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Montag, 3. November 2014

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.

Montag, 3. Februar 2014

Die Leiden des jungen und erwachsenen und alten W.


RICHARD WAGNER
Deutsches Reich 1913
Regie: William Wauer / Carl Froelich
Darsteller: Giuseppe Becce (Richard Wagner), Manny Ziener (Minna Planer), Miriam Horwitz (Mathilde Wesendonck), Ernst Reicher (Ludwig II.), Olga Engl (Cosima von Bülow/Wagner)


1. Akt: Jugend

Der Schriftsteller, Schauspieler und Maler Ludwig Geyer liegt in seinem Todesbett und stellt die bedeutsame Frage: „Sollte Richard Talent zur Musik haben?“. Der achtjährige Richard spielt daraufhin ein Stück am Klavier, bevor sein Stiefvater dann quasi in seinen Armen verstirbt. Knapp neun Jahre später beginnt Wagner ein Studium der Musik in Leipzig, wo er als außerordentlich begabter Komponist positiv auffällt. In seiner Freizeit lernt er auch, Orchester zu dirigieren, und erprobt es gleich an einer Tanzgruppe aus exilierten polnischen Revolutionären. Wenige Jahre später nimmt er eine Stellung als Kapellmeister an, und verliebt sich in die Schauspielerin Minna Planer. Die beiden verloben sich und ziehen in eine neue – vor allem aber für die Verhältnisse eines Kapellmeisters viel zu teure! – Wohnung.

2. Akt: Reise- und Wanderjahre

Mittlerweile dirigiert Wagner in Riga. Doch die Gläubiger verfolgen ihn bis dorthin, und zusammen mit Minna muss der Musiker eine überstürzte und kühne Flucht aus dem Russischen Reich nach Paris antreten – vorbei an schießwütigen zarischen Grenzwächtern. Auf dem stürmisch schwankenden Schiff nach Frankreich ereilt den genialen Komponisten die Vision seines künftigen „Fliegenden Holländer“. Wagner kommt in Paris an, und erhält vom etablierten Opernkomponist Giacomo Meyerbeer ein Empfehlungsschreiben für die Große Oper – vergeblich. Er sucht deshalb Franz Liszt auf, der ihm allerdings nur schöne Worte zu bieten hat. So verfällt er in Armut, kann sich nicht mal mehr Brennholz leisten (und muss Stühle für das Feuer opfern), kommt aber mit dem „Fliegenden Holländer“ gut voran. Als die Verzweiflung fast schon Überhand nimmt, kriegt er dank des großen Erfolgs von „Rienzi“ eine Anstellung in Dresden. „Der Fliegende Holländer“ fällt dort allerdings 1843 durch, was den Komponisten betrübt. Seine Laune wird nicht gerade heller, als zwei Jahre später auch der „Tannhäuser“ ein Misserfolg beim Publikum wird. Wagner wendet sich daraufhin der Politik zu, trifft sich mit dem russischen Revolutionär Michail Bakunin, hält Reden über „freie Kunst und freies Menschentum“, gerät 1849 in die revolutionären Straßenkämpfe von Dresden und entkommt nur durch Zufall einer Verhaftung. Auf der Flucht gibt ihm Franz Liszt in Weimar Geld und einen falschen Pass, und der steckbrieflich Gesuchte flieht in die Schweiz.

3. Akt: Im Exil

Dort beginnt Richard Wagner mit der Arbeit am „Nibelungen“-Zyklus, und trägt die Verse in lebendigen Worten seinem Freundeskreis vor. Er trifft er sich auch öfter mit Mathilde Wesendonck, der Ehefrau seines Nachbarn, und „bespricht“ mit ihr seine künftige Oper „Tristan und Isolde“, was seine Ehe mit Minna belastet und schließlich zur Trennung führt. Einsam, verlassen und mittellos komponiert Wagner unermüdlich weiter, und im Moment der tiefsten Verzweiflung ruft ihn im Frühling 1864 der bayerische König Ludwig II. an seinen Hof. 

