Sonntag, 13. Februar 2022

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)

 Was bisher geschah... Erster Teil des Festivalberichts hier



Freitag, 27. August 2021


ab 20.00 Uhr



BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA ("Bonnie und Clyde auf Italienisch")

Regie: Steno

Italien 1983

89 Minuten, dF

Der tollpatschige Scherzartikelverkäufer Leo (Paolo Villaggio) und die extrem kurzsichtige Bahnhofansagerin Rosetta (Ornella Muti) werden bei einem Banküberfall als Geiseln entführt, befreien sich durch Zufall und nehmen die Beute mit. Durch eine Verwechslung werden sie für die Haupttäter gehalten und sind fortan auf der Flucht.

Durch eine freundliche Leihgabe bin ich 2019 an FANTOZZI geraten, der berühmten italienischen Kultkomödie mit Paolo Villaggio um den tollpatschigen und von Pech verfolgten kleinen Angestellten Fantozzi (die über die folgenden 25 Jahre ganze neun (sic!) Folgefilme, alle mit Paolo Villaggio nach sich zog). Mit dem Komödienspezialisten Luciano Salce (IL FEDERALE, LA VOGLIA MATTA, SLALOM, BASTA GUARDARLA hatten mir in unterschiedlichem Maße alle gefallen) konnte doch eigentlich nichts schief gehen. Nach 20 Minuten war ich vollkommen am Boden zerstört, bereit, auf Knien robbend um Gnade zu winseln – und brach den Film ab (etwas, was ich nur sehr, sehr selten mache). Der Komiker Paolo Villaggio (der auch Autor der Romanvorlage und Drehbuchautor war) und ich werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Der grobe Klamauk stört mich weniger als die misanthropische Schadenfreude, die die Grundlage für die meisten Gags bildet.

Eine ganz so harte Herausforderung wie FANTOZZI war BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA nicht, immerhin gab es Ornella Muti zu sehen, und durch das Drehbuch ein gewisses Roadmovie-Feeling, das immerhin alle paar Minuten ein neues Setting brachte (andererseits die deutsche Synchro, die gerade bei Klamaukkomödien noch mal 385 Schippen drauflegt).

Die Gelegenheiten, bei denen ich allenfalls leicht lächelte, waren in anderthalb Stunden an einer Hand zu zählen. Dem Vergnügen der anderen Leute im Publikum sollte und soll das natürlich keinen Abbruch tun: BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA fand viele begeisterte Zuschauer und viele laute und herzliche Lacher.


Nach diesem Stahlbad war ich bereit für einen knüppelharten und ruppigen Frauenknastfilm aus den schmutzigsten Untiefen der Schmier-Hölle... und bekam nicht nur den schönsten Tscherkassky-Film des Wochenendes, sondern auch ein großes Highlight unter den abendfüllenden Vorstellungen des diesjährigen Terza.



ab 22.30 Uhr


THE EXQUISITE CORPUS

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2015

18 Minuten

Eine Frau liegt am Strand und kämpft mit ungeheuren Gefühlen...

Der rauschhaft-wahnwitzige Höhepunkt unter den Tscherkassky-Filmen des langen Terza-Wochenendes. Tscherkasskys Filme beginnen oft schon auf einem sehr hohen Intensitätsniveau, das sie dann noch etwas fester zurren. THE EXQUISITE CORPUS hingegen fängt langsam, sehr langsam, geradezu meditativ an. Mit verfremdetem Material aus einem US-amerikanischen Nudistenfilm der frühen 1960er Jahre führt er uns zunächst zusammen mit einem Pärchen an einen sonnendurchfluteten Badestrand, und dann, nach und nach mit steigernder inhaltlicher und auch inszenatorischer Intensität, in die Gefühlswelten und erotischen Fantasien der Frau, in den puren Cine-Sex, in den Kino-Orgasmus...


THE EXQUISITE CORPUS nutzte unter anderem Filmmaterial aus Andrea Bianchis berüchtigen (und vom Hofbauer-Kommando zurecht sehr geschätzten) Exorzisten-Ripoff-Sexfilm MALABIMBA – und hatte dadurch einen natürlichen Querbezug zum "Hauptprogramm". Dass er auch noch der traumhaft perfekte Vorfilm für einen der Höhepunkte des Festivals sein sollte, war natürlich die Krönung.




PRIGIONE DI DONNE ("Frauen im Zuchthaus")

Regie: Brunello Rondi

Italien 1974

84 Minuten, dF

Die französische Studentin Martine (Martine Brochard) ist zur falschen Zeit am falschen Ort, als sie bei einer Razzia in Italien festgenommen und wegen untergeschobener Drogen zu einer harten Gefängnisstrafe verurteilt wird. Zusammen mit der charismatischen Susan (Marilù Tolo) und anderen Zellengenossinnen wehrt sie sich gegen das repressive Regime im katholischen Gefängnis. 

Wer einen ruppigen Exploitation-Sleaze-Hobel erwartet hat – ja, auch das ist PRIGIONE DI DONNE, aber eben nur in Teilen. Er ist ebenso ein politisch engagiertes Sozialdrama, eine Charakterstudie über weibliche Solidarität, ein zorniger, ungezügelter Wutschrei gegen die Institution der katholischen Kirche und eigentlich gegen alle repressiven Autoritäten, ein empathisches Melodrama über tragische Schicksale, ein quasi-soziologischer Blick auf Gewaltstrukturen und kollektive Gewaltsozialisation, ein gefühlvolles und berauschtes Bildgedicht. Auf jeden Fall ein unfassbarer und unfassbar großartiger Film. Schon der Vorspann mit Blick auf den entvölkerten Gefängnistrakt wirft einige Erwartungen über Bord und eröffnet große Horizonte: Albert Verrecchias auf Zithern gespielte Titelmelodie klang für mich intuitiv irgendwie "griechisch", auf jeden Fall aber trotz einem Hauch Melancholie auch eher heiter, beschwingt – keineswegs aber Musik, die man in einem voraussichtlich recht düsteren Frauenknastfilm erwarten würde (die Zither-Musik taucht später intradiegetisch wieder auf: als Platte, die von den Nonnen aufgelegt wird für die Hofspaziergänge).

Mein Sitznachbar für diesen Film sagte mir kurz vor Filmbeginn, dass er ein wenig Befürchtungen hege: den Trailer, den er vorab gesehen hatte, ließ einen sehr steifen, statischen Film erwarten. Seine Befürchtungen (das bestätigte er mir danach auch) wurden weggesprengt: PRIGIONE DI DONNE ist ungemein dynamisch gefilmt und geschnitten, er schert sich nicht darum, Ordnung in seine Handlung zu schaffen, sondern taucht mit seiner neugierigen Handkamera immer tief ins Getümmel des Frauenknasts im Aufruhr. Zahlreiche Szenen wirken in ihrem "Chaos" durchaus "fellinesk" – da Regisseur Brunello Rondi zu den Stammdrehbuchautoren Federico Fellinis gehörte und damit zu den Co-Erschaffern dessen, was man gemeinhin "fellinesk" nennt, ist das auch nicht wirklich verwunderlich.


