Posts mit dem Label Filmfestival werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Filmfestival werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Montag, 12. Mai 2025

2024 im persönlichen Rückblick

Editorische Notiz:

Dieser Rückblick auf 2024 wurde größtenteils zwischen Ende Dezember 2024 und Ende Februar 2025 auf dem Handy in einer Text-Editor-Datei geschrieben, meist in kleinen Abschnitten in Zügen zwischen Jena und Weimar, manchmal auch in Bussen und Straßenbahnen in den jeweiligen Städten (also Straßenbahnen nur in Jena, versteht sich). Diese Arbeitsweise hat sich ergeben aus einer privaten Notwendigkeit häufiger Reisen zwischen diesen beiden Städten, minus freier Zeit, um sich mal länger hinzusetzen. Falls das untenstehende Geschriebene, verfasst unter nicht sonderlich idealen Bedingungen, also besonders bruchstückhaft und unzusammenhängend wirkt, habe ich diesmal wirklich einen Grund.

Einige der Kommentare zu meinen Jahresbestfilmen sind aus meinen persönlichen, englischsprachigen Letterboxd-Kurzreviews übernommen, übersetzt und editiert.

Aufgrund persönlicher Umstände habe ich 2025 viele Wochen nicht die Zeit und Energie gefunden, diesen Text zu finalisieren. Um es positiv zu formulieren könnte man sagen: ich habe mich vom Publikationsrhythmus der Jahresrückblickstexte auf Eskalierende Träume inspirieren lassen! Diese sind in den letzten Jahren immer angenehm unkonventionell "spät" erschienen, ploppten als Überraschung irgendwann in der ersten Jahreshälfte auf, wenn der Jahreswechsel schon längst vergessen war, zur Freude der geneigten Leserinnen und Leser. Jetzt wurde der ET-Rückblick 2024 in der zweiten Februar-Woche veröffentlicht und damit sogar verhältnismäßig früh. Keine Entschuldigung möglich für mich. Aber zumindest eine Gelegenheit, auf diesen exzellenten, bunten Strauß an Jahresrückblicken querzuverweisen und zu verlinken.




Und wieder ein Jahr vorbei. 2024 war leider ein besonders schreckliches Jahr für mich, geprägt von emotionaler Verunsicherung, Krankheit, Schmerzen und schließlich auch von Tod.



Hören

Meine häufigeren Krankheiten betrafen wieder ein zentrales Organ für Filmwahrnehmung, die Augen. Daher führe ich meinen Exkurs von 2022 fort und beginne zunächst mit einer Sektion "Hören".


Bemerkenswerte Einzelstücke Musik



And a pianist's best friend...


...is his drummer


...or his bassist


...or his dead long-year main composer's and arranger's spirit, while the rest of the orchestra noisily packs their stuff and leaves


...or – last but not least – the godfather of jazz tenor saxophone giving you a slight "The Hawk approves" smile during your solo




Liebste Neuentdeckte Alben/Aufnahmen


Miles Davis: Live at Indigo Blues, NYC, December 17th 1988, 1st set

The Caretaker: An Empty Bliss Beyond This World

Tsuyoshi Yamamoto Trio: The In Crowd. Live at the Misty, Christmas Session

Ryo Fukui Trio: Live At Vidro '77

Kodoku-shō: Aldo Moro Rosso Sangue

Emmet Cohen: Live From Emmet's Place Vol. 116 – Lew Tabackin




Hören: Text


Vorlesungsreihe:

Timothy Snyder: "The Making of Modern Ukraine"


Podcast:

Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus: "Weimar: NS-Musterstadt"


Hörspiel:

Peter Weiss: Die Ermittlung




Sehen


In Sachen Filmveranstaltungen begann das neue Jahr wieder mit einem konzentrierten Schub an Filmekstase beim Nürnberger Hofbauer-Kongress (mehr dazu habe ich hier geschrieben). Wie das eben mit analogem Filmmaterial passiert, gab es beim Kongress die eine oder andere rotstichige Kopie. Das gab es beim Technicolor-Festival in der Karlsruher Schauburg im Mai naturgemäß nicht (da Technicolor farbstabil ist): mein zweites Technicolor-Festival war wieder eine sehr schöne Veranstaltung mit vielen denkwürdigen Höhepunkten (darunter ein Wiedersehen mit Hitchcocks REAR WINDOW und mit Cayattes grimmigem Wüsten-Rache-Thriller ŒIL POUR ŒIL) und vielen netten Gesprächen mit Festival-Bekanntschaften.

Der italienische Jahresurlaub an der Main-Riviera war wieder besonders schön, mit internationalem Einklang und Ausklang (mehr zum Terza Visione habe ich schon hier geschrieben). Im September ging es dann zu einem Wochenende der Filmkopien-Ausgrabungen an der Pegnitz, mit dem Filmarchäologen-Symposium im Nürnberger KommKino.

Die außergewöhnlichste Reise (wenn man so möchte) führte mich nach Hannover, einer Stadt, die ich bislang noch nicht kannte, von der ich oft nicht viel Gutes gehört hatte – die sich aber als ganz angenehm entpuppte, besonders die Gegend um das Kommunale Kino im Künstlerhaus. Besucht habe ich das Wochenende, an dem das Forentreffen von Deliria Italiano auf die erste Ausgabe des Broyhan Fantastik Hannover zusammentraf und in Symbiose trat (bei ersterem KEOMA und den meisterhaften, wenn auch leider wieder stark geschnittenen L'ANTICRISTO, bei letzterem eine traumhaft schöne Kopie von PROFONDO ROSSO gesehen).

Unterjährig gab es in Jena eine Art inoffizielle Retrospektive zu Hayao Miyazaki anlässlich des Kinostarts von THE BOY AND THE HERON zu sehen. Die Reihe hieß offiziell "Best of Studio Ghibli", aber das war eigentlich ziemlicher Quatsch: außer Miyazaki war kein anderer Regisseur vertreten und aus den Miyazaki-Filmen war auch eine Produktion aus der Zeit vor der Gründung des Studios vertreten (nämlich NAUSICAÄ, dessen großer Erfolg die Studio-Gründung erst ermöglichte). Ich kannte bereits SPIRITED AWAY bzw. CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND: ein toller Film, der sich rückblickend trotzdem eher unten in meinem Miyazaki-Ranking einordnet. Denn der Japaner entpuppte sich im Laufe der Kino-Retrospektive (die ich mit privaten Sichtungen noch ergänzte) als unglaublich großartiger Stilist, als Großmeister des Animationskinos, der unfassbare Bilder-Mahlstrome auf die Leinwand zaubert, in der Mehrheit der Fälle geradezu symbiotisch flankiert von Joe Hisaishis gewaltigen Kompositionen. Miyazaki dürfte tatsächlich so etwas wie mein Lieblingsregisseur 2024 sein: PORCO ROSSO, NAUSICAÄ, KIKI'S DELIVERY SERVICE, HOWL'S MOVING CASTLE, THE BOY AND THE HERON, CASTLE IN THE SKY und THE WIND RISES (und eigentlich auch LUPIN THE THIRD: THE CASTLE OF CAGLIOSTRO) würden alle in meine "große" Best-Of-Liste weiter unten gehören. Ich habe die Auswahl jetzt auf vier Filme beschränkt (einer unter den neuen Filmen, zwei in der "großen" Liste und einer in der "Wiedersehen"-Liste).

Ebenso in Jena bereitete auch das 35mm-Kino des Film e.V. wieder viel analoge Kinofreude zwischen Geschwindigkeitsrausch, stark-schwachen Frauen und berauschenden Drogen (so die losen thematischen Schwerpunkte). Die besonderen Highlights waren neben der x-ten Sichtung von FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS (aber der ersten im Kino) die Entdeckung von WILD THINGS und GUMMO (mehr zu ihnen weiter unten).



Highlights aktuelle Filme 2024

(nach Präferenz geordnet)


Kimitachi wa Dō Ikiru ka – The Boy and the Heron (Miyazaki Hayao: Japan 2023)

Das gefühlvolle und doch entfesselte Altersmeisterwerk eines großen Stilisten, der sich in seinen Universen komplett der Logik von Fantasie und Traum hingibt (die letzte halbe Stunde ist eine wahrhaft atemberaubende Gallopptour – die manche Leute zu Zweifeln über Miyazakis Geisteszustand oder seinen Fähigkeiten als Erzähler trieb).


Hébiān de cuòwù – Only the River Flows (Wei Shujun: China 2023)

Ein Serienmörder-Thriller in der chinesischen Provinz, gefilmt in luftig-leichten, ätherischen 16mm-Bildern: die ideale Textur, um einen nüchternen Procedural nach und nach in den obsessiven, paranoiden Fiebertraum des Hauptermittlers gleiten zu lassen.


Hit Man (Richard Linklater: USA 2023)

Witzig und gewitzt, sexy und spannungsreich inszenieren Richard Linklater (ich muss mich wohl ein bisschen mehr mit ihm befassen) und Hauptdarsteller-Autor-Produzent Glen Powell dieses Verwirrspiel um multiple Killeridentitäten und komplizierte Liebe.


Conclave (Edward Berger: USA/UK 2024)

Die erste Viertelstunde ist ein kleines Meisterstück in Sachen haptisch-sinnliches Kino der Prozeduren und Rituale. Und danach eine schöne Demonstration, dass politisch-paranoides Spannungskino der klassischen Machart zeitlos ist und bleibt (auch wenn es um Machenschaften in der Kirche und nicht um Machenschaften von Geheimdiensten geht).


Longlegs (Oz Perkins: USA 2024)

In Sachen "Profilerin jagt einen gruseligen Serienkiller" schon wesentlich tauglicher für mich als SILENCE OF THE LAMBS (der mich dieses Jahr beim Jenaer 35mm-Kino erneut recht unterwältigt zurückgelassen hat). In der Inszenierung "leerer", ominös bedrohlicher Räume in Cinemascope ist LONGLEGS schon sehr Carpenter'ianisch, und gleichwohl er als Mood-Piece besser ist denn als Erzählung (den "Twist" begreift eigentlich nur die Protagonistin so extrem spät), hat er schon viel Spaß gemacht. 


Made in England: The Films of Powell and Pressburger (David Hinton: UK 2024)

Vollständig von Martin Scorsese erzählt, wirkt MADE IN ENGLAND wie eine professionelle Führung durch das spektakuläre und oft ekstatische Kino von Powell & Pressburger und bietet dabei nicht nur aufschlussreiches Wissen über die Filmografie der Archers: Martys purer Enthusiasmus für die Geschichte und das Erbe des Kinos, der dankenswerterweise nicht durch die Einmischung Dritter getrübt wird, wird wahrscheinlich jeden Zuschauer (ob mit den Filmen von Powell und Pressburger vertraut oder nicht) in seinen Bann ziehen und macht diesen Dokumentarfilm zu einem vitalisierenden Liebesbrief an die Kraft des Filmemachens. Er macht auch große Lust, das Werk zweier visionärer Filmemacher zu entdecken und wieder zu entdecken.


Furiosa: A Mad Max Saga (George Miller: Australien/USA 2024)

Nach einem (für Miller eher ungewöhnlich) expositionsreichen Anfang nimmt die Maschinerie dann doch Fahrt auf. Die zentrale Verfolgungsszene (eine Art Update des Showdowns von MAD MAX 2) ist schon den Eintritt wert.


Maxxxine (Ti West: USA 2024)

Der schwächste Film aus Ti Wests Neo-Slasher-Trilogie nach X und PEARL, aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Mia Goth ist noch immer eine starke Präsenz, Kevin Bacon sleazt sich herrlich widerwärtig durch den Film und sogar Buster Keaton hat (wenn man es so sagen möchte) ein Cameo.


Los colonos – The Settlers (Felipe Gálvez Haberle: Chile/Argentinien/UK et. al. 2023)

Eine Art postkoloniale Western-Adaption von "Heart of Darkness", angesiedelt in der patagonischen "Frontier": eine Wildnis, die als Besitz eines reichen Unternehmers von drei Männern mit extremer und tödlicher Gewalt abgesteckt wird. Ein fesselnder Slowburner.


The Zone of Interest (Jonathan Glazer: UK/Polen/USA 2023)

Der digitale Brutalismus der Fotografie, die den Film wie eine Mischung aus Reality-TV und einer Kompilation von Überwachungskameraaufnahmen aussehen lässt, war schon hart gewöhnungsbedürftig – am Ende aber doch auch schlüssig für einen faszinierenden Konzeptfilm.



Kurzfilm

Oyu (Hirai Atsushi: Frankreich 2023)

Was als tiefenentspannter und sehr sinnlicher Abhängfilm in einem traditionellen japanischen Badehaus anfängt, voller ruhiger Beobachtungen von Ritualen, entfaltet sich allmählich zu einem wunderschönen, melancholischen Film über Erinnerung, Empathie und Trauerbewältigung.



Highlights Überhänge aus 2023


Master Gardener (Paul Schrader: USA 2022)

Der Dualismus aus klirrender Kälte und brodelnder, eruptiver Leidenschaft (oft in epiphanischen Momenten), der einige von Schraders Filmen prägt, ist hier ganz besonders markant: MASTER GARDENER ist ein extrem kalter Film, das macht dann die Fahrten durch blühende Landschaften umso ekstatischer. In der losen Trilogie aus FIRST REFORMED und THE CARD COUNTER mein Liebster.


Silent Night (John Woo: USA/Mexiko 2023)

Die Träne, die sich vom Gesicht löst, fällt und sich im Fallen in eine Pistolenkugel verwandelt, dürfte wohl die ultimative Verbildlichung der Woo'schen Symbiose aus Melodrama und Action sein. Und gerade in der ersten Hälfte und im quasi-psychedelischen Showdown lässt Woo viel Platz für melodramatische Gesten. Das Konzept, den Film völlig dialogfrei zu erzählen (weil der Rächer-Protagonist nach einem Angriff durch ein Gang-Mitglied seine Stimme verliert) ist absolut schlüssig, toll umgesetzt und wirkt nie wie ein Gimmick. Das eher niedrige Budget ist natürlich sichtbar, aber das Handwerk hinter und vor der Kamera ist erstklassig: ich verstehe die Feindseligkeit, die dem Film entgegenschlägt, einfach nicht.





Beste Erstsichtungen nicht-aktueller Kurzfilme

(nach Sichtungsreihenfolge geordnet)

La cabale des oursins (Luc Moullet: Frankreich 1992)

Der anarchische Witzbold und zärtliche Clown der französischen Nouvelle Vague erforscht die Poesie von Bergehalden (also Hügel, die durch Kohlenbergbau entstanden sind).


Toujours plus (Luc Moullet: Frankreich 1994)

Eine Erforschung der Poesie von Shopping-Malls...


Le ventre de l'Amérique (Luc Moullet: Frankreich 1995)

...und der Poesie von Des Moines, Iowa.


Ô saisons, ô châteaux (Agnès Varda: Frankreich 1958)

Ein wunderbarer, vom französischen Tourismusverband beauftragter Film über die Loire-Schlösser.


Polizeibericht Überfall (Ernő Metzner: Deutschland 1928)

Der Proto-Noir über den verlorenen Groschen.


Pinball (Suzan Pitt: USA 2013)

Offenbar Suzan Pitts letzter Film: ein posthumaner, abstrakter Wirbelsturm, der es in sich hat...


Asparagus (Suzan Pitt: USA 1979)

...während ihr "Klassiker" noch eher in sinnlichen Formen frönt: Surrealismus als sexy Animation.




Beste Erstsichtungen nicht-aktueller, abendfüllender Filme

(nach alter Tradition 52 Stück, geordnet chronologisch nach Veröffentlichungsdatum)


Of Human Bondage (John Cromwell: USA 1934)

Das ziemlich unfassbare Melodrama eines Mannes, der zwischen dem guten, sauberen Landmädchen und der verdorbenen, ultra-bitchy Femme Fatale aus der Stadt (diabolisch und großartig dargeboten von Bette Davis) hin- und hergerissen ist. Hatte gerade noch drei Tage vor der letzten großen Verschärfung des Production Code seine Premiere, und der Film strömt tatsächlich noch den verführerisch verdorbenen Duft des Pre-Code-Kinos aus.


Untamed Fury (Ewing Scott: USA 1947)

UNTAMED FURY könnte der "verlorene", etwas schäbige Onkel von Elia Kazans WILD RIVER und Nicholas Rays WIND ACROSS THE EVERGLADES sein, denn es ist sowohl ein Film über einen Ingenieur, der versucht, ein "Modernisierungs"-Projekt in einer "rückständigen" ländlichen Gemeinde zu starten, als auch ein Film, der in den gefährlichen Sümpfen Floridas spielt.

Er ist auch ein schönes Beispiel für einen "regionalen Independent", der außerhalb des klassischen Hollywood-Systems gedreht wurde, nämlich vor Ort in den Sümpfen Floridas, aufgepeppt mit einigen spektakulären Unterwasserszenen (eindeutig in einem Studiobassin gedreht, aber sichtbar mit den echten Schauspielern, die die Action machen). Dazu kommen noch ein paar ethnografische Elemente (das Mädchen, das auf einer Tanzparty in der Scheune ein Waschbärbaby mit der Flasche füttert!), eine intrigante Femme fatale aus der Stadt in herrischen schwarzen Hosen, ein paar bewaffnete Hinterwäldler und – natürlich – jede Menge Aligatoren, und fertig ist ein echtes B-Movie-Juwel.


Black Narcissus (Michael Powell & Emeric Pressburger: UK 1947)

Pure Begierde in den Bergen Indiens, bis zum Wahnsinnigwerden ständig wie ein Feuer angefacht vom steifen Wind, der ständig brausend durch die Gänge des Klosters weht. Begierde, die alle halluzinieren lässt: eine wilde Explosion des Technicolor-Farbspektrums, meisterlich fotografiert von Jack Cardiff, ekstatisch choreografiert von Powell & Pressburger. Und die Abgründe in Deborah Kerrs und Kathleen Byrons Augen sind tiefer als die Schluchten am Rande des Klosters.


Aan (Mehboob Khan: Indien 1952)

Die Technicolor-Gesetze der Begierde mit der indischen Joan Crawford. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Mannekäng i rött – Mannequin in Red (Arne Mattsson: Schweden 1958)

Der Serienmörder im Modehaus – gul statt giallo. Gesehen beim Terza Visione.


Porgy and Bess (Otto Preminger: USA 1959)

Als klassische Hollywood-Großproduktion ist PORGY AND BESS mit seiner ausschließlich schwarzen Hauptbesetzung, seinen bewusst stilisierten, meist klaustrophobischen Hinterhofkulissen und dem fast völligen Fehlen klassischer Dialoge ein ganz außergewöhnlicher und künstlerisch gewagter Film.* Und es ist ein äußerst filmischer Film, der buchstäblich mit dem gesamten Umfang, der Breite, der Höhe und der Tiefe des Cinemascope-Formats arbeitet. Er verzichtet auf "Schuss-Gegenschuss" zugunsten großer Tableaus und langer Einstellungen und arbeitet sehr bewusst mit Farbpaletten: nicht nur in Bess' auffälligen roten und rosafarbenen Kleidern – man beachte auch die beruhigenden, warmen, braun-sepiafarbenen Töne in Porgys ärmlicher, aber dennoch gemütlich aussehender Hütte. Das auf einer seltenen 35-mm-Technicolor-Kopie auf einer großen Leinwand zu sehen, ist schon ein sehr sinnliches Vergnügen.

