeit für wenig Lohn, Armut, Perspektivlosigkeit, Landflucht, und der in Deutschland lockende relative Reichtum auch für einfache Gastarbeiter. Aber auch antiquierte soziale Normen sind ein Teil des Problems. Als am Schluss der Film zum Ortstermin zurückkehrt und Eleni und Christos nach ihren Geständnissen abgeführt werden, stürzen sich die Dorffrauen wie Furien auf Eleni. Nur mit Mühe können sie von den uniformierten Polizisten davon abgehalten werden, Eleni gleich an Ort und Stelle zu lynchen. Doch frappierenderweise wird der ebenfalls anwesende Christos von den Erinnyen überhaupt nicht behelligt. Hier offenbaren sich, wie zuvor schon im Zitat des Staatsanwalts, gesellschaftlich determinierte Schuldzuweisungen. Oder anders ausgedrückt, die wütenden Dorfweiber werden zum ausführenden Organ des Patriarchats. Wie zur Illustration der desolaten Verhältnisse herrscht über weite Strecken des Films schlechtes Wetter, oft regnet es, oder es hat Nebel. In der zweiten Hälfte gibt es dann doch noch Sonne, aber da sind die Protagonisten schon so in ihre Misere verstrickt, dass die Trübnis nicht weichen will.

Meistens regnet es
REKONSTRUKTION begann mit einem Prolog, und er endet mit einem gut dreiminütigen Epilog und kehrt damit zum Anfang zurück. Nach dem Abtransport der geständigen Täter ist die jetzt absolut statische Kamera von außen auf die Vorderseite von Elenis Haus gerichtet. Nach ein Paar Sekunden kommt Christos von irgendwoher und geht ins Haus. Eine Weile passiert überhaupt nichts, dann kommt auch Kostas und geht hinein. Wenn man am Anfang gut aufgepasst hat, dann begreift man sofort (und wenn man weniger gut aufgepasst hat, dann spätestens beim zweiten Sehen), dass man das schon gesehen hat. Allerdings nicht, wie jetzt, das "Original", sondern die "Rekonstruktion" mit dem Double, und nicht von außen, sondern von innen durch ein Fenster nach draußen. Anders ausgedrückt, genau jetzt geschieht der Mord, während die weiterhin unbewegliche Kamera das Haus fixiert, aber nicht hineinsehen kann. Wieder passiert eine Weile nichts, dann kommen die drei Kinder von Kostas und Eleni von der Schule nach Hause und tollen noch etwas vor dem Haus herum.

Elenis Bruder macht seine Aussage und liefert sie damit aus, l.u. sitzend der Staatsanwalt, der Regisseur (mit Hut) als Reporter
REKONSTRUKTION entstand mitten in der Diktatur der Obristen um Georgios Papadopoulos. Das erforderte für Angelopoulos besondere Vorsichtsmaßnahmen, um nicht in die Fänge der Zensur zu geraten oder sich gar in persönliche Gefahr zu begeben - manches konnte nicht direkt gesagt oder gezeigt, sondern nur angedeutet werden. Das galt in noch verstärktem Ausmaß auch bei Angelopoulos' zweitem Spielfilm TAGE VON 36, der, wie der Titel schon andeutet, im Jahr 1936 im Vorfeld der Diktatur des Generals Metaxas spielt. Indem der Film etwas über die Zeit von Metaxas sagte, sagte er zwangsläufig (und von Angelopoulos gewollt) auch etwas über Papadopoulos und Konsorten aus. Doch auch hier gelang es dem Regisseur, durch gezieltes knapp-daneben-Blicken und zwischen-den-Zeilen-Sagen, den Film unbeschadet durch die Zensur zu bringen und trotzdem das auszusagen, was er zu sagen hatte, und vom aufgeschlossenen Teil des Publikums auch verstanden zu werden.

Links oben das "Mörderhaus"
Angelopoulos war berühmt (und bei manchen berüchtigt) für seine langen und sorgfältig durchkomponierten Plansequenzen in teilweise sehr langen Filmen. Dieser Inszenierungsstil deutet sich bei REKONSTRUKTION (und mehr noch bei TAGE VON 36) bereits an, aber beide Werke haben noch normale Spielfilmlänge, und die Geduld des Zusehers wird keineswegs über Gebühr beansprucht (der nächste Film DIE WANDERSCHAUSPIELER dauert schon fast vier Stunden, da scheiden sich dann die Geister). REKONSTRUKTION ist Angelopoulos' einziger Spielfilm in Schwarzweiß, und es ist ein teilweise sehr kontrastreiches Schwarzweiß, das nicht nur gut aussieht, sondern auch perfekt zur einerseits tristen und andererseits quasidokumentarischen Ausrichtung des Films passt. Angelopoulos hatte schon bei der ganz oben erwähnten Musikkomödie und dann 1968 bei seinem Kurzfilm EKPOMBI mit dem Kameramann Giorgos Arvanitis gearbeitet. Daraus wurde eine Arbeitsgemeinschaft fast für's Leben, denn Arvanitis filmte dann rund 30 Jahre lang, bis DIE EWIGKEIT UND EIN TAG von 1998, sämtliche Filme von Angelopoulos. In den 90er Jahren war schon Andreas Sinanos als zweiter Kameramann mit dabei, der dann ab den 2000er Jahren Arvanitis ablöste.

Manches an REKONSTRUKTION erinnert noch an den Neorealismus, und dazu gehört, dass mit Toula Stathopoulou eine von Angelopoulos entdeckte Laiendarstellerin die Hauptrolle spielt - sie war eigentlich Schneiderin, und beinahe Analphabetin. Aber sie war ein wahres Naturtalent, fand Gefallen an der Darstellungskunst und wurde professionelle Schauspielerin am Nationaltheater, und gelegentlich in weiteren Filmen. Angelopoulos setzte sie nach REKONSTRUKTION noch viermal ein. Auch fast alle anderen Dorfbewohner werden von ortsansässigen Laien gespielt, echte Schauspieler waren aber auch mit von der Partie. Gekostet hat der Film damals 13.000 Dollar, das wären heute inflationsbereinigt wohl rund 90.000 Euro.

Die Dorffrauen attackieren Eleni
Im letzten Jahr erfuhr REKONSTRUKTION wohl aufgrund des 50-jährigen Jubiläums wieder verstärkte Aufmerksamkeit, er lief 2020 auf der Berlinale und zum Jahreswechsel 2020/21 im New Yorker Museum of Modern Art. REKONSTRUKTION und ca. ein Dutzend weitere Filme von Angelopoulos sind in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und in England gab es REKONSTRUKTION zusammen mit den nächsten drei Spielfilmen in der Theo Angelopoulos Collection Vol 1, aber die ist mittlerweile wohl vergriffen. Schon 1971 lief REKONSTRUKTION einmal auf der Berlinale, genauer gesagt im Internationalen Forum des Jungen Films. Ein damals gemachtes ausführliches Interview mit dem Regisseur (plus ein etwas abgehobener Artikel über den Film) findet sich hier als PDF.