Montag, 12. Mai 2025

2024 im persönlichen Rückblick

Editorische Notiz:

Dieser Rückblick auf 2024 wurde größtenteils zwischen Ende Dezember 2024 und Ende Februar 2025 auf dem Handy in einer Text-Editor-Datei geschrieben, meist in kleinen Abschnitten in Zügen zwischen Jena und Weimar, manchmal auch in Bussen und Straßenbahnen in den jeweiligen Städten (also Straßenbahnen nur in Jena, versteht sich). Diese Arbeitsweise hat sich ergeben aus einer privaten Notwendigkeit häufiger Reisen zwischen diesen beiden Städten, minus freier Zeit, um sich mal länger hinzusetzen. Falls das untenstehende Geschriebene, verfasst unter nicht sonderlich idealen Bedingungen, also besonders bruchstückhaft und unzusammenhängend wirkt, habe ich diesmal wirklich einen Grund.

Einige der Kommentare zu meinen Jahresbestfilmen sind aus meinen persönlichen, englischsprachigen Letterboxd-Kurzreviews übernommen, übersetzt und editiert.

Aufgrund persönlicher Umstände habe ich 2025 viele Wochen nicht die Zeit und Energie gefunden, diesen Text zu finalisieren. Um es positiv zu formulieren könnte man sagen: ich habe mich vom Publikationsrhythmus der Jahresrückblickstexte auf Eskalierende Träume inspirieren lassen! Diese sind in den letzten Jahren immer angenehm unkonventionell "spät" erschienen, ploppten als Überraschung irgendwann in der ersten Jahreshälfte auf, wenn der Jahreswechsel schon längst vergessen war, zur Freude der geneigten Leserinnen und Leser. Jetzt wurde der ET-Rückblick 2024 in der zweiten Februar-Woche veröffentlicht und damit sogar verhältnismäßig früh. Keine Entschuldigung möglich für mich. Aber zumindest eine Gelegenheit, auf diesen exzellenten, bunten Strauß an Jahresrückblicken querzuverweisen und zu verlinken.




Und wieder ein Jahr vorbei. 2024 war leider ein besonders schreckliches Jahr für mich, geprägt von emotionaler Verunsicherung, Krankheit, Schmerzen und schließlich auch von Tod.



Hören

Meine häufigeren Krankheiten betrafen wieder ein zentrales Organ für Filmwahrnehmung, die Augen. Daher führe ich meinen Exkurs von 2022 fort und beginne zunächst mit einer Sektion "Hören".


Bemerkenswerte Einzelstücke Musik



And a pianist's best friend...


...is his drummer


...or his bassist


...or his dead long-year main composer's and arranger's spirit, while the rest of the orchestra noisily packs their stuff and leaves


...or – last but not least – the godfather of jazz tenor saxophone giving you a slight "The Hawk approves" smile during your solo




Liebste Neuentdeckte Alben/Aufnahmen


Miles Davis: Live at Indigo Blues, NYC, December 17th 1988, 1st set

The Caretaker: An Empty Bliss Beyond This World

Tsuyoshi Yamamoto Trio: The In Crowd. Live at the Misty, Christmas Session

Ryo Fukui Trio: Live At Vidro '77

Kodoku-shō: Aldo Moro Rosso Sangue

Emmet Cohen: Live From Emmet's Place Vol. 116 – Lew Tabackin




Hören: Text


Vorlesungsreihe:

Timothy Snyder: "The Making of Modern Ukraine"


Podcast:

Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus: "Weimar: NS-Musterstadt"


Hörspiel:

Peter Weiss: Die Ermittlung




Sehen


In Sachen Filmveranstaltungen begann das neue Jahr wieder mit einem konzentrierten Schub an Filmekstase beim Nürnberger Hofbauer-Kongress (mehr dazu habe ich hier geschrieben). Wie das eben mit analogem Filmmaterial passiert, gab es beim Kongress die eine oder andere rotstichige Kopie. Das gab es beim Technicolor-Festival in der Karlsruher Schauburg im Mai naturgemäß nicht (da Technicolor farbstabil ist): mein zweites Technicolor-Festival war wieder eine sehr schöne Veranstaltung mit vielen denkwürdigen Höhepunkten (darunter ein Wiedersehen mit Hitchcocks REAR WINDOW und mit Cayattes grimmigem Wüsten-Rache-Thriller ŒIL POUR ŒIL) und vielen netten Gesprächen mit Festival-Bekanntschaften.

Der italienische Jahresurlaub an der Main-Riviera war wieder besonders schön, mit internationalem Einklang und Ausklang (mehr zum Terza Visione habe ich schon hier geschrieben). Im September ging es dann zu einem Wochenende der Filmkopien-Ausgrabungen an der Pegnitz, mit dem Filmarchäologen-Symposium im Nürnberger KommKino.

Die außergewöhnlichste Reise (wenn man so möchte) führte mich nach Hannover, einer Stadt, die ich bislang noch nicht kannte, von der ich oft nicht viel Gutes gehört hatte – die sich aber als ganz angenehm entpuppte, besonders die Gegend um das Kommunale Kino im Künstlerhaus. Besucht habe ich das Wochenende, an dem das Forentreffen von Deliria Italiano auf die erste Ausgabe des Broyhan Fantastik Hannover zusammentraf und in Symbiose trat (bei ersterem KEOMA und den meisterhaften, wenn auch leider wieder stark geschnittenen L'ANTICRISTO, bei letzterem eine traumhaft schöne Kopie von PROFONDO ROSSO gesehen).

Unterjährig gab es in Jena eine Art inoffizielle Retrospektive zu Hayao Miyazaki anlässlich des Kinostarts von THE BOY AND THE HERON zu sehen. Die Reihe hieß offiziell "Best of Studio Ghibli", aber das war eigentlich ziemlicher Quatsch: außer Miyazaki war kein anderer Regisseur vertreten und aus den Miyazaki-Filmen war auch eine Produktion aus der Zeit vor der Gründung des Studios vertreten (nämlich NAUSICAÄ, dessen großer Erfolg die Studio-Gründung erst ermöglichte). Ich kannte bereits SPIRITED AWAY bzw. CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND: ein toller Film, der sich rückblickend trotzdem eher unten in meinem Miyazaki-Ranking einordnet. Denn der Japaner entpuppte sich im Laufe der Kino-Retrospektive (die ich mit privaten Sichtungen noch ergänzte) als unglaublich großartiger Stilist, als Großmeister des Animationskinos, der unfassbare Bilder-Mahlstrome auf die Leinwand zaubert, in der Mehrheit der Fälle geradezu symbiotisch flankiert von Joe Hisaishis gewaltigen Kompositionen. Miyazaki dürfte tatsächlich so etwas wie mein Lieblingsregisseur 2024 sein: PORCO ROSSO, NAUSICAÄ, KIKI'S DELIVERY SERVICE, HOWL'S MOVING CASTLE, THE BOY AND THE HERON, CASTLE IN THE SKY und THE WIND RISES (und eigentlich auch LUPIN THE THIRD: THE CASTLE OF CAGLIOSTRO) würden alle in meine "große" Best-Of-Liste weiter unten gehören. Ich habe die Auswahl jetzt auf vier Filme beschränkt (einer unter den neuen Filmen, zwei in der "großen" Liste und einer in der "Wiedersehen"-Liste).

Ebenso in Jena bereitete auch das 35mm-Kino des Film e.V. wieder viel analoge Kinofreude zwischen Geschwindigkeitsrausch, stark-schwachen Frauen und berauschenden Drogen (so die losen thematischen Schwerpunkte). Die besonderen Highlights waren neben der x-ten Sichtung von FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS (aber der ersten im Kino) die Entdeckung von WILD THINGS und GUMMO (mehr zu ihnen weiter unten).



Highlights aktuelle Filme 2024

(nach Präferenz geordnet)


Kimitachi wa Dō Ikiru ka – The Boy and the Heron (Miyazaki Hayao: Japan 2023)

Das gefühlvolle und doch entfesselte Altersmeisterwerk eines großen Stilisten, der sich in seinen Universen komplett der Logik von Fantasie und Traum hingibt (die letzte halbe Stunde ist eine wahrhaft atemberaubende Gallopptour – die manche Leute zu Zweifeln über Miyazakis Geisteszustand oder seinen Fähigkeiten als Erzähler trieb).


Hébiān de cuòwù – Only the River Flows (Wei Shujun: China 2023)

Ein Serienmörder-Thriller in der chinesischen Provinz, gefilmt in luftig-leichten, ätherischen 16mm-Bildern: die ideale Textur, um einen nüchternen Procedural nach und nach in den obsessiven, paranoiden Fiebertraum des Hauptermittlers gleiten zu lassen.


Hit Man (Richard Linklater: USA 2023)

Witzig und gewitzt, sexy und spannungsreich inszenieren Richard Linklater (ich muss mich wohl ein bisschen mehr mit ihm befassen) und Hauptdarsteller-Autor-Produzent Glen Powell dieses Verwirrspiel um multiple Killeridentitäten und komplizierte Liebe.


Conclave (Edward Berger: USA/UK 2024)

Die erste Viertelstunde ist ein kleines Meisterstück in Sachen haptisch-sinnliches Kino der Prozeduren und Rituale. Und danach eine schöne Demonstration, dass politisch-paranoides Spannungskino der klassischen Machart zeitlos ist und bleibt (auch wenn es um Machenschaften in der Kirche und nicht um Machenschaften von Geheimdiensten geht).