4. Akt: Eine königliche Freundschaft

Richard und Ludwig verbindet eine harmonische Freundschaft. Letzterer darf sogar exklusiv die Generalprobe von „Tristan und Isolde“ begutachten. Doch die Idylle wird durch die hinterlistigen Intrigen der Minister und des katholischen Klerus‘ getrübt. Sie beginnen eine Presse- und Hetzkampagne gegen den Komponisten, und wesentlich schneller, als eine seiner Opern dauert, steht auch schon ein wütender Mob vor dessen Münchener Residenz. Aufgrund massiver Demonstrationen und einer umfangreichen Petition sieht sich Ludwig gezwungen, seinen Freund aus München zu verbannen. Zurück in der Schweiz arbeitet Wagner, schon älter und kränkelnd, an den „Meistersingern“. Trost bieten ihm die gelegentlichen Besuche Ludwigs und seine neue Ehefrau, Cosima Wagner, ehemals von Bülow. Doch es wendet sich alles doch zum Guten: in Bayreuth kann Wagner 1873 sein eigenes Festspielhaus bauen.

5. Akt: Bayreuth

Dort erscheinen drei Jahre später zur Aufführung des „Nibelungen“-Zyklus nicht nur Ludwig II., sondern auch der deutsche Kaiser, Wilhelm I., höchstpersönlich. Mit „Parsifal“ krönt der Meister sein Werk und sein Leben. Am 13. Februar 1883 stirbt er in Venedig.


Ein flottes und witziges Biopic

Wer diese kurze Zusammenfassung von RICHARD WAGNER liest, könnte das Gefühl haben, dass der hier dargestellte Wagner möglicherweise nicht ganz mit dem Wagner übereinstimmt, den man heutzutage so kennt. Aber das macht nichts, denn dieser über 100-jährige Stummfilm ist dennoch höchst vergnüglich zu sehen – oder vielleicht gerade deshalb?

Im Grunde kann man es auf die sehr einfache Formel reduzieren: RICHARD WAGNER ist überaus flott erzählt. Das Drehbuch könnte man als fast atemlos bezeichnen: trotz einer relativ mäßigen Laufzeit von knapp über anderthalb Stunden arbeitet sich der Film durch mehrere Dutzende von Schauplätzen mit mehreren Dutzenden von Figuren hindurch, wechselt kleinere Situationen (Wagner dirigiert ein Orchester) mit größeren und längeren Spannungsbögen ab (Wagners Flucht aus Riga, seine Freundschaft zu Ludwig von der Ankunft bis zur „Verbannung“), und baut zwischendurch auch Erzählungen im Film ein (die Nibelungen, ein Traum, eine Halluzination). Ein abwechslungsreiches Werk, das (und man sieht es ihm deutlich an) mit viel Freude die damaligen Möglichkeiten seines Mediums auslotet.

Traum, Inspiration, Erzählung, Halluzination
RICHARD WAGNER ist über weite Strecken ein Tableau-Film, inszeniert mit überwiegend unbeweglicher Kamera, was 1913 alles noch üblich war. Manche Tableaus dauern tatsächlich auch etwas länger. Doch durch den verhältnismäßig dynamischen Schnitt und der immer wieder geschickten Nutzung der Bildtiefe fällt das nicht negativ auf. Ein weiteres Gestaltungselement, das in RICHARD WAGNER zur Dynamisierung eingesetzt wird, ist die Virage: scheinbar wurde sie „willkürlich“ verwendet. Vielleicht habe ich auch ihre dramaturgische Nutzung noch nicht richtig „decodieren“ können, aber ich vermute, dass sie tatsächlich zwecks Abwechslung, gewissermaßen als „impressionistische“ Palette, eingesetzt wurde: jedes Bild, jedes Tableau wird durch eine eigene Farbe noch einzigartiger gemacht. RICHARD WAGNER ist so gewissermaßen auch ein „Farbfilm“.

Mit Spezialeffekten im engeren Sinne geht das Biopic relativ sparsam um. Zu nennen ist die Vision, oder die Inspiration des Komponisten, als er aus Riga auf einem Schiff flüchtet, und vor seinen Augen ein Geisterschiff (also den „Fliegenden Holländer“) vorüberziehen sieht – ich vermute, dass es sich um eine relativ einfache, aber nichtsdestotrotz sehr effektive Doppelbelichtung handelt. Später, als Wagner an den „Meistersingern“ arbeitet, ist er offensichtlich kränkelnd, und beginnt, um sich herum ehemalige Bekannte und Fantasiefiguren aus seinen Opern herbei zu halluzinieren – jump cuts machen es möglich, und verwirren zugleich den Komponisten zutiefst.