Sidney Poitier und Dorothy Dandridge sind in den Hauptrollen ganz gut, aber die Nebendarsteller sind großartig! Pearl Bailey als energiegeladene und red- bzw. singselige Café-Besitzerin Maria oder Brock Peters, der den Antagonisten Crown als massives und (sexuell) bedrohliches, aber auch katzenartig elegantes Raubtier verkörpert. Das Sahnehäubchen ist jedoch Sammy Davis Jr. als Zuhälter Sportin' Life, mit einer charismatischen Schmierigkeit, die Kinnladen herunterklappen lässt. Seine Interpretation von "It ain't necessarily so" beim Picknick, bei der er zwischendurch in wilde Scat-Improvisationen ausbricht, ist einer der Höhepunkte in diesem wunderschönen Film.

*EDIT: wobei Preminger ja fünf Jahre vorher Ähnliches bei CARMEN JONES (den ich noch nicht kenne) probiert hatte, auch mit Dorothy Dandridge in der Hauptrolle.


El esqueleto de la señora Morales – The Skeleton of Mrs. Morales (Rogelio A. González: Mexiko 1960)

Kein Gothic-Horrorfilm, sondern ein dunkelhumoriges Ehedrama der ehelichen Entfremdung zwischen einem fröhlichen (aber aufgrund seines Berufs auch leicht morbiden) Tierpräparators und seiner körperlich behinderten Frau, die durch ihr Engagement in einer Kirchengemeinde verbittert und auch heuchlerisch wird.

Der Film nimmt die gewalttätig endenden (anti-)bürgerlichen Ehedramen vorweg, die Claude Chabrol etwa zehn Jahre später drehen sollte, fühlt sich in seiner starken antiklerikalen Haltung ein wenig wie Buñuel an, sieht sehr nach Hitchcock aus, wie er Verbindungen zwischen Figuren, fetischisierten Objekten (und fetischisiertem Essen!) und Begehren herstellt, aber gleichzeitig wie ein sehr stilisierter Film Noir gefilmt ist, voller merkwürdiger Kamerawinkel und mit großen, dunklen Schatten.

Am Ende ist er eine wilde Achterbahnfahrt, die einen im letzten Drittel fast aus dem Sitz schleudert.


La princesse de Clèves (Jean Delannoy: Frankreich/Italien 1961)

Eine filmische Grenzerfahrung in Sachen morbides Begehren und Verzichtserotik: Liebe, die entweder nur Kälte bleibt oder Liebe, die nur in extremen Formen, im Tod, Erfüllung findet.


El camino (Ana Mariscal: Spanien 1963)

Ein wunderschöner Kinderfilm auf dem spanischen Dorf mit Renoir'schem Feeling, der später zum harten Melodrama umkippt.


La tulipe noire (Christian-Jaque: Frankreich/Spanien/Italien 1964)

Gleich zweimal Alain Delon in einem ultraschmissigen Mantel-und-Degen-Spektakel, wie ihn die Franzosen zu der Zeit so gut beherrschten.


Onibaba (Shindō Kaneto: Japan 1964)

Leben und (gewaltsam) sterben lassen im Schilf der entfesselten Lust.


Das sündige Dorf (Werner Jacobs: BRD 1966)

Ein gar wunderbares Lustspiel, noch fest verankert in der traditionellen Heimatfilmkomödie der 1950er Jahre, in seinen vielen vergnüglichen Doppeldeutigkeiten (es geht um uneheliche Kinder und den entsprechenden, früheren Affären und dem heutigen Begehren) aber schon wie ein Scharnier in Richtung des späteren Alpensexfilms wirkend. Neben den gut aufgelegten Schauspielern erheitert DAS SÜNDIGE DORF vor allem mit seinem tollen komödiantischen Timing.


The Naked Runner (Sidney J. Furie: UK 1967)

Der Film ist das Companion-Piece zu dem avantgardistisch anmutenden Spionagethriller THE IPCRESS FILE mit Michael Caine, bei dem das Regisseur-Kameramann-Duo Sidney J. Furie / Otto Heller hinter der Kamera stand. Hier, in THE NAKED RUNNER, werden die Häufigkeit, Dichte und Verrücktheit grotesker Cinemascope-Kamerawinkel und seltsamer Bildkompositionen (Objekte im Vordergrund verdecken manchmal bis zu drei Viertel des Geschehens) auf ein neues Niveau gehoben, wodurch die delirierende Paranoia, die beklemmende Klaustrophobie und die alptraumhafte Atmosphäre noch verstärkt werden. Die heiteren, manchmal komischen Momente und der Pop-Art-Flair von THE IPCRESS FILE wurden zugunsten einer völlig deprimierenden, fast dystopischen Stimmung eliminiert. Dennoch ist die Handlung so bizarr verworren und überkompliziert, dass THE NAKED RUNNER manchmal auch wie eine absurde, kafkaeske Farce wirkt. Da Cinematographie, Bildgestaltung und Schnitt eine so überwältigende Rolle spielen, ist die Betrachtung des Films auf einer 17 Meter großen, gewölbten Cinerama-Leinwand von einer 35-mm-Technicolor-Kopie natürlich der Schlüssel, um in diesen großartigen, leider zu wenig bekannten Paranoia-Thriller einzutauchen und sich darin zu verlieren.


Reflections in a Golden Eye (John Huston: USA 1967)

Die kleinere Leinwand des intimen Nürnberger KommKino-Saals (Zweitsichtung) bekommt dem Film offenbar besser als die gigantische Cinerama-Leinwand der kathedralartigen Karlsruher Schauburg (Erstsichtung). Beide Male analog von 35mm gesehen in der von Huston intendierten und präferierten "goldenen Fassung": der größte Teil des Bilds getaucht in Bernsteintönen, mit einzelnen Objekten, die in "normaler" Farbe gezeigt werden (ein blaues Muster auf Liz Taylors Bluse, eine rosafarbene Rose, gelbe Abzeichen auf Armeeuniformen, ein roter Teppich, ein blauer Himmel). Beim zweiten Mal entfaltete sich die ganze Wucht dieses Wahnsinnsfilms über wahnsinnige Leute, die ihre Neurosen und vor allem ihr repressiertes Begehren auf einer Höllenbühne namens "Normalität" verschleiern. Besonders erwähnenswert ist auch der beeindruckende, dissonant-expressive Score des japanischen Avantgarde-Komponisten Toshiro Mayuzumi.


Häschen in der Grube (Roger Fritz: BRD 1969)

Coming of Age im Italien-Urlaub: die Bilder sind verführerisch schön, doch unter der Oberfläche der braven Spießbürgerfamilie lauern Abgründe und das Grauen. Ein schön erschütternder und erschütternd schöner Film.


Wunderland der Liebe: Der große deutsche Sexreport (Dieter Geissler: BRD 1970)

Die BRD zwischen fliegenden Bratkartoffeln, tropfender Konfitüre und robusten Kondomen. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Anaparastasi – The Reconstruction (Theo Angelopoulos: Griechenland 1970)

Karge griechische Berglandschaft und karge griechische Menschen meet Doomy Film Noir. Mehr zu diesem Film gibt es von Manfred hier zu lesen.


Confessione di un commissario di polizia al procuratore della repubblica (Damiano Damiani: Italien 1971)

Turbulente Immobilien-Geschäfte in Palermo. Gesehen beim Terza Visione.


Le Mans (Lee H. Katzin: USA 1971)

Die Dialoge (vielleicht besonders in der deutschen Fassung) sind nicht besonders gut, allerdings gibt es nur etwa drei oder vier im ganzen Film, der die oft nichtssagende Floskel "wie ein Dokumentarfilm inszeniert" mit einer bemerkenswerten Radikalität ernstnimmt und umsetzt.


L'albatros (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1971)

Strukturell der Begleitfilm zu Mockys SOLO: die actionbetonte, nächtliche Flucht eines romantischen Anarcho-Außenseiters vor dem Hintergrund eines Polit-Thriller-Szenarios.


La bonne année (Claude Lelouch: Frankreich/Italien 1973)

Was als irritierender und fast alberner Found-Footage-Gag beginnt, entpuppt sich langsam als abenteuerliche Liebesbeziehung zwischen einem Heist-Thriller und einer zarten romantischen Komödie, die beide übereinander stolpern, auf die Nase fallen und irgendwann vom anderen überrollt werden. Aber keiner wird verletzt, denn es ist vor allem ein Spiel, und LA BONNE ANNÉE ist in erster Linie ein spielerischer und spaßiger Film. Spaßig, weil er die besten Attraktionen der beiden Genres Heist- und Liebesfilm vereint. Spaßig, weil Handkameraaufnahmen (und davon gibt es hier viele) selten so entspannt und gleichzeitig so elektrisierend wirken. Und natürlich spaßig, weil: wie viele Filme haben so viele großartige Momente, in denen Lino Ventura und Françoise Fabian sich einfach nur selbstverloren anschauen und anlächeln?


Stardust (Michael Apted: UK 1974)

Das fiktive Rockmusiker-Biopic STARDUST besticht nicht nur durch seine Aufstiegs- und Abstiegsgeschichte (die im ersten Teil von den Beatles und der Beatlemania inspiriert wurde), sondern vor allem durch seine kraftvolle Regie, die energiegeladene Kameraführung und den rasanten Schnitt (es erinnerte mich an den späteren Martin Scorsese im GOODFELLAS-Modus). STARDUST erzählt weniger Geschichten aus dem Rock'n'Roll-Zirkus, sondern macht dessen sexy Nervenkitzel, berauschende Höhen und am Ende auch die bitteren Tiefen sinnlich erfahrbar. Dass ich aufgrund fehlender Untertitel in der OV-Kopie vielleicht nur drei Viertel der teilweise sehr Cockney-lastigen Dialoge verstehen konnte, half mir, mich dem audiovisuellen Sog komplett und widerstandsfrei hinzugeben.


Un linceul n'a pas de poches (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1974)

Mockys längster Film und wohl einer seiner genre-fluidesten in einer Karriere voller eh schwer kategorisierbarer Filme: da steckt das utopisch-anarchische (Selbst-)portait eines kämpferischen Investigativjournalisten drin, ein Provinz-Noir irgendwo zwischen Chabrol, klassischen Chandler-Anklängen und dem späteren Lynch, zwischendurch bizarrer Sleaze (ein angefangener und doch unterbrochener Dreier mit Beteiligung von Silvia Kristel noch vor ihrem EMMANUELLE-Durchbruch; später gibt es den unverwüstlichen Dominique Zardi als sexbessenen, dauermasturbierenden und urophilen Schlägertypen) und Einschübe absurder Komödie (Jess Hahn als schrulliger Mitbewohner), ein ultrafinsterer Paranoia-Thriller der auch mal in schauererregende Folterkeller führt, dann auch die wohl einzige direkte Beschäftigung mit jüdischer Identität in Mockys Filmografie, unbändiger Zorn und grenzenlose Wut gegen alle möglichen Parteien (Unternehmer und Gewerkschaftler, Reaktionäre, bürgerliche Konservative, Sozialisten und Kommunisten – Mocky pisst sie alle an!) stehen neben einer großen Zärtlichkeit für die Einzelgänger, die Verlierer, die Leute in der Zwickmühle.

Das müsste alles komplett in seine Einzelteile zerfallen, tut es aber (bei aller bizarrer Eigensinnigkeit) nicht: UN LINCEUL N'A PAS DE POCHES bleibt verblüffenderweise ein sehr konziser, stimmiger Film. Aber vielleicht empfinde nur ich das so: der Film floppte, nur die melancholische, sanfte Trompetenmusik (gespielt von Jean-Claude Borelly) wurde zu einem internationalen Hit.


Autobiography of a Princess (James Ivory: UK 1975)

Der Höhepunkt meines kursorischen ersten Streifzugs durch die Filme des Regisseur-Produzent-Autorin-Trios James Ivory, Ismail Merchant und Ruth Prawer Jhabvala: ein Zwei-Personen-Kammerspiel und -Dialogstück trifft auf Found-Footage aus der indischen Zeitgeschichte. Das ergibt zusammen einen faszinierenden Essayfilm über koloniale Nostalgie, Dekolonisierung, das Verhältnis von kolonialen und lokalen Machthabereliten, Sehnsucht und (schwules) Begehren. Vieles davon abgebildet in den reichen, vielschichtigen und fesselnden Gesichtslandschaften des gealterten James Mason.


Vanessa (Hubert Frank: BRD 1976)

"...Vanessa, you are the girl of my dreams..." Ein unfassbarer Hong-Kong-Sexfilm-Bilderreigen. DVD in Nürnberg gekauft, wo er auch mal bei einem Hofbauer-Kongress vor meiner Zeit lief. Dazu hat Silvia einige schöne Worte hier geschrieben.


Between the Lines (Joan Micklin Silver: USA 1977)

Die meisten 68er-Kater-Filme sind eher düster, rau und brutal. BETWEEN THE LINES ist voller Liebe und Zärtlichkeit: Nur weil man die Welt nicht ändern konnte und kann, heißt das nicht, dass man nicht mit Menschen, die man liebt, mag und respektiert, abhängen und Spaß haben kann. Das Sahnehäubchen ist natürlich, wenn einer von ihnen Jeff Goldblum ist, der urkomische Comedy-Nummern zum Besten gibt, und ein anderer Michael Pollard, der einfach nur herumsteht und -sitzt und wissend lächelt.

Beim ersten Anschauen dachte ich, dass BETWEEN THE LINES manchmal ein bisschen wie eine Sitcom aussieht. Beim erneuten Anschauen kann ich das insofern bestätigen, als dass er das schönste Element der Sitcom aufgreift und in einen filmischen Triumph verwandelt: einfach mit ein paar Leuten an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Zuhause und in ihrer Lieblingsbar herumzuhängen.


Simone Barbès ou La vertu (Marie-Claude Treilhou: Frankreich 1980)

Magisches Kino als entspanntes und weitestgehend zielloses Schlendern durch den Job als Kartenabreisserin im Pornokino, durch das gemischte Publikum und die verschiedenen Performances in einem Lesbenclub, durch die Straßen von Paris in der Dämmerung im Auto des Gentleman-Perversen.


Verano salvaje (Enrique Gómez Vadillo: Mexiko 1980)

Ein erotischer Abhängfilm trifft auf die Mechanismen des lateinamerikanischen Telenovela-Melodrama, das ganze fotografiert mit einer durch und durch queeren Kamera, die wie unsere von der wunderbaren Ana Martín gespielten Protagonistin die ganzen heißen Männer angeilt, die in äußerst knappen Badehöschen durch die Strandurlaub-Szenerie stolzieren. Das ganze noch versüßt mit einem hervorragenden Orchester-Score.


Mortelle randonnée (Claude Miller: Frankreich 1983)

Aus einer schwarzhumorigen Krimi-Farce (mit italienischer Produktionsbeteiligung hätte ich vielleicht gar von Giallo-Komödie geschrieben) wird nach und nach eine leise, melancholische und emotional sehr aufwühlende Medition über Trauer, Verlust, Einsamkeit, Sehnsucht nach menschlicher Bindung.


Péril en la demeure (Michel Deville: Frankreich 1985)

Während Michel Devilles teilweise extremer Formalismus in LE MOUTON ENRAGÉ (auch 2024 gesehen) oft etwas in Beliebigkeit versandete, peitscht er hier sein Neo-Noir-Szenario um Hören, Sehen, Begehren und Morden zu Gipfeln großer, mitreissender, witziger und erotischer Filmkunst hoch. Das erinnerte mich ein bisschen an De Palma. Andere referenzieren Greenaway. De Palma – Greenaway – Deville, eine nette Triangulation.


American Flyers (John Badham: USA 1985)

Once you get it up, keep it up!

Wie bereits geschrieben: mit Kevin Costners Pornoschauzer würde ich durch alle Berge Colorados radeln. Gesehen beim Hofbauer-Kongress und endgültig in den Film verliebt beim Jenaer 35mm-Kino.


Buddies (Arthur J. Bressan Jr.: USA 1985)

Ein meisterhaftes Melodrama über einen an AIDS sterbenden Schwulenaktivisten und seinen ehrenamtlichen Sterbebegleiter. Sehr emotional, aber auch sexy, witzig und gewitzt – und vor allem auch kämpferisch: ein Film über das Sterben, aber auch über die Geburt von politischem Bewusstsein und Engagement.


Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (Tillmann Scholl: BRD 1985)

St. Pauli zwischen Absturzkneipe und Gentrifizierung. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Henry: Portrait of a Serial Killer (John McNaughton: USA 1986)

Ein nur scheinbar wie sein Protagonist distanzierter und emotionsloser Film, dessen kalte Klauen des Grauens besonders im letzten Viertel einem nach und nach die Kehle zuschnüren, um einem dann in den letzten Minuten das Genick zu brechen. Michael Rooker, mit seinem kantigen Gesicht und seiner rauen Stimme, ist sowieso ein Schauspieler, dessen Präsenz selbst in kleinen Nebenrollen (die er oft "nur" hat) einen Film aufwertet: hier IST er ein großer Teil des Films.


Top Model (Joe D'Amato: Italien 1988)

Geil bummeln und bumsen in New Orleans. Gesehen beim Terza Visione.


Il nido del ragno (Gianfranco Giagni: Italien/Ungarn 1988)

Budapest sehen – und qualvoll in den Händen der Spinnensekte sterben. Gesehen beim Terza Visione.


Majo no takkyūbin – Kiki's Delivery Service (Miyazaki Hayao: Japan 1989)

Unter den kindergerechten Miyazakis scheint TOTORO populärer zu sein, aber ich verschenke mein Herz definitiv Kiki. Auch wenn in der letzten Viertelstunde die Spannungsschraube sehr nägelbeissend angezogen wird, bedeutet "kindlich" hier auch ein recht entspanntes Abhängen in kleinen, schönen Episoden voller poetischer Ideen und Witz und mit einer liebenswerten Protagonistin.


Daughters of the Dust (Julie Dash: USA 1991)

DAUGHTERS OF THE DUST erzählt die Geschichte einer Gullah-Familie, die an einem Sommertag im Jahr 1902 auf ihrer Heimatinsel in South Carolina ein letztes Mal zusammenkommt, bevor die meisten Mitglieder endgültig in den Norden auswandern.

Der Film hat eine ethnografische Seite, als Portrait einer Minderheit unter Afroamerikanern. Als Familiendrama handelt DAUGHTERS OF THE DUST von allen möglichen Konflikten: zwischen den Generationen (die jüngeren Familienmitglieder haben genug von den "alten Gewohnheiten"), zwischen den religiösen Zugehörigkeiten (Christen konkurrieren mit den Gläubigen traditioneller afrikanischer Religionspraktiken), zwischen den Geschlechtern (Impotenz und Ehebruch belasten die Ehen), zwischen den Klassen und sogar zwischen den sexuellen Orientierungen (eine queere Begleiterin wird von den meisten Familienmitgliedern ignoriert). Zwischen den Konflikten tauchen afroamerikanische Erinnerungen an Sklaverei und Gewalt auf, die Narben und Traumata zeigen, diese aber auch durch die Erschaffung mythologischer Erzählungen bewältigen.