Longlegs (Oz Perkins: USA 2024)

In Sachen "Profilerin jagt einen gruseligen Serienkiller" schon wesentlich tauglicher für mich als SILENCE OF THE LAMBS (der mich dieses Jahr beim Jenaer 35mm-Kino erneut recht unterwältigt zurückgelassen hat). In der Inszenierung "leerer", ominös bedrohlicher Räume in Cinemascope ist LONGLEGS schon sehr Carpenter'ianisch, und gleichwohl er als Mood-Piece besser ist denn als Erzählung (den "Twist" begreift eigentlich nur die Protagonistin so extrem spät), hat er schon viel Spaß gemacht. 


Made in England: The Films of Powell and Pressburger (David Hinton: UK 2024)

Vollständig von Martin Scorsese erzählt, wirkt MADE IN ENGLAND wie eine professionelle Führung durch das spektakuläre und oft ekstatische Kino von Powell & Pressburger und bietet dabei nicht nur aufschlussreiches Wissen über die Filmografie der Archers: Martys purer Enthusiasmus für die Geschichte und das Erbe des Kinos, der dankenswerterweise nicht durch die Einmischung Dritter getrübt wird, wird wahrscheinlich jeden Zuschauer (ob mit den Filmen von Powell und Pressburger vertraut oder nicht) in seinen Bann ziehen und macht diesen Dokumentarfilm zu einem vitalisierenden Liebesbrief an die Kraft des Filmemachens. Er macht auch große Lust, das Werk zweier visionärer Filmemacher zu entdecken und wieder zu entdecken.


Furiosa: A Mad Max Saga (George Miller: Australien/USA 2024)

Nach einem (für Miller eher ungewöhnlich) expositionsreichen Anfang nimmt die Maschinerie dann doch Fahrt auf. Die zentrale Verfolgungsszene (eine Art Update des Showdowns von MAD MAX 2) ist schon den Eintritt wert.


Maxxxine (Ti West: USA 2024)

Der schwächste Film aus Ti Wests Neo-Slasher-Trilogie nach X und PEARL, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Mia Goth ist noch immer eine starke Präsenz, Kevin Bacon sleazt sich herrlich widerwärtig durch den Film und sogar Buster Keaton hat (wenn man es so sagen möchte) ein Cameo.


Los colonos – The Settlers (Felipe Gálvez Haberle: Chile/Argentinien/UK et. al. 2023)

Eine Art postkoloniale Western-Adaption von "Heart of Darkness", angesiedelt in der patagonischen "Frontier": eine Wildnis, die als Besitz eines reichen Unternehmers von drei Männern mit extremer und tödlicher Gewalt abgesteckt wird. Ein fesselnder Slowburner.


The Zone of Interest (Jonathan Glazer: UK/Polen/USA 2023)

Der digitale Brutalismus der Fotografie, die den Film wie eine Mischung aus Reality-TV und einer Kompilation von Überwachungskameraaufnahmen aussehen lässt, war schon hart gewöhnungsbedürftig – am Ende aber doch auch schlüssig für einen faszinierenden Konzeptfilm.



Kurzfilm

Oyu (Hirai Atsushi: Frankreich 2023)

Was als tiefenentspannter und sehr sinnlicher Abhängfilm in einem traditionellen japanischen Badehaus anfängt, voller ruhiger Beobachtungen von Ritualen, entfaltet sich allmählich zu einem wunderschönen, melancholischen Film über Erinnerung, Empathie und Trauerbewältigung.



Highlights Überhänge aus 2023


Master Gardener (Paul Schrader: USA 2022)

Der Dualismus aus klirrender Kälte und brodelnder, eruptiver Leidenschaft (oft in epiphanischen Momenten), der einige von Schraders Filmen prägt, ist hier ganz besonders markant: MASTER GARDENER ist ein extrem kalter Film, das macht dann die Fahrten durch blühende Landschaften umso ekstatischer. In der losen Trilogie aus FIRST REFORMED und THE CARD COUNTER mein Liebster.


Silent Night (John Woo: USA/Mexiko 2023)

Die Träne, die sich vom Gesicht löst, fällt und sich im Fallen in eine Pistolenkugel verwandelt, dürfte wohl die ultimative Verbildlichung der Woo'schen Symbiose aus Melodrama und Action sein. Und gerade in der ersten Hälfte und im quasi-psychedelischen Showdown lässt Woo viel Platz für melodramatische Gesten. Das Konzept, den Film völlig dialogfrei zu erzählen (weil der Rächer-Protagonist nach einem Angriff durch ein Gang-Mitglied seine Stimme verliert) ist absolut schlüssig, toll umgesetzt und wirkt nie wie ein Gimmick. Das eher niedrige Budget ist natürlich sichtbar, aber das Handwerk hinter und vor der Kamera ist erstklassig: ich verstehe die Feindseligkeit, die dem Film entgegenschlägt, einfach nicht.





Beste Erstsichtungen nicht-aktueller Kurzfilme

(nach Sichtungsreihenfolge geordnet)

La cabale des oursins (Luc Moullet: Frankreich 1992)

Der anarchische Witzbold und zärtliche Clown der französischen Nouvelle Vague erforscht die Poesie von Bergehalden (also Hügel, die durch Kohlenbergbau entstanden sind).


Toujours plus (Luc Moullet: Frankreich 1994)

Eine Erforschung der Poesie von Shopping-Malls...


Le ventre de l'Amérique (Luc Moullet: Frankreich 1995)

...und der Poesie von Des Moines, Iowa.


Ô saisons, ô châteaux (Agnès Varda: Frankreich 1958)

Ein wunderbarer, vom französischen Tourismusverband beauftragter Film über die Loire-Schlösser.


Polizeibericht Überfall (Ernő Metzner: Deutschland 1928)

Der Proto-Noir über den verlorenen Groschen.


Pinball (Suzan Pitt: USA 2013)

Offenbar Suzan Pitts letzter Film: ein posthumaner, abstrakter Wirbelsturm, der es in sich hat...


Asparagus (Suzan Pitt: USA 1979)

...während ihr "Klassiker" noch eher in sinnlichen Formen frönt: Surrealismus als sexy Animation.




Beste Erstsichtungen nicht-aktueller, abendfüllender Filme

(nach alter Tradition 52 Stück, geordnet chronologisch nach Veröffentlichungsdatum)


Of Human Bondage (John Cromwell: USA 1934)

Das ziemlich unfassbare Melodrama eines Mannes, der zwischen dem guten, sauberen Landmädchen und der verdorbenen, ultra-bitchy Femme Fatale aus der Stadt (diabolisch und großartig dargeboten von Bette Davis) hin- und hergerissen ist. Hatte gerade noch drei Tage vor der letzten großen Verschärfung des Production Code seine Premiere, und der Film strömt tatsächlich noch den verführerisch verdorbenen Duft des Pre-Code-Kinos aus.


Untamed Fury (Ewing Scott: USA 1947)

UNTAMED FURY könnte der "verlorene", etwas schäbige Onkel von Elia Kazans WILD RIVER und Nicholas Rays WIND ACROSS THE EVERGLADES sein, denn es ist sowohl ein Film über einen Ingenieur, der versucht, ein "Modernisierungs"-Projekt in einer "rückständigen" ländlichen Gemeinde zu starten, als auch ein Film, der in den gefährlichen Sümpfen Floridas spielt.

Er ist auch ein schönes Beispiel für einen "regionalen Independent", der außerhalb des klassischen Hollywood-Systems gedreht wurde, nämlich vor Ort in den Sümpfen Floridas, aufgepeppt mit einigen spektakulären Unterwasserszenen (eindeutig in einem Studiobassin gedreht, aber sichtbar mit den echten Schauspielern, die die Action machen). Dazu kommen noch ein paar ethnografische Elemente (das Mädchen, das auf einer Tanzparty in der Scheune ein Waschbärbaby mit der Flasche füttert!), eine intrigante Femme fatale aus der Stadt in herrischen schwarzen Hosen, ein paar bewaffnete Hinterwäldler und – natürlich – jede Menge Aligatoren, und fertig ist ein echtes B-Movie-Juwel.


Black Narcissus (Michael Powell & Emeric Pressburger: UK 1947)

Pure Begierde in den Bergen Indiens, bis zum Wahnsinnigwerden ständig wie ein Feuer angefacht vom steifen Wind, der ständig brausend durch die Gänge des Klosters weht. Begierde, die alle halluzinieren lässt: eine wilde Explosion des Technicolor-Farbspektrums, meisterlich fotografiert von Jack Cardiff, ekstatisch choreografiert von Powell & Pressburger. Und die Abgründe in Deborah Kerrs und Kathleen Byrons Augen sind tiefer als die Schluchten am Rande des Klosters.


Aan (Mehboob Khan: Indien 1952)

Die Technicolor-Gesetze der Begierde mit der indischen Joan Crawford. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Mannekäng i rött – Mannequin in Red (Arne Mattsson: Schweden 1958)

Der Serienmörder im Modehaus – gul statt giallo. Gesehen beim Terza Visione.


Porgy and Bess (Otto Preminger: USA 1959)

Als klassische Hollywood-Großproduktion ist PORGY AND BESS mit seiner ausschließlich schwarzen Hauptbesetzung, seinen bewusst stilisierten, meist klaustrophobischen Hinterhofkulissen und dem fast völligen Fehlen klassischer Dialoge ein ganz außergewöhnlicher und künstlerisch gewagter Film.* Und es ist ein äußerst filmischer Film, der buchstäblich mit dem gesamten Umfang, der Breite, der Höhe und der Tiefe des Cinemascope-Formats arbeitet. Er verzichtet auf "Schuss-Gegenschuss" zugunsten großer Tableaus und langer Einstellungen und arbeitet sehr bewusst mit Farbpaletten: nicht nur in Bess' auffälligen roten und rosafarbenen Kleidern – man beachte auch die beruhigenden, warmen, braun-sepiafarbenen Töne in Porgys ärmlicher, aber dennoch gemütlich aussehender Hütte. Das auf einer seltenen 35-mm-Technicolor-Kopie auf einer großen Leinwand zu sehen, ist schon ein sehr sinnliches Vergnügen.