Wie gesagt erzählt RICHARD WAGNER auch eigene Sub-Erzählungen im Rahmen der Haupt-Erzählung. Gleich am Anfang etwa träumt der zehnjährige Richard davon, dass aus den zwei großen Portrait-Gemälde im Schlafzimmer (in das er gastweise bei Onkel und Tante untergebracht ist) die abgebildeten Damen lebendig heruntersteigen, und eine mit ihm anfängt, zu tanzen: ein Traum, der den kleinen Richard stark erschreckt. Wesentlich länger dauern Wagners Erzählungen vom „Nibelungen“-Mythos. Am Ende zollen ihm die Figuren an seinem aufgebahrten Leichnam Tribut.

Inspiration beim Baden
Üblicherweise sind Wagner und Humor zwei Begriffe, die man nicht unbedingt in einem Satz unterbringen würde. Dennoch muss man sagen, dass RICHARD WAGNER auch ein sehr witziger Film ist. Ein Teil des Humors ist sicherlich „unfreiwillig“ oder zumindest nicht im engeren Sinne „intendiert“. Das ist nicht respektlos gemeint und soll auch nicht suggerieren, dass der Film lächerlich sei. Vielmehr weist der Film mit seinem Wagner-Bild immer wieder Dissonanzen zu dem Bild Wagners auf, der heutzutage gängiger ist und gerade aus diesen Dissonanzen heraus kann das eine oder andere Lächeln über die Lippen huschen. Auch der melodramatische Pathos manch einer Szene (wenn etwa Wagner frierend komponiert, einen Stuhl zu Brennholz zerschmettert, sich wärmt, weiter komponiert und dann in einem Zustand genialer Inspiration die Hände gen Himmel streckt) könnte das eine oder andere Lächeln hervorrufen. Das wäre berechtigt, als dass Wagner aus seinen Momenten der Armut, Verzweiflung und Einsamkeit sowieso stets gerettet wird: jemand besucht ihn, oder – häufiger – jemand gibt ihm Geld oder eine Anstellung.

Immer wieder hat RICHARD WAGNER auch einen offen, wenngleich leisen komödiantischen Ton. In einer Szene etwa bekommt Wagner beim Baden eine spontane Inspiration und geht schnurstracks, nur mit einem Badezimmerumhang bekleidet, in sein Klavierzimmer, um zu komponieren. Just in diesem Moment kommen (wieder einmal) drei Gläubiger vorbei, die längst überfällige Rechnungen kassieren wollen, und diese von einem geistig abwesenden, nackten Klavierspieler einfordern wollen. Zur Runde stoßen auch ein älterer Herr und eine ältere Dame hinzu (womöglich andere, bislang unbekannte Gläubiger?), und letztere fällt fast in Ohnmacht, als sie die spärliche Bekleidung Wagners sieht. Ein kunterbunter Tumult bricht aus, bis der Meister im Bademantel alle mit erhobenem Finger rausschmeißt.

Wagner bei Meyerbeer
Ebenfalls sehr witzig ist die Szene, die man gewissermaßen als den „Meyerbeer-Sketch“ bezeichnen könnte. Wagner spielt dem berühmten Opernkomponisten seinen „Rienzi“ am Klavier vor, während dieser im Vordergrund sich offensichtlich langweilt und auch demonstrativ gähnt. Sobald Wagner zu ihm schaut, applaudiert Meyerbeer hingegen begeistert. Da unser Titelheld offenbar noch mehr vorspielen will, bittet ihm Meyerbeer an, ein Empfehlungsschreiben aufzusetzen. Wagner ist begeistert, bedankt sich und geht dann mit dem Brief auf und davon, während Meyerbeer, erleichtert, von der nervenden Musik befreit zu sein, in seinen Sessel sinkt. Als filmische Erzählung ist diese Episode aus RICHARD WAGNER freilich wesentlich amüsanter als die historische Realität: bekanntermaßen verfasste Wagner seinen unsäglichen Essay „Das Judenthum in der Musik“ vor allen Dingen als persönlichen Angriff gegen seinen (damals) wesentlich erfolgreicheren Konkurrenten in Paris.