DAUGHTERS OF DUST präsentiert all dies nicht in Form einer steifen, pädagogischen, stromlinienförmigen Trockenübung: Stattdessen entfaltet DAUGHTERS OF THE DUST seine besondere Stärke als schwindelerregender Strudel von Bildern, die heranzoomen, herauszoomen, sich auflösen, assoziativ und musikalisch effektvoll zusammengeschnitten werden – alles verbunden durch einen faszinierenden, fast ambientartigen Score, der afrikanische Trommeln und Elektronik mischt; ein Hauch von magischem Realismus (eine Person läuft auf dem Wasser; Teile des Films werden vom Voice-Over eines Geistes erzählt) mischt sich mit stilisiertem Schauspiel. Mehr als ein konventioneller narrativer Film entfaltet DAUGHTERS OF THE DUST seine Magie als ein hypnotisierendes, wunderschön fotografiertes Stück audiovisueller Poesie.


The Pit and the Pendulum (Stuart Gordon: USA/Italien 1991)

Ein übel beleumundeter B-Movie aus der Schmiede von Charles Band – und doch ein fantastischer Film, der unter dem Deckmantel von Exploitation wohl mehr über die teuflischen Mechanismen politisch-religiösen Fanatismus' zu sagen hat als "respektablere" Poe-Adaptionen. Das liegt aber auch an der furchteinflößenden Präsenz von Lance Henriksen als völlig verkommener, perverser und sadomasochistischer Inquisitor Torquemada. Die Welt bräuchte natürlich viel mehr Filme mit einer Szene, in der Lance Henriksen erregt seine eigene, angeordnete Auspeitschung genießt.


Point Break (Kathryn Bigelow: USA/Japan 1991)

Dank POINT BREAK habe ich vielleicht Manny Farbers Konzept der "Termiten-Kunst" verstanden. Von dem Nährboden eines nicht allzu gut geschriebenen Drehbuchs voller Klischees, alberner und oft nicht allzu kluger Charaktere und dümmlicher Glückskeks-Philosophie nähren sich die straffe, kraftvolle Regie und die schöne, kinetische Fotografie, um daraus nichts anderes als pure und körperliche Genrekino-Ekstase zu züchten: die mit Handkamera fotografierte Verfolgungsjagd zu Fuß durch L. A. wirkt auf der großen Leinwand wahrhaftig atemberaubend.

Weniger spektakulär, aber auf seine Weise ebenfalls spannend: der Beginn von Johnnys und Tylers Annäherung nach der nächtlichen Surf-Session in der Gruppe – ein Klischee der "Anfangsszene der Liebe", das sich dank der Fotografie, die den spiegelnden Ozean im Hintergrund der beiden auf ihren Brettern sitzenden und flirtenden Surfer als magisch glitzernde Tapisserie zeigt, in ein fast jenseitiges Bild der Verzauberung verwandelt.


Kurenai no buta – Porco Rosso (Miyazaki Hayao: Japan 1992)

Miyazakis Hawks'ianischer Piloten-Actionfilm – und wenn ich zwingend einen liebsten Miyazaki aussuchen müsste, wäre es wohl dieser.


Fly Away Home (Carroll Ballard: USA 1996)

Coming of Age als Trauerbewältigung mit einer DIY-Flugreise, bei der niemand zurückbleiben soll – auch nicht Igor. Von einer kristallinen, farbprächtigen 35mm-Kopie ein besonderer Genuss, und die beigeisterten und erstaunten Reaktionen des größtenteils kindlichen Publikums (es war das 35mm-Kinder-Special in der Adventszeit) auf "Amy und die Wildgänse" machten die Vorstellung besonders erfreulich.


East Palace, West Palace (Zhang Yuan: China/Frankreich 1996)

Ein Mann, der bei einer Razzia an einem klandestinen Cruising-Ort verhaftet wurde, erzählt dem Polizisten im Verhör von seinen erotischen Abenteuern und/oder Fantasien. Statt um Zeitschinden wie in "1001 Nacht" geht es in dieser einen Nacht eher um Verführung mit Worten, Blicken und kleinen Gesten. Und so wie der schwule Schriftsteller "seinen" Polizisten verführt, verführt EAST PALACE, WEST PALACE das Publikum mit seinen sublimen, wie im Traum verschleierten und von unbändiger Erotik aufgeladenen Bildern.


Gummo (Harmony Korine: USA 1997)

Das Regie-Debüt des damals gerade einmal 24-jährigen Harmony Korine war das Raritäten-Highlight des Jenaer 35mm-Kinos 2024. Oberflächlich könnte man in GUMMO ein Stück Prollploitation bzw. Misery-Porn aus der Gosse sehen, aber Korines Blick auf seine Protagonisten in einer heruntergekommenen Provinzstadt und ihre Episoden ist dafür zu zärtlich: die ganzen transgressiven Elemente (Jugendliche auf harten Drogen und mit regem Sexleben, eine geistig behinderte Prostituierte, die extrem grafische Darstellung von Dreck und Heruntergekommenheit etc.) können über die grundsätzliche Zärtlichkeit und das Mitgefühl des Kameraauges nicht hinwegtäuschen und über die Emotionalität und die Lebenslust, die GUMMO trotz der nihilistischen Fassade versprüht. Nicht zu sprechen vom Humor: das Spaghettiessen in der Badewanne mit gleichzeitigem Haarewaschen und dem Stück Bacon, das an die Fliesen mit Klebestreifen festgeklebt ist, ist ein Meisterstück des absurden Humors, das mich fast krampfhaft lachen ließ – bis das Lachen dann jäh vor Tränen der Rührung erstickt wurde, als Roy Orbisons "Crying" zum zärtlichen Dreier im Aufstellpool überleitete.


Wild Things (John McNaughton: USA 1998)

Ich hatte zwar erwartet, dass WILD THINGS ganz unterhaltsam werden würde, aber dass das so ein Knaller werden könnte: der Neo-Noir to end all Everglades-Neo-Noirs, so spaßig, so horny, so gemein und niederträchtig, so wunderschön fotografiert – besonders letzteres sehr hervorstechend in einer kristallinen 35mm-Kopie, eine visuelle Verführung von den ersten Sekunden an.


Deep Blue See (Renny Harlin: USA/Australien 1999)

Jemand schrieb einmal, dass niemand auf der Welt "dumme" Filme so gekonnt und elegant inszenieren kann wie Renny Harlin, und in diesem Film zeigt sich das wirklich: siehe alleine diesen Moment der Poesie in Bewegung, wenn Dr. McCallister in ihren wasserdichten Tauchschuhen, die wie Ballerinas aussehen, ins Wasser steigt und die Hai-gegen-Mensch-Jagd für ein paar Minuten in ein traumtänzerisches Unterwasserballett verwandelt.


Julien Donkey-Boy (Harmony Korine: USA 1999)

Werner Herzog war nach GUMMO ein Korine-Bewunderer der ersten Stunde und ließ Worten auch Taten folgen, als er in dessen zweiten abendfüllenden Spielfilm die Rolle des strengen Vaters in einer aberwitzigen Performance übernahm (sein Monologisieren über den Showdown von DIRTY HARRY als Beispiel ganz großer Kunst gehört zu denkwürdigsten Momenten des Films). Erzählerisch geradliniger als GUMMO, visuell aber wesentlich wilder: der Video-Look, verfremdet durch mehrfache Umkopierung, lässt den Film manchmal fast wie ein bewegter Warhol-Siebdruck aussehen. Wie in GUMMO ist dieses Portrait einer stark disfunktionalen Familie (Sucht, psychische Krankheit, Inzest) keine Freak-Parade, sondern vor allem mitfühlendes und emotionales Kino.


Omoide no Mānī – When Marnie Was There (Yonebayashi Hiromasa: Japan 2014)

Für Kinder wohl eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, für Erwachsene das meisterhafte Melodrama eines unmöglichen lesbischen Begehrens mit einem leicht perversen Twist – auf jeden Fall ein sehr beglückendes Highlight aus dem Studio Ghibli jenseits von Miyazaki.


Im Namen des Königs (Bruno Sukrow: Deutschland 2015)

Glitch'ige Bummelei durch das Mittelalter. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


Dawson City: Frozen Time (Bill Morrison: USA 2016)

Ein wunderschöner Dokumentarfilm über die Goldgräberstadt und ein sinnlicher Essayfilm über Filmmaterial(ität). Mehr zu lesen gibt es von Manfred hier.


The Other Side of the Wind (Orson Welles: Frankreich/Iran 2018)

Ein Wirbelsturm von "dreckigen" und besonders wild montierten Bildern. "Cinema should be rough", so Welles, und THE OTHER SIDE OF THE WIND ist eine schöne Zugabe zum "wilden" Welles von OTHELLO, MR. ARKADIN und F FOR FAKE.


The Beach Bum (Harmony Korine: USA/Frankreich/UK/Schweiz 2019)

Ein Stoner-Abhängfilm, der zum Roadmovie-Dasein gezwungen wird, von Harmony Korine wieder einmal fantastisch inszeniert und geschnitten, in leuchtenden, psychedelischen Farben und mit einem ganz entzückend entfesselten Matthew McConaughey als verantwortungsloser, dauerbekiffter, manchmal auch etwas finsterer MC der ganzen Fete.




Beste Erstsichtungen: Besondere Erwähnungen

(geordnet chronologisch nach Sichtungsreihenfolge)


Satyricon (Gian Luigi Polidoro: Italien 1969)

Der "andere" SATYRICON-Film, der vor Fellinis berühmterer Version produziert und veröffentlicht wurde, heute aber fast vergessen ist – was schade ist, denn beide Filme unterscheiden sich deutlich voneinander und Polidoros Version ist ebenso sehenswert wie die andere.

SATYRICON funktioniert vor allem als eine Mischung aus Abenteuer-Roadmovie und Slapstick-Sexkomödie, deren Erzählstruktur zunächst zu lose und sprunghaft episodisch erscheint, um zwei Stunden lang zu funktionieren. Das heißt, bis "Trimalchios Fest" beginnt: eine lange, absolut fesselnde Episode, die wie ein eigener Film im Film wirkt. Trimalchio, gespielt von Ugo Tognazzi, agiert wie ein Zeremonienmeister, wie ein Regisseur, der ein präzise choreografiertes Theaterstück mit Essen, Trinken, Furzen und Furzwitzen, Erbrechen, Poesie, Scharaden und Ritualen inszeniert. Mit Tognazzis Anwesenheit fühlt sich dies wie eine Probe für Marco Ferreris späterem LA GRANDE BOUFFE an.

Polidoros SATYRICON ist mindestens so queer wie der von Fellini, aber auch weniger abstrakt und viel menschlicher. Die Beziehung zwischen Encolpio und dem als Frau getarnten Gitone beginnt als bloßer Scherz, entwickelt sich aber im Laufe des Films zu einer einnehmenden und überraschend emotionalen und zärtlichen Liebesgeschichte. Eine schöne, flötenbetonte Filmmusik von Carlo Rustichelli zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film.


La terza madre (Dario Argento: Italien/USA 2007)

Für diesen Film aus dem allgemein eher verschmähten Spätwerk Argentos waren meine Erwartungen eher gedämpft. Umso überraschender und erfreulicher war es, einen solch toll inszenierten, effizienten und fiesen kleinen Paranoia-Schocker zu sehen, der SUSPIRIA und INFERNO zwar nicht ebenbürtig ist, sich in der Trilogie aber keineswegs zu verstecken braucht. Mit Asia Argento in der Hauptrolle hat der Film auch eine sehr einnehmende Hauptfigur.


The Vikings (Richard Fleischer: USA 1958)

Bei einem Hollywood-Film aus den 1950er Jahren mit dem Titel THE VIKINGS mit Kirk Douglas in der Hauptrolle würde man einen familienfreundlichen Abenteuerfilm erwarten – so etwas wie die Jules-Verne-Verfilmung 20.000 LEAGUES UNDER THE SEA, die vier Jahre zuvor mit demselben Hauptdarsteller und vom selben Regisseur gedreht wurde. Stattdessen sind die "Helden" ein Haufen abscheulicher Vergewaltiger und gewalttätiger Sadisten (und Sadomasochisten); die "Unterhaltung" besteht aus Vergewaltigungen, abgehackten Gliedmaßen, von wilden Falken herausgerissenen Augen, gefallenen Kämpfern, die von Rädern zerquetscht werden, und Menschen, die von einer blutrünstigen Hundehorde zerfleischt werden. Die Familienbanden, die der Geschichte zugrunde liegen, verleihen dem Ganzen einen leicht perversen Ton: Blutbande und Blutbad gehen Hand in Hand.

Wer sich von der Vorstellung verabschieden kann, einen "klassischen" Hollywood-Abenteuerfilm aus den 1950er Jahren zu sehen, bekommt einen faszinierenden, düsteren und verstörenden Vorläufer des späteren, zynisch-brutalen Italo-Western zu sehen (Handverstümmelungen und gefräßige Hunde, die Menschen zerfleischen, gab es bei Corbucci und Fulci erst 8 Jahre später): Brachiales Gewaltkino, das keine Gefangenen macht und seinen phallischen Rammbock ohne Rücksicht auf Verluste durch die Festungstür bohrt (das expliziteste und unfassbarste Bild des ganzen Films!).


Un homme est mort (Jacques Deray: Frankreich/Italien 1972)

Der feuchte Traum eines cinephilen Los-Angeles-Filmreisetagebuchs kombiniert mit einem fast abstrakten Actionthriller, in dem ein Mann mit einer Knarre von einem anderen Mann mit einer Knarre durch eine Großstadt gejagt wird.

Eine ganz tolle Kombination, denn man braucht fast keine Handlung, stattdessen kann man sich auf das Charisma von Jean-Louis Trintignant und Roy Scheider verlassen, und der rote Faden ist einfach die spürbare Liebe des Machers zur großen amerikanischen Westküsten-Metropole – gesehen mit dem Auge eines neugierigen Fremden, nicht eines Touristen wohlgemerkt, sondern eher eines kleinen Kindes, das voller Enthusiasmus diese fremde Welt entdecken will, dieses... Los Angeles! Biker-Gangs, die einen durch die Straßen führen, Kinder, die einem Ketchup auf das Abendessen schütten, Motels vor Palmen-Panoramen, Luxus-Boutiquen und schäbige Oben-ohne-Nachtclubs, Western und "Star Trek" im Fernsehen, LAX und Venice Beach, der Sheriff der Stadt, der vorbeikommt, wenn man sich gegenseitig etwas zu laut zu erschießen versucht – ein cinephiler Americana-Spielplatz, wo alles erlaubt ist.

UN HOMME EST MORT würde wahrscheinlich ein großartiges Double Feature bilden mit seinem älteren Bruder im Geiste und New Yorker Gegenstück, Jean-Pierre Melvilles DEUX HOMMES DANS MANHATTAN.


Dying of the Light/Dark (Paul Schrader: USA 2014/2017)

Vom fertigen, durch das Studio umgeschnittene DYING OF THE LIGHT hat sich Paul Schrader distanziert und später "seine" Fassung DARK aus verfügbaren Materialien zusammengeschnitten. Mehr als "Studio-Cut vs. Director's Cut" finde ich es faszinierend, beide Filme als sich gegenseitig ergänzende und miteinder kommuzierende Teile eines Diptychons zu verstehen. Ein Diptychon, das sowohl ein Agenten-Rache-Thriller als auch eine Meditation über das Sterben und den Verlust des Selbst durch Demenz ist: beides in unterschiedlichen Gewichtungen in beiden Teilen enthalten. Hier mehr grundsolide Genre-Attraktionen, dort mehr Experimentelles, mehr digital-pixeliges Reinzoomen in Nicolas Cages Gesicht.


The Black Cauldron (Ted Berman & Richard Rich: USA 1985)

THE BLACK CAULDRON gilt gemeinhin als absoluter Tiefpunkt von Disney zwischen dem Goldenen Zeitalter des Studios (bis Mitte der 1960er Jahre) und seiner "Renaissance" (die 1989 mit THE LITTLE MERMAID eingeleitet wurde). Wenn man ein stromlinienförmiges, familienfreundliches Produkt erwartet, das auf ein wohlkalkuliertes Zielpublikum zugeschnitten ist, ist er tatsächlich ein Flop – was ihn in der Retrospektive zu einem wirklich spannenden Seherlebnis macht, zu einem (oder sogar DEM) Disney-"Film maudit".

Ohne den grundlegenden Disney-Look aufzugeben, führt er ein "typisches" Märchen in ein dunkles Fantasy-Gebiet, das an Gothic Horror grenzt, voller Folterverliese, Horden lebender Toter, die durch psychedelischen grünen Schlamm waten, einem Oberbösewicht, der im Grunde eine wandelnde, verrottende Leiche ist, und mehr Jump-Scares (und effektiven, nebenbei bemerkt!) als wahrscheinlich viele zeitgenössische Slasherfilme. Zur Auflockerung gibt es auf beiden Seiten von Gut und Böse zwei Sidekicks mit massiven sadomasochistischen Neigungen, einen Haufen trinkfester und ultragewalttätiger, schwert- und axtschwingender Schläger und eine nymphomane Hexe, die gerne Menschen, die sie in Kröten verwandelt hat, in ihr üppiges Dekolleté klemmt. Vollkommen altersgerecht für ein Kinderpublikum... nicht!

THE BLACK CAULDRON, der gegenüber der ursprünglichen Fassung vor der Premiere um 12 Minuten gekürzt wurde, mag in Bezug auf die Erzählung unelegant und holprig wirken, macht dies aber durch seine wunderschönen, alptraumhaften Gothic-Bilder sowie seine schiere Energie und den Spannungsaufbau in den Actionsequenzen wieder wett. Es ist ein seltsamer Hybridfilm, der es nicht schafft, eine wirkliche Symbiose zwischen seinen Disney-Trademarks und seiner düsteren Atmosphäre zu schaffen, aber es ist diese Unvollkommenheit, die THE BLACK CAULDRON letztendlich absolut faszinierend und äußerst unterhaltsam macht.



Wiedersehen macht Freude

(geordnet chronologisch nach Sichtungsreihenfolge)


Kaze no Tani no Naushika – Nausicaä of the Valley of the Wind (Miyazaki Hayao: Japan 1984)

Eigentlich habe ich NAUSICAÄ schon im Sommer 2023 "gesehen", war aber damals bei der 22-Uhr-Vorstellung größtenteils nur körperlich anwesend. Der Film ergibt schon mehr Sinn, wenn man ihn wach und mit offenen Augen erlebt. Der Kassenschlager, dessen Erfolg zur Gründung des Studio Ghibli führen konnte, verbindet Bildgewaltiges und Episches mit großen Emotionen: die Rückblenden in die Kindheitserinnerungen der Protagonistin gehören zum Großartigsten, was ich dieses Jahr im Kino erlebt habe, nicht zuletzt dank Joe Hisaishis fantastischem Score.