Sidney Poitier und Dorothy Dandridge sind in den Hauptrollen ganz gut, aber die Nebendarsteller sind großartig! Pearl Bailey als energiegeladene und red- bzw. singselige Café-Besitzerin Maria oder Brock Peters, der den Antagonisten Crown als massives und (sexuell) bedrohliches, aber auch katzenartig elegantes Raubtier verkörpert. Das Sahnehäubchen ist jedoch Sammy Davis Jr. als Zuhälter Sportin' Life, mit einer charismatischen Schmierigkeit, die Kinnladen herunterklappen lässt. Seine Interpretation von "It ain't necessarily so" beim Picknick, bei der er zwischendurch in wilde Scat-Improvisationen ausbricht, ist einer der Höhepunkte in diesem wunderschönen Film.

*EDIT: wobei Preminger ja fünf Jahre vorher Ähnliches bei CARMEN JONES (den ich noch nicht kenne) probiert hatte, auch mit Dorothy Dandridge in der Hauptrolle.


El esqueleto de la señora Morales – The Skeleton of Mrs. Morales (Rogelio A. González: Mexiko 1960)

Kein Gothic-Horrorfilm, sondern ein dunkelhumoriges Ehedrama der ehelichen Entfremdung zwischen einem fröhlichen (aber aufgrund seines Berufs auch leicht morbiden) Tierpräparators und seiner körperlich behinderten Frau, die durch ihr Engagement in einer Kirchengemeinde verbittert und auch heuchlerisch wird.

Der Film nimmt die gewalttätig endenden (anti-)bürgerlichen Ehedramen vorweg, die Claude Chabrol etwa zehn Jahre später drehen sollte, fühlt sich in seiner starken antiklerikalen Haltung ein wenig wie Buñuel an, sieht sehr nach Hitchcock aus, wie er Verbindungen zwischen Figuren, fetischisierten Objekten (und fetischisiertem Essen!) und Begehren herstellt, aber gleichzeitig wie ein sehr stilisierter Film Noir gefilmt ist, voller merkwürdiger Kamerawinkel und mit großen, dunklen Schatten.

Am Ende ist er eine wilde Achterbahnfahrt, die einen im letzten Drittel fast aus dem Sitz schleudert.


La princesse de Clèves (Jean Delannoy: Frankreich/Italien 1961)

Eine filmische Grenzerfahrung in Sachen morbides Begehren und Verzichtserotik: Liebe, die entweder nur Kälte bleibt oder Liebe, die nur in extremen Formen, im Tod, Erfüllung findet.


El camino (Ana Mariscal: Spanien 1963)

Ein wunderschöner Kinderfilm auf dem spanischen Dorf mit Renoir'schem Feeling, der später zum harten Melodrama umkippt.


La tulipe noire (Christian-Jaque: Frankreich/Spanien/Italien 1964)

Gleich zweimal Alain Delon in einem ultraschmissigen Mantel-und-Degen-Spektakel, wie ihn die Franzosen zu der Zeit so gut beherrschten.


Onibaba (Shindō Kaneto: Japan 1964)

Leben und (gewaltsam) sterben lassen im Schilf der entfesselten Lust.


Das sündige Dorf (Werner Jacobs: BRD 1966)

Ein gar wunderbares Lustspiel, noch fest verankert in der traditionellen Heimatfilmkomödie der 1950er Jahre, in seinen vielen vergnüglichen Doppeldeutigkeiten (es geht um uneheliche Kinder und den entsprechenden, früheren Affären und dem heutigen Begehren) aber schon wie ein Scharnier in Richtung des späteren Alpensexfilms wirkend. Neben den gut aufgelegten Schauspielern erheitert DAS SÜNDIGE DORF vor allem mit seinem tollen komödiantischen Timing.


The Naked Runner (Sidney J. Furie: UK 1967)

Der Film ist das Companion-Piece zu dem avantgardistisch anmutenden Spionagethriller THE IPCRESS FILE mit Michael Caine, bei dem das Regisseur-Kameramann-Duo Sidney J. Furie / Otto Heller hinter der Kamera stand. Hier, in THE NAKED RUNNER, werden die Häufigkeit, Dichte und Verrücktheit grotesker Cinemascope-Kamerawinkel und seltsamer Bildkompositionen (Objekte im Vordergrund verdecken manchmal bis zu drei Viertel des Geschehens) auf ein neues Niveau gehoben, wodurch die delirierende Paranoia, die beklemmende Klaustrophobie und die alptraumhafte Atmosphäre noch verstärkt werden. Die heiteren, manchmal komischen Momente und der Pop-Art-Flair von THE IPCRESS FILE wurden zugunsten einer völlig deprimierenden, fast dystopischen Stimmung eliminiert. Dennoch ist die Handlung so bizarr verworren und überkompliziert, dass THE NAKED RUNNER manchmal auch wie eine absurde, kafkaeske Farce wirkt. Da Cinematographie, Bildgestaltung und Schnitt eine so überwältigende Rolle spielen, ist die Betrachtung des Films auf einer 17 Meter großen, gewölbten Cinerama-Leinwand von einer 35-mm-Technicolor-Kopie natürlich der Schlüssel, um in diesen großartigen, leider zu wenig bekannten Paranoia-Thriller einzutauchen und sich darin zu verlieren.


Reflections in a Golden Eye (John Huston: USA 1967)

Die kleinere Leinwand des intimen Nürnberger KommKino-Saals (Zweitsichtung) bekommt dem Film offenbar besser als die gigantische Cinerama-Leinwand der kathedralartigen Karlsruher Schauburg (Erstsichtung). Beide Male analog von 35mm gesehen in der von Huston intendierten und präferierten "goldenen Fassung": der größte Teil des Bilds getaucht in Bernsteintönen, mit einzelnen Objekten, die in "normaler" Farbe gezeigt werden (ein blaues Muster auf Liz Taylors Bluse, eine rosafarbene Rose, gelbe Abzeichen auf Armeeuniformen, ein roter Teppich, ein blauer Himmel). Beim zweiten Mal entfaltete sich die ganze Wucht dieses Wahnsinnsfilms über wahnsinnige Leute, die ihre Neurosen und vor allem ihr repressiertes Begehren auf einer Höllenbühne namens "Normalität" verschleiern. Besonders erwähnenswert ist auch der beeindruckende, dissonant-expressive Score des japanischen Avantgarde-Komponisten Toshiro Mayuzumi.


Häschen in der Grube (Roger Fritz: BRD 1969)

Coming of Age im Italien-Urlaub: die Bilder sind verführerisch schön, doch unter der Oberfläche der braven Spießbürgerfamilie lauern Abgründe und das Grauen. Ein schön erschütternder und erschütternd schöner Film.


Wunderland der Liebe: Der große deutsche Sexreport (Dieter Geissler: BRD 1970)

Die BRD zwischen fliegenden Bratkartoffeln, tropfender Konfitüre und robusten Kondomen. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Anaparastasi – The Reconstruction (Theo Angelopoulos: Griechenland 1970)

Karge griechische Berglandschaft und karge griechische Menschen meet Doomy Film Noir. Mehr zu diesem Film gibt es von Manfred hier zu lesen.


Confessione di un commissario di polizia al procuratore della repubblica (Damiano Damiani: Italien 1971)

Turbulente Immobilien-Geschäfte in Palermo. Gesehen beim Terza Visione.


Le Mans (Lee H. Katzin: USA 1971)

Die Dialoge (vielleicht besonders in der deutschen Fassung) sind nicht besonders gut, allerdings gibt es nur etwa drei oder vier im ganzen Film, der die oft nichtssagende Floskel "wie ein Dokumentarfilm inszeniert" mit einer bemerkenswerten Radikalität ernstnimmt und umsetzt.


L'albatros (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1971)

Strukturell der Begleitfilm zu Mockys SOLO: die actionbetonte, nächtliche Flucht eines romantischen Anarcho-Außenseiters vor dem Hintergrund eines Polit-Thriller-Szenarios.


La bonne année (Claude Lelouch: Frankreich/Italien 1973)

Was als irritierender und fast alberner Found-Footage-Gag beginnt, entpuppt sich langsam als abenteuerliche Liebesbeziehung zwischen einem Heist-Thriller und einer zarten romantischen Komödie, die beide übereinander stolpern, auf die Nase fallen und irgendwann vom anderen überrollt werden. Aber keiner wird verletzt, denn es ist vor allem ein Spiel, und LA BONNE ANNÉE ist in erster Linie ein spielerischer und spaßiger Film. Spaßig, weil er die besten Attraktionen der beiden Genres Heist- und Liebesfilm vereint. Spaßig, weil Handkameraaufnahmen (und davon gibt es hier viele) selten so entspannt und gleichzeitig so elektrisierend wirken. Und natürlich spaßig, weil: wie viele Filme haben so viele großartige Momente, in denen Lino Ventura und Françoise Fabian sich einfach nur selbstverloren anschauen und anlächeln?


Stardust (Michael Apted: UK 1974)

Das fiktive Rockmusiker-Biopic STARDUST besticht nicht nur durch seine Aufstiegs- und Abstiegsgeschichte (die im ersten Teil von den Beatles und der Beatlemania inspiriert wurde), sondern vor allem durch seine kraftvolle Regie, die energiegeladene Kameraführung und den rasanten Schnitt (es erinnerte mich an den späteren Martin Scorsese im GOODFELLAS-Modus). STARDUST erzählt weniger Geschichten aus dem Rock'n'Roll-Zirkus, sondern macht dessen sexy Nervenkitzel, berauschende Höhen und am Ende auch die bitteren Tiefen sinnlich erfahrbar. Dass ich aufgrund fehlender Untertitel in der OV-Kopie vielleicht nur drei Viertel der teilweise sehr Cockney-lastigen Dialoge verstehen konnte, half mir, mich dem audiovisuellen Sog komplett und widerstandsfrei hinzugeben.