Oben: Martine und Susan
Unten: das Gefängnis wird von Nonnen mit eiserner, gnadenloser Hand geführt, was die Insassinnen zur Rebellion bringt

NELLA CITTÀ L'INFERNO, der beim 5. Terza lief, war in narrativer Hinsicht wahrscheinlich ein Bezugspunkt für PRIGIONE DI DONNE (sicherlich auch, weil Castellanis Film so einige ständig wiederkehrende Eckpunkte des Frauenknast-Subgenres vorwegnahm): da ist die unschuldig verurteilte, auch in ihrem Habitus unschuldige junge Frau, die in die Hölle des Gefängnisses kommt (Giulietta Masina – Martine Brochard); die alteingesessene und mit allen Knastregeln vertraute, charismatische Altinsassin (Anna Magnani – Marilù Tolo), die zunächst die Neue veräppelt, dann aber unter die Fittiche nimmt; der Fall von der Unschuld der unschuldigen Neuen (Masina kommt raus, gerät auf die schiefe Bahn und kehrt abgebrüht in den Knast zurück – Brochard überwindet ihre "zivilisierten" Hemmungen und beginnt selbst, brutale Gewalt für ihre Zwecke einzusetzen).

Dennoch liegen auch die Unterschiede auf der Hand: NELLA CITTÀ L'INFERNO ist ein Schicksalsmelodrama, der vom Fatalismus des Film Noir gar nicht so weit entfernt ist. PRIGIONE DI DONNE ist hingegen vor allem auch politisches Anklagekino im Genregewand und in einer besseren Welt würde man ihn mit Elio Petris und Damiano Damianis wesentlich berühmteren Polizeifilmen und Politthrillern in einem Atemzug nennen. Exekutive und legislative Gewalten kommen hier ebenso schlecht weg wie kirchliche Autoritäten (das Gefängnis des Films wird von Nonnen geleitet!) oder die Sensationspresse, die aus der Ferne den Aufstand im Knast voller Erwartungen auf Blutvergießen gierig beobachtet und filmt. Fatalistisch wird der Film deshalb nicht: vielmehr erschafft er eine Art kleine Utopie in der Freundschaft einiger Frauen, die sich gegen die Gewalt in einer hoffnungslosen Situation wehren.

In einer so repressiven, von kirchlichen Verzichtspredigten geprägten Umgebung wird Sexualität zu einem Schutzschild, zu einer Angriffswaffe, zu einer Fluchtmöglichkeit. Den fürchterlichen Schmerzensschreien einer verblutenden, von den Nonnen hilflos gelassenen Co-Gefangenen entkommt Martine in nächtlicher Selbstbefriedigung. Das demonstrative Masturbieren vor den Nonnen, die gerade Duschaufsicht haben oder vor den männlichen, bewaffneten Wachen, gehört hingegen zu den scharfen Waffen der weiblichen Häftlinge. Letzteres eine geradezu halluzinatorischer Moment: Marilu Tolo entblösst sich leicht und beginnt sich vor dem Wärter zu streicheln, geilt ihn sichtlich auf und endet das ganze mit einer lauten und wüsten Schimpftirade gegen ihn. Und schließlich am Ende der "zärtliche Vierer", als Susan, Martine und zwei weitere Frauen aus Susans Bande, die allesamt als Rädelsführerinnen des Aufstands auf ein abgelegenes Inselgefängnis gebracht worden sind, auf Vorschlag Susans "eine gute Zeit verbringen" und ihrer Zelle zusammen Sex haben. Der Film zerfällt... nein, zerfließt hier in seiner Montage komplett, die Bilder ekstatischer Gesichter überlagern sich mit Impressionen reissender Meereswellen... Ein Bildgedicht nicht unähnlich dem, den die Terza-Zuschauer knapp 80 Minuten vorher in Peter Tscherkasskys THE EXQUISITE CORPUS sahen. Im zweiten Filmprogramm dieses Terza-Abends hat sich aber auch wirklich alles zusammengefügt! 

Ohne zu einem Thesenfilm zu werden macht der Film ganz deutlich, dass seine Sympathien bei den gefangenen Frauen liegt: bei der zunächst unschuldigen Martine, bei der mit allen Wassern gewaschenen Susan, bei den kleinkriminellen Insassinnen, bei den politischen Insassinnen. Dabei bleibt PRIGIONE DI DONNE doch auch unsentimental, ganz ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Zorn ist oft ungerecht, und affektive Gewalt gegen repressive Strukturen trifft physisch als Erstes Individuen, im Zweifelsfall unschuldige Leute. Als Martine langsam Gewalt als Handlungs- und Kommunikationsoption für sich entdeckt, wendet sie das dann auch gegen die Frau an, die sie vermeintlich verraten hat: eine Frau, die sich nicht so verhält, als wäre sie intellektuell besonders raffiniert bzw. in irgendeiner Weise verantwortungsbewusst. Beim großen Gefängnisaufstand schnappt sich eine Gruppe von Gefangenen dann auch eine junge Nonne, die im Laufe des Films mehrmals als sichtlich angewidert von der strukturellen Gewalt gegen die Inhaftierten gezeigt wurde – ausgerechnet sie wird dann geschlagen, getreten, zur peinlichen Demütigung ausgezogen.



Das Herz von PRIGIONE DI DONNE ist das Duo aus Martine Brochard und Marilù Tolo und die sich entwickelnde Freundschaft zwischen ihren beiden Figuren. Rondis Film ist auch auf gewisse Weise ein Female-Buddy-Movie. Beide Charaktere (dramaturgisch ähnlich wie in NELLA CITTÀ L'INFERNO) sind zunächst gegensätzlich und nähern sich zunehmend an: die Unschuldige verliert ihre Unschuld, die Alteingesessene offenbart Verletzlichkeiten hinter ihrer harten Art. Brochard ist schauspielerisch ganz solide, aber es ist Marilù Tolo, die die Leinwand geradezu sprengt mit ihrer charismatischen Präsenz. Doch auch als Ensemblefilm macht PRIGIONE DI DONNE einiges her, denn nicht nur die zentralen Nebenfiguren, die Mitglieder von Susans Prison-Gang, sind toll besetzt (nach den Regeln des Exploitationkinos natürlich auch mit jüngeren, attraktiven Frauen, deren Kleidung eher locker sitzt), sondern auch dialogfreie Randfiguren, andere Insassinnen des Knasts: vielfach auch ältere Frauen mit markanten, kantig-faltigen Gesichtern, von denen jedes eigene Geschichten erzählt (vielleicht auch nach den Rezepten von Fellini-Filmen, in denen jede noch so "unwichtige" Nebenfigur eine eigene "Charakterfresse" ist).

PRIGIONE DI DONNE ist wie erwähnt alles andere als statisch, sondern ein sehr dynamischer, bildgewaltiger Film, teils regelrecht "dreckig" gefilmt, wie aus der Hüfte geschossen wirkend, voller assoziativer Montagen, mit wilder Handkamera, die um das Geschehen wahlweise rast oder gar mit einzelnen Figuren sogar tanzt. Es ist ein Film, der dramaturgisch im positiven Sinne sehr "uneben" ist: der Ausbruch der großen Revolte ist kein Kulminationspunkt einer lang vorbereiteten und brodelnden Entwicklung, sondern eher spontan, den zufälligen Umständen geschuldet. Ebenso endet der Film weniger als dass er abrupt abbricht: Martine wird scheinbar so willkürlich entlassen wie sie inhaftiert wurde.

Trotz kurzer Laufzeit ein großer Film, mit einem klaren Verstand im Kopf, einer geballten Wut im Bauch und dem Herz am rechten Fleck. Ein Meisterwerk.



Samstag, 28. August 2021


ab 13.00 Uhr



TRAIN AGAIN

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2021

20 Minuten

Eine Zugfahrt, die ist lustig...