The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover (Peter Greenaway: UK/Frankreich 1989)

Nachdem mich der Film vor über einem Jahrzehnt als vermeintliche formalistische Fingerübung eher kalt gelassen hatte – jetzt eine echte Offenbarung und besonders schön auf einer großen Kinoleinwand von 35mm. Die wahrscheinlich elektrisierendste Symbiose von visueller Inszenierung und Musik, die ich dieses Jahr erlebt habe: Michael Nyman ist definitiv als Co-Auteur dieses Films anzusehen, der Film ohne seinen Score und seine (vorab existierende) Komposition "Memorial" völlig undenkbar, und fast mehr als von seiner starken Farbdramaturgie wird der Film von seiner Musik vorangetrieben.

Ein besonderer Augenschmaus auf analogem Filmmaterial: die dampfende, vor perlendem Wasser triefende, sich wahrhaftig reinigend anfühlende Duschszene nach dem infernalischen Aufenthalt im LKW mit dem verrotteten Fleisch.


Les tribulations d'un Chinois en Chine (Philippe de Broca: Frankreich/Italien 1965)

Vor lauter Freude den Tränen zwischendurch nahe gewesen. Ein Kindheitsliebling, der auch nach Jahren (vielleicht gar über zwei Jahrzehnten?) nichts von seiner Verzauberung verloren hat. L'HOMME DE RIO und CARTOUCHE mögen populärer sein, aber LES TRIBULATIONS schüttet aus einem Füllhorn alles, was die ersten beiden De-Broca-Belmondo-Werke gefühlt mit angezogener Handbremse präsentierten: Wahnsinn, Irrwitz, Spiellust, Absurdes und Ultraromantisches. Georges Delerues mitreissender Score ist das Sahnehäubchen.


Sudden Impact (Clint Eastwood: USA 1983)

Vor über 20 Jahren gesehen, im Fernsehen, auf Deutsch, gekürzt, im Bild beschnitten, von Werbung unterbrochen – keine idealen Umstände. Trotzdem war mir besonders Sondra Lockes ätherische Präsenz als traumatisiert-zorniger Racheengel im Gedächtnis geblieben. Beim Wiedersehen bestätigte sich letzteres. Und es offenbarte sich der beste und merkwürdigste Film der Dirty-Harry-Reihe: ja, besser als Siegels DIRTY HARRY und merkwürdig in der Art, wie er zwei Filme (ein Art schwarzhumorige Angry-Cop-Komödie und ein äußerst rabiater und bitterer Rape-and-Revenge-Schocker), zwei großartige Schauspieler (Eastwood und Locke) und zwei unverwandte und doch verwandte Figuren und ihre Auffassung und Praxis von Gewalt (kalt, unpersönlich, routiniert und bürokratisch abgesichert versus leidenschaftlich brodelnd, intim, im extremen Ausnahmezustand verhaftet und geächtet) allmählich aufeinander zugehen lässt – dies alles gewohnt meisterhaft, sehr klassisch und in elegant-dunklen Bildern von Eastwood inszeniert.


Keoma (Enzo G. Castellari: Italien 1976)

Von dieser dritten Sichtung von KEOMA habe ich nichts erwartet, nachdem ich ihn bei den ersten beiden Male völlig langweilig fand. Mit einem größeren Verständnis für Enzo G. Castellari und seinen ultradynamischen Regiestil entdeckte ich einen "neuen" Film.

Die sachkundige, kluge und witzige Einführung von Lars bei der Deliria-Italiano- 35mm-Vorführung hat ebenfalls dazu beigetragen, neue Perspektiven zu eröffnen: KEOMA als männliche Version von John Hustons THE UNFORGIVEN, als surrealistischer Film voller Nebel- und Staubtableaus, der mehr vom Gothic Horror als vom traditionellen Western zehrt, als früher postmoderner Western, der griechische Mythologie, Shakespeare-Drama und biblische Themen und Motive wild mischt.

Meine Skepsis war schnell verflogen, und während ich immer mehr in den Film hineingezogen wurde und nun völlig fasziniert war, fragte ich mich, warum ich ihn nicht schon früher "kapiert" hatte: die extrem dynamische Kamera, die herumschwenkt und zoomt und dabei oft von Objekten im Vordergrund behindert wird, die manchmal fast experimentelle Bild- und Tonmontage (die zum Beispiel eine Schießerei mit den Schreien einer gebärenden Frau mischt!), die animalische Darstellung von Franco Nero (haariger nackter Oberkörper im langen Mantel), die düstere Atmosphäre voller Staub, Schlamm und Verfall, die ultrakinetischen Actionszenen und die spektakulären Zeitlupen... Wow!


Leaving Las Vegas (Mike Figgis: USA/Frankreich/UK 1995)

Auch ein überraschendes Highlight des 35mm-Kinos und ein besonders schönes Wiedersehen. Das Todessehnsuchts-Melodrama wirkte auf großer Leinwand von einer wunderschönen Kopie besonders sinnlich, haptisch, taktil, morbid-rauschhaft und dabei durch den Score auch swingend-jazzy.




Sonntag, 22. September 2024

Bericht vom 10. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione

 ...While the city sleeps, desire will take the night
You and I will dance in cinema

So we'll let the music play as the fever rises

Moving closer to the stars of our love affair


Softly whispering, I love everything

'cause when I look at you

I feel hot desire, I come alive, I see


Movie, I love what you're doing to me

Movie, your love is all that I need


Take me, hold me tight, love me with all your frames

Every movie's right, drive me wild


All the night is ours, love into morning light

We won't count the hours, we'll take our time...


(aus dem Titelsong von TOP MODEL, "Woman" von Jacob Wheeler, leicht editiert und geändert)




Dienstag, 16. Juli 2024, Tag 0: Aufwärmen


Große Vorfreude auf mehrere Tage italienische Kinogeschichte, präsentiert in analogen, teilweise extrem seltenen und mit viel Liebesmühe organisierten Filmkopien, zu schauen und zu genießen in der Gesellschaft vieler netter Leute, die ich in den letzten Jahren bei früheren Ausgaben des Terza Visione und anderen Off-Festivals kennengelernt habe...

Nachdem ich letztes Jahr Pech hatte mit der Deutschen Bahn am offiziellen Eröffnungstag des Terza Visione, habe ich dieses Jahr mich dazu entschieden, einen Tag früher anzureisen. Passend zum Geist des "internationalen Tags", der seit 2022 das Terza Visione abschließt, lief im Kino des Frankfurter Filmmuseums glücklicherweise ein Tag vorher ein passender Film, um in die Welt des Genrekinos einzusteigen (diese Vorführung ist unabhängig vom Terza Visione, lief im Rahmen einer Hommage des Filmmuseums an den kürzlich verstorbenen Roger Corman und ist "nur" Teil meiner ganz persönlichen diesjährigen Terza-Erfahrung – auch wenn andere Dauerkartenihaber und die Hälfte der Terza-Organisatoren hier schon anwesend waren).



20.30 Uhr


THE RAVEN

Regie: Roger Corman

USA 1963

35mm, Originalfassung mit schwedischen Untertiteln

Der Zauberer Dr. Craven (Vincent Price) wird in seiner Trauer um seine verlorene geliebte Leonore von einem sprechenden Raben mit recht rüden Manieren unterbrochen, der sich nach Einnahme eines Zaubertranks in seine ursprüngliche Form, dem Zauberer Dr. Bedlo (Peter Lorre) zurückverwandelt. Der will sich an Dr. Scarabus (Boris Karloff) rächen, der ihn verwandelt hatte – und lockt Dr. Craven in sein Vorhaben, indem er ihm andeutet, dass er Leonore im Scrabus'schen Schloss gesichtet habe.


Was, wenn der Rabe mehr oder etwas anderes als nur ein Rabe wäre? Was, wenn Leonore doch nicht so unwiderruflich verschwunden wäre? Was, wenn Vincent Price, auf einem Kronleuchter sitzend, Boris Karloff rohe Eier auf den Kopf wirft?

Roger Cormans THE RAVEN aus seinem Poe-Zyklus nimmt das titelgebende Gedicht zunächst als Startpunkt: von Vincent Price äußerst wirkungsvoll und eloquent in Teilen rezitiert vor einem farbenexplodierenden, psychedelischen Vorspann. Das spinnt dann Corman weiter zu einer temporeichen, mitreissenden Gruselkomödie voller wunderbarer Sets, visueller Ideen und funkensprühender Schauspielerleistungen. Das Panorama von Dr. Scarabus' Schloss mag zwar an den Rändern des Gebäudes als Matte-Painting erkennbar sein – wie fantastisch der Film für eine in zwei Wochen schnell heruntergekurbelte Produktion aussieht, ist dennoch atemberaubend. Da gibt es große Schlosshallen mit knarzenden Türen, viele Spinnweben ("hard to keep clean" – so ein Kommentar Dr. Bedlos), feuerspeiende Fontänen. Das ganze in einer farbechten (weil sub-zero-gelagerten) 35mm-Kopie aus dem schwedischen Filmarchiv zu sehen ist schon sehr wunderbar. Ein Höhepunkt des Films und ein Höhepunkt in der Demonstration von Cormans B-Movie-Produktionsökonomie ist der Duell der Magier, bei dem die ganze Fantasie von Pre-CGI-, Low-Budget-Filmemachen zum Glänzen kommt. Magie ist Suggestion, sagt einer der Protagonisten einmal im Film, und hier wird das demonstriert: Dr. Scarabus erweckt die Hundestatuen seines Springbrunnens zu echten Höllenkreaturen – das entsteht aber "nur" durch geschickte, schnelle Montage, durch die dramatische Musik, durch die expressive, knallbunte Beleuchtung im Kopf des Zuschauers.

Was den Film jenseits der formalistischen Fingerübung hebt ist die übersprudelnde Spiellaune der Darsteller. Ich musste nach dem Film tatsächlich prüfen, ob Vincent Price wirklich nicht Brite ist: der US-Amerikaner spielt seinen Erasmus Craven mit der ganzen Eleganz, der Zurückhaltung, dem dezenten Desinteresse im Angesicht der unfassbarsten Situationen und dem feinen Witz eines englischen Lords. Ein wunderbarer Komiker! Der richtige Brite, Boris Karloff, gibt einen herrlich heuchlerischen Dr. Scarabus.

Es ist aber Peter Lorre als Dr. Bedlo, der allen die Schau stiehlt! Lorre lässt hier wirklich komplett die Sau raus, haut eine Punch-Line nach der anderen raus (einiges davon improvisiert – womit Price wohl besser zurecht kam als Karloff), darf sich entsprechend des Habitus seiner Figur sehr exaltiert und exaltiert daneben benehmen (der Moment, wo er die Milch in den Kelch zurück spuckt, weil er weindurstig aus Versehen das falsche Gefäß erwischt hat!) und darf überhaupt bedrohlich, erzürnt, frech, anmassend schauen. Eine Komödien-Performance für die Ewigkeit von einem der ganz Großen!




Mittwoch, 17. Juli 2024, Tag 1: Die Kamera in den Speichen des Wagenrads, oder Schwerpunkt Enzo G. Castellari



Exkurs: Bilder des Schreckens und Materialität der Bilder


Um 18 Uhr erst sollte das Terza Visione offiziell beginnen. Genug Zeit, um gut auszuschlafen und dem Städel-Museum einen Besuch abzustatten. Sozusagen zur visuellen Einstimmung auf die (weiteren) visuellen Prachtstücke der nächsten Tage. Die Sonderausstellung "Städel-Frauen: Künstlerinnen zwischen Frankfurt und Paris um 1900" bot für die Visionen des Horrors, die in ausgewählten Filmen der nächsten Tage lauern würden (in LA MASCHERA DEL DEMONIO und vor allem in IL NIDO DEL RAGNO), schon zwei Anteaserungen. Zunächst in einem der größten zeitgenössischen Skandalgemälde der Sonderausstellung, Annie Stebler-Hopfs "Autopsie", der Zeitgenossen mit seiner krass-naturalistischen Vision der Titeltätigkeit schockierte und im Original tatsächlich extrem beeindruckend ist. Aber nichts im Vergleich zu Rosy Lilienfelds Zeichnung "Ans Bett gefesselt": Eine von Schmerzen gequälte Figur, die mit verbundenen Händen auf einem Bett liegt, während eine scheinbar belebte Uhr mit einer furchterregenden Fratze (die Uhr ist womöglich für die Qual der menschlichen Figur verantwortlich) den Betrachter in die Augen zu schauen scheint.


In der Dauerausstellung hat hingegen Charles-François Daubignys "Le verger" (Obstgarten in der Erntezeit) einen sehr plastischen Eindruck von der Beziehung zwischen Werk und seiner Materialität vermittelt, also etwas, was natürlich auch für das Terza Visione relevant ist, einem Festival, wo alle Filme in analogen 35mm-Kopien laufen (ggf. auch 16mm oder 70mm). Das Motiv haut mich an sich nicht vom Hocker, aber wenn man in einem Museum langsam an der Originalversion dieses Gemäldes vorbeiläuft, ergibt sich ein Eindruck, der mit digitalen Reproduktionen nicht nachstellbar ist: Die Krone des Baums in der Mitte des Bilds scheint sich leicht zu bewegen, als ob die Blätter durch einen leichten Wind in Bewegung gebracht wurden. Die aufgetragene Farbe hat offenbar eine Art Reliefstruktur, die diesen "3D-Effekt" verursacht, weshalb ich wohl bestimmt um die 20 Mal vor dem Bild hin- und her-geschlendert bin.


***


Enzo G. Castellari war der Ehrengast des diesjährigen Terza Visione. Der Regisseur freute sich wohl sehr, nach Frankfurt zu kommen, musste aber leider aus gesundheitlichen seine Anreise absagen. Nichtsdestotrotz schickte er zwei Video-Einführungen zu den programmierten Filmen, in denen er besonders begeistert über technische Kniffe und Einfälle zur Erschaffung verblüffender inszenatorischer Effekte erzählte. In der Geschichte des italienischen Kinos mag Castellari das Rad zwar nicht neu erfunden haben, aber er hat es auf sehr kreative Art und Weise eingesetzt!



18.00 Uhr


QUELLA SPORCA STORIA NEL WEST ("Johnny Hamlet")

Regie: Enzo G. Castellari

Italien 1968

35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Als der Soldat Johnny Hamilton (Andrea Giordana) aus dem amerikanischen Bürgerkrieg zurückkehrt, findet er seinen Vater nach seiner Ermordung begraben wieder, seine Mutter (Françoise Prévost) mit seinem Onkel Claude (Horst Frank) verheiratet – und schwört Rache.



"Johnny Hamlet", diese Italowestern-Adaption von Shakespeares "Hamlet", ist erst einmal ein formalistisches Bravour-Stück in Cinemascope – besonders im Kino und von 35mm.

Der Film quillt über vor tollen visuellen Einfällen, inszenatorischen Kniffen, atemberaubenden Kamerafahrten, außergewöhnlichen Perspektiven und frappierenden Montage-Ideen. Castellaris Kino ist ein Kino des radikal eingeschränkten Bildes: extreme Unschärfen abstrahieren das Bild und stellen die Perspektive auf den Kopf bei Schärfeverlagerungen, Gegenstände behindern die Sicht auf Tableaus, zerteilen das Bild, schaffen visuelle Spannung – ob eine Flasche im Vordergrund, Zaunlatten, oder der Deckel einer geöffneten Schachtel. Jedes Bild ein Ereignis, bei dem die Kamera ihren Blick an Objekten vorbei- oder manchmal gar durch-schlängeln muss.

Möglicherweise war Enzo G. Castellari von Joseph H. Lewis beeinflusst. Lewis hatte den Spitznamen "Wagen Wheel Joe", weil er gerne in seinen Westerns durch Wagenräder hindurch filmte, um interessantere Perspektiven zu erzeugen. Auch Castellari nutzt Wagenräder: vor der Kamera – und sogar um die Kamera herum! In der persönlichen Videobotschaft, die der Regisseur dem Terza schickte, schilderte er, wie er das Gebet des Johnny vor dem Grab seines Vaters gefilmt hat. Im Kino sieht es so aus, dass ein Close-Up auf Andrea Giordanas Gesicht sich zu drehen beginnt. Castellari filmte die Szene, indem er ein Wagenrad aus den Requisiten nutzte, die Kamera zwischen den Speichen klemmte und dann das Wagenrad drehte. Wer den Look des Films jetzt etwas visualisieren möchte, dem empfehle ich die von Sano Cestnik zusammengestellte Screenshot-Sammlung auf Eskalierende Träume. 

Die inszenatorische Dynamik des Films half mir über die eine oder andere dramaturgische Durststrecke, besonders im letzten Drittel, hinweg. Wenn am Ende dann aber Horst Frank, nachdem in seiner Nähe Goldstaub-Säcke zerschossen wurden, über und über mit Glitzer bedeckt und scheinbar wahnsinnig durch den Film torkelt, dann findet QUELLA SPORCA STORIA NEL WEST wieder einen schönen Glanz – wortwörtlich!



21.00 Uhr


IL GRANDE RACKET ("Racket")

Regie: Enzo G. Castellari

Italien 1976

35mm, Originalfassung mit deutschen/französischen Untertiteln

Inspector Nico Palmieri (Fabio Testi) ist eher schroff in seinen Methoden. Um gegen randallierende, vergewaltigende, mordende Gangster vorzugehen, holt er sich notfalls auch Hilfe bei anderen Kriminellen – oder rekrutiert die rachedurstigen Opfer der Gangs.


Fabio Testi als kleiner italienischer Cousin von Dirty Harry, der eine kleine Handvoll von Paul Kerseys im Taschenformat rekrutiert, um mal richtig aufzuräumen mit dem ganzen Abschaum? Klingt gut?

Leider reiht sich der Film doch in die vielen Enttäuschungen ein, die ich persönlich mit dem italienischen Polizeifilm der 1970er Jahre immer wieder habe (das italienische Sub-Genre, mit dem ich am wenigsten etwas anfangen kann). Dramaturgisch zerfahren und gleichzeitig "zu dicht". Eine Erzählweise, die für mich so eine Art "Und dann passiert das, und dann das, und dann das"-Effekt entwickelt, ohne, dass sich für mich alles zu einem Ganzen fügen würde.

Zugleich dampfte IL GRANDE RACKET die Versatzstücke des Vigilanten-Reißers auf funktionale, modular einsetzbare Setzkasten-Klischees ein: widerliche Kriminelle, die sofort wieder freikommen wenn man sie in flagranti verhaftet hat; hartarbeitende tüchtige Geschäftsleute, die dauerhaft drangsaliert und natürlich zu Wutbürgern werden müssen; Vorgesetzte, die ständig was von zu harten Methoden und Gesetzen schwafeln; hier noch unschuldig und traurig dreinblickende Teenagerinnen, die als Kanonenfutter für Vergewaltigungen verballert werden.