Un linceul n'a pas de poches (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1974)

Mockys längster Film und wohl einer seiner genre-fluidesten in einer Karriere voller eh schwer kategorisierbarer Filme: da steckt das utopisch-anarchische (Selbst-)portait eines kämpferischen Investigativjournalisten drin, ein Provinz-Noir irgendwo zwischen Chabrol, klassischen Chandler-Anklängen und dem späteren Lynch, zwischendurch bizarrer Sleaze (ein angefangener und doch unterbrochener Dreier mit Beteiligung von Silvia Kristel noch vor ihrem EMMANUELLE-Durchbruch; später gibt es den unverwüstlichen Dominique Zardi als sexbessenen, dauermasturbierenden und urophilen Schlägertypen) und Einschübe absurder Komödie (Jess Hahn als schrulliger Mitbewohner), ein ultrafinsterer Paranoia-Thriller der auch mal in schauererregende Folterkeller führt, dann auch die wohl einzige direkte Beschäftigung mit jüdischer Identität in Mockys Filmografie, unbändiger Zorn und grenzenlose Wut gegen alle möglichen Parteien (Unternehmer und Gewerkschaftler, Reaktionäre, bürgerliche Konservative, Sozialisten und Kommunisten – Mocky pisst sie alle an!) stehen neben einer großen Zärtlichkeit für die Einzelgänger, die Verlierer, die Leute in der Zwickmühle.

Das müsste alles komplett in seine Einzelteile zerfallen, tut es aber (bei aller bizarrer Eigensinnigkeit) nicht: UN LINCEUL N'A PAS DE POCHES bleibt verblüffenderweise ein sehr konziser, stimmiger Film. Aber vielleicht empfinde nur ich das so: der Film floppte, nur die melancholische, sanfte Trompetenmusik (gespielt von Jean-Claude Borelly) wurde zu einem internationalen Hit.


Autobiography of a Princess (James Ivory: UK 1975)

Der Höhepunkt meines kursorischen ersten Streifzugs durch die Filme des Regisseur-Produzent-Autorin-Trios James Ivory, Ismail Merchant und Ruth Prawer Jhabvala: ein Zwei-Personen-Kammerspiel und -Dialogstück trifft auf Found-Footage aus der indischen Zeitgeschichte. Das ergibt zusammen einen faszinierenden Essayfilm über koloniale Nostalgie, Dekolonisierung, das Verhältnis von kolonialen und lokalen Machthabereliten, Sehnsucht und (schwules) Begehren. Vieles davon abgebildet in den reichen, vielschichtigen und fesselnden Gesichtslandschaften des gealterten James Mason.


Vanessa (Hubert Frank: BRD 1976)

"...Vanessa, you are the girl of my dreams..." Ein unfassbarer Hong-Kong-Sexfilm-Bilderreigen. DVD in Nürnberg gekauft, wo er auch mal bei einem Hofbauer-Kongress vor meiner Zeit lief. Dazu hat Silvia einige schöne Worte hier geschrieben.


Between the Lines (Joan Micklin Silver: USA 1977)

Die meisten 68er-Kater-Filme sind eher düster, rau und brutal. BETWEEN THE LINES ist voller Liebe und Zärtlichkeit: Nur weil man die Welt nicht ändern konnte und kann, heißt das nicht, dass man nicht mit Menschen, die man liebt, mag und respektiert, abhängen und Spaß haben kann. Das Sahnehäubchen ist natürlich, wenn einer von ihnen Jeff Goldblum ist, der urkomische Comedy-Nummern zum Besten gibt, und ein anderer Michael Pollard, der einfach nur herumsteht und -sitzt und wissend lächelt.

Beim ersten Anschauen dachte ich, dass BETWEEN THE LINES manchmal ein bisschen wie eine Sitcom aussieht. Beim erneuten Anschauen kann ich das insofern bestätigen, als dass er das schönste Element der Sitcom aufgreift und in einen filmischen Triumph verwandelt: einfach mit ein paar Leuten an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Zuhause und in ihrer Lieblingsbar herumzuhängen.


Simone Barbès ou La vertu (Marie-Claude Treilhou: Frankreich 1980)

Magisches Kino als entspanntes und weitestgehend zielloses Schlendern durch den Job als Kartenabreisserin im Pornokino, durch das gemischte Publikum und die verschiedenen Performances in einem Lesbenclub, durch die Straßen von Paris in der Dämmerung im Auto des Gentleman-Perversen.


Verano salvaje (Enrique Gómez Vadillo: Mexiko 1980)

Ein erotischer Abhängfilm trifft auf die Mechanismen des lateinamerikanischen Telenovela-Melodrama, das ganze fotografiert mit einer durch und durch queeren Kamera, die wie unsere von der wunderbaren Ana Martín gespielten Protagonistin die ganzen heißen Männer angeilt, die in äußerst knappen Badehöschen durch die Strandurlaub-Szenerie stolzieren. Das ganze noch versüßt mit einem hervorragenden Orchester-Score.


Mortelle randonnée (Claude Miller: Frankreich 1983)

Aus einer schwarzhumorigen Krimi-Farce (mit italienischer Produktionsbeteiligung hätte ich vielleicht gar von Giallo-Komödie geschrieben) wird nach und nach eine leise, melancholische und emotional sehr aufwühlende Medition über Trauer, Verlust, Einsamkeit, Sehnsucht nach menschlicher Bindung.


Péril en la demeure (Michel Deville: Frankreich 1985)

Während Michel Devilles teilweise extremer Formalismus in LE MOUTON ENRAGÉ (auch 2024 gesehen) oft etwas in Beliebigkeit versandete, peitscht er hier sein Neo-Noir-Szenario um Hören, Sehen, Begehren und Morden zu Gipfeln großer, mitreissender, witziger und erotischer Filmkunst hoch. Das erinnerte mich ein bisschen an De Palma. Andere referenzieren Greenaway. De Palma – Greenaway – Deville, eine nette Triangulation.


American Flyers (John Badham: USA 1985)

Once you get it up, keep it up!

Wie bereits geschrieben: mit Kevin Costners Pornoschauzer würde ich durch alle Berge Colorados radeln. Gesehen beim Hofbauer-Kongress und endgültig in den Film verliebt beim Jenaer 35mm-Kino.


Buddies (Arthur J. Bressan Jr.: USA 1985)

Ein meisterhaftes Melodrama über einen an AIDS sterbenden Schwulenaktivisten und seinen ehrenamtlichen Sterbebegleiter. Sehr emotional, aber auch sexy, witzig und gewitzt – und vor allem auch kämpferisch: ein Film über das Sterben, aber auch über die Geburt von politischem Bewusstsein und Engagement.


Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (Tillmann Scholl: BRD 1985)

St. Pauli zwischen Absturzkneipe und Gentrifizierung. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Henry: Portrait of a Serial Killer (John McNaughton: USA 1986)

Ein nur scheinbar wie sein Protagonist distanzierter und emotionsloser Film, dessen kalte Klauen des Grauens besonders im letzten Viertel einem nach und nach die Kehle zuschnüren, um einem dann in den letzten Minuten das Genick zu brechen. Michael Rooker, mit seinem kantigen Gesicht und seiner rauen Stimme, ist sowieso ein Schauspieler, dessen Präsenz selbst in kleinen Nebenrollen (die er oft "nur" hat) einen Film aufwertet: hier IST er ein großer Teil des Films.


Top Model (Joe D'Amato: Italien 1988)

Geil bummeln und bumsen in New Orleans. Gesehen beim Terza Visione.


Il nido del ragno (Gianfranco Giagni: Italien/Ungarn 1988)

Budapest sehen – und qualvoll in den Händen der Spinnensekte sterben. Gesehen beim Terza Visione.


Majo no takkyūbin – Kiki's Delivery Service (Miyazaki Hayao: Japan 1989)

Unter den kindergerechten Miyazakis scheint TOTORO populärer zu sein, aber ich verschenke mein Herz definitiv Kiki. Auch wenn in der letzten Viertelstunde die Spannungsschraube sehr nägelbeissend angezogen wird, bedeutet "kindlich" hier auch ein recht entspanntes Abhängen in kleinen, schönen Episoden voller poetischer Ideen und Witz und mit einer liebenswerten Protagonistin.


Daughters of the Dust (Julie Dash: USA 1991)

DAUGHTERS OF THE DUST erzählt die Geschichte einer Gullah-Familie, die an einem Sommertag im Jahr 1902 auf ihrer Heimatinsel in South Carolina ein letztes Mal zusammenkommt, bevor die meisten Mitglieder endgültig in den Norden auswandern.

Der Film hat eine ethnografische Seite, als Portrait einer Minderheit unter Afroamerikanern. Als Familiendrama handelt DAUGHTERS OF THE DUST von allen möglichen Konflikten: zwischen den Generationen (die jüngeren Familienmitglieder haben genug von den "alten Gewohnheiten"), zwischen den religiösen Zugehörigkeiten (Christen konkurrieren mit den Gläubigen traditioneller afrikanischer Religionspraktiken), zwischen den Geschlechtern (Impotenz und Ehebruch belasten die Ehen), zwischen den Klassen und sogar zwischen den sexuellen Orientierungen (eine queere Begleiterin wird von den meisten Familienmitgliedern ignoriert). Zwischen den Konflikten tauchen afroamerikanische Erinnerungen an Sklaverei und Gewalt auf, die Narben und Traumata zeigen, diese aber auch durch die Erschaffung mythologischer Erzählungen bewältigen.