Deutschlandpremieren sind beim Terza keine absolute Seltenheit, denn immer wieder liefen bei diesem Festival Filme, die auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Kinopremiere tatsächlich zum ersten Mal in Deutschland im Kino liefen. TRAIN AGAIN war nun aber eine brandaktuelle Deutschlandpremiere mit Peter Tscherkasskys neuestem Film: eine Montage mit Filmmaterial zu Zugfahrten, Schienen, Bahntunnels, Lokomotiven. Wie von Tscherkassky gewohnt eine sehr rasante Fahrt.



PER SALVARTI HO PECCATO ("Für dich hab ich gesündigt")

Regie: Mario Costa

Italien 1953

79 Minuten, dF

Elenas (Milly Vitale) und Guidos (Pierre Cressoy) kleiner Sohn ist schwer krank und braucht eine Bluttransfusion seines Vaters – seines leiblichen Vaters wohlgemerkt! Und das ist nicht Guido, sondern der verurteilte Straftäter Carlo (Frank Latimore), mit dem Elena während des Kriegs schlief, um Guido vor einem Exekutionskommando zu retten.

Was sich in der Synopsis vielleicht als Vorgänger der Kindersterbe-Melodramen-Welle der 1970er Jahre liest (der Startschuss L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA und ein großer Höhepunkt des Trends, QUESTO SI CHE È AMORE, liefen bereits beim Terza), erwies sich dann doch als relativ generisches und zumindest für mich nicht sonderlich mitreissendes oder träneninduzierendes Melodrama.

Melodramen gelten als Filme, in denen Frauen sehr viel heulen, aber in PER SALVARTI HO PECCATO ist es eher so, dass Männer "rumheulen", sich selbst ständig bemitleiden und allgemein überhaupt übelnehmen – also zumindest Guido, der eigentlich während des ganzen Films nur rummault, seinen eigenen todkranken Sohn stellvertretend für seine Ehefrau für ihren "Ehebruch" abstraft, indem er ihm Küsse und Umarmungen verweigert und zwischendurch auf seiner harten, langwierigen Arbeit als leitender Angestellter einer Zeitung Druckentwürfe mit einem Zweisekundenblick abnimmt. Tja, Männer, zarte Mimöschen...

Elena hingegen rettet nicht nur ihren Ehemann vor den Henkern, "organisiert" völlig selbständig den biologischen Vater im Gefängnis, stellt sich mit dessen Mutter gut, besucht in jeder freien Minute ihren Sohn, zumindest in den freien Minuten, die ihr harter Job als Opernsängerin zulässt. Das ist überhaupt interessant: ihr Opernsänger-Job wird tatsächlich nicht weiter thematisiert in einer Zeit, in der verheiratete Frauen besonders in Filmen eher als Hausfrauen zu sehen waren.

Ebenso überhaupt nicht weiter thematisiert (vielleicht ein Problem der deutschen Synchronisation?) ist die Frage, welche Rollen Guido und Carlo im Weltkrieg spielten. War Carlo bei den Faschisten und Guido bei den Partisanen? Oder vielleicht umgekehrt (was eigentlich noch wesentlich interessanter wäre)? Oder waren beide auf der "gleichen Seite"? Diese Fragen sorgten nach dem Film im Hof der Karlsruher Schauburg noch für einigen Diskussionsstoff. Eine Antwort gibt es bis heute nicht...


...dafür ging es mit dem nächsten Film dann tatsächlich zurück in den Zweiten Weltkrieg. Zu den Deutschen allerdings. Oder besser gesagt zu einem einzelnen deutschen Soldaten.



ab 15.45 Uhr


FLASHBACK

Regie: Raffaele Andreassi

Italien 1969

106 Minuten, OmU

Italien, gegen Ende der deutschen Besatzung im Frühling 1944: der Wehrmachtsoldat Heinz (Fred Robsahm) wird von seiner Einheit als Wache auf einem hohen Baum zurückgelassen. Am nächsten Morgen sind alle seine Kameraden verschwunden, Ruhe ist in das Umland eingekehrt und das naheliegende Dorf ist völlig menschenverlassen. Nachdem er einige Tage seinen Posten diszipliniert gehalten hat, klettert Heinz schließlich vom Baum herunter, beginnt, die umliegende Landschaft und das verlassene Dorf zu erforschen und wird nach und nach von Erinnerungen überwältigt.

Vor dem Hauptfilm lief der historische Kinotrailer von Antonio Pietrangelis IO LA CONOSCEVO BENE. Christoph erklärte, dass dies ein Grenzgängerfilm sei, bei dem er und Andi schon länger überlegt haben, ihn beim Terza zu zeigen. FLASHBACK war bei dieser Ausgabe also der Film, der die Grenzen des Konzepts "Festival zum italienischen Genrefilm" auslotete. Er gilt als einziger Spielfilm des relativ obskuren Raffaele Andreassi (der zugleich auch Autor, Kameramann und Cutter des Films war), der vor allem im Dokumentarkurzfilm (sowie im Journalismus und in der Lyrik) zuhause war. Weniger als klassischer Kriegsfilm entwickelt sich Andreassis Werk als eine Meditation über den Krieg, über das Verhältnis von Krieg, Mensch und Natur: ein fast dialogfreies Einpersonen-Freiluftkammerspiel und ein Film, von dem ich mal behaupten würde, dass er in dieser Form ziemlich singulär ist.

Tatsächlich "passiert" zunächst erst einmal wenig: ein Soldat sitzt auf einem Baum, beobachtet die Umgebung, isst von seiner Verpflegungsration, schläft, langweilt sich und hadert damit, ob er runterklettern darf und kann oder nicht. Nach dem Runtersteigen vom Baum ist er nicht wesentlich weiter, sondern befindet sich immer noch in einem menschenleeren Nirgendwo, ist auf sich allein gestellt, ja eigentlich komplett auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt dann eben, sich zu erinnern.

Es fängt mit Erinnerungen an Treffen mit seiner Verlobten an, die schließlich langsam übergehen in etwas erotischere Gefilde. Mit einem Stück Kreide malt er die Umrisse einer nackten Frau auf einen Felsen und schmiegt sich an die Zeichnung. Erinnert sich an ein Schäferstündchen bei einer Prostituierten. Im verlassenen Dorf verwandelt sich Eros aber allmählich in Thanatos, erotische Begierden weichen den Erinnerungen an die Verbrechen, an die er als Soldat beteiligt war: eine Hinrichtung von Partisanen; ein Überfall auf ein italienisches Bauernhaus mit der Massenvergewaltigung einer jungen Frau. Heinz bricht im Angesicht der Erinnerungen, die ihn heimsuchen, nach und nach zusammen.

Ein Soldat läuft durch eine menschenverlassene Berglandschaft... Das ist der Hauptbestandteil von FLASHBACK, der über weite Strecken ein sehr ruhiger, meditativer Film ist, in dem nicht besonders viel "passiert". Der Beginn, mit dem Soldaten, der einschläft und dann später wieder aufwacht und alle Menschen um ihn herum sind verschwunden, suggeriert eine Art Rip-van-Winkle-Geschichte: was ist, wenn Heinz nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs verschlafen hat, sondern vielleicht das Ende jeglicher Zivilisation – also sozusagen der letzte Mensch auf der Welt ist... Gerade das erste Drittel suggeriert manchmal, dass wir uns in einer Art Parallelwelt befinden und dass nicht nur die Front sich 20 Kilometer weiterbewegt hat. Als Heinz eine bereits nicht mehr ganz so frische, aber doch eindeutig als deutschen Soldaten identifizierbare Leiche bei einem Bergbach entdeckt, zerstäubt sich dieser Eindruck ins Nichts und schafft wieder eine konkrete Jetzt-Welt. Vielleicht ist es besser so?