Wenn man irgendetwas über reaktionär-faschistoide Tendenzen im Polizeifilm der 1970er Jahre (in Italien oder anderswo) liest, dann wäre IL GRANDE RACKET auf den ersten Blick ein Vorzeigebeispiel. Allerdings kommt mir der Film nicht als "Überzeugungstäter" vor: dafür wirkt er mir zu emotionslos, die Vigilantenfilm-Klischees werden viel zu "funktional" eingesetzt und nicht für politische Agitation: nur da, um die Dynamik des Films am Laufen zu halten. Und das tut er durchaus mit einigem Erfolg, denn Castellaris einfallsreiche Regie und energetische Kameraführung kommt hier immer wieder spektakulär zum Einsatz.

In seiner Video-Einführung zum Film hat Castellari geschildert, wie die Szene gefilmt wird, in der ein Auto um die eigene Achse geschleudert den Hügel herunterrollt, während klar sichtbar Fabio Testi (und nicht ein Double) sich darin befindet. Beim Dreh auf einem brachliegenden Fabrikgelände wurde der Wagen zwischen zwei riesigen Fabrikrädern gespannt und von der Crew – mit Fabio Testi im Innern – händisch zwischen diesen beiden Rädern gewirbelt, um diesen Effekt zu erzeugen (Castellari machte darauf aufmerksam, dass man an einer Stelle für 1/2 Sekunde eine Hand an den Fensterrahmen greifen sieht – im etwas weiter oben verlinkten YouTube-Video bei 2:17/2:18 zu sehen).

Der schönste Regie-Einfall jedoch ist ein Gefängnisausbruch: die Ausbrecher stehen im Innenhof, schauen auf die Gefängnismauer, genauer gesagt auf das Gitter drüber, wo schon ein Loch zu sehen ist. Die Kamera macht sich dann selbständig, schlängelt sich entlang der Bordkante der Gefängnismauer, "klettert" eine Leiter hoch, bewegt sich zur Außenmauer, "steigt" die Außenmauer hinunter, "springt" den letzten Abschnitt herunter und beginnt den Weg entlang der Außenmauer zu "gehen", dann zu "rennen" – Schnitt zu einem der rennenden Geflohenen (mit einem abrupten Wechsel von taghell zu nachtdunkel, um das Verschieben der Zeitebene zu markieren).




Donnerstag, 18. Juli 2024, Tag 2: Von Hunden und Spinnen, Rockern und Muskelmännern



13.30 Uhr


MONDO CANE

Regie: Paolo Cavara, Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi

Italien 1962

35mm, deutsche Fassung

Filmisches Globetrotting durch eine Welt der bizarren Kuriositäten, der schockierenden Abscheulichkeiten, der zivilisatorischen Abgründe, der rohen Gewalt, aber auch der zarten Poesie.



MONDO CANE bildet den eigentlich "idealen" und "soften" Einstieg in die Welt des Mondo-Films von Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi (und Paolo Cavara – mehr zu seiner Involvierung in den Mondo-Film gibt es weiter unten bei L'OCCHIO SELVAGGIO zu lesen): weniger Schocks und weniger moralische Herausforderungen als etwa bei AFRICA ADDIO oder ADDIO ZIO TOM (der in der Karlsruher Edition des Terza Visione 2021 lief).

Das heißt nicht, dass der Film so ganz ohne Schocks verläuft: die eruptiven Blutfontänen bei den Enthauptungen von Ochsen in Singapur (eine Zeremonie zur Ehrung von malayischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg Loyalität zu Großbritannien hielten und von der japanischen Armee durch Enthauptung hingerichtet wurden) dürften für viele Zuschauer ziemlich harter Tobak sein.

Dennoch gibt es neben einigen Abgründen vor allem auch viel Witzig-Kurioses: ein Hundefriedhof, bei dem Herrchen und Frauchen Kränze auf die Grabmale ihrer verstorbenen Hunde niederlegen (während die noch lebenden Hunde, die die Menschen begleiten, auch mal auf die Grabmale pinkeln); die Parade der Rettungsschwimmerinnen an der australischen Küste inklusive einer großen Rettungsaktion, bei der viele junge Männer zu Übungszwecken von den hübschen Damen aus dem Meer herausgetragen und dann durch Beatmung wiederbelebt werden (vielleicht die sonnigste, heiterste Szene im ganzen Film – wenn ich mich richtig erinnere, der erste Moment, in dem Riz Ortolanis herzzerreissend schöne Titelmelodie gespielt wird, hier erst einmal in einer flotten Marschmusik-Variation); die Kunst-Performance von Yves Klein, bei der sich Helferinnen in blauer Farbe einreiben und sich anschließend selbst gegen eine weiße Leinwand reiben (letzteres ein halluzinierender Moment – Yves Klein selbst erlitt wohl nach der Projektion von MONDO CANE in Cannes einen Herzinfarkt, und starb nicht einmal einen Monat später). In der Sequenz mit dem Schicki-Micki-Insekten-Restaurant hingegen scheint das italienische Regie-Trio Buñuel und Konsorten in Sachen Surrealismus zu schlagen: piekfein in Abendgarderobe angezogene Leute, die genüsslich Doseninsekten verspeisen – mit dem Aufgabeln klappt es nicht immer so ganz glatt und da wird so ein Insekt auch mal weggeschleudert.

Riz Ortolani dürfte der vielleicht größte Disneyfilm-Musikkomponist sein, der niemals für Disney arbeitete (die Titelmelodie von MONDO CANE ist passenderweise/unpassenderweise in einer Kompilation "Films in Love 2" erschienen, unter anderem zusammen mit "Don't Cry for Me Argentina" aus EVITA). MONDO CANE hat passenderweise, wenn man so möchte, auch seinen "Disney-Tierdoku"-Melodrama-Moment oder zumindest eine interessant pervertierte Form davon. Die Bikini-Atoll-Sequenz dürfte der längste Moment ohne Menschen im Film sein, auch wenn Menscheneinfluss zentral ist: ein Portrait der Insel-Fauna, die durch die Nuklear-Strahlung der Atombombenversuche mutiert ist, darunter Schildkröten, die ihren Orientierungssinn verloren haben, den Weg zum Meer nicht mehr finden und am Strand verenden – ihre Skelette säumen den Strand wie makabre Kunstwerke. Eine morbide und doch auch poetische Episode.

Am verblüffendsten war die Episode mit den Besäufnissen in Hamburger Absturzkneipen. Was leicht grotesk anfängt, mit dem Voice-Over, der wie die meiste Zeit im Film das Ganze ironisch kommentiert und einer Variation des Titelthemas, die als teutonischer Chor vorgetragen wird, entwickelt sich nach und nach zu etwas anderem: der Voice-Over verstummt, die Musik senkt ihren Ton zu einer auf Celesta (?) gespielten Titelvariation, der Blick der Kamera scheint weicher zu werden. Aus einer grotesken Lachnummer wird eine poetische Mini-Studie voller Zärtlichkeit über Absturzkneipen-Kultur und deren Protagonisten, fast eine Vorwegnahme von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN.



16.00 Uhr


LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA ("Rocker sterben nicht so leicht", wörtlich: "Der lange, kalte Strand")

Regie: Ernesto Gastaldi

Italien/USA 1971

35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln

Ein gutbürgerliches Ehepaar möchte ein Wochenende in einem Strandhäuschen verbringen. Die offenbar routinierte Langeweile mit deutlichen Anzeichen von Überdruss im Leben der Eheleute wird gestört, als eine Rockerbande unter der Führung des charismatischen Fred (Robert Hoffmann) sie überfällt.


LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA, eine der wenigen Regiearbeiten des großen italienischen Drehbuchautors Ernesto Gastaldi (ohne den ein Teil der italienischen Giallo-, Horrorfilm-, Polizeifilm- und Western-Kinogeschichte undenkbar wäre), ist ein ungeschliffenes, rohes Stück Exploitationkino, das thematisch und atmosphärisch Peckinpahs STRAW DOGS vorwegnimmt (und tatsächlich ein halbes Jahr vorher Premiere hatte).

Es ist ein sichtlich kostengünstiger Film mit nur einer Location und sechs Darstellern, der dennoch mit seiner größtenteils exzellenten Kameraführung und seinem atmosphärischen Gespür für sein Setting – ein verlorener Strand – das Maximale rausholt. Mit nur wenigen groben Strichen etabliert er rasch eine Situation, die von Beklemmung, Unwohlsein, Misstrauen, Paranoia und existentieller Unsicherheit geprägt ist. Trotz seiner harten, hässlichen Geschichte sieht LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA teils anbetungswürdig schön aus: viele Panoramen von einzelnen Figuren, die vereinsamt am Rand des Wassers vor einer untergehenden, strahlend-leuchtenden Sonne stehen, von Stelvio Ciprianis exzellentem Score begleitet.

Einige Schwächen muss man dann aber doch in Kauf nehmen. Mara Maryl in der Hauptrolle ist offensichtlich nicht wegen ihres Talents gecastet worden, sondern weil sie Gastaldis Ehefrau war: ihre Ausdruckslosigkeit ist dann doch etwas problematisch, wenn sie die eigentlich zentrale Figur des Films spielt. Gastaldi der Regisseur scheint außerdem Gastaldi den Autoren nicht ganz im Griff gehabt zu haben: "sensible Rocker" wurde zu einem geflügelten Begriff bei diesem Terza, weil die vergewaltigenden, brutalen Rocker in sehr, sehr, sehr ausgedehnten Monologen und sehr, sehr, sehr zähen Dialogen ihren "Gefühlen" freien Lauf ließen. Was sie über die "conditio humana", die Leerheit des Lebens, das Zerbrechen von Idealen etc. sagen, klingt leider furchtbar drehbuchraschelnd, als wäre der Subtext des Films (ja, es ist ein 1968er-Kater-Film) in Text umgewandelt worden. Insofern haben wir es bei LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA nicht ganz mit einem "vergessenen" Meisterwerk zu tun – aber muss ja auch nicht, sehenswert und interessant ist er allemal!



20.00 Uhr


LE 7 FATICHE DI ALI BABÀ ("Die Rache des Ali Baba", wörtlich: "Die sieben Taten des Ali Baba")

Regie: Emimmo Salvi

Italien 1962

35mm, deutsche Fassung

Ali Baba hat zwar nicht wirklich sieben Aufgaben zu erledigen, und ist auch nicht rachsüchtig unterwegs: vielmehr soll er eine heilige Krone in eine Stadt bringen – und kämpft gegen einen Tyrannen, der sein Volk unterdrückt.


Gepflegte Langeweile. Das ist nicht abwertend, sondern als Prädikat gemeint, das erst einmal erreicht werden muss. LE 7 FATICHE DI ALI BABÀ ist ein schöner kleiner eskapistischer Abenteuerfilm mit Muskelmännern, schönen Frauen, exotisch-farbenprächtigen Kostümen und hübschen Sets. Das Drehbuch ist eigentlich kein mehrbändiges Werk für Raketenwissenschaftler, aber nach etwa 20 Minuten habe ich hoffnungslos aufgegeben zu verfolgen, welche Objekte von wo nach wo von wem und wie und zu welchem Zweck gebracht werden müssen, weil das irgendwie gefühlt umständlich erzählt war. Macht nichts... dann bewegen sich die Muskelmänner und schönen Frauen eben, reden zwischendurch (zugegeben: manchmal etwas zu viel) und keilen sich ab und zu. Ein Film, der entspannt vor sich hinplätschert.

Ab und zu gibt es doch kleine Höhepunkte, die einen aus dem allzu seichten Dahinplätschern aufrütteln. Gleich zweimal soll Ali Baba zusammen mit zwei seiner Kumpanen hingerichtet werden. Einmal müssen Sklaven an einer Drehvorrichtung stemmen, die ein Gerüst hochdreht, an dem die zwei Kumpanen langsam zwecks Erhängung hochgezogen werden, während auf Ali Baba Dolche niedergedrückt werden – aber Ali Baba stemmt seine Beine gegen das Gerüst und stoppt den Fortgang der Hinrichtungsmaschine. Und einmal werden die drei – viel einfacher – an ein Pferdegeschirr gehängt: Pferde sollen sie in eine Feuergrube ziehen, aber Ali Baba ist stärker! Bei beiden Versuchen haben die Böswatze offenbar nur 60 Trommelschläge Zeit, die ein Trommler rhythmisch schlägt: nach dem 60. Schlag wird alles fallen- und liegen gelassen und die Hinrichtung verschoben. Ordnung muss sein!

Das macht schon Spaß, aber der Höhepunkt ist dann doch die Musical-Nummer: eine Tänzerin im durchsichtigen Oberteil (funkelnde Edelsteine über den Brustwarzen!) wird von männlichen Tänzern, die in engen purpurfarbenen und sehr stark genitalbetonten Strumpfhosen gekleidet sind, aus einer Falltür gehoben, dann tanzen sie alle in einer sehr ausgeklügelten Choreografie, begleitet von einer – im Vergleich zum restlichen Film – sehr dynamischen Kamera, die auch mal das Ganze von oben herab in spektakulären Ansichten filmt.

An einer anderen Stelle – zufällig direkt nach einem Rollenwechsel – beginnt ein Tänzer als eine Art "Vorredner" eine Hinrichtungszeremonie (ja, es werden viele Hinrichtungen in diesem Film geplant – aber kaum eine glückt!) einzuführen in Form eines wortlosen, fast abstrakten Ausdruckstanzes und schaut, während die Kamera ihn begleitet, die vierte Wand quasi brechend, die ganze Zeit intensiv in den Kinosaal hinein. Ein absolut faszinierender, hypnotischer Moment.



22.30 Uhr


IL NIDO DEL RAGNO ("The Spider Labyrinth", wörtlich: "Das Netz der Spinne")

Regie: Gianfranco Giagni

Italien/Ungarn 1988

35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln

Der junge US-amerikanische Professor Alan Whitmore (Roland Wybenga) reist im Auftrag einer internationalen Forschungsgemeinschaft nach Budapest, um dort zu untersuchen, warum der renommierte Religionshistoriker Roth keine Nachrichten mehr von sich gibt. Whitmore findet Roth zutiefst verstört und paranoid wieder. Wenig später wird Roth unter mysteriösen Umständen ermordet und Whitmore versucht mit Roths Assistentin Genevieve Weiss (Paola Rinaldi) den Fall zu lösen und der möglicherweise dahinter steckenden Sekte auf die Spur zu kommen.


Oben: Professor Whitmore untersucht an der Donau den Verbleib des renommierten Forschers Roth; dessen verstörend verführerische Assistentin Genevieve Weiss unterstützt ihn dabei
Unten: Vieles und viele scheinen sich aber gegen Whitmore zu verschwören, darunter die Chefin seines Hotels; bringt ein Aufenthalt in einem der renommierten Budapester Thermalbäder Klarheit im Kopf?

Ein Slow-Burner, der etwas Zeit zum Entflammen brauchte, aber nach der Entzündung nicht mehr zu löschen war!

Nach einem kurzen Prolog, der einen Tierhorrorfilm mit Spinnen andeutet, fühlt sich IL NIDO DEL RAGNO in der ersten Hälfte vor allem wie ein mit altbekannten Zutaten des Kalten Kriegs gewürzter Paranoia-Thriller an: ein Amerikaner im realsozialistischen Mitteleuropa (Budapest Ende der 1980er Jahre), einem unbekannten, leicht bedrohlichen Ort, an dem er das Gefühl hat, von unbekannten, okkulten Mächten beschattet und bedroht zu werden. Ein Uneingeweihter an einem Ort, an dem mysteriöse, brutale Morde geschehen und alle um ihn herum (darunter eine Hotelgeschäftsführerin, denkwürdig von Stéphane Audran gespielt!) scheinen "irgendetwas" zu wissen. Das gothisch-bedrohliche Setting des Films wurde übrigens an Originalschauplätzen, also tatsächlich in Budapest eingefangen (eine Szene spielt dann auch in einem der berühmten Budapester Thermalbäder: meine oberflächliche Recherche ergibt, dass es sich vielleicht um das im 16. Jahrhundert entstandene Rudas-Bad handeln könnte – in diesem Fall wäre es das gleiche Bad, in dem zur etwa gleichen Zeit die denkwürdige Eingangssequenz von RED HEAT gedreht wurde, für dessen "Moskau" die ungarische Hauptstadt als Stand-In diente).

(Eine mögliche Assoziation im Rahmen des italienischen Genrekinos ist Aldo Lados LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO aka MALASTRANA: auch ein Film mit einer paranoiden, beklemmenden, kafkaesken Atmosphäre, ein Giallo der über weite Strecken nicht wie ein handelsüblicher Giallo wirkt – so wie IL NIDO DEL RAGNO sich über weite Strecken nicht wie ein handelsüblicher Horrorfilm anfühlt –, beide Filme in realsozialistischen, mitteleuropäischen Metropolen mit starkem Habsburgischem Touch angesiedelt und auch gefilmt)

Mit einfachen, sehr präzisen Mitteln baut der Film Spannung auf: ein Diner in einem Hotel-Restaurant entwickelt sich nach und nach von habsburgisch anmutender barocker Gemütlichkeit zu einem paranoiden Panorama, mit Gästen, die den Protagonisten scheinbar spionierend anschauen und dann Stück für Stück den Saal verlassen – bis nur noch bedrohliche Leere übrig bleibt.

Ein Glanzstück ist Alans Versuch, ein naheliegendes, mysteriöses Antiquariat zu finden: "zwei Mal nach links, dann ein bisschen geradeaus" – so ungefähr der Richtungshinweis, den er erhält. Daraus wird eine kleine, bedrohliche Odyssee durch die gespenstisch entvölkerten Straßen der Budapester Altstadt, schöne Postkartenmotive, die durch ihre Menschenleere extrem beunruhigend wirken, immer beunruhigender werden, während Alan mit seinem Wagen, dann zu Fuß sich verirrt, sich scheinbar im Kreis dreht, während Wolken aufziehen und ein kräftiger Wind Blätter durch die Straßenschluchten weht.

Über weite Strecken ist IL NIDO DEL RAGNO vor allem ein extrem dichtes Atmosphärenstück, ein Film, der von seiner Stimmung unbestimmter, undefinierbarer Gefahr lebt. Nur eine schwarze Kugel, die durch Fenster fliegt, kündigt unheilvoll äußerst brutale Morde an – der zweite Mord, eine Verfolgungsjagd durch ein Labyrinth mannshoher weißer Laken, erinnert in seiner stilisierten Todeschoreografie und seinem heftigen Höhepunkt an ähnliche Szenen bei Dario Argento. Für lange Zeit ist dies nur eine kurze Gewaltspitze in einem verblüffend zurückhaltenden Film, dem im Showdown dann allerdings sämtliche Sicherungen durchbrennen und der in seiner sehr expliziten, grotesken und sehr effizienten Grausamkeit bei mir (und wohl auch bei anderen Terzianern, die sich assoziativ an die Spezialeffekte von THE THING erinnert fühlten) für einen Schock gesorgt hat, wie ich ihn schon lange nicht mehr so intensiv im Angesicht eines Films im Kino erlebt habe.