RICHARD WAGNER, der zu einem überwiegenden Teil in Innenräumen spielt, ist in seinem Set-Design überaus detailverliebt. Gerade ab dem vierten Akt beginnen die einzelnen Szenen immer häufiger, von Portraits und vor allen Dingen von Büsten geprägt zu werden (der Film beginnt mit der Nahaufnahme einer Wagner-Büste). So hat Ludwig II. in seinem Arbeitsraum zwei Komponisten-Büsten stehen: eine von Franz Liszt im Hintergrund, und – logisch – eine von Wagner auf seinem Schreibtisch. Bei der Diskussion Wagners mit Bakunin steht auf dem Klavier, an dem der Komponist dem russischen Revolutionär etwas vorspielt, eine Büste von Beethoven. In seinem späten schweizerischen Häuschen hat Wagner hingegen eine Büste von Franz Liszt im Wohn- und Klavierzimmer aufgestellt. Gegen Ende, als der immer wieder gebeutelte Komponist endlich seinen verdienten Ruhm bekommt, beginnt das Set-Design, selbstreferentiell zu werden: als Wagner zusammen mit (wahrscheinlich) Architekten den Bau seines Festspielhauses diskutiert, hängt im Hintergrund ein Portrait von ihm selbst – es gibt nunmehr keine anderen mehr, sondern nur noch diesen Mann! Für Bewohner von Weimar gibt es übrigens auch etwas zu sehen, denn Franz Liszt, der später mehrmals als Büste, also als „Kopie“ im Film erscheinen wird, hat in seinem eigenen Weimarer Zimmer selbst zwei Büsten stehen: nämlich je eine von Goethe und Schiller.

Das könnte man sicherlich alles weiter ausführen: als Spiel mit der Repräsentation realer Figuren, und der Repräsentation der Repräsentation realer Figuren, die sich gegenseitig im Film doppeln. Letztendlich ist es sicherlich auch ein Wink an kulturinteressierte Zuschauer, die hier einfach viele bekannte Figuren aus der deutschen und europäischen Kultur- und Zeitgeschichte wieder erkennen können. Und die auch als Schauwerte in Form von Darstellern gezeigt werden: Wagner, Liszt, Bakunin, Meyerbeer, Ludwig II., Wilhelm I., und, damals noch real lebend, Cosima Wagner.

Büsten, Portraits und Doppelgänger
Reale Personen im Film zu zeigen, war 1913 schon nichts mehr neues, egal, ob dokumentarisch oder gespielt. Georges Méliès etwa hatte bereits 1899 mehrere Kurzfilme zu Alfred Dreyfus gedreht und inszenierte ein Jahr später einen Zehnminüter zu Jeanne D‘Arc. Mit der Beteiligung von Louis Feuillade und Abel Gance entstand 1909 ein Kurzfilm zum Leben Molières. RICHARD WAGNER ist auch nicht der erste Langfilm-Biopic: der australische Film THE STORY OF THE KELLY GANG aus dem Jahre 1906 gilt mit knapp 1,2 km Länge (= 60 bis 70 Minuten Laufzeit) der erste „full-length feature film“ der Kinogeschichte, und ist daher auch der erste abendfüllende Biopic überhaupt. Allerdings ist das Werk des Australiers Charles Tait heute zu etwa zwei Dritteln verschollen. Insofern ist es nicht zu weit ausgeholt, RICHARD WAGNER als eines der ersten abendfüllenden und noch erhaltenen Biopics der Filmgeschichte zu bezeichnen.

Entgegen der Entwicklung des modernen Biopics, nur gewisse Lebensabschnitte realer Menschen darzustellen und diese dabei in ein Aufstiegs-und-Fall-(und eventuell Wiederaufrappeln-)Modell zu formen, rauscht RICHARD WAGNER fast von der Geburt, zumindest von der frühen Kindheit, bis zum Tod der Titelfigur durch, und arbeitet dramaturgisch eher fragmentarisch mit kleineren und losen Episoden, als einen großen und konzisen Spannungsbogen zu schließen. Inwiefern in letzterem der Stummfilm nicht vielleicht sogar „moderner“ ist als seine in Genre-Konventionen teils erstarrten Nachfolger Jahrzehnte später, ließe sich streiten. Tatsächlich konnte RICHARD WAGNER unmöglich in irgendwelche starre Genre-Muster geraten: es gab sie ja noch nicht.