FLASHBACK ist auch ein Film über die sprichwörtliche "Banalität des Bösen": Heinz ist kein böser Mensch, sondern im Gegenteil ein eher schüchtern wirkender, eher sympathischer junger Mann mit einem sanften Gesicht und schönen Augen, qua Dramaturgie des Films erst einmal auch der Sympathieträger. Der Film offenbart uns nach und nach in Heinz' eigenen, alptraumhaften Erinnerungen, dass Heinz nicht nur ein hübscher junger Mann, sondern auch ein Mörder und Vergewaltiger ist, eines von vielen kleinen Rädchen, die die Maschinerie von Kriegsverbrechertum aufrecht erhalten. Ein "ganz gewöhnlicher Mann" (im Sinne Christopher Brownings) in der Maschinerie einer faschistischen Armee.

Gesprochen werden in FLASHBACK zwei (auf gewisse Art drei) Sprachen: die deutschen Soldaten zu Beginn sprechen Deutsch, ebenso wie Heinz, wenn er alleine mit sich selbst laut spricht. Seine inneren Monologe hingegen erklingen auf Italienisch (teilweise übersetzt er damit allerdings das, was er laut sagt). Gegen Ende, als Heinz aus der Ferne Bauern beobachtet, kommt noch ein emilianischer Dialekt hinzu. Wie befremdlich musste der Film einem italienischen Publikum 1969 wirken. Umgekehrt befremdlich wirkte dann der Film auch vor einem deutschsprachigen Publikum 2021: Beim Terza lief FLASHBACK größtenteils im originalen Deutsch ohne Untertitel, hochitalienische Worte (also Heinz' innerer Monolog) wurden live untertitelt, die emilianischen Wortfetzen wurden nicht übersetzt (weil extrem schwer übersetzbar ohne Kenntnisse des Emilianischen – wahrscheinlich sind sie zum Verständnis im engeren Sinne unwichtig).

Später im Innenhof des Kinos schnappte ich von einem Co-Zuschauer auf, dass der Film seinen Bildern nicht zu 100 Prozent vertraue: tatsächlich gibt es so einige Doppelungen zwischen Heinz gesprochenen deutschen Monologen und seinen italienischen inneren Monologen. Vielleicht waren letztere eine Art "Ersatz" für Untertitel für das italienische Publikum? Ja, FLASHBACK wagt den Schritt zum kompletten Verzicht auf das gesprochene Wort nicht, aber ich denke trotzdem, dass er einen wesentlich weiteren Weg geht als viele "klassischere" Kriegsfilme.

Ich bin nicht völlig restlos weggeblasen worden von FLASHBACK, halte ihn aber dennoch für einen der interessantesten Filme des Terza-Programms 2021. Immer wieder muss Terrence Malicks (meiner Meinung nach völlig überschätzter – zumal ich die frühere Verfilmung des gleichnamigen Romans bevorzuge) THE THIN RED LINE als Paradebeispiel des atypischen, kunstvollen Kriegsfilms, der den entfremdeten und/oder traumatisierten Krieger und die unberührte Natur philosophisch zusammen konfrontiert, herhalten. Manche halten ihn für den ersten Film, der so etwas probiert, aber natürlich gab es vorher schon solche außergewöhnliche Kriegsfilme wie Elem Klimovs IDI I SMOTRI (1985), Cornel Wildes BEACH RED und Miklós Jancsós CSILLAGOSOK, KATONÁK (beide 1967), Oleksandr Dovženkos ARSENAL (1929), die so etwas gemacht haben. FLASHBACK könnte man vielleicht in dieser Reihe von Filmen aufzählen – er wäre da in passender Gesellschaft.


Die Spannweite des Festivals: "naive" und "leichte" Genrefilme neben dem Genrekino der "großen Namen" (Fulci, Argento, Bava) neben ruppiger, harter Kost für Hartgesottene neben ultraklassischen, klar Umrissenen Genres neben völlig unerforschten oder vergessenen oder gerne unterschlagenen Subgenres neben Grenzgängern an der Schnittstelle zwischen Genre- und Avantgarde-Kino... genau diese Vielfalt ist das Wunderbare am Terza Visione und wurde in diesem Jahr, nicht zuletzt dank des verlängerten und erweiterten Programms, besonders gut repräsentiert. Einige Feedbacks zu FLASHBACK waren offenbar wenig begeistert. Ich meinerseits kann Andi und Christoph nur immer wieder danken, diese sie diese sehr vielfältigen Programme INKLUSIVE dieser Grenzgänger (in den letzten Jahren gehörten Cavallones SPELL (DOLCE MATTATOIO) und Questis ARCANA dazu) zusammenstellen.



ab 20.00 Uhr


ROMA COME CHICAGO ("Mord auf der Via Veneto")

Regie: Alberto De Martino

Italien/Frankreich 1968

104 Minuten, dF

Mario (John Cassavetes) und Erico (Nikos Kourkoulos) überfallen zusammen eine Poststation. Während Mario kurz darauf von der Polizei gefasst wird und sein Doppelleben als Räuber seiner Frau offenbaren muss, plant der Hitzkopf Erico zunehmend brutale Überfälle.

John Cassavetes in einem italienischen Gangsterfilm, das klingt wie Ostern und Weihnachten zusammen. Und wenn dann noch Luigi Pistilli eine Nebenrolle spielt, kann eigentlich nichts schief gehen!

Nun... schief gehen wäre der falsche Begriff, aber ROMA COME CHICAGO hat mich nicht wirklich begeistert. Nach einer sehr starken ersten Hälfte driftete er meiner Meinung nach in ein Gefühl von Plotanhäufung: dann passiert noch das, dann kommt das etc. – so dass der Film in der zweiten Hälfte etwas an mir vorbeiplätscherte. Poliziesco-Einerlei würde ich, der Polizeifilme nicht gerade zu seinen liebsten Italo-Genres zählt, das nennen. Erschwerend kam hinzu, dass Cassavetes im zweiten Drittel gefühlt komplett aus dem Film verschwindet und der weniger charismatische Nikos Kourkoulos zur Hauptfigur wird. Das ist natürlich alles Jammern auf einem ganz respektablen Niveau. ROMA COME CHICAGO ist kein schlechter Film, und gerade in den letzten 10 Minuten drückt er noch mal ordentlich auf die Tube mit einer sehr denkwürdigen Autoverfolgungsjagd durch eine Kiesgrube.

Zu den schönsten Momenten zählen zweifelsohne die Rückblenden im ersten Drittel des Films: die Erinnerungen Marios, wie er seiner künftigen Frau einst den Hof machte, wie sie zusammen ausgingen und sich verliebten. Gefühlvolle Szenen, die sowohl der Mario-Figur wie auch der Ehefrau nicht nur Charaktertiefe verliehen, sondern auch eine emotionale Fallhöhe schaffen.