Ein überraschender Höhepunkt dieses Terza Visione – im Angesicht der eher unbekannten Beteiligten wohl die große (Wieder)entdeckung.




Freitag, 19. Juli 2024, Tag 3: Das wilde Auge und Klaus Kinski reisen durch die Welt und Jessica Moore spaziert durch New Orleans



12.30 Uhr


L'OCCHIO SELVAGGIO ("Das wilde Auge")

Regie: Paolo Cavara

Italien 1967

35mm, deutsche Fassung

Der Regisseur Paolo (Philippe Leroy) möchte die Realität filmen – eine besonders spektakuläre, wenn nötig mit unlauteren und unmoralischen Mitteln erzeugte Version davon. Seine totale Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner Umwelt (und sich selbst) bringt ihn immer mehr in Konflikt mit seiner Geliebten (Delia Boccardo) und seinem Kameramann (Gabriele Tinti).



L'OCCHIO SELVAGGIO wurde bei diesem Festival dankenswerterweise als zweiter Teil eines Mondofilm-Nebenschwerpunkts programmiert: Paolo Cavara, Co-Regisseur von MONDO CANE, zerstritt sich im Laufe der Arbeit an AFRICA ADDIO mit seinen Co-Regisseuren Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi. L'OCCHIO SELVAGGIO entstand kurz darauf als eine kritische Auseinandersetzung mit den moralisch dubiosen Methoden des Mondo-Filmemachens – oder doch als persönliche, rachsüchtige Abrechnung mit Gualtiero Jacopetti?

Die Hauptfigur "Paolo" zu nennen scheint tatsächlich das einzige Element der "Selbstkritik" in einem Film zu sein, der vor allem ein überzeichnetes Monster portraitiert, der nicht zögert, seine Mitmenschen auflaufen zu lassen, sie in Lebensgefahr zu bringen (oder falls möglich sogar ihren gewaltsamen Tod live zu filmen) – dabei aber in einer Art suizidalen Trieb auch sich selbst nicht schont. Ein Co-Zuschauer wies nach der Vorführung darauf hin, dass der Film unabhängig vom Thema Mondofilm vor allem als Portrait eines Obsessiven und Getriebenen sehr interessant sei, als Darstellung eines Mannes, der offenbar von inneren Dämonen zerfressen wird und zu massiv zerstörerischen und selbstzerstörerischen Neigungen getrieben wird. Dass man dabei eigentlich "nur" seine Versuche sieht, einen Film zu drehen und die inneren Dämonen niemals richtig erklärt würden, sei die große Stärke von L'OCCHIO SELVAGGIO.

Interessant ist der Film aus meiner Sicht auch als Film über das Filmemachen im Allgemeinen und besonders über das Filmemachen außerhalb der gängigen Filmindustrie-Standards im Speziellen. Bei aller beabsichtigten Verleumdung von Jacopetti bewahrt sich L'OCCHIO SELVAGGIO doch auch eine gewisse Naivität und Begeisterung für das Filmemachen: Abrechnung und Hommage vermischen sich teilweise – ein recht interessanter Effekt. Da ist ein tiefer Glaube daran, dass man zum Filmemachen nicht mal das sprichwörtliche Mädchen und die Pistole braucht, sondern nur ein Wille und eine Kamera! "Das Mädchen" gibt es in L'OCCHIO SELVAGGIO aber trotzdem: der Aufwand, den der Film betreibt, um Paolos "neue" Liebschaft einzuführen und der Subplot um ihre Eroberung waren für mich etwas verschenkte Mühe, und die Beziehung zwischen Paolo und Barbara hat mich ehrlich gesagt furchtbar gelangweilt. 

Der Film scheitert aus meiner Sicht dann auch daran, das Phänomen Mondo mit filmischen Mitteln wirklich zu erfassen: der Mondo-Film hat keine klassische Erzählung, keine klassische Dramaturgie, entfaltet sich nur als Strudel audiovisueller Eindrücke – eigentlich eine wahnsinnige Art des Filmemachens, die einen wahnsinnigen Film bräuchte. CANNIBAL HOLOCAUST kommt diesem Erfassen wohl wesentlich näher als der letztendlich sehr konventionelle L'OCCHIO SELVAGGIO.

Eine kleine Tour de Force ist allerdings der Showdown des Films, bei dem Paolo das Filmen eines Bazooka-Anschlags auf einen Nachtclub in Süd-Vietnam vorbereitet: also das "Set" prüft, die Position der Kamera bestimmt, die Lichter vorbereitet und testet (zum Unmut der angetrunkenen Gäste, denen plötzlich ein Set-Spot ins Gesicht scheint) in dem Wissen, dass gleich alles in die Luft fliegt, während die Gäste um ihn herum weiterhin unbekümmert feiern. Die Explosion kommt, aber es kommt auch anders: sicher ist nur, dass die Kamera weiter laufen muss.



16.00 Uhr


AD OGNI COSTO ("Top Job", wörtlich: "Um jeden Preis")

Regie: Giuliano Montaldo

Italien/Spanien/BRD 1967

35mm, deutsche Fassung

Ein Englischlehrer aus Rio de Janeiro (Edward G. Robinson) geht in Rente – und gleich am Ende seines letzten Arbeitstags fliegt er nach New York, um mit einem alten Schulkameraden und Mafiaboss (Adolfo Celi) einen spektakulären Raubüberfall auf eine Bank gegenüber seinem langjährigen Arbeitsplatz zu planen. Der Mafiaboss stellt vier Spezialisten zur Verfügung: einen Armeemann (Klaus Kinski), einen Safe-Knacker (George Rigaud), einen Spezialisten für Alarmsysteme (Riccardo Cucciolla) und einen Playboy (Robert Hoffmann) – letzterer soll die Direktionsassistentin der Bank (Janet Leigh) verführen, die im Besitz des Tresorschlüssels ist.



Ein Heist in Rio de Janeiro zu Beginn des Karnevals, Edward G. Robinson und Klaus Kinski und Adolfo Celi und Janet Leigh – was kann da schon schief gehen? Beim Heist selbst und danach natürlich vieles, denn das gehört so zum Genre dazu. Beim Film AD OGNI COSTO: nicht ganz so viel. Ja, es ist etwas schade, dass Robinson und Celi nach dem Prolog im Prinzip aus dem Film verschwinden. Auch der Subplot um die Verführung der Direktionsassistentin durch den extra dafür angeheuerten "Playboy" im Heist-Team ist eher wenig gelungen, um nicht zu sagen schwer verdaulich (Interessant: es ist der gleiche Schauspieler, Robert Hoffmann, der auch den Führer der vergewaltigenden Rocker in LA LUNGA SPIAGGIA FREDDA spielte – auf eine gewisse Weise strahlt er hier aber wesentlich mehr Creepiness und Rapeyness aus. Bezüglich des Subplots: wer genau hinschaut, wird bemerken, dass die Augen von Janet Leighs Figur an einer Stelle des Films ein wichtiges Detail offenbar bewußt aufschnappen – ein sehr irritierendes Detail, das dem aufmerksamen Zuschauer im Gedächtnis bleiben MUSS und das die aus heutiger Sicht sehr unangenehme Oberfläche des Verführungs-Subplots sehr schön "bricht").

Aber ansonsten ist AD OGNI COSTO genau der tolle, leichtfüßige, schön aussehende, mitreissend und spannend inszenierte Heist-Film, den man bei der Anteaserung so erwarten würde. Klaus Kinski als der Armeemann für das Grobe und das Logistische darf nicht nur das schönste und bunteste Kurzarmhemd tragen, sondern auch am grimmigsten reinschauen – zwischendurch gibt es auch einen schönen, knüppelharten Ausraster gegenüber dem Playboy. Die "Intention" war ursprünglich sicherlich, dass die Sympathien der Zuschauer beim Playboy liegen, es eine dramatische Situation sein soll – für mich und wohl auch andere Terzianer war es umgekehrt, und daher eine für die Seele sehr wohltuende Szene (schön, dass eine solche Szene in beide Richtungen "funktioniert"). Auch das Zusammenspiel zwischen George Rigaud als Safe-Knacker und Riccardo Cucciolla als Ingenieur und Spezialist für Alarmsysteme, zwei Professionals, die komplett in ihrem (top) Job aufgehen, ist großartig.

Sie bildet auch die Basis für die atemberaubende, zentrale Heist-Sequenz, der Höhepunkt des Films, zum Niederknien dicht und spannend inszeniert. Ein polizeilich streng überwachter Karnevalsumzug durch die Straßen von Rio als Kulisse kommt auch erzählerisch und visuell sehr kreativ zum Einsatz und die "Lösung" des Safe- und Alarmsysteme-Knacker-Duos für die eigentlich unüberwindliche Alarmanlage ist einfach nur großartig. Der Film spielt auf der Klaviatur der Spannung mit begnadetem Talent und mit der gleichen Präzision der Einbrecher. Eine Bedrohungssituation im Tresorraum wurde geschickt etabliert, verschärft, bis zur totalen Unaushaltbarkeit eskaliert: die sprichwörtliche fallende Stecknadel wäre im fast 100 Leute umfassenden Kinosaal des Frankfurter Filmmuseum zu hören gewesen, viele mussten sich wohl zurückhalten, um nicht vor Anspannung zu kreischen, die Luft wurde angehalten – als sich die Situation auflöste, ging ein raunender kollektiver Seufzer der Erleichterung durch das Publikum. Eine der spektakulärsten, genuin "kino'igen" Kino-Momente des Jahres!



20.00 Uhr


LA MASCHERA DEL DEMONIO ("Die Stunde, wenn Dracula kommt", wörtlich: "Die Maske des Dämon")

Regie: Mario Bava

Italien 1960

35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Nach jahrhundertelanger Ruhe in einer Gruft wird eine brutal hingerichtete Hexe durch die Ungeschicklichkeit zweier Forschungsreisender wieder zum Leben erweckt.


Auch bei der Zweitsichtung: absolut nicht mein Film. Um nicht zu sagen, dass ich mich größtenteils knüppelhart gelangweilt habe. Ich könnte nicht wirklich erklären, warum ähnlich inszenierte Bava-Filme bei mir besser funktionieren und dieser überhaupt nicht.

Gezeigt wurde jedenfalls eine Fassung, in der mehrere aus der Erstaufführungs-Fassung herausgeschnittene Szenen wieder eingefügt worden waren. Wie Andreas in seiner Einführung sagte: bei mindestens einer Szene wäre es vielleicht ohne Re-Insert besser gewesen. Möglicherweise geht es darum: während einer dunklen, nächtlich-nebeligen Spannungsszene in einem morastigen Wald wird urplötzlich eine Rückblende gezeigt, die in einem Schlossgarten bei Tageslicht spielt und bei der zwei Figuren, die in der unterbrochenen Spannungsszene überhaupt nicht vorkommen, einen recht zähen Expositionsdialog durchsprechen. Falls ja: das war in der Tat kein besonders kluges Editing bei der Post-Erstaufführungs-Fassung.

Aber wie gesagt: ich könnte nicht behaupten, dass dies die Ursache dafür ist, dass LA MASCHERA DEL DEMONIO mich so furchtbar gelangweilt hat.



22.30 Uhr


TOP MODEL

Regie: Joe D'Amato

Italien 1988

35mm, Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Sarah (Jessica Moore) schreibt ein Buch über Prostitution und sammelt ihr Quellenmaterial, indem sie selbst als "Top Model" unter dem Namen Gloria arbeitet. Ihr Doppelleben gefällt ihr, gerät aber ins Schwanken, als sie dem schnuckeligen, bi-neugierigen IT-Speziaisten Cliff (James Sutterfield) begegnet (der die Terminplanungssoftware der Escort-Agentur updaten soll!) und sogar in Gefahr, als ein Kunde ihre Doppelidentität entdeckt und sie zu erpressen beginnt.


Sarah aka Gloria spaziert durch New Orleans: in der Geburtsstadt des Jazz steht natürlich auch mal ein Saxofonspieler an der Straßenecke und spielt ein Ständchen

Nachdem beim letzten Terza bereits ein (thematisch ganz anders gelagerter) Film von Joe D'Amato auf meiner persönlichen Platz 1 landete (wenn auch geteilt mit einem zweiten Film) war es nicht unwahrscheinlich, dass TOP MODEL zu den denkwürdigsten Filmen dieses Terza zählen würde. Am Ende wurde er die unerreichbare Nummer 1 dieser Terza-Edition. Cinekstase pur. Ein totaler audiovisueller Rausch.

Getragen von einer fantastischen Hauptdarstellerin, die nicht nur in sämtlichen Graden der Bekleidung (bekleidet, wenig bekleidet, gar nicht bekleidet) sehr ansehnlich aussieht, sondern auch mit einem kraftvollen, mitreissenden Charisma gesegnet ist. Erzählt mit einem luftigen Hauch von Nichts, von Abhängen, von Spazieratmosphäre – no clothes, no plot, just mood... und auch wenn es etwas dramatischer wird (der Subplot mit dem Erpresser) ist es noch lange kein Hindernis, um danach gleich wieder entspannt runterzukommen und auch mal durch New Orleans zu spazieren und zu flanieren. Verführerisch fotografiert mit der wieder einmal fantastischen Kameraführung von "Fred Sloniscko Jr." aka Aristide Massaccesi aka Joe D'Amato höchstpersönlich, der Bilder mit einer außerweltlichen Aura erschafft. Gewürzt mit unzähligen tollen, unfassbaren, wilden Ideen: eine Sexszene in einem Lagerraum für Mardi-Gras-Umzugswagen, die wild zwischen der "Action" und den Figuren (u. a. ein grinsender Weihnachtsmann) hin- und herschneidet; natürlich das nackte Posieren zwischen den ganzen Schaufensterpuppen am Anfang des Films; der unfassbare, geil-langweilige Vierer mit den zwei "Cowboys" aus Texas; die energische Massage-Session mit dem schwarzen Bodybuilder.

Großes Kino ist auch die Magie, Vorgänge, die uns in der Realität trivial, langweilig, gar dubios oder total eklig erscheinen würden, als epiphanische, ekstatische Vision erscheinen zu lassen – zumindest für echte Liebhaber, die sich mitreissen lassen wollen. Eigentlich nicht ganz unähnlich zu Sex: da werden Sachen gemacht, die man in einem anderen Kontext komplett widerlich finden würde. Der Gedanke, halbgare Garnelen an Brustbereich oder gar Genitalbereich rumzurubbeln, ist erst mal nicht so sexy: im Rahmen eines Films, im Rahmen dieses Films und im Rahmen eines Moments, der quasi die zärtliche "Entjungferung" Cliffs bedeutet, ist das the most sexy thing in the whole world.

James Sutterfield aka Cliff sieht übrigens irgendwie aus wie der etwas weniger melancholische, aber wesentlich schüchternere amerikanische Cousin von Jean-Claude Van Damme. Was mich zum Gedanken bringt, dass ein Erotikfilm von Joe D'Amato mit Jean-Claude Van Damme auch eine interessante Sache gewesen wäre (und wahrscheinlich eine sehr spannende Rollenspektrumserweiterung für den Belgier hätte bedeuten können).




Samstag, 20. Juli 2024, Tag 4: Zwischen Selbstjustiz und Großstadt-Odysseen



13.30 Uhr


NON C'È PACE TRA GLI ULIVI ("Es gibt keinen Frieden unter den Oliven")

Regie: Giuseppe de Santis

Italien 1950

35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln

Der Kriegsveteran und -gefangene Francesco Dominici (Raf Vallone) kehrt nach dem Zweiten Weltkrieg in Heimatdorf in der Ciociara zurück. Dort hat sich der Kriegsgewinnler Agostino Bonfiglio (Folco Lulli) nicht nur seine ganze Schafsherde unter den Nagel gerissen, sondern auch seine Verlobte Lucia (Lucia Bosè). Als Francesco seine Schafe zurücknimmt, vergewaltigt Agostino dessen Schwester und bringt ihn auch noch mittels erpresster Falschaussagen ins Gefängnis. Nach einem Ausbruch schwört Francesco Rache.


Verfremdungseffekte sind manchmal schon des Teufels! Ich hatte große Mühe, mich auf NON C'È PACE TRA GLI ULIVI einzulassen, denn es hat sich bestätigt, dass ich Raf Vallone offenbar einfach auf den Tod nicht ausstehen kann. Es ist ein reines Bauchgefühl, mit Ratio nicht zu erklären, aber er ist mir in seiner ganzen Erscheinung und seiner ganzen Art (hier auch noch unterstrichen durch die "ultra-männliche" Zeichnung seiner Figur) zutiefst unsympathisch: keine gute Voraussetzung, wenn man mit der Helden-Figur, die er verkörpert, mitfiebern soll. In einem Paralleluniversum hätte Vallone hier den Antagonisten gespielt (oh, wie sehr hätte ich es geliebt, ihn zu hassen!), während der wunderbare Folco Lulli den Helden gespielt hätte.

Ich musste mich also mit anderen Dingen begnügen. Wie gesagt: Folco Lulli ist natürlich eine absolute Wucht, in seiner massigen Körperlichkeit und mit seinem wie aus Felsen gehauenen Gesicht eine absolut beeindruckende Präsenz und natürlich ein toller Bösewicht (ich kenne ihn als ambivalenten, rachesüchtigen Witwer in André Cayattes großartigem Wüste-Rachethriller ŒIL POUR ŒIL). Lucia Bosè ist hier 19-jährig in ihrer ersten Rolle in einem abendfüllenden Spielfilm nicht nur eine Schönheit, sondern auch schon eine starke Darstellerin.

Sie bzw. ihre Figur stößt auch die unfassbarste Szene des Films an: damit Francesco von einer Polizeitruppe ungesehen eine Landstraße überqueren kann, beginnt sie im titelgebenden Olivenhain zur Ablenkung einen lasziven Tanz, zeigt dabei einiges von ihren Beinen und steckt sämtliche anwesenden Bäuerinnen, ob jung oder alt, mit dem Tanzfieber an, sodass für einige Zeit unter den Oliven wenn nicht Frieden, so doch ausgelassener Tanz stattfindet. Das Sahnehäubchen: der "Dorf-Trottel", der da offenbar auch abhängt, wird ebenso von der Tanzeslust ergriffen, tanzt besonders expressiv und schneidet dabei die wildesten Grimassen. Das passiert nicht als "Comic-Relief", sondern wirkt in diesem Moment sehr emotional ergreifend und poetisch.

Einen Comic-Relief gibt es trotzdem: ein Co-Insasse von Francesco, der mit ihm flieht und der trotz seiner holzschnittartigen Konzeptionierung durch die charismatische Darstellung (ich kann leider den Namen des Schauspielers nicht identifizieren) mein Herz erobert hat. Ein Neapolitaner, der immer kurz vor Ostern ausbricht, um bei seiner Familie zu feiern, der anhand seiner Erfahrung mit Strafverurteilungen immer vorab berechnet, wie viel er für welche Arten von Diebstählen aufgebrummt bekommen wird und der überhaupt ein lustiger Geselle ist.