Der Hauptdarsteller-Komponist und seine Musik

Der Untertitel von RICHARD WAGNER lautet EINE FILMBIOGRAPHIE ANLÄßLICH DES 100. GEBURTSTAGES DES GROßEN MEISTERS. Schön und gut, doch wie passen Komponisten-Biografie und Stummfilm zusammen? Der ursprüngliche Gedanke des Produzenten Oskar Messter war es, den Film bei Aufführungen mit Originalauszügen aus Richard Wagners Musik unterlegen zu lassen – was ja natürlich auch eine nahe liegende Idee ist. Doch das war nicht möglich, und dafür gibt es zwei verschiedene Erklärungen, die sich allerdings nicht unbedingt gegenseitig ausschließen müssen. Die eine Version besagt, dass die Verlagsrechts-Gebühren, um die Musik des Komponisten nutzen zu können, zu teuer waren bzw. Messter nicht bereit war, diese Summen zu bezahlen. Die andere Version besagt, dass die Wagner-Erben nicht die erhabenen Werke ihres Ahnen für ein Medium hergeben wollten, das vor wenigen Jahren noch eine Jahrmarktsattraktion gewesen war. Gerade Cosima Wagner (die man übrigens im Film auch kurz dargestellt sieht) soll wohl einen besonders heftigen Hass gegen das „triviale“ Medium Film gehegt haben. Diese überhebliche Abneigung gegenüber dem Kino passt zwar irgendwie zum Bild, den man sich von einem Teil des „Wagner-Clans“ so macht, war aber 1913 (wie hier und hier in diesem Blog bereits angesprochen) tatsächlich keineswegs eine besonders exzentrische Meinung. Der Meister selbst konnte also die Musik zu „seinem“ Biopic nicht liefern.

Ein expressiver Darsteller: Giuseppe Becce
Dafür konnte es sein Double! Der Hauptdarsteller von RICHARD WAGNER, der Italiener Giuseppe Becce, war nämlich seines Zeichens überhaupt kein Schauspieler, sondern Komponist. Von Hause aus war er sogar eigentlich Geograf, bildete sich aber nebenher auch umfassend im Bereich Musik weiter, und hatte bis kurz vor Produktion des Films bereits Operetten und Opern komponiert. Eine Anekdote besagt, dass Messter den Italiener, der seit 1900 in Berlin residierte, auf der Terrasse eines Cafés begegnete, und ihn aufgrund seiner physiognomischen Ähnlichkeit mit Richard Wagner sogleich als Hauptdarsteller engagierte. Als das ganze Filmprojekt aufgrund des lauten „Niemals mit Wagners Musik!“ aus Bayreuth kurz vor dem Scheitern stand, bot Becce an, die „Wagner-Musik“ für den Film selbst zu „komponieren“. Er arrangierte ein Potpourri aus großen Klassikern, orchestrierte das ganze nach Wagner‘scher Manier, und arbeitete Anklänge an bzw. verfremdete Variationen von Wagner-Motiven in den Musik-Soundtrack ein: dadurch konnte die Musikbegleitung des Films nach Wagner klingen und an Wagner erinnern, ohne Urheberrechte zu verletzen. Über letzteres ließe sich zumindest streiten, denn gerade „Der Fliegende Holländer“ (wenn Wagner das Schiff besteigt und von einer Vision ereilt wird) ist nun doch praktisch eins zu eins vom Original übernommen. Zeitgenossen sprachen von „Wagner-Vermeidungsmusik“. Ansonsten ist Potpourri tatsächlich das richtige Wort, um die Musik des Giuseppe Becce für RICHARD WAGNER zu beschreiben: zu hören sind unter anderem Motive von Rossini mit der „Diebischen Elster“ und „Wilhelm Tell“ (letzteres während der Dresdener Straßenschlacht-Szenen), von Beethovens Sinfonien (besonders der sechsten und neunten). Persönlich habe ich sie nicht rausgehört, aber wohl auch vorhanden sind Anklänge an Haydn und Mozart. Die Marseillaise ist ebenso zu hören wie auch Klänge aus Felix Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert in E-Moll – natürlich ein Paradox, wenn man bedenkt, was der reale Wagner für Mendelssohn Bartholdy übrig hatte (nämlich antisemitische Beschimpfungen).