DAUGHTERS OF DUST präsentiert all dies nicht in Form einer steifen, pädagogischen, stromlinienförmigen Trockenübung: Stattdessen entfaltet DAUGHTERS OF THE DUST seine besondere Stärke als schwindelerregender Strudel von Bildern, die heranzoomen, herauszoomen, sich auflösen, assoziativ und musikalisch effektvoll zusammengeschnitten werden – alles verbunden durch einen faszinierenden, fast ambientartigen Score, der afrikanische Trommeln und Elektronik mischt; ein Hauch von magischem Realismus (eine Person läuft auf dem Wasser; Teile des Films werden vom Voice-Over eines Geistes erzählt) mischt sich mit stilisiertem Schauspiel. Mehr als ein konventioneller narrativer Film entfaltet DAUGHTERS OF THE DUST seine Magie als ein hypnotisierendes, wunderschön fotografiertes Stück audiovisueller Poesie.


The Pit and the Pendulum (Stuart Gordon: USA/Italien 1991)

Ein übel beleumundeter B-Movie aus der Schmiede von Charles Band – und doch ein fantastischer Film, der unter dem Deckmantel von Exploitation wohl mehr über die teuflischen Mechanismen politisch-religiösen Fanatismus' zu sagen hat als "respektablere" Poe-Adaptionen. Das liegt aber auch an der furchteinflößenden Präsenz von Lance Henriksen als völlig verkommener, perverser und sadomasochistischer Inquisitor Torquemada. Die Welt bräuchte natürlich viel mehr Filme mit einer Szene, in der Lance Henriksen erregt seine eigene, angeordnete Auspeitschung genießt.


Point Break (Kathryn Bigelow: USA/Japan 1991)

Dank POINT BREAK habe ich vielleicht Manny Farbers Konzept der "Termiten-Kunst" verstanden. Von dem Nährboden eines nicht allzu gut geschriebenen Drehbuchs voller Klischees, alberner und oft nicht allzu kluger Charaktere und dümmlicher Glückskeks-Philosophie nähren sich die straffe, kraftvolle Regie und die schöne, kinetische Fotografie, um daraus nichts anderes als pure und körperliche Genrekino-Ekstase zu züchten: die mit Handkamera fotografierte Verfolgungsjagd zu Fuß durch L. A. wirkt auf der großen Leinwand wahrhaftig atemberaubend.

Weniger spektakulär, aber auf seine Weise ebenfalls spannend: der Beginn von Johnnys und Tylers Annäherung nach der nächtlichen Surf-Session in der Gruppe – ein Klischee der "Anfangsszene der Liebe", das sich dank der Fotografie, die den spiegelnden Ozean im Hintergrund der beiden auf ihren Brettern sitzenden und flirtenden Surfer als magisch glitzernde Tapisserie zeigt, in ein fast jenseitiges Bild der Verzauberung verwandelt.


Kurenai no buta – Porco Rosso (Miyazaki Hayao: Japan 1992)

Miyazakis Hawks'ianischer Piloten-Actionfilm – und wenn ich zwingend einen liebsten Miyazaki aussuchen müsste, wäre es wohl dieser.


Fly Away Home (Carroll Ballard: USA 1996)

Coming of Age als Trauerbewältigung mit einer DIY-Flugreise, bei der niemand zurückbleiben soll – auch nicht Igor. Von einer kristallinen, farbprächtigen 35mm-Kopie ein besonderer Genuss, und die beigeisterten und erstaunten Reaktionen des größtenteils kindlichen Publikums (es war das 35mm-Kinder-Special in der Adventszeit) auf "Amy und die Wildgänse" machten die Vorstellung besonders erfreulich.


East Palace, West Palace (Zhang Yuan: China/Frankreich 1996)

Ein Mann, der bei einer Razzia an einem klandestinen Cruising-Ort verhaftet wurde, erzählt dem Polizisten im Verhör von seinen erotischen Abenteuern und/oder Fantasien. Statt um Zeitschinden wie in "1001 Nacht" geht es in dieser einen Nacht eher um Verführung mit Worten, Blicken und kleinen Gesten. Und so wie der schwule Schriftsteller "seinen" Polizisten verführt, verführt EAST PALACE, WEST PALACE das Publikum mit seinen sublimen, wie im Traum verschleierten und von unbändiger Erotik aufgeladenen Bildern.


Gummo (Harmony Korine: USA 1997)

Das Regie-Debüt des damals gerade einmal 24-jährigen Harmony Korine war das Raritäten-Highlight des Jenaer 35mm-Kinos 2024. Oberflächlich könnte man in GUMMO ein Stück Prollploitation bzw. Misery-Porn aus der Gosse sehen, aber Korines Blick auf seine Protagonisten in einer heruntergekommenen Provinzstadt und ihre Episoden ist dafür zu zärtlich: die ganzen transgressiven Elemente (Jugendliche auf harten Drogen und mit regem Sexleben, eine geistig behinderte Prostituierte, die extrem grafische Darstellung von Dreck und Heruntergekommenheit etc.) können über die grundsätzliche Zärtlichkeit und das Mitgefühl des Kameraauges nicht hinwegtäuschen und über die Emotionalität und die Lebenslust, die GUMMO trotz der nihilistischen Fassade versprüht. Nicht zu sprechen vom Humor: das Spaghettiessen in der Badewanne mit gleichzeitigem Haarewaschen und dem Stück Bacon, das an die Fliesen mit Klebestreifen festgeklebt ist, ist ein Meisterstück des absurden Humors, das mich fast krampfhaft lachen ließ – bis das Lachen dann jäh vor Tränen der Rührung erstickt wurde, als Roy Orbisons "Crying" zum zärtlichen Dreier im Aufstellpool überleitete.


Wild Things (John McNaughton: USA 1998)

Ich hatte zwar erwartet, dass WILD THINGS ganz unterhaltsam werden würde, aber dass das so ein Knaller werden könnte: der Neo-Noir to end all Everglades-Neo-Noirs, so spaßig, so horny, so gemein und niederträchtig, so wunderschön fotografiert – besonders letzteres sehr hervorstechend in einer kristallinen 35mm-Kopie, eine visuelle Verführung von den ersten Sekunden an.


Deep Blue See (Renny Harlin: USA/Australien 1999)

Jemand schrieb einmal, dass niemand auf der Welt "dumme" Filme so gekonnt und elegant inszenieren kann wie Renny Harlin, und in diesem Film zeigt sich das wirklich: siehe alleine diesen Moment der Poesie in Bewegung, wenn Dr. McCallister in ihren wasserdichten Tauchschuhen, die wie Ballerinas aussehen, ins Wasser steigt und die Hai-gegen-Mensch-Jagd für ein paar Minuten in ein traumtänzerisches Unterwasserballett verwandelt.


Julien Donkey-Boy (Harmony Korine: USA 1999)

Werner Herzog war nach GUMMO ein Korine-Bewunderer der ersten Stunde und ließ Worten auch Taten folgen, als er in dessen zweiten abendfüllenden Spielfilm die Rolle des strengen Vaters in einer aberwitzigen Performance übernahm (sein Monologisieren über den Showdown von DIRTY HARRY als Beispiel ganz großer Kunst gehört zu denkwürdigsten Momenten des Films). Erzählerisch geradliniger als GUMMO, visuell aber wesentlich wilder: der Video-Look, verfremdet durch mehrfache Umkopierung, lässt den Film manchmal fast wie ein bewegter Warhol-Siebdruck aussehen. Wie in GUMMO ist dieses Portrait einer stark disfunktionalen Familie (Sucht, psychische Krankheit, Inzest) keine Freak-Parade, sondern vor allem mitfühlendes und emotionales Kino.


Omoide no Mānī – When Marnie Was There (Yonebayashi Hiromasa: Japan 2014)

Für Kinder wohl eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, für Erwachsene das meisterhafte Melodrama eines unmöglichen lesbischen Begehrens mit einem leicht perversen Twist – auf jeden Fall ein sehr beglückendes Highlight aus dem Studio Ghibli jenseits von Miyazaki.


Im Namen des Königs (Bruno Sukrow: Deutschland 2015)

Glitch'ige Bummelei durch das Mittelalter. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Dawson City: Frozen Time (Bill Morrison: USA 2016)

Ein wunderschöner Dokumentarfilm über die Goldgräberstadt und ein sinnlicher Essayfilm über Filmmaterial(ität). Mehr zu lesen gibt es von Manfred hier.


The Other Side of the Wind (Orson Welles: Frankreich/Iran 2018)

Ein Wirbelsturm von "dreckigen" und besonders wild montierten Bildern. "Cinema should be rough", so Welles, und THE OTHER SIDE OF THE WIND ist eine schöne Zugabe zum "wilden" Welles von OTHELLO, MR. ARKADIN und F FOR FAKE.


The Beach Bum (Harmony Korine: USA/Frankreich/UK/Schweiz 2019)

Ein Stoner-Abhängfilm, der zum Roadmovie-Dasein gezwungen wird, von Harmony Korine wieder einmal fantastisch inszeniert und geschnitten, in leuchtenden, psychedelischen Farben und mit einem ganz entzückend entfesselten Matthew McConaughey als verantwortungsloser, dauerbekiffter, manchmal auch etwas finsterer MC der ganzen Fete.




Beste Erstsichtungen: Besondere Erwähnungen

(geordnet chronologisch nach Sichtungsreihenfolge)


Satyricon (Gian Luigi Polidoro: Italien 1969)

Der "andere" SATYRICON-Film, der vor Fellinis berühmterer Version produziert und veröffentlicht wurde, heute aber fast vergessen ist – was schade ist, denn beide Filme unterscheiden sich deutlich voneinander und Polidoros Version ist ebenso sehenswert wie die andere.