Filmgeschichtlich ist NON C'È PACE TRA GLI ULIVI eigentlich ein "neorealistisches Bauerndrama". Alternativ könnte man auch sagen: ein Ciociara-Western (so Christoph bei seiner schönen Einführung), ein Heimatfilm-Melodrama oder vielleicht auch ein Selbstjustiz-Thriller.

Das Thema Selbstjustiz verbindet dann tatsächlich auch IL GRANDE RACKET, NON C'È PACE TRA GLI ULIVI und CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA (zu letzterem weiter unten mehr). Nico Palmieri und Francesco Dominici sind sich in vielerlei Hinsicht nicht unähnlich, agieren zumindest in ähnlich skizzierten Welten (wenngleich politisch einmal eher von rechts, einmal eher von links): Die Ineffizienz des Polizei- und Justizsystems wird in beiden Filmen mit groben Strichen veranschaulicht – der rechtschaffene "kleine" Mann wird bestraft wenn er sich wehrt, während die Kriminellen sich ins Fäustchen lachen. Ganz so hemmungslos haut De Santis aber nicht auf die Kacke wie später Castellari: hier ist der Gesellschaftsvertrag noch intakt und die Rache wird in akzeptable Bahnen gelenkt.



16.00 Uhr


Komödien von Lucio Fulci sind beim Terza Visione keine Unbekanntheit mehr. Auch das Komiker-Duo Franco und Ciccio sind den Terzianern bekannt (durch ihren kurzen Auftritt in Fulcis LE MASSAGGIATRICI). Doch jetzt ging es in die Vollen: ein kompletter Film mit den beiden in der Hauptrolle!

Nach der schönen Einführung des Franco-und-Ciccio-Spezialisten Giacomo Di Nicolò gab es eine Überraschungs-Videoeinführung: die Söhne von Franco Franchi und Ciccio Ingrassia sendeten eine kleine Grußbotschaft und bedankten sich herzlich für die Ehrung an ihre Väter, die die Projektion von IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO im Frankfurter Filmmuseum darstellte. 


IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO ("Der Lange, der Kurze, die Katze")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1967

35mm, Originalfassung mit englischen Untertiteln

Franco und Ciccio heuern bei einer reichen, exzentrischen Adeligen an. Deren größte Extravaganz: besondere Pflege soll eine Katze erhalten, die sie für die Reinkarnation ihres verstorbenen Ehemanns hält. Die "Spaziergänge" mit der Katze sind für Franco und Ciccio eher strapazierend und daher befördern sie das Tier nur zu gerne mit einem großen Tritt aus der Villa, als die Adelige stirbt. Zu blöd, dass die Verstorbene den beiden tollpatschigen Dienern eine saftige monatliche Rente vermacht hat unter der Bedingung, dass sie sich weiter um die Katze kümmern. Für die beiden beginnt eine Suche nach dem verlorenen Haustier durch ganz Rom.



Franco und Ciccio sind grundsätzlich eine Geschmacksache. Ich persönlich liebe sie! Die eskalierende Gesichtsakrobatik Francos, dazu der (relativ) "geerdete" Gegenpol Ciccios – einfach herrlich! Wenn ein Großmeister der Komödie auf dem Gipfel seiner humoristischen Inszenierungskunst wie Lucio Fulci 1967 die beiden dirigiert, kommt eine Perle des anarchischen Slapstickkinos wie IL LUNGO, IL CORTO, IL GATTO raus.

Der Film hat in seinem Aufbau durchaus etwas von einer Sketch-Revue und Franco und Ciccio stehen beständig im Mittelpunkt. Wer die beiden Komiker liebt, wird hier königlich bedient. Wer sie nicht liebt, wird trotzdem vom größten Set-Piece des Films weggefegt werden (so wie einige bekennende Franco-und-Ciccio-Skeptiker – oder seien wir deutlicher: -Hasser! – danach auch bestätigten): die etwa 15-minütige Diner-Sequenz in der Villa einer Adeligen, die (auch) abergläubisch ist und deshalb vermeiden möchte, dass 13 Leute an ihrer Tafel sitzen. Ihr Ehemann lässt daher die zwei komischen Käuze, die nach einer entflohenen Katze suchen, nur zu gerne rein, um einen von ihnen suchen zu lassen und den anderen an den Tisch (als 14. Person) zu setzen: ein absolut kolossaler Fehler für Gastgeber, die anderen Gäste und die Bediensteten des Hauses und ein gnadenloser Stresstest für die Lachmuskeln des Publikums.

Das ganze beginnt mit kleinen Irritationen, wenn Ciccio (der eigentlich "Normale" der zwei) an die Tafel gesetzt wird und trotz langer Berufserfahrung als Ober-Butler doch seine niedere Herkunft erkennen lässt, wenn er beherzt die Serviette um den Hals bindet und zu essen beginnt: inszenatorisch sehr schön aufgelöst in einem 360-Grad-Kameraschwenk aus der Mitte der Tafel über die völlig entsetzt-entgeisterten Gesichter aller "hochrangigeren" Anwesenden (ein groteskes Diner gibt es bei Fulci dann auch vier Jahre später im Giallo UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA zu bewundern). Da adelige Schnösel furchtbar sensibel und unzuverlässig sind, verabschieden sich immer wieder welche von der Tafel, während andere verspätet dazustoßen – und dazwischen wird Ciccio immer wieder zwischen Tafel und Küche hin- und her-geschoben. Die Eskalationsschraube wird dann allmählich gedreht, aber nachdem Ciccio an der Tafel durch Franco ersetzt wird (eine wahrhaft göttlich-bescheuerte Idee) UND die Katze auch wirklich auftaucht, kippt es dann endgültig in Anarchie und Chaos und der totalen Verwüstung des piekfeinen Diner-Saals.

Lacher und Thrills liegen nahe beieinander, und wer nach Vorboten von Fulci als Thriller-/Giallo-Regisseur suchen möchte, wird hier fündig. Das Rezept: Franco, Ciccio und deren Arbeitskollegin, die Bedienstete Gina, gefesselt an Stühlen, während auf einem Tisch neben ihnen eine eiförmige Zeitbombe tickt und in wenigen Minuten explodieren wird (und die Katze wird dann auch auftauchen!). Ohne das Gag-Dauerfeuerwerk zu unterbrechen schneidet der Film mit zunehmender Dringlichkeit immer näher an die angsterfüllten Gesichter der Protagonisten, bis schließlich die Augen in extremen Closeups die komplette Leinwand ausfüllen: Fulci-Augen des Schreckens. Extreme Spannung und Unbehagen zeitgleich mit Blödelei und hemmungslosem Gelächter.



20.00 Uhr


CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ("Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert", wörtlich: "Geständnis eines Polizeikommissars an den Staatsanwalt der Republik")

Regie: Damiano Damiani

Italien 1971

35mm, deutsche Fassung

Der desillusionierte Polizeikommissar Bonavia (Martin Balsam) setzt sich für die Freilassung eines Kleinkriminellen aus einer Irrenanstalt ein – der kurz darauf einen gescheiterten Mordanschlag auf den Bauunternehmer (bzw. "Bauunternehmer" und in Palermo als einflussreicher Mafiaboss bekannten Mann) Lomunno verübt. Der kürzlich aus Norditalien nach Sizilien transferierte Staatsanwalt Traini (Franco Nero) untersucht den Fall mit idealistischem, gesetzestreuem Eifer, enthüllt einen Sumpf aus Korruption, Gewalt und kriminellen Verstrickungen – und feindet sich auch mit Bonavia an, der von einer persönlichen Racheagenda angetrieben wird.



Meine Erwartungen an Damianis Film waren eher so mittelmäßig: ich bin kein großer Fan italienischer Polizeifilme, Damianis PIZZA CONNECTION beim letzten Terza hatte mir eher so-la-la gefallen und IL GRANDE RACKET drei Tage zuvor noch weniger. Am Ende verließ ich nach CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA den Kinosaal völlig begeistert und zugleich dem emotionalen Kollaps nahe, nachdem mich dieser großartige Film ordentlich hart in den Boden gestampft hatte.

Vielleicht liegt meine Begeisterung darin begründet, dass Damianis Film sich durchaus sehr "amerikanisch" dicht anfühlt (und nicht "italienisch" ausgefranst, wie viele "polizieschi" der Zeit für mich wirken). Die eigensinnige Mischung aus explodierender Wut, politischem Engagement, ausgewählten Genre-Schauwerten, einer Erzählung über Figuren weniger als über Plot und einer "spröden" Sichtweise auf systemische Probleme wie Korruption und Machtmissbrauch macht ihn ein bisschen zu einer Art entfernter, gemeinsamer Cousin von Sidney Lumets SERPICO und Yves Boissets UN CONDÉ (wenn man Boisset gerne als "amerikanischen Franzosen" begreifen möchte).

Trotz einer wilden Schießerei relativ zu Beginn des Films ist CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ein Slow-Burner, ein langsamer Film, der sich viel Zeit zum Erzählen nimmt und der dies vor allem über seine Figuren macht (das unterscheidet ihn vielleicht von anderen "polizieschi", die eher Nummern aneinander reihen).

CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA ist natürlich auch ein sehr spektakulärer Schauspieler(innen)-Film. Natürlich sind da zunächst die beiden Protagonisten des italienischen Originaltitels. Franco Nero, der einen etwas steifen, überkorrekt-peniblen, pedantischen Staatsanwalt spielt – ein trotz seines bizarren Mutter-Komplexes etwas langweiliger und biederer Bürokrat, aber eben auch ein sichtbar integrer Mann: eine sehr schöne, mal andere Rolle, wenn man Franco vor allem als ruppigen Revolverhelden aus Western-Kontexten kennt.

Aber der große Star ist ohne Zweifel Martin Balsam als von der Mafia nicht korrumpierbarer und doch moralisch zwielichtiger Polizist, der aus Verzweiflung und Rache das System (und schließlich auch sich selbst) aufgibt: ein großer US-amerikanischer Schauspieler, der fern von seiner Heimat ganz in dieser komplexen und explosiven Rolle aufblüht. Wobei: ein großartiger Schauspieler war Balsam ja schon immer, aber hier auch in einer zentralen Hauptrolle. Es lag ja immer ein wenig Melancholie in seinen Augen, hier kann er zu ganz großer Weltmüdigkeit aufspielen. Ein fantastischer Balsam-Moment ist ein kleines Detail bei der oft erwähnten Szene mit der verbal eskalierenden Konfrontation zwischen dem Staatsanwalt und dem Polizeikommissar, die in eine Verwechslung ihrer ähnlich aussehenden Autos mündet: Franco lehnt sich mit den Armen auf das Dach des Autos und legt seinen Kopf drauf, als hätte er eben einen Schwächeanfall – Balsams Mine wechselt von zornig zu einfühlsam-besorgt, und er schaut kurz so, als ob er den Mann, den er eben noch wüst beschimpft und gar bedroht hat, gleich fragen würde, ob alles in Ordnung ist oder als ob er sich bei ihm sogar entschuldigen würde. Doch er reagiert nicht oder zu spät: Franco-Traini hat sich wieder gefangen und öffnet schon die (falsche) Autotür. Beide Männer werden doch verfeindet auseinandergehen. Und das ist auch die bittere, kaum auszuhaltende Tragik des ganzen Films, der wie eine Art auf den Kopf stehender Buddy-Movie funktioniert: zwei Männer, die eigentlich geeint sein müssten in ihrem Kampf gegen die Mafia, finden nicht zueinander, sondern kämpfen gegeneinander. Weil sie sich persönlich nicht ausstehen können: der hemdsärmlige, in den Straßen arbeitende Bonavia verachtet sichtlich den intellektuellen, arroganten, "verzärtelten" bürokratischen "Sesselpupser" Traini, während dieser den grobschlächtigen und von seiner "Street-Credibility" und Seniorität etwas zu sehr eingenommenen Grobian verachtet. Und natürlich auch weil das System Mafia (das Wort wird glaube ich kein einziges Mal im Film ausgesprochen, weil es immer um oberflächlich respektable "Bauunternehmer" geht) durch Misstrauen und Paranoia sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen von vorne herein vergiftet: beide Männer verdächtigen sich gegenseitig, ein korruptes Rädchen im System zu sein.

Neben diesen beiden Schwergewichten ist CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA auch voller wunderbarer Nebendarsteller-"Charakterfressen". Besonders erwähnen möchte ich aber Marilù Tolo: in den meisten Filmen wäre ihre Figur ein Klischee, die verschüchterte Mafiosi-Braut, die schlussendlich selbst auf die Abschussliste kommt und dann für einen schnellen und schnell wieder vergessenen Schock um die Ecke gebracht wird – doch Tolos charismatische, starke Darstellung (und ihre stechenden Augen!) machen aus Serena, der Schwester des kleinkriminellen Attentäters, eine ganz große tragische Figur.

Damiani zeigt auch ein großes Gespür für seine Locations, er lässt Palermo und die Umgebung der Stadt im Laufe des Films zu überaus lebendigen Orten werden, erschafft aus der Hauptstadt Siziliens ein ganzes sozioökonomisches Biotop: architektonische Brutalismus-Wüsten aus schnell errichteten Plattenbauten und werdenden Hochhäusern inmitten von bracher Grünfläche, mit denen die Mafiosi (also: lokale Bauunternehmer) ihr Geschäft machen; ein hässlicher, industrieller Hafen, in denen sich zum Beispiel schwule Informanten vor dem Zugriff der repressiven Polizei zu verstecken versuchen; eine pittoreske Einkaufs- und Bummelpassage, die zum Verweilen und Flanieren einlädt (aber Obacht vor den schlecht beleuchteten Nebenstraßen, besonders wenn der Begleiter ein Bauunternehmer ist); eine hügelige Umgebung, in denen zwei Männer sich gegenseitig anbrüllen und bedrohen können, mit einem wunderschönen Panorama-Blick auf die große sizilianische Hauptstadt; malerische Bergdörfchen am Ausgang der Stadt, auf deren Hauptplatz es sich vor versammelter Dorfgemeinschaft gut verbluten lässt; dann wiederum pittoreske Plazas und Nebenstraßen, echte mediterrane Postkartenansichten; weniger postkartenmäßig dann die Elendsviertel, mit heruntergekommenen Behausungen, wo potentielle Opfer der Mafia hinflüchten.

Wenn ich schreibe, dass CONFESSIONE DI UN COMMISSARIO DI POLIZIA AL PROCURATORE DELLA REPUBBLICA sich eher "amerikanisch" anfühlt, so ist zumindest seine musikalische Begleitung so italienisch wie es nur geht: Riz Ortolani übersetzt die Haupt-Emotionen des Films, Zorn und Melancholie, in ein kongeniales musikalisches Thema voller Pathos, das noch lange, lange, lange in Ohren und Kopf nachhallt. Vor allem nach dem markerschütternden Ende: oberflächlich "unspektakulär" und "harmlos" (ein Mann stellt einem anderen Mann eine total banale, beiläufige Smalltalk-Frage) stößt das Filmende, wie die Schergen der "Bauunternehmer" es mit ihren Opfern manchmal tun, den Zuschauer in einen tiefen Abgrund.


Einen sehr lesenswerten Text von Sebastian zur streng-symmetrischen Erzählstruktur des Films gibt es hier.



22.45 Uhr


TOUGH GUYS ("Zwei Fäuste des Himmels")

Regie: Duccio Tessari

Italien/Frankreich 1974

35mm, deutsche Fassung

In Chicago tun sich ein nach einer Intrige gefeuerter, integrer Polizist (Isaac Hayes) und ein Streetworker-Priester (Lino Ventura) zusammen, um einen Mordfall aufzuklären.


Isaac Hayes kann seine Pistole ruhig wieder einpacken, denn Lino Ventura kommt gegen den Böswatz auch mit seinen bloßen Fäusten klar

"Die Zeit der Meisterwerke ist jetzt vorbei." – so Sven in seiner Einführung zum Film. Ja, irgendwie schon. Die Prämisse, dass Lino Ventura und Isaac Hayes als street-smarter Priester bzw. desillusionierter, gefeuerter Ex-Cop im Chicago der 1970er Jahre sich zusammen tun, um sich durch die Unterwelt zu prügeln und zu schießen, ist schon sehr appetitanregend. Sichtlich anstrengen tut sich der Film leider damit nicht: eine allmähliche Müdigkeit am Ende des vierten Festivaltages hatte sich langsam in meine Glieder geschlichen, zugegeben, aber TOUGH GUYS hat sich dann doch erstaunlich gezogen und trübte größtenteils etwas unmotiviert vor sich hin. Umso erstaunlicher mit jemanden wie Duccio Tessari hinter der Kamera, Regisseur von solch tollen Filmen (gar Meisterwerken) wie der von der Rückkehr des Odysseus inspirierte Western IL RITORNO DI RINGO und dem leidenschaftlichen, schmerzhaften Giallo UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE.

Andererseits prügeln sich Lino Ventura und Isaac Hayes durch Chicago! Und wenn sie das nicht tun, dann räkelt sich Ventura nur in T-Shirt und Unterhose breitbeinig (also: wirklich, wirklich, WIRKLICH sehr breitbeinig!) auf Hayes' Bett, während dieser dessen durch Böswatz-Überfälle beschmutzte Hose wäscht und bügelt und danach Frühstück zubereitet: Spiegeleier sunny side up, gebraten auf der Unterseite des Bügeleisens, der in einen nicht ganz bündig zusammengeschobenen verlängerbaren Esstisch geklemmt wird. Ein Festmahl für den Magen der beiden und das Gemüt des Publikums! Wenn Chicago zu langweilig wird, dann geht es eben nach Venedig – so in der Bruchbude eines hoffnungslosen Säufers und ur-sympathischen Comic-Relief-Nebencharakters, die nur aus Regalen voller leergesoffener Flaschen und einem riesigen (wirklich: riesigen!) Poster des Markusplatz besteht. Und wenn Hayes das schickere Gefährt (eine etwas verbeulte Cabrio-Limousine) besitzt, so hat Ventura das proletarischere und multifunktionsfähigere Gefährt, um von A nach B zu kommen: mit seinem Fahrrad (vor Aufsteigen und nach Absteigen immer schön die Hosenklammern auf- und absetzen!) ist er sportlich unterwegs und er kann es bei Prügeleien dem Böswatz auch mal um die Ohren hauen!

Kleine Info am Rand: der große italienische Komödien-Regisseur Luciano Salce ist hier als Bischoff von Chicago (eine Sprechrolle mit einigen Minuten Screen-Time) zu sehen.



Sonntag, 21. Juli 2024: Der internationale Tag zwischen Stockholm, Benidorm, Fort Boyard und Adriaküste


Bei diesem zehnten Terza Visione gab es nun die dritte Edition des "internationalen Tages", der dazu dient, nach einer intensiven Beschäftigung mit dem italienischen Genrekino auch über den Tellerrand zu blicken und das Fokusland des Festivals auch in einen internationalen Kontext zu setzen, sich Querverbindungen, aber auch Unterschiede zwischen Genre-Kinematografien aus aller Welt anzuschauen.