Zu erwähnen sind natürlich wieder die vielen Querverbindungen und Kreuzverweise, die auf so einem Terza-Visione-Festival entstehen. Der Sohn von Mario heißt wie das schwerkranke Kind in PER SALVARTI HO PECCATO Luigino. Als sein Vater in den Knast kommt und seine Mutter darum kämpft, mit der neuen Situation zurecht zu kommen, wird er in ein Pensionat gesteckt, und empfangen wird er von... Nonnen – Figuren, die nach PRIGIONE DI DONNE nichts Gutes für den Kleinen erwarten lassen!



ab 22.30 Uhr



ULTIMO MONDO CANNIBALE ("Mondo Cannibale 2: Der Vogelmensch")

Regie: Ruggero Deodato

Italien 1977

91 Minuten, dF

Die Forscher Robert (Massimo Foschi) und Rolf (Ivan Rassimov) verunglücken mit ihrem Flugzeug mitten im Urwald. Robert wird von einem Kannibalenstamm gefangengenommen. Eingesperrt in einem Käfig wird er Zeuge gewaltsamer Rituale.

ULTIMO MONDO CANNIBALE habe ich im September 2018 bei einem Screening in Wolfsburg in Anwesenheit des Regisseurs gesehen. Der Film beeindruckte mich damals mit seiner formalen Radikalität: nach Beginn der Gefangenschaft Roberts gibt es kaum noch Dialoge und stattdessen wird fast alles rein visuell und ohne jegliche Erklärung erzählt; es gibt keine Rahmenhandlung, keine Unterbrechnung von Roberts qualvoller Gefangenschaft, keine "reliefs" in irgendeiner Art.

Irgendwie hat sich dieser Eindruck bei der Zweitsichtung etwas relativiert: die Exposition des Films fühlte sich doch verhältnismäßig lang und verbos an, genauso erschien mir jetzt der Mittelteil um Roberts Martyrium viel kürzer und das Wiederauftauchen von Rolfs Figur  hatte ich als später im Film in Erinnerung. Interessanterweise bestätigten mehrere andere Zuschauer das Gefühl, den Film wesentlich dialogärmer und mit einem längeren Mittelteil in Erinnerung gehabt zu haben.

Um jetzt nicht den Eindruck eines Jammer-Samstagabends entstehen zu lassen: ULTIMO MONDO CANNIBALE ist nach wie vor ein herausragender Film, der in teils jenseitigen Bildern von der Begegnung des "zivilisierten" Menschen mit roher Gewalt handelt (und von der Entdeckung der eigenen Gewalttriebe im inneren Selbst) und erzählerisch tatsächlich von verblüffender Geradlinigkeit und Schnörkellosigkeit ist. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung von Massimo Foschi, der mit wahrlich vollem Körpereinsatz die Wandlung vom zivilisierten Forscher zum verrohten Instinktbündel durchmacht (er ist während eines großen Teil des Films komplett nackt). Wie er einen Gegner tötet, anschließend diesem den Bauch aufschneidet, ein Organ entnimmt, reinbeisst und mit völlig irren Augen auf seine Verfolger blickt, um sie abzuschrecken, ist schon eine Wucht.



Sonntag, 29. August 2021


ab 13.00 Uhr


OCEANO ("Abenteurer der Südsee")

Regie: Folco Quilici

Italien 1971

95 Minuten, dF

Szenen aus dem Alltag und den eher ungewöhnlichen Abenteuern des Polynesiers Tanai: im Austausch mit europäischen Südseeaussteigern, in Bedrängnis durch einen Stamm von Kannibalen, im Kampf mit Haien.

Folco Quilicis L'ULTIMO PARADISO von 1955 bezeichnete ich in meiner Besprechung vom 6. Terza als "sanft", "familienfreundlich", "kindergerecht", als fernen Verwandten von Disney-Dokumentarfilmen. Ich schrieb auch, dass Quilici sich in einer Ahnenreihe zwischen Flaherty, dem italienischen Neorealismus auf der einen Seite und dem Mondo-Film auf der anderen Seite stellte. Nun... bis OCEANO vergingen 16 Jahre, darunter etwa 10 Jahre Mondo-Film – und das sieht man auch deutlich. Irgendwo in den 16 Jahren und 9 Filmen zwischen L'ULTIMO PARADISO und OCEANO wurde verbrannte Erde hinterlassen: von der Naivität und Fröhlichkeit des ersteren ist keine Spur mehr zu sehen, stattdessen eine ungezügelte Wildheit, ein Pessimismus, der stellenweise zum Nihilistischen neigt, ein Hang zu roher, nackter Gewalt – alles auch widerspiegelt in einem Inszenierungsstil, der weiterhin sehr impressionistisch ist, sich aber vom Ruhig-Gediegenen zum Stakkatoartigen, Dreckig-Unsauberen gewendet hat.

OCEANO schließt dann auch den Missing-Link zwischen ethnografischem Dokumentarfilm, Neorealismus, Mondo-Film und Kannibalenfilm. In einer Episode wird Tanai auf einer Insel von einem feindseligen Stamm gefangen genommen und in einen Käfig eingesperrt. Die feindseligen Stammesmitglieder haben offensichtlich die Absicht, ihn zu töten (vielleicht sogar zu verspeisen?), aber bevor sie das tun, lassen sie ihn im Käfig etwas schmoren (ein weibliches Mitglied des Stamms hat Mitleid mit ihm und versorgt ihn verbotenerweise mit Essen und Trinken) und zwingen ihn, bei "barbarischen" Ritualen als Augenzeuge mitzuwirken. Vor seinen Augen wird ein Hausschwein mit einer Keule zu Tode geprügelt (keine Simulation, sondern eine On-Screen-Schlachtung). Schließlich wird er doch befreit und kommt in seinen Abenteuern weiter, aber sämtliche Zuschauer bei diesem Terza wußten, was sie da sahen: fast eins zu eins eine Konstellation, die es gestern auch bei Deodatos ULTIMO MONDO CANNIBALE zu sehen gab. (Hier wieder die Demonstration, wie viele filmhistorische und teils anekdotische Verknüpfungen, Referenzen, Querverbindungen man an einem konzentrierten, langen Festivalwochenende schließen kann: auch wenn manche in CANNIBAL HOLOCAUST eine Satire auf den Mondo-Film sahen, so war Deodato ein großer und erklärter Bewunderer von Jacopetti und Prosperi – dass er vielleicht auch Quilicis Filme gesehen hatte, wäre durchaus möglich).

Mit L'ULTIMO PARADISO teilt sich OCEANO die impressionistische, nur wenig an linearer, klarer Dramaturgie interessierte Erzählweise – ja der Film ist sogar noch ellipstischer, teilweise regelrecht mysteriös in seinen vielen Wendungen, seinen oft nur angedeuteten Episoden. Der Film beginnt damit, dass Tanai eigentlich von US-amerikanischen Polarforschern am Polarkreis kurz vor dem Erfrieren gerettet wird (der Beginn des Films ließ mich zunächst für einige Minuten denken, dass die Kopie eines falschen Films lief) und anschließend von dort in einem Kanu wieder Richtung Heimat in Polynesien paddelt, ohne, dass sein Ankommen gezeigt wird: der Film springt dann einfach zur nächsten Episode, die dann schon in der Heimat angesiedelt ist und greift die angedeutete Rahmenhandlung nie wieder auf.

Wer wie in L'ULTIMO PARADISO einen Wohlfühl- und Postkarten-Südseefilm erwartet, wird aber nicht erst bei der Kannibalenszene brutal auf den Boden zurück gekegelt: die satten Blaus und Grüns weichen größtenteils eher gedeckten Grau- und Brauntönen. Immer wieder regnet es durch trüb-graue Wolken; oder aber die Sonne scheint so erbarmungslos, dass das Gras der Inseln zu hellbraunen Flächen austrocknet.