SATYRICON funktioniert vor allem als eine Mischung aus Abenteuer-Roadmovie und Slapstick-Sexkomödie, deren Erzählstruktur zunächst zu lose und sprunghaft episodisch erscheint, um zwei Stunden lang zu funktionieren. Das heißt, bis "Trimalchios Fest" beginnt: eine lange, absolut fesselnde Episode, die wie ein eigener Film im Film wirkt. Trimalchio, gespielt von Ugo Tognazzi, agiert wie ein Zeremonienmeister, wie ein Regisseur, der ein präzise choreografiertes Theaterstück mit Essen, Trinken, Furzen und Furzwitzen, Erbrechen, Poesie, Scharaden und Ritualen inszeniert. Mit Tognazzis Anwesenheit fühlt sich dies wie eine Probe für Marco Ferreris späterem LA GRANDE BOUFFE an.

Polidoros SATYRICON ist mindestens so queer wie der von Fellini, aber auch weniger abstrakt und viel menschlicher. Die Beziehung zwischen Encolpio und dem als Frau getarnten Gitone beginnt als bloßer Scherz, entwickelt sich aber im Laufe des Films zu einer einnehmenden und überraschend emotionalen und zärtlichen Liebesgeschichte. Eine schöne, flötenbetonte Filmmusik von Carlo Rustichelli zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film.


La terza madre (Dario Argento: Italien/USA 2007)

Für diesen Film aus dem allgemein eher verschmähten Spätwerk Argentos waren meine Erwartungen eher gedämpft. Umso überraschender und erfreulicher war es, einen solch toll inszenierten, effizienten und fiesen kleinen Paranoia-Schocker zu sehen, der SUSPIRIA und INFERNO zwar nicht ebenbürtig ist, sich in der Trilogie aber keineswegs zu verstecken braucht. Mit Asia Argento in der Hauptrolle hat der Film auch eine sehr einnehmende Hauptfigur.


The Vikings (Richard Fleischer: USA 1958)

Bei einem Hollywood-Film aus den 1950er Jahren mit dem Titel THE VIKINGS mit Kirk Douglas in der Hauptrolle würde man einen familienfreundlichen Abenteuerfilm erwarten – so etwas wie die Jules-Verne-Verfilmung 20.000 LEAGUES UNDER THE SEA, die vier Jahre zuvor mit demselben Hauptdarsteller und vom selben Regisseur gedreht wurde. Stattdessen sind die "Helden" ein Haufen abscheulicher Vergewaltiger und gewalttätiger Sadisten (und Sadomasochisten); die "Unterhaltung" besteht aus Vergewaltigungen, abgehackten Gliedmaßen, von wilden Falken herausgerissenen Augen, gefallenen Kämpfern, die von Rädern zerquetscht werden, und Menschen, die von einer blutrünstigen Hundehorde zerfleischt werden. Die Familienbanden, die der Geschichte zugrunde liegen, verleihen dem Ganzen einen leicht perversen Ton: Blutbande und Blutbad gehen Hand in Hand.

Wer sich von der Vorstellung verabschieden kann, einen "klassischen" Hollywood-Abenteuerfilm aus den 1950er Jahren zu sehen, bekommt einen faszinierenden, düsteren und verstörenden Vorläufer des späteren, zynisch-brutalen Italo-Western zu sehen (Handverstümmelungen und gefräßige Hunde, die Menschen zerfleischen, gab es bei Corbucci und Fulci erst 8 Jahre später): Brachiales Gewaltkino, das keine Gefangenen macht und seinen phallischen Rammbock ohne Rücksicht auf Verluste durch die Festungstür bohrt (das expliziteste und unfassbarste Bild des ganzen Films!).


Un homme est mort (Jacques Deray: Frankreich/Italien 1972)

Der feuchte Traum eines cinephilen Los-Angeles-Filmreisetagebuchs kombiniert mit einem fast abstrakten Actionthriller, in dem ein Mann mit einer Knarre von einem anderen Mann mit einer Knarre durch eine Großstadt gejagt wird.

Eine ganz tolle Kombination, denn man braucht fast keine Handlung, stattdessen kann man sich auf das Charisma von Jean-Louis Trintignant und Roy Scheider verlassen, und der rote Faden ist einfach die spürbare Liebe des Machers zur großen amerikanischen Westküsten-Metropole – gesehen mit dem Auge eines neugierigen Fremden, nicht eines Touristen wohlgemerkt, sondern eher eines kleinen Kindes, das voller Enthusiasmus diese fremde Welt entdecken will, dieses... Los Angeles! Biker-Gangs, die einen durch die Straßen führen, Kinder, die einem Ketchup auf das Abendessen schütten, Motels vor Palmen-Panoramen, Luxus-Boutiquen und schäbige Oben-ohne-Nachtclubs, Western und "Star Trek" im Fernsehen, LAX und Venice Beach, der Sheriff der Stadt, der vorbeikommt, wenn man sich gegenseitig etwas zu laut zu erschießen versucht – ein cinephiler Americana-Spielplatz, wo alles erlaubt ist.

UN HOMME EST MORT würde wahrscheinlich ein großartiges Double Feature bilden mit seinem älteren Bruder im Geiste und New Yorker Gegenstück, Jean-Pierre Melvilles DEUX HOMMES DANS MANHATTAN.


Dying of the Light/Dark (Paul Schrader: USA 2014/2017)

Vom fertigen, durch das Studio umgeschnittene DYING OF THE LIGHT hat sich Paul Schrader distanziert und später "seine" Fassung DARK aus verfügbaren Materialien zusammengeschnitten. Mehr als "Studio-Cut vs. Director's Cut" finde ich es faszinierend, beide Filme als sich gegenseitig ergänzende und miteinder kommuzierende Teile eines Diptychons zu verstehen. Ein Diptychon, das sowohl ein Agenten-Rache-Thriller als auch eine Meditation über das Sterben und den Verlust des Selbst durch Demenz ist: beides in unterschiedlichen Gewichtungen in beiden Teilen enthalten. Hier mehr grundsolide Genre-Attraktionen, dort mehr Experimentelles, mehr digital-pixeliges Reinzoomen in Nicolas Cages Gesicht.


The Black Cauldron (Ted Berman & Richard Rich: USA 1985)

THE BLACK CAULDRON gilt gemeinhin als absoluter Tiefpunkt von Disney zwischen dem Goldenen Zeitalter des Studios (bis Mitte der 1960er Jahre) und seiner "Renaissance" (die 1989 mit THE LITTLE MERMAID eingeleitet wurde). Wenn man ein stromlinienförmiges, familienfreundliches Produkt erwartet, das auf ein wohlkalkuliertes Zielpublikum zugeschnitten ist, ist er tatsächlich ein Flop – was ihn in der Retrospektive zu einem wirklich spannenden Seherlebnis macht, zu einem (oder sogar DEM) Disney-"Film maudit".

Ohne den grundlegenden Disney-Look aufzugeben, führt er ein "typisches" Märchen in ein dunkles Fantasy-Gebiet, das an Gothic Horror grenzt, voller Folterverliese, Horden lebender Toter, die durch psychedelischen grünen Schlamm waten, einem Oberbösewicht, der im Grunde eine wandelnde, verrottende Leiche ist, und mehr Jump-Scares (und effektiven, nebenbei bemerkt!) als wahrscheinlich viele zeitgenössische Slasherfilme. Zur Auflockerung gibt es auf beiden Seiten von Gut und Böse zwei Sidekicks mit massiven sadomasochistischen Neigungen, einen Haufen trinkfester und ultragewalttätiger, schwert- und axtschwingender Schläger und eine nymphomane Hexe, die gerne Menschen, die sie in Kröten verwandelt hat, in ihr üppiges Dekolleté klemmt. Vollkommen altersgerecht für ein Kinderpublikum... nicht!

THE BLACK CAULDRON, der gegenüber der ursprünglichen Fassung vor der Premiere um 12 Minuten gekürzt wurde, mag in Bezug auf die Erzählung unelegant und holprig wirken, macht dies aber durch seine wunderschönen, alptraumhaften Gothic-Bilder sowie seine schiere Energie und den Spannungsaufbau in den Actionsequenzen wieder wett. Es ist ein seltsamer Hybridfilm, der es nicht schafft, eine wirkliche Symbiose zwischen seinen Disney-Trademarks und seiner düsteren Atmosphäre zu schaffen, aber es ist diese Unvollkommenheit, die THE BLACK CAULDRON letztendlich absolut faszinierend und äußerst unterhaltsam macht.



Wiedersehen macht Freude

(geordnet chronologisch nach Sichtungsreihenfolge)


Kaze no Tani no Naushika – Nausicaä of the Valley of the Wind (Miyazaki Hayao: Japan 1984)

Eigentlich habe ich NAUSICAÄ schon im Sommer 2023 "gesehen", war aber damals bei der 22-Uhr-Vorstellung größtenteils nur körperlich anwesend. Der Film ergibt schon mehr Sinn, wenn man ihn wach und mit offenen Augen erlebt. Der Kassenschlager, dessen Erfolg zur Gründung des Studio Ghibli führen konnte, verbindet Bildgewaltiges und Episches mit großen Emotionen: die Rückblenden in die Kindheitserinnerungen der Protagonistin gehören zum Großartigsten, was ich dieses Jahr im Kino erlebt habe, nicht zuletzt dank Joe Hisaishis fantastischem Score.


The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover (Peter Greenaway: UK/Frankreich 1989)

Nachdem mich der Film vor über einem Jahrzehnt als vermeintliche formalistische Fingerübung eher kalt gelassen hatte – jetzt eine echte Offenbarung und besonders schön auf einer großen Kinoleinwand von 35mm. Die wahrscheinlich elektrisierendste Symbiose von visueller Inszenierung und Musik, die ich dieses Jahr erlebt habe: Michael Nyman ist definitiv als Co-Auteur dieses Films anzusehen, der Film ohne seinen Score und seine (vorab existierende) Komposition "Memorial" völlig undenkbar, und fast mehr als von seiner starken Farbdramaturgie wird der Film von seiner Musik vorangetrieben.