Gestartet wurde diesmal mit einem hyperstilisierten Kriminalfilm um einen teilweise schwarze Handschuhe tragenden Serienmörder, der seine Opfer im Umfeld eines Mode-Salons um die Ecke bringt, also einem Ort, der zu fetischistisch-farbenfrohen Set-Designs und Kostüm-Kreationen einlädt, das ganze gefilmt in ausgewählt eleganter und komplexer Kameraführung. Wir schauen also...? Was? Mario Bavas SEI DONNE PER L'ASSASSINO aka "Blutige Seide" aka "Blood and Black Lace" von 1964? Der Film, der als "der erste echte Giallo" gilt? Nein, es geht nach Schweden anno 1958!



12.45 Uhr


MANNEKÄNG I RÖTT ("Mannequin in Rot")

Regie: Arne Mattsson

Schweden 1958

35mm, schwedische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Das Detektivgespann John und Kasja Hillman untersucht Serienmorde in einem Modesalon. Kasja heuert zwecks Ermittlung in der Boutique an, um dem Mörder auf die Schliche zu kommen.



Beim Terza Visione gab es dieses Jahr keinen "echten" italienischen Giallo, dafür aber nun diesen schwedischen Giallo oder Proto-Giallo, diesen... "Gul". Wenn man von der gesprochenen schwedischen Sprache abstrahiert und von den in Westeuropa eher unbekannten Schauspielergesichtern, dann glaubt man tatsächlich einen archetypischen, frühen italienischen Giallo zu sehen (auch wenn der Film tatsächlich "nur" der zweite Teil eines Filmzyklus zum Ermittler-Ehepaar Kajsa und John Hillman ist, in den Credits wird der Film dem wissenden schwedischen Publikum sogar original als "Hillmanthriller" präsentiert).

Dank der "Sub-Zero"-Lagerungspolitik schwedischer Filmarchive erstrahlte MANNEKÄNG I RÖTT, gedreht auf nicht-farbstabilem Eastmancolor, in knackigen, wunderschönen, prachtvollen und kräftigen Farben – rotstichig hätte der Film tatsächlich einiges von einer Strahlkraft eingebüßt. Denn MANNEKÄNG I RÖTT ist in erster Linie ein Triumph von Kameraführung und Ausleuchtung (Hilding Bladh, der auch drei frühe Filme von Ingmar Bergman fotografiert hat), Produktions- und Setdesign (Bibi Lindström, ebenfalls bei Bergman in frühen und mittleren Filmen – u. a. PERSONA – tätig) und Kostümdesign (mit Mago – geborener Max Goldstein – ein weiterer und von den dreien der langjährigste Bergman-Mitarbeiter). Es ist ein Prachtstück, das mit seinen extravaganten Kostümen, den modernistischen Set-Designs und Einrichtungsgegenständen und der ultra-fluiden Kameraarbeit in der kompletten Länge des Films einfach nicht aufgehört hat, mich zum Staunen zu bringen: jede Szene ein Ereignis, mit mindestens einem tollen Regie-Einfall. Das mag etwas technokratisch klingen, aber MANNEKÄNG I RÖTT war neben TOP MODEL zwar nicht der beste, aber doch der schönste und eleganteste Film des diesjährigen Terzas.

Außerdem kommen auch die Charaktere keineswegs zu kurz. Das Ermittlungsehepaar Hillman sind die geerdeten (man könnte negativ sagen: die biederen, langweiligen) Charaktere des Films. Der interessantere Part des Paars ist Kajsa (Annalisa Ericson), die als verdeckte Ermittlerin im Mode-Geschäft als Model anheuert und mir als treibende Kraft der Hllmans erschien. Für Humor, Grimassen und Slapstick (meistens erfolgreich) zuständig war John Hillmans tollpatschiger Assistent, gespielt von Nils Hallberg. Die Rolle der Femme Fatale spielte Gio Petré: ihre in verführerischer Glitzergarderobe gekleidete Gabrielle führt einen Mann namens Oscar Svensson im gleichnamigen Lied singend ins Verderben, während sie laszive Blicke mit einer Frau namens Peter (sic! – faszinierend androgyn: Lissi Alandh) austauscht, einer Mitarbeiterin im Modesalon, die möglicherweise ihre Liebhaberin ist. Diese Gesangsnummer in einem Nachtclub erweckt wiederum deutliche Erinnerungen den amerikanischen Film Noir: zwischen Los Angeles und New York auf der einen Seite des Atlantiks und Rom und Mailand auf der anderen Seite kann man eben auch einen Zwischenhalt in Stockholm einlegen; und MANNEKÄNG I RÖTT kann dann auch als Versuch eines schwedischen Film Noir gesehen werden.


Soweit ich es mitbekomme habe, war ich mit meiner großen Begeisterung für diesen "Gul" recht alleine. Trotz des umstrittenen Regisseurs schien der nächste Film dann auf eine breitere Zustimmung zu stoßen: von Stockholm ging es nach Benidorm.



16.30 Uhr


Vorfilm:

ERHOLUNGSLANDSCHAFT SPANISCHE MITTELMEERKÜSTE

Regie: Herberg Apelt

BRD 1983

16mm, deutsche Originalfassung

Ein Kurzfilm des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU) über die spanische Küstenstadt Benidorm und deren touristische Erschließung.


"Willkommen in der Hölle" lautet der deutsche Titel von Cesare Canevaris Western MATALO! (der beim Terza in einer frühen Nürnberger Edition lief). Potentiell würde er aber auch zu diesem Kurzfilm des Instituts für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (kurz: FWU) ganz gut passen.

"Erholungslandschaft" – das ist ein Begriff, der so kalt-technokratisch, ultra-teutonisch und durch und durch unsexy ist wie vielleicht nur noch "Sättigungsbeilage". Gezeigt wird Benidorm als wirtschaftlich boomende Touristen-Sehenswürdigkeit: während "schöne" Panoramen das bestialisch-brutalistische Massaker aus Plattenbauten, Hochhäusern und Baustellen-Infernos zeigen, rattert der Voice-Over mit der Beflissenheit eines besonders selbstvergessenen Buchhalters Statistiken über Einwohnerzahlen, Touristenzahlen, nationale Zusammensetzung der Touristen, offizielle Bettenzahlen in Hotels und geschätzte zusätzliche Bettenzahlen über Privatwohnungen und Campingplätze zusammen, dass einem innerlich alles zusammenschrumpft und zusammenwelkt.

Ein bisschen menschlicher wird es, als es um den Lebensalltag der örtlichen Tourismus-Beschäftigten geht. Besonders interessant fand ich den Aspekt, dass in der zweiten Hälfte des Films tatsächlich vieles von einer spanischen Hotelangestellten erzählt wird (oder zumindest eine weibliche Stimme mit spanischem Akzent in ihrem Namen in der ersten Person spricht): nachdem sehr kalt ÜBER Benidorm und deren Bewohner gesprochen wird, werden letztere tatsächlich zu aktiven Erzählern gemacht.

Trotzdem der Film auch "schön" gefilmt ist, bleibt doch die Frage, wozu er eigentlich für wen gemacht war? Als etwas "trockener" Informationsfilm ist er sicherlich mehr gelungen denn als potentieller Werbefilm für die Region, den der Titel verspricht.


Für letzteres könnte auf eine gewisse Art und Weise eher LAS CHICAS DEL TANGA genutzt werden: Benidorm sehen und sterben... ähm... nein! Benidorm sehen und sich verlieben! Und abhängen. VIEL abhängen!


Hauptfilm:

LAS CHICAS DEL TANGA ("Thong Girls")

Regie: Jess Franco

Spanien 1983

35mm, spanische Originalfassung mit englischen Untertiteln

Abhängen in Benidorm: Liebeleien, Neckereien, kleine Betrügereien, Sonne, Strand, Sex, Musik, Rollschuhfahren und einiges mehr.


LAS CHICAS DEL TANGA als Strandkomödie zu bezeichnen dürfte vielleicht zu ambitioniert oder besser gesagt einschränkend sein, denn er ist vor allem ein leichtfüßiger Abhängfilm, der das Publikum dazu einlädt, relativ ziellos, heißt also: frisch, frech und frei durch Benidorm zu schlendern. Ein Regisseur wie Jess Franco, der immer an der Grenze zwischen narrativem Genrekino und kontemplativer Cine-Experience angesiedelt ist, war dafür offenbar der ideale Mann.

Der Film beginnt zunächst mit charakterfreien Impressionen von Benidorm am frühen Morgen. Für kurze Zeit (wenige Tage), die uns der Film präsentiert, dienen einige Figuren als lockerer "roter Faden": zwei kleine Kinder, die versuchen Kleingeld von Touristen abzubetteln, um Spielautomaten zu füttern; eine französische Touristin und der spanische Beau, der sich an sie ranhängt (der Beginn einer Liebesgeschichte); eine Prostituierte, die auf der Straße landet und von einem Bodybuilder beherbergt wird (der Beginn einer anderen Liebesgeschichte); eine kapriziöse Sängerin (Lina Romay) verbringt einen Kurzurlaub mit ihrer Sekretärin; ein holländischer Architekt fotografiert wie besessen den architektonischen Brutalismus der Stadt und wird immer wieder von der gleichen Rollschuhfahrerin umgefahren.

Einige der Dialoge wirken so, als wäre ein improvisierter Probetake gedruckt worden: im klassischen narrativen Erzählkino wäre das nicht so gut, in LAS CHICAS DEL TANGA entfaltet diese Spontanität einen immer wieder unwiderstehlichen Charme. Kino als Ansammlung kleiner flüchtiger Momente. Plaudern. Rumblödeln.

Interessante Info: der Film hat als Regie-Credit "Rosa Almirall". Das ist kein Pseudonym von Jess Franco, sondern der bürgerliche Name von Lina Romay. Regie führte tatsächlich Franco selbst, aber – so Christoph in seiner schönen Einführung zum Benidorm-Filmblock – er schenkte seiner Stammschauspielerin und Lebensgefährtin diesen Credit, damit sie persönlich auch nach seinem Tod weiter Tantiemen-Einnahmen bekommt (in der Annahme, dass er vor ihr sterben würde, wollte er ihr vor seinem Tod etwas "vererben" – tatsächlich starb sie tragischerweise im Alter von nur 57 Jahren vor Franco).



20.00 Uhr


LES AVENTURIERS ("Die Abenteurer")

Regie: Robert Enrico

Frankreich/Italien 1967

35mm, deutsche Fassung

Roland (Lino Ventura) und Manu (Alain Delon) sind Träumer und Abenteurer, tüfteln tagein, tagaus an Rennwagen und anderen Erfindungen, riskieren ihr Leben bei waghalsigen Flugzeugmanövern und haben überhaupt eine gute Zeit. Noch besser wird es, als die Künstlerin Lætitia (Joanna Shimkus) sich zu ihnen gesellt und das Trio schließlich aufbricht, um vor der Küste des Kongos nach einem Goldschatz zu suchen.



Für mich eine Zweitsichtung. Hier eine Umkehrung der Situation von MANNEKÄNG I RÖTT: die meisten Co-Zuschauer waren komplett begeistert, hin und weg. Ich kann intellektuell die meisten Argumente für den Film sehr gut nachvollziehen. In einem Nebengespräch nach dem Film habe ich einen Vergleich mit TWO-LANE BLACKTOP kurz mitgehört: ein eingespieltes Duo von Geschwindigkeits-Getriebenen, zu denen eine junge Frau dazustößt und die eine neue Dynamik reinbringt, alle auf einer flüchtigen und vergeblichen Suche nach einem Traum. Auch einen Vergleich zu L'AVVENTURA habe ich aufgeschnappt – LES AVENTURIERS als eine von Genre-Thrills getriebene Variation dessen. Ein Film über Abenteuer als Welt, in der man einfach selbst seine Träume erschafft und ihnen nachjagt – und wenn es verpufft, einfach zum nächsten. Alles nachvollziehbar und durchaus richtig.

Mich hat der Film leider auch beim zweiten Mal nicht so ganz begeistert und mitgenommen (der Verfremdungseffekt durch die deutsche Synchro war wenig hilfreich: Lino Venturas und Alain Delons Stimmen sind halt unersetzlich). Ich konnte nicht so richtig in den Rhythmus des Films "rein-grooven", wenn man das so formulieren möchte. In der ersten Hälfte zu viele kleine Episoden, die spektakuläre Elemente haben, aber irgendwie auch bei mir verpufft sind. Ein Overkill an "kleinen" Abenteuern (der verhinderte Flug durch den Arc de Triomphe, das Drag-Race-Auto, die Spielepisode im Casino). Das "größere" Abenteuer, das Tauchen nach einem versunkenen Goldschatz an der kongolesischen Küste, schafft zunächst einen klareren Fokus für das Abenteuer-Trio – und dadurch auch einen Raum, in dem sich Dynamik und Chemie der drei komplett entfalten dürfen. Eine lange Montage, die sie beim Fischen, Tauchen, Kochen, Essen und ganz einfach auch nur beim Rumblödeln zeigt, war für mich der schönste Moment des Films: hier hat sich der Zauber auf mich übertragen. Nach dem Verschwinden von Lætitia aus dem Film stellte sich bei mir dann leider keine Trauer ein, sondern einfach nur Leere. Manu und Roland wirkten für mich danach nur noch wie Trüblinge.

Das klingt leider alles schärfer, als ich es meine: LES AVENTURIERS ist fantastisch fotografiert in den ruhigen wie auch in den actionreichen Szenen, sieht von A bis Z wunderschön aus, als Zuschauer hängt man knapp unter zwei Stunden mit den zwei Weltklasse-Schauspielern Lino Ventura und Alain Delon ab und Joanna Shimkus wirkt tatsächlich wie eine – Paraphrase – "Jane Birkin in Gold", so Silvia Szymanski in ihrer poetischen Einführung. Sie bekommt dann auch ein eigenes musikalisches Thema im tollen Score von François de Roubaix.

Dennoch: aus der Feder des Drehbuchautors José Giovanni bevorzuge ich im gleichen Themenbereich LE RUFFIAN. Der kam 16 Jahre später raus, auch mit (einem natürlich reiferen) Lino Ventura, statt Alain Delon gibt es Bernard Giraudeau, statt Joanna Shimkus gibt es eine (auch reifere) Claudia Cardinale, statt von François de Roubaix gibt es von Ennio Morricone was Schönes auf die Ohren, aber ein Schatz wird da auch gesucht (allerdings am Fuß eines Wasserfalls in Kanada), wenn nicht grad Abenteurer-Unsinn betrieben wird.



22.30 Uhr


UBIJ ME NEŽNO ("Kill Me Softly")

Regie: Boštjan Hladnik

Jugoslawien 1979

35mm, slowenische Originalfassung mit englischen Untertiteln

In der Villa einer älteren Übersetzerin zünftig-erotischer Genreliteratur versammeln sich deren Nichte und ihr Ehemann, der Liebhaber der Nichte und die Verlegerin, die ein Auge auf die Nichte ihrer Angestellten geworfen hat. Mysteriöse Mordfälle wirbeln die Situation auf.


Möglicherweise lief der Film nicht zur idealsten Tageszeit, und ein Umtausch des Zeit-Slots mit dem Franco-Film wäre vielleicht ganz gut gewesen. Soweit ich es mitbekam, gehört er zu den ungeliebtesten Filmen des Terza. Schade, denn ein bisschen Liebe hat er schon verdient, dieser Film, den man – wenn er schon als Teil eines italienischen Genrefilm-Festivals läuft – wohl als eine surrealistisch-groteske, schwul-lesbische Giallo-Komödie bezeichnen könnte.

Das liest sich etwas spritziger als der Film schlußendlich war: ausgelassene Albernheit und eine manchmal sehr sperrige Erzählweise, tolle Einfälle und Halbgares, frei-assoziative Bilderpoesie und sprödes, fast bürokratisch anmutendes Auserzählen wechseln sich ab. Zwei junge Damen erscheinen beim Frühstück im Garten der Villa mit einem großen gelben Eimer voll Wasser, erzählen, dass da Fische drin sind, schnappen sich die Katze und werfen sie rein: das Wasser blubbert rot und sie holen dann ein Katzenskelett raus – die Fische waren nämlich Piranhas. Eine witziger, dunkel-humoriger, aus dem Handgelenk inszenierter Gag, der bei mir auf jeden Fall gezündet hat. Auf der anderen Seite des Spektrums: nach dem Showdown des Films folgt ein Twist, der relativ schnell klar ist, aber der Film formuliert das trotzdem gefühlt eine geschlagene Viertelstunde aus, bevor er in den letzten Sekunden wieder etwas Fahrt annimmt.

Tolles und Mittelmäßiges nebeneinander auch bei den Darstellern: die Männer, zumindest jene, die nicht in knappen Leder-Fetisch-Anzügen rumlaufen, waren kaum erinnerungswürdig. Aber die Frauen! Duša Počkaj, die bereits in Hladniks PLES V DEŽJU ("Dancing in the Rain") von 1961 mitgespielt hatte, gibt hier die enthemmte, saufende, immer leicht zornige und angepisste Übersetzerin und Villen-Herrin. Die schöne, androgyne Marina Urbanc spielt ihre Verlegerin, die in die entgleisende Dreier-Beziehung reinpfuscht und schließlich auch die Frau im Trio verführt.

Der Slowene Boštjan Hladnik war, so André in seiner improvisierten, sehr liebevollen Einführung, der erste offen schwule Regisseur Jugoslawiens und einer der ersten, der queere Figuren und Themen in jugoslawische Filme brachte. In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien war Homosexualität seit den 1950er Jahren gesetzlich verboten, 1977 wurden die kriminalisierenden Gesetze in einigen Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Montenegro) und in der autonomen serbischen Provinz Vojvodina abgeschafft. UBIJ ME NEŽNO erschien also zwei Jahre nach einer Teil-Liberalisierung. Am explizitesten wird UBIJ ME NEŽNO bei der lesbischen Beziehung zwischen der Verlegerin und der Nichte der Übersetzerin. Die Motorrad-Gang, die ab und zu die Villa besucht, ist allerdings implizit (oder auch nicht so implizit) schwul.

Womit wir beim absoluten Höhepunkt des Films wären, zwei Momente, in denen der Film in einen "ecstatic queer gangbang-like-dancing disco"-Modus umschaltet: die Übersetzerin hat sich eine Gruppe von Bikern nach Hause eingeladen, um mit ihnen Disco zu tanzen und sich an ihren knackigen, geilen, schwitzenden, in bis knapp vor dem Schritt aufgezippten Leder-Fetisch-Monturen gekleideten Körpern zu laben – und die Kamera tanzt mit und labt sich auch, zoomt pumpend in Schritte ein, wirkt manchmal fast so als würde sie durch die Kraft des Zoom-Ins die Reißverschlüsse weiter nach unten reißen wollen, während "Just kill me softly, na-na-na na-na-na, na-na-na na-na-na, na-na-na na-na-na, ha-ha!" aus den Lautsprechern hämmert! Zu solcher Ekstase schwingt sich der Film dann nie wieder auf (ja, danach kommt teilweise eben nur noch: Kater). Kein Ersatz, das auf einer großen Leinwand von einer wunderbaren, farbigen 35mm-Kopie zu erleben, aber hier zumindest eine kleine Impression.