Auch der Protagonist ist kein braver Postkartenjunge, mit dem man mitfiebert. In einem der schockierendsten Momente des diesjährigen Terza (bei dem immerhin ADDIO ZIO TOM und ULTIMO MONDO CANNIBALE liefen!) steigert sich Tanai in einen regelrechten Blutrausch hinein. Ein Hai hat sein Kanu angegriffen: in Reaktion darauf geht er Muränen fischen, um mit deren Gift seine Haiharpune zu benetzen. Er richtet in einer stakkatoartig montierten Szene ein regelrechtes Muränenmassaker an und reiht auf einer Leine die getöteten Tiere zu einer makabren Trophäenreihe.

So unruhig und ruhelos wie der Protagonist ist auch die Inszenierung: der impressionistische, aber gediegene, tatsächlich ein wenig an Disney erinnerende Stil von L'ULTIMO PARADISO ist nicht nur einer elliptischeren Struktur gewichen, sondern auch zahlreichen harten Schwenks, Reißzooms, Stakkato-Montagen: OCEANO wirkt zwischendurch verblüffend "dreckig" (dadurch aber auch immer wieder umso verblüffender und erstaunlicher).

Zwei Frischvermählte, die im blauen Wasser um einen phallusförmigen Totem schwimmen – so endete L'ULTIMO PARADISO. Das Ende von OCEANO ähnelt hingegen einer bitteren Apokalypse: Dokumentarbilder von Atombombenpilzen, die polynesische Inseln verwüsten und vernichten, gefolgt von Wochenberichtaufnahmen, in denen vertriebene, auf neue Inseln angesiedelte Bewohner, deren Heimat weggebombt wurde, dazu gezwungen werden, der französischen Metropole herzlich für die neue Heimat auf neuen Inseln zu danken. Vielleicht das finsterste Filmende von allen Filmen bei diesem Terza (dessen Abschlussbilder im allerletzten programmierten Film immerhin eine Vision aus der Hölle bereithalten!).

Wahrscheinlich sind es die zahlreichen, immer wieder unfassbaren Härten, die die Momente der Menschlichkeit in OCEANO umso mehr hervorstechen lassen. Tanai landet unterem auf der Osterinsel, die geografisch zu Polynesien, politisch und sprachlich aber zu Chile gehört. Die Bewohner sprechen nur Spanisch, verdienen ihren Lebensunterhalt als reitende Viehtreiber. Der Fischer trifft also auf Cowboys. Beide verstehen kein einziges Wort voneinander. Doch beide nähern sich auch trotz der Sprachbarriere an, und Tanai wird herzlich von den polynesischen Cowboys zum Essen eingeladen. Ein geradezu utopischer Moment.

Auf einer anderen Insel trifft Tanai auf einen europäischen Aussteiger (ein Däne, wenn ich mich richtig erinnere?). Besonders bemerkenswert war die Ähnlichkeit der Person (ob es ein Darsteller oder ein echter Aussteiger ist: schwer zu sagen) mit Fritz Lang – also ein Fritz Lang nicht im steifen Anzug und mit Monokel, sondern oberkörperfrei mit Handtuch um die Hüften und ohne Monokel am Auge. Der Aussteiger lebt alleine und nutzt einige Sachen, die er von einem gesunkenen europäischen Schiff in der Nähe nimmt. Darunter befindet sich ein Radio und wenn ich mich richtig erinnere, belehrt er Tanai, dass Radio ohne Batterien (und ohne Funktionen) besser sei. Jedenfalls verstehen sich die beiden – wieder allen Sprachbarrieren zum Trotz – sehr gut, bevor es für Tanai und uns wieder mit weiteren Episoden weitergeht.

Trotz der vielen harten Schocks, des Pessismus, der größtenteils eher gedeckten und bewußt "unschönen" Farbpalette ist OCEANO immer noch ein unglaublich schöner Film, voller beeindruckender und verblüffender Bilder, die in manchen Momenten geradezu wahnwitzige kleine Details offenbaren. Eine Möglichkeit, auf hoher See nicht zu verdursten, besteht darin, eine ganz bestimmte Fischart zu fangen, den Fisch an einer bestimmten Stelle anzustechen, dann auszudrücken – und das herausfließende Wasser ist dann tatsächlich "süß" (also nicht salzhaltig). Tanai fängt einen dieser Fische, füllt damit einen Schöpflöffel auf. Wer genau hinblickt, sieht nicht nur, wie klar das Wasser einerseits ist, sondern auch einen leichten, irisiert-schimmernden Fettfilm auf dem Wasser. Zur Schönheit des Films trägt natürlich auch nicht zuletzt der Score von Ennio Morricone bei: das Hauptthema erinnert in den ersten zwei Tönen zu Beginn ein wenig an das "Ecstasy of Gold"-Thema aus IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO, nur etwas langsamer gespielt (und natürlich mit anderem Verlauf). Eine sehr schöne musikalische Veredelung eines sehr außergewöhnlichen Films. Denn für den Fall, dass dies nicht wirklich deutlich geworden ist: mir hat OCEANO sehr gut gefallen! Ein oft ruppiger, störrischer, auf keinen Fall stromlinienförmiger Film, der gerade im Kontrast zum schönen, aber eben "nur schönen" L'ULTIMO PARADISO hervorsticht.



ab 15.30 Uhr


L'AMORE DIFFICILE ("Erotica")

Regie: Luciano Lucignani, Sergio Sollima, Alberto Bonucci, Nino Manfredi

Italien/BRD 1962

120 Minuten, dF

"L'avaro" – "Der Hausfreund" (Lucignani): Der Rechtsanwalt Tullio (Vittorio Gassman) bandelt mit der Ehefrau (Nadja Tiller) eines reichen Klienten an...

"Le donne" – "Der Junggeselle" (Sollima): Der Junggeselle Antonio (Enrico Maria Salerno) möchte gerne mit einer seiner Freundinnen ans Meer fahren. Nach einigen Fehlstarts und Missverständnissen wird seine Begleiterin Valeria (Catherine Spaak), die ihn mit der Offenbarung ihrer Jungfräulichkeit und ihrer Lust auf eine "kosmetische Behandlung" mächtig ins Schwitzen bringt...

"Il serpente" – "Der Ehemann" (Bonucci): Hilde (Lilli Palmer) und Hans (Bernhard Wicki), fahren im Urlaub durch das italienische Hinterland. Während der trockene und steife Professor sich nur für Ausgrabungsstätten interessiert, gräbt die Gemahlin immer tiefer in den Stätten ihrer Begierde...

"L'avventura di un soldato" – "Der Soldat" (Manfredi): Ein Soldat (Manfredi) und eine Witwe (Fulvia Franco) in einem Zugabteil. Genug erotische Spannung, um die ohnehin heiße Sommerluft zum Explodieren zu bringen. Und ein halbes Dutzend weitere Co-Passagiere im gleichen Abteil...

Um mal aus einem späteren Film zu paraphrasieren: Italienische und italienisch co-produzierte Episodenfilme der 1960er Jahre sind wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt. Da kann zum Beispiel "nichts" dabei sein, wie im überaus zähen LE STREGHE (trotz Visconti, Pasolini und De Sica), oder eine Perle unter Durchwachsenem wie in HISTOIRES EXTRAORDINAIRES (mit Fellinis wunderbarem "Toby Dammit") oder ein Wunderwerk und kleines Schmuckstück wie in LE FATE (jeweils Antonio Pietrangelis "Fata Marta" und Luciano Salces "Fata Sabina"). L'AMORE DIFFICILE dürfte aber bislang mein Höhepunkt in diesem formal definierten Subgenre sein.