Ein besonderer Augenschmaus auf analogem Filmmaterial: die dampfende, vor perlendem Wasser triefende, sich wahrhaftig reinigend anfühlende Duschszene nach dem infernalischen Aufenthalt im LKW mit dem verrotteten Fleisch.


Les tribulations d'un Chinois en Chine (Philippe de Broca: Frankreich/Italien 1965)

Vor lauter Freude den Tränen zwischendurch nahe gewesen. Ein Kindheitsliebling, der auch nach Jahren (vielleicht gar über zwei Jahrzehnten?) nichts von seiner Verzauberung verloren hat. L'HOMME DE RIO und CARTOUCHE mögen populärer sein, aber LES TRIBULATIONS schüttet aus einem Füllhorn alles, was die ersten beiden De-Broca-Belmondo-Werke gefühlt mit angezogener Handbremse präsentierten: Wahnsinn, Irrwitz, Spiellust, Absurdes und Ultraromantisches. Georges Delerues mitreissender Score ist das Sahnehäubchen.


Sudden Impact (Clint Eastwood: USA 1983)

Vor über 20 Jahren gesehen, im Fernsehen, auf Deutsch, gekürzt, im Bild beschnitten, von Werbung unterbrochen – keine idealen Umstände. Trotzdem war mir besonders Sondra Lockes ätherische Präsenz als traumatisiert-zorniger Racheengel im Gedächtnis geblieben. Beim Wiedersehen bestätigte sich letzteres. Und es offenbarte sich der beste und merkwürdigste Film der Dirty-Harry-Reihe: ja, besser als Siegels DIRTY HARRY und merkwürdig in der Art, wie er zwei Filme (ein Art schwarzhumorige Angry-Cop-Komödie und ein äußerst rabiater und bitterer Rape-and-Revenge-Schocker), zwei großartige Schauspieler (Eastwood und Locke) und zwei unverwandte und doch verwandte Figuren und ihre Auffassung und Praxis von Gewalt (kalt, unpersönlich, routiniert und bürokratisch abgesichert versus leidenschaftlich brodelnd, intim, im extremen Ausnahmezustand verhaftet und geächtet) allmählich aufeinander zugehen lässt – dies alles gewohnt meisterhaft, sehr klassisch und in elegant-dunklen Bildern von Eastwood inszeniert.


Keoma (Enzo G. Castellari: Italien 1976)

Von dieser dritten Sichtung von KEOMA habe ich nichts erwartet, nachdem ich ihn bei den ersten beiden Male völlig langweilig fand. Mit einem größeren Verständnis für Enzo G. Castellari und seinen ultradynamischen Regiestil entdeckte ich einen "neuen" Film.

Die sachkundige, kluge und witzige Einführung von Lars bei der Deliria-Italiano- 35mm-Vorführung hat ebenfalls dazu beigetragen, neue Perspektiven zu eröffnen: KEOMA als männliche Version von John Hustons THE UNFORGIVEN, als surrealistischer Film voller Nebel- und Staubtableaus, der mehr vom Gothic Horror als vom traditionellen Western zehrt, als früher postmoderner Western, der griechische Mythologie, Shakespeare-Drama und biblische Themen und Motive wild mischt.

Meine Skepsis war schnell verflogen, und während ich immer mehr in den Film hineingezogen wurde und nun völlig fasziniert war, fragte ich mich, warum ich ihn nicht schon früher "kapiert" hatte: die extrem dynamische Kamera, die herumschwenkt und zoomt und dabei oft von Objekten im Vordergrund behindert wird, die manchmal fast experimentelle Bild- und Tonmontage (die zum Beispiel eine Schießerei mit den Schreien einer gebärenden Frau mischt!), die animalische Darstellung von Franco Nero (haariger nackter Oberkörper im langen Mantel), die düstere Atmosphäre voller Staub, Schlamm und Verfall, die ultrakinetischen Actionszenen und die spektakulären Zeitlupen... Wow!


Leaving Las Vegas (Mike Figgis: USA/Frankreich/UK 1995)

Auch ein überraschendes Highlight des 35mm-Kinos und ein besonders schönes Wiedersehen. Das Todessehnsuchts-Melodrama wirkte auf großer Leinwand von einer wunderschönen Kopie besonders sinnlich, haptisch, taktil, morbid-rauschhaft und dabei durch den Score auch swingend-jazzy.




8 Kommentare:

  1. So, jetzt hatte ich endlich mal Zeit und Muse, dem Feiertag sei's gedankt.


    La cabale des oursins

    Der anarchische Witzbold und zärtliche Clown der französischen Nouvelle Vague erforscht die Poesie von Bergehalden (also Hügel, die durch Kohlenbergbau entstanden sind).

    Spitzwegs "Wanderer" auf einer Abraumhalde - ja, das hat was ...


    Pinball

    Offenbar Suzan Pitts letzter Film: ein posthumaner, abstrakter Wirbelsturm, der es in sich hat...

    Allerdings. Gerade auf YouTube angesehen, und gleich bei den ersten Sekunden dachte ich mir, "das klingt ja wie BALLET MÉCANIQUE". Was daran liegt, dass Pitts tatsächlich die Musik verwendet, die George Antheil für diesen klassischen Film geschrieben hat. Damit schließt sie direkt und bewusst an den "Absoluten Film" der 1920er Jahre an. Wobei seinerzeit die Musik gar nicht für den Film verwendet werden konnte, weil das Stück am Ende deutlich länger als der Film war, worüber sich Antheil und die Regisseure (Dudley Murphy und Fernand Léger) heftig verkrachten. Eine Aufführung der Musik 1927 in der Carnegie Hall in New York geriet wegen technischer Unzulänglichkeiten zum Debakel und beschädigte Antheils Karriere als "seriöser" Komponist schwer. Aber er fand ja dann ein Unterkommen als Filmkomponist in Hollywood.

    Ich nehme an, dass Suzan Pitts das alles wusste, als sie sich für dieses Werk entschied. Für die verdienstvolle 7-DVD-Box Unseen Cinema: Early American Avant Garde Film 1894–1941 wurde das Stück mit Computerhilfe auf die passende Länge für den Film gebracht und neu eingespielt:

    https://www.youtube.com/watch?v=oMnZgykH1Bk


    Black Narcissus

    Rumer Godden hasste diesen Film, und sie liebte THE RIVER von Renoir (beide Filme entstanden nach Romanen von ihr). Ich liebe beide. Und trotz vieler Unterschiede sehe ich ein gemeinsames Merkmal unter der Oberfläche, nämlich dass es sowas wie den Anfang und das Ende einer Geschichte in Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern nur die ewigen wiederkehrenden Zyklen. In THE RIVER natürlich symbolisiert durch den träge dahinfließenden Ganges, in BLACK NARCISSUS (weniger offensichtlich) durch den am Ende einsetzenden Monsun, der die ganze hochdramatische Geschichte zu einer vorübergehenden Episode relativiert. (Aber es gibt auch Leute, die das anders sehen ...).


    Porgy and Bess

    Als klassische Hollywood-Großproduktion ist PORGY AND BESS mit seiner ausschließlich schwarzen Hauptbesetzung, seinen bewusst stilisierten, meist klaustrophobischen Hinterhofkulissen und dem fast völligen Fehlen klassischer Dialoge ein ganz außergewöhnlicher und künstlerisch gewagter Film.

    Kennst Du auch HALLELUJAH von King Vidor? Der geht in eine ähnliche Richtung, aber 30 Jahre früher. Auch wenn er heute wegen einiger schwarzer Stereotypen umstritten ist, finde ich ihn auf jeden Fall sehenswert.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Hallelujah_(Film)


    So, die Deppen von Google meinen "der Kommentar ist zu lang". Wieso müssen die etwas, das früher mal funktioniert hat, mutwillig verpfuschen?

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    1. Äh, Blödsinn. Der Wanderer ist natürlich nicht von Spitzweg, sondern Caspar David Friedrich. Ich hätte eher ins Bett gehen sollen ...

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    2. BLACK NARCISSUS
      THE RIVER von Renoir mag ich auch (den müsste ich irgendwann mal wiedergucken). Ich habe da aber keine konkrete Erinnerungen an "dramatische" Ereignisse, der Film hat eher das Gefühl eines entspannten "Flows" (no pun intended) hinterlassen. BLACK NARCISSUS ist ja durchaus dramatischer in den Ereignissen, aber ja, das Ende und auch die Bilder, in denen die Figuren winzig klein und verloren in den Berglandschaften zu sehen sind, suggerieren, dass die Menschen in einem größeren Kontext von Zeit und Raum eher "klein" sind.

      PORGY AND BESS und HALLELUJAH
      Ich dachte kurz, du meintest HALLELUJAH I'M A BUM (den hattest du ja schon mal hier https://whoknowspresents.blogspot.com/2013/03/singende-obdachlose-und-ein-kommunist.html besprochen), aber das ist ja ein komplett anderer Film: nein, HALLELUJAH von King Vidor sagt mir tatsächlich nichts. Vidor ist allgemein noch ein bisschen "terra incognita" bei mir. Da kenne ich bislang nur MAN WITHOUT A STAR, RUBY GENTRY, THE CROWD und die späte Stummfilmkomödie SHOW PEOPLE.

      Spitzwegs bzw. Friedrichs Wanderer AKA Luc Moullet, um da wieder einen kleinen Bogen zu schlagen, war übrigens ein ganz großer Vidor-Fan, einer der ersten großen Verteidiger King Vidors in Frankreich (bei den "Cahiers du Cinéma" Ende 1950er/Anfang 1960er) und hat später sogar ein komplettes Buch über THE FOUNTAINHEAD geschrieben.

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    3. Der dramatischste Moment in THE RIVER ist, als der kleine Junge sorglos im Garten spielt und durch einen Schlangenbiss stirbt. Aber das wird durch die Inszenierung heruntergebrochen auf eine Episode, die im ewigen Kreislauf von Geburt, Leben und Tod halt mal vorkommen kann. Schon sehr traurig, klar, aber das Leben an sich geht weiter.

      Von Vidor ist noch einiges sehenswert. THE BIG PARADE ist einer der ernsthaftesten frühen Hollywoodfilme über den 1. Weltkrieg, DUEL IN THE SUN ist große Oper (nur ohne Arien). Wobei es hier noch mehrere ungenannte Regisseure gibt, weil Selznick als Produzent dauernd reingepfuscht hat. Vidors episch ausladende Version von KRIEG UND FRIEDEN sollte man auch mal gesehen haben, auch wenn später Sergej Bondartschuk noch eins draufgesetzt hat (was das episch Ausladende betrifft). THE FOUNTAINHEAD wiederum mag ich nicht, aber das liegt nicht an Vidor, sondern an Ayn Rand (aber das ist ein anderes Thema). NORTHWEST PASSAGE oder vollständig NORTHWEST PASSAGE (BOOK I -- ROGER'S RANGERS) (weitere Teile gibt es aber nicht) hat mit seinem Titel nichts zu tun, sondern ist ein kerniger Western mit Spencer Tracy und Walter Brennan, der (ähnlich wie Teile des "Lederstrumpf") im French and Indian War spielt.

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  2. Und jetzt der zweite Teil des Kommentars.


    Onibaba / Silent Night

    Leben und (gewaltsam) sterben lassen im Schilf der entfesselten Lust.

    Das Konzept, den Film völlig dialogfrei zu erzählen [...] ist absolut schlüssig, toll umgesetzt und wirkt nie wie ein Gimmick.


    Die Synthese aus beidem wäre dann sozusagen Shindos DIE NACKTE INSEL (1960), der zu 99,9 Prozent auch dialogfrei ist (wenn ich mich richtig erinnere, gibt es genau einen gesprochenen Satz). Der Film machte ONIBABA erst möglich, denn Shindos unabhängige Produktionsfirma war pleite, und er drehte diesen Film mit seinen umsonst arbeitenden Mitarbeitern sozusagen als Abschied von der Filmwelt. Und dann geriet er zu einem Überraschungserfolg, auch international, und es kam genug Geld herein, um doch wieder weiterzumachen.


    STARDUST

    Da habe ich jetzt mal schnell nachgesehen, ob der seinerzeit sehr bekannte Glam-Rocker Alvin Stardust mit dabei ist. Ein paar (damals) bekannte Musiker unter den Schauspielern - David Essex, Keith Moon, Dave Edmunds, Marty Wilde (der Vater von Kim) - aber kein Alvin Stardust ...


    Natürlich habe ich auch diesmal eine Reihe von Anregungen aus deinem Text gezogen. Inspiriert vom Abschlussbild, wollte ich schon mal PLAY SAFE ansehen, hab aber auf die Schnelle nur ein paar Ausschnitte gefunden. Scheint ein bisschen in Richtung Buster Keaton zu gehen. Taugt der was? Und jetzt überlege ich, woher ich Joseph Henabery kenne. Hm, vielleicht wird er in Pioniere des Films von Brownlow erwähnt. Muss ich demnächst mal nachlesen.

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    1. ONIBABA & SILENT NIGHT & DIE NACKTE INSEL
      DIE NACKTE INSEL ist auch noch auf meiner To-See-Liste. Ich habe mittlerweile im Frühjahr KURONEKO von Shindo gesehen, der ist auch sehr schön.



      zu PLAY SAFE:

      Ich würde hier mal aus einem Text zitieren (aus dem Englischen übersetzt), den ich anderswo geschrieben habe:


      "Der in Italien geborene Monty Banks ist einer der vergessenen Stars der klassischen US-amerikanischen Stummfilmkomödie: In den 1920er Jahren lockte er das Publikum in Amerika und Europa in Massen in die Kinos, ebenso wie Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Buster Keaton. Die Geschichte der Konservierung von Filmen aus der Frühzeit des Kinos (und oft auch deren Zufälle) hat jedoch dazu geführt, dass Chaplin, Lloyd und Keaton heute mit klassischem Slapstick assoziiert werden – und Filme mit Monty Banks und anderen "Randfiguren" weitgehend verloren oder nur in Fragmenten erhalten sind, während ihre Macher im kanonischen Filmgedächtnis "vergessen" sind.

      Doch manchmal tauchen verschollene Stummfilme in Archiven auf: Anfang 2024 entdeckte der Weimarer Stummfilmpianist Richard Siedhoff im Filmarchiv des Bundesarchivs zwei vollständige Fassungen von Filmen mit Monty Banks, die bisher nur in Fragmenten erhalten waren. Diese wurden in einer "Weltpremiere" der Wiederentdeckung am 22. Dezember 2024 in Weimar in einem Double Feature gezeigt.

      Der spektakuläre Zug-Showdown in PLAY SAFE blieb lange Zeit als Fragment erhalten, das in Slapstick-Kompilationsfilmen gezeigt wurde (wie DAYS OF THRILLS AND LAUGHTER von 1961). Im Jahr 2023 rekonstruierte Dave Glass den Film unter Verwendung zahlreicher Archivmaterialien aus aller Welt, aber er war immer noch unvollständig (ca. 50 Minuten). Mit Siedhoffs Entdeckung liegt der Film nun in voller Länge vor.

      (FORTSETZUNG FOLGT...)

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    2. Um mit dem Besten zu beginnen: Der actionreiche Showdown mit dem Zug macht wirklich viel Spaß! Kenner von Keatons THE GENERAL (wo alles zu 100% von Keaton in echter Geschwindigkeit gemacht wird) werden erkennen, dass neben echter Akrobatik auf Zügen auch eine Menge Bildbeschleunigung, einige Miniaturattrappen, einige Rückprojektionen und etwas Verdeckung durch schnelle Montagen im Spiel sind, aber das tut dem Spaß keinen Abbruch. Der Filmzauber funktioniert, und manches sieht verdammt gefährlich aus: Das berühmte Plakatmotiv des Films (Monty Banks, der sich mit Händen und Füßen zwischen einem fahrenden Zug und einem fahrenden Auto festklammert [siehe mein Screenshot hier]) ist auch in echt zu sehen, und dieser Moment lässt den Puls des geneigten Zuschauers wirklich beschleunigen und rasen.

      Neben der Action sticht die wunderbare Chemie zwischen Hauptdarsteller Monty Banks und Hauptdarstellerin Virginia Lee Corbin hervor: Das Drehbuch mag sie in der zweiten Hälfte etwas zur "Jungfrau in Nöten" degradieren, aber das gemeinsame Abendessen in Montys Studentenwohnung nach ihrer Rettung vor dem Straßenräuber ist eine sehr berührende Szene voller schüchterner, zärtlicher, intimer Blicke, die der etwas klischeehaften Liebesgeschichte eine echte emotionale Basis verleiht.

      Dazwischen gibt es aber durchaus Längen (der Gag mit dem Einparken des Mietwagens ist maximal 30 Sekunden lustig, zieht sich dann aber gefühlte 5 Minuten hin), verwirrende und irritierende Abkürzungen (die gemeinsame Picknickfahrt im Mietwagen wäre eine Gelegenheit gewesen, ein bisschen mit Monty und Virginia abzuhängen – bleibt aber mit einem einzigen Schnitt zugunsten eines völlig untauglichen, vergeudeten Gags unerzählt) und unelegantes Storytelling. Unterm Strich bleibt PLAY SAFE dennoch ein kurzweiliges und unterhaltsames Vergnügen, dessen Wiederentdeckung in voller Länge die Geschichte des Slapstick-Kinos nicht neu schreiben wird – aber dennoch eine willkommene Ergänzung darstellt."


      PLAY SAFE man sich also durchaus anschauen. Aktuell z. B. im digitalen Lesesaal des Bundesarchivs auf dem Digitalisat der deutschsprachigen Fassung (einer Nitrokopie). Ohne Musik und leider mit Bundesarchiv-Logo teilweise im Bild, aber für einen ersten Einblick wahrscheinlich ganz tauglich:
      https://digitaler-lesesaal.bundesarchiv.de/video/613939/701862

      Als Vorfilm empfehle ich ALWAYS LATE, der bei der erwähnten Vorführung in Weimar auch als Vorfilm lief:
      https://digitaler-lesesaal.bundesarchiv.de/video/1333/685918
      Der hat eine ziemlich spektakuläre und denkwürdige Fahrrad-Fahrt durch eine morgendliche Rush-Hour!

      Hier für mehr Informationen noch ein Interview mit Richard Siedhoff, der die Kopie(n) entdeckt hat: https://www.stummfilm-magazin.de/interviews/artikel/amerikanischer-slapstick-klassiker-mit-monty-banks-im-bundesarchiv-wiederentdeckt

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    3. Danke für den ausführlichen Bericht über PLAY SAFE! Was Du über die "Heilige Dreifaltigkeit" Chaplin, Lloyd und Keaton einerseits und die durch das Raster gefallenen anderen Slapstickstars andererseits schreibst, ist natürlich völlig richtig, aber Monty Banks scheint da noch ein besonderer Pechvogel zu sein. Namen wie Billy Bevan, Larry Semon, Snub Pollard, Charley Chase, Ben Turpin, Harry Langdon oder Fatty Arbuckle kenne ich seit meiner Kindheit vor mehr als 50 Jahren aus VÄTER DER KLAMOTTE und MÄNNER OHNE NERVEN, aber von Banks hatte ich bis neulich noch nie etwas gehört.

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