Ich könnte nicht behaupten, dass mich Lucignanis "L'avaro" begeistert hat. Natürlich kann man mit Vittorio Gassman nicht viel Falsches machen, vor allem, wenn man ihn mit Nadja Tiller zusammenbringt. Aber abgesehen von einem flüchtigen, zumal "ereignislosen" Moment des intimen Einverständnisses auf der Terrasse zwischen den beiden (während im Salon der Ehemann-Hausherr mit seinen Notaren-Kompagnons Karten spielt und trinkt) ist mir wenig im Gedächtnis geblieben.

Ein wenig besser war dann Sergio Sollimas erster, wenn auch nicht abendfüllender Kinofilm "Le donne", denn auch hier gilt, dass man mit den beiden Hauptdarstellern Enrico Maria Salerno und der wunderbaren Catherine Spaak erst mal nichts Falsches machen kann. Hinzu kommt, dass die Atmosphäre eines warmen, schönen, sommerlichen Wochenendnachmittag geradezu zum Greifen in den Bildern eingefangen wird – besonders, als es dann ans Meer geht. Inhaltlich geht es dann schon ganz schön pikant und leicht schmierig zu, wenn die beiden in einer Art codiertem Dirty Talk ("kosmetische Behandlung") über Sex sprechen.

Zur Hälfte des Films schien mir klar: das ist der ideale Film zum sanften Entspannen an einem ruhigen Sonntagnachmittag im Kino, bevor es dann Abends wieder etwas ruppiger zugeht – aber ein Höhepunkt des Terza wird es wohl dann nicht. Weit gefehlt! Mit dem einzigen Kinofilm-Regie-Credit des Schauspielers Alberto Bonucci brach der helle Wahnsinn aus: Szenen einer sexlosen Ehe, bei der die Frau mit zunehmend ausgefalleneren Methoden ihre Mitmenschen um erotische Stimuli bittet... Aber zunächst einmal fängt es mit zwei Touristen im Auto in der italienischen Provinz an (VIAGGIO IN ITALIA grüßt ein wenig). Während Ingrid Bergman allerdings beim Besuch der süditalienischen Sehenswürdigkeiten fast weinend zusammenbrach, gerät Lilli Palmer beim Anblick der weitläufigen Ruine eines Tempels in Ekstase, lockert ihr Kleid, kippt um und bekommt offenbar einen Orgasmus (der ihren Hunger allerdings nur sehr kurz stillt). Ihr Taumel wird durch die Bilder, durch eine wilde Montage auf die Zuschauer übertragen: ein ganz großer Moment des diesjährigen Terza! Völlig im Delirium kommt sie allmählich zu sich, und erschrickt ob der Schlange, die neben ihr liegt – doch es war nur ihr lederner Gürtel, den sie in ihrem Taumel weggeworfen hatte (daher der italienische Originaltitel).

Nach einer Autopanne winken die beiden Eheleute ein LWK herbei. Doch es gibt nur einen Platz zwischen den beiden Fahrern. So bleibt Steif-Professor beim kaputten Wagen, während die deutsche Frau zu den zwei italienischen Fahrern in die LWK-Fahrkabine steigt – und die beiden während der ganzen Fahrt wild anbaggert, sei es durch Ausziehen der Jacke, durch Strecken der Arme mit "zufälligen" Berührungen, durch suggestive Blicke und Worte. Hilft alles nichts: die Fahrer laden die Professorengattin pflichtschuldig im nächsten Dorf ab. Der anschließende Verlauf des Films lässt heutzutage einen ideologisch etwas fahlen Beigeschmack: sie beschuldigt bei der örtlichen Polizei die beiden Männer der Vergewaltigung, um die Aufmerksamkeit ihres Gatten wieder zu bekommen – was ihr schlussendlich gelingt. Letztendlich interessiert sich der Film allerdings kaum für die Lastwagenfahrer oder für legale Fragen. Am Ende bleibt nur eine vor unersättlicher Lust fast zerfließende Lilli Palmer!

Mit "L'avventura di un soldato" des Regisseur-Autor-Darstellers Nino Manfredi wurde es dann in jeglichem Sinne noch glühend heißer... und zutiefst poetisch. Wenn Buster Keaton sich mehr für Erotik interessiert hätte (zumal: Erotik in Zügen!), dann wäre vielleicht so etwas rausgekommen. Rein visuell ohne Dialog (ich bin verwirrt: in der IMDb steht, dass Manfredi die Dialoge geschrieben hat, obwohl ich mich nicht an gesprochene Worte erinnern kann – vielleicht einige Plaudereien der Co-Passagiere?) erzählt Manfredis Episode von der langsamen, sehr langsamen Annäherung eines Soldaten an eine junge Witwe in einem Zugabteil, in dem die beiden nebeneinander, aber nicht alleine sitzen. Augen, die zur Seite blicken und schauen möchten, ohne selbst beobachtet zu werden. Eine Hand, die ganz langsam in Richtung des begehrten Knies rutscht. Ein scheues Beobachten der Reaktionen des Gegenübers. Ein Tanz der Verführung mit der Geschwindigkeit von vielleicht einem halben Zentimeter pro Sekunde, dabei aber in der brütenden Sommerhitze des Zugabteils genauso schweißtreibend wie ein "richtiger" Tanz. Und am Ende alles genauso flüchtig wie der Luftzug einer Tanzbewegung...



ab 20.00 Uhr


I PALADINI – STORIA D'ARMI E D'AMORI ("Das Duell der Besten")

Regie: Giacomo Battiato

Italien 1983

100 Minuten, dF

Irgendwo in Europa zur Zeit der Kreuzzüge: eine jungen Christin erhält eine Weissagung, dass sie sich in einen Mauren verlieben wird, der aber von einem Christen getötet werden soll. Die Weissagung nimmt ihren Weg...

Stell dir vor, der Spätteenager-Cast einer Serie à la BEVERLY HILLS 90210 würde in einem italienischen Ripoff von Paul Verhoevens FLESH & BLOOD (der allerdings erst zwei Jahre später entstand!) mitspielen: zumindest in Sachen sleazy Sex und bloody Gore werden da durchaus Assoziationen an den Mittelalterfilm des großen Niederländers wach. Statt des charismatischen Rutger Hauer gibt es aber tatsächlich eine Gruppe von verblüffend persönlichkeitslosen Darstellern, die größtenteils so aussehen, als würden sie im falschen Film agieren. Die aussehen, als hätte man sie in eine leere Landschaft ausgesetzt und dort in Mittelalterrüstungen wie bestellt, aber nicht abgeholt stehen gelassen. Und die sich dann gegenseitig massakrieren oder lüstern übereinander herfallen müssen...

Dass Figuren als Individuen völlig egal erscheinen, merke ich einige Monate später nach Sichtung des Films: ich kann mich kaum noch an einzelne Protagonisten erinnern, sondern nur noch an Körper in einer Landschaft. Gebirgskämme, ausladende grüne Wiesen, nebelige Wälder und Strände. Natürlich auch einige exzentrische Rüstungen von Böswatzen (darunter ein offensichtlich aus Ostasien stammender Ritter in einer bizarren Ninja-Samurai-Kreuzritter-Hybridrüstung). Und an das Liebemachen auf einem riesigen Teppich aus orangen- und kastanienfarbenem Laub.

I PALADINI ist ein geisterhafter Film: er spielt in völlig entvölkerten, öden Landschaften, in dichten, herbstlichen Wäldern, in praktisch menschenleeren Kriegercamps am nebeligen Strand. Der deutsche Titel (von einigen Co-Zuschauern gerne während des ganzen Festivals erwartungsvoll und etwas scherzhaft als "Duell der Bestien" angeteasert), der eine Geschichte zweier Figuren erwarten lässt, ist auf gewisse Weise passender als der italienische Titel, der etwas Episches verspricht: wenn fünf FIguren gleichzeitig im Bild zu sehen sind, dann ist das schon viel.

Auch wenn im "Filmbeobachter" zu lesen war "Deutlich trägt der Film die negativen Züge einer Billigproduktion" – das Tolle an I PALADINI ist, dass er sein "Scheitern" am Epischen, seine befremdliche Entvölkerung von einer Schwäche in eine Stärke umwandeln kann. Statt wie eine "Billigproduktion" auszusehen (die er sicherlich auch war) schafft er durch seine Leere eine merkwürdig abstrakte Stimmung mit vielleicht leichten Anklängen an postapokalyptische Filme (MAD MAX, MAD MAX II und ESCAPE FROM NEW YORK, alles auch recht "entvölkerte" Filme, lassen grüßen). Ich glaube mich zu erinnern, dass vielleicht zwei Szenen in einem windschiefen Zelt spielen – ansonsten ist I PALADINI ein ausgesprochener Outdoor-Film und vermeidet so die Enge eines Studiosets, die man aus manchen "Billigproduktionen" kennen mag.

Auch ein gutes Mittel gegen die Enge kann natürlich Cinemascope sein, und die eleganten, rauchigen (und ja, bisweilen an Kitsch grenzenden) Bilder, die Kameramann Dante Spinotti zaubert, sind absolut fantastisch anzusehen (Spinotti arbeitete in Italien mit Aldo Lado, Liliana Cavani, Salvatore Samperi und Ermanno Olmi zusammen, bevor er in den USA u. a. fünf Filme für Michael Mann, darunter MANHUNTER und HEAT, sowie Curtis Hansons L. A. CONFIDENTIAL fotografierte). In der Videoauswertung wurden die Bildkompositionen von I PALADINI dann auch auf Vollbild massakriert und so erlebte der Film in einer selbsterfüllenden Prophezeiung das Schicksal vieler "Billigfilme". Und konnte nun auf der riesigen Cinerama-Leinwand in Karlsruhe endlich wieder seine volle, berauschende Pracht entfalten. Das Mittelalter-Fantasy-Genre ist nicht gerade eines, womit man mich à priori hellauf begeistern kann, insofern ging ich ohne große Erwartungen in den Film – und erlebte eine wirklich sehr schöne Überraschung!


Mittlerweile weniger überraschend, aber immer noch fähig zur Überrumpelung und Überwältigung war dann der letzte Film des Terza, inszeniert vom inoffiziellen heiligen Schutzpatron des Festivals... Vorab aber ein Film des diesjährigen Co-Schutzpatrons! 



ab 22.30 Uhr


OUTER SPACE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 1999

10 Minuten

Home-Invasion, Tscherkassky-style...

Tscherkassky verfremdet Material aus Sidney J. Furies Horrorfilm THE ENTITY zu einer Art abstrakten Home-Invasion-Thriller, mit flirrenden Bildern, einer schreienden Tonspur – wieder ein Überwältigungserlebnis der besonderen Art auf dieser riesigen Cinerama-Leinwand. Und inhaltlich kein schlechter Vorfilm zu einem Horrorfilm.




...E TU VIVRAI NEL TERRORE! L'ALDILÀ ("Die Geisterstadt der Zombies")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1981

88 Minuten, dF

Die New Yorkerin Liza (Catriona MacColl) erbt in New Orleans ein Hotel, in dem einst in den 1920er Jahren ein Künstler von einem Lynchmob ermordet wurde. Es ereignen sich zunehmend bizarre und schreckliche Dinge: Menschen verschwinden genauso wie Teile von Gebäuden oder kommen auf schreckliche Weise um, Totgeglaubte tauchen auf.

Über Fulcis regelbrechenden und die Grenzen des explizit Zeigbaren verschiebenden Horrorfilm ist schon viel Kluges geschrieben worden, ich belasse es bei einigen Bemerkungen.

Die an diesem Abend gezeigte Kopie enthielt in einem Punkt den "director's cut": den Prolog des Films, in dem wir die Ereignisse beobachten, die möglicherweise zur Verfluchung des Ortes oder vielleicht gar der ganzen Welt führen (ein Künstler, der schreckliche Höllenvisionen malt, wird von einem Lynchmob überfallen, gekreuzigt und mit gelöschtem Kalk überschüttet), gibt es in mehreren Farbvarianten, nämlich in Farbe oder in Schwarzweiß oder in Sepia. Letzteres war gemäß der Ankündigung Christophs auch Lucio Fulcis bevorzugtes Farbschema und in Sepia waren die ersten Minuten dann auch zu sehen.

In der Kopie, die ich 2019 in Nürnberg beim Italo-Horror-Wochenende sah und die mir den Film nach einer enttäuschenden Erstsichtung auf einer gammeligen DVD-Edition "öffnete", war, soweit ich mich erinnere, der Prolog in Schwarzweiß (?), aber wegen der mechanischen Schädigung und den Klebestellenmassakern der Kopie auch unvollständig (sämtliche Credits fehlten glaube ich). In Karlsruhe entfaltete ...E TU VIVRAI NEL TERRORE! L'ALDILÀ in einer vollständigen Kopie seine ganze Kraft: der Künstler hat sich eben aufgelöst, von einem barbarischen Mob brutal ermordet, eine junge Frau liest parallel aus einem Weissagungsbuch, sie löst sich in einer Stichflamme auf, die aufschreiende Titelmusik leitet den Vorspann ein: Gänsehaut, die noch mehrere Minuten nach Ende der Credits hielt...



Ob die angehäufte Festivalmüdigkeit der ideale Zustand oder eher hinderlich war zur Rezeption dieses Films, der gleichzeitig pures Atmosphärenkino und audiovisueller Terroranschlag auf Augen und Ohren ist, sei dahingestellt. Ich glaube, ich hätte diesen (Alp)traum von einem Film gerne in einem etwas fitteren, rezeptiveren Zustand als nach fünf Tagen Festival gesehen, weil er als luzider Traum wohl noch wirkungsmächtiger sein dürfte (so wie ich ihn denke ich 2019 in Nürnberg erlebte). Sicher ist nur, dass die riesige Cinerama-Leinwand in Karlsruhe gerade einigermaßen groß genug ist für Fulcis entfesselte Bilderwelten: von den extremen Closeups auf Augen bis hin zum ikonischen Tableau auf dem Lake Pontchartrain Causeway mit Geistermädchen und ihrem Schäferhund.


Nachdem wir vor einigen Tagen entspannt durch ein sonniges Rom fröhlich tänzelten, endeten wir nun als bis in alle Ewigkeiten Verdammte in der alles verschlingenden Hölle am Ende der Welt und am Ende aller Zeiten.


18 Filmblöcke, mit noch viel mehr vielfältigen, verschlungenen Pfaden durch die italienische (und teils auch österreichische und niederländische) Kinogeschichte auf einer der wohl schönsten Kinoleinwänden Deutschlands. Danke an alle, die diese tolle Reise Ende August 2021 ermöglicht haben!