Becces Musik selbst ist lediglich als Klavierauszug erhalten geblieben. Für das Jahr 2013 hat Bernd Schultheis aus diesem Auszug eine Version für ein großes Orchester arrangiert. Diese ist auch auf der neulich erschienenen DVD zu hören (weiteres dazu unten). Es gibt auf Grundlage des Klavierauszuges auch eine Fassung für Salonorchester, die der Komponist, Dirigent und Stummfilmexperte Helmut Imig für das Wagner-Jahr 2013 arrangierte (diese Fassung habe ich im August 2013 beim Kunstfest in Weimar gehört). Dann existiert auch eine Musikbegleitung für den Film von 1983, erstellt zum 100. Todestag Wagners: der schweizerische Komponist Armin Brunner arrangierte hierfür die nunmehr gemeinfreie Musik des Titelhelden für ein achtzehnköpfiges Ensemble zu einer echten Wagner-Collage – womit er gewissermaßen die ursprüngliche Intention des Produzenten Oskar Messter erfüllte.

Der Komponist-Hauptdarsteller mimt das Komponieren
Dass Giuseppe Becce ein absoluter Schauspiel-Laie war, ist seiner Darstellung des Wagners übrigens nicht im geringsten anzusehen. In der Zeitschrift „Der Kinematograph“ war im September 1913 zu lesen: „Ist die Regie und Inszenierung des gesamten Werkes schon auf voller Höhe, so ist die mimische Darstellung, speziell die des großen Meisters, über alle Erwartungen glänzend gelungen.“ Dem ist nicht viel beizufügen. Gelegentliches Pathos und „Overacting“ ließen sich immer wieder problemlos als geschicktes „Zwischentitel-Vermeidungs-Schauspiel“ bezeichnen!

Bis auf DER ABSTURZ von 1923 war RICHARD WAGNER der einzige Film, in dem Giuseppe Becce eine Rolle mimte. Es war allerdings der Startschuss zu einer höchst umfangreichen Karriere als Filmkomponist – imdb nennt 213 Credits als „composer“ sowie 19 Credits bei „music department“. Darunter finden sich zahlreiche Filmtitel, die „man“ schon einmal gehört hat. Für Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI komponierte Becce die Premierenmusik, für Fritz Langs DER MÜDE TOD, für Friedrich Wilhelm Murnaus DER LETZTE MANN und TARTÜFF, für Gerhard Lamprechts „Milieufilm“ MENSCHEN UNTEREINANDER und sein MADAME BOVARY, für Leni Riefenstahls DAS BLAUE LICHT, für Gustav Machatýs Skandalfilm EKSTASE sowie für zahlreiche Bergfilme von Luis Trenker ist er ebenfalls als Komponist aufgeführt. Er vertonte auch die gekürzte Tonfilmfassung von DIE WEIßE HÖLLE VOM PIZ PALÜ aus dem Jahre 1935. Ebenfalls hat er Produktionsmusik („stock music“) komponiert, die in der Stummfilmfassung von Lewis Milestones ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT und in James Whales FRANKENSTEIN auftauchte (wenngleich ohne Credits bei den Filmen selbst, sondern nur bei imdb gelistet).

Die Musik des deutschen Kinos der 1910er bis 1940er Jahre wurde also maßgeblich von Giuseppe Becce geprägt. In den 1920er Jahren war er der wichtigste Dirigent für Uraufführungsorchester der UFA, und verfasste zusammen mit dem Komponisten Hans Erdmann (u. a. NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE) und einem gewissen Ludwig Brav das filmmusiktheoretische „Allgemeine Handbuch der Film-Musik“. Der Italiener verstarb 1973 im stolzen Alter von 96 Jahren in Berlin.


Die anderen Beteiligten

Der Produzent Oskar Messter, der das Projekt RICHARD WAGNER initiierte, ist hingegen kaum anders denn als Filmpionier zu bezeichnen. Der gebürtige Berliner war der Sohn eines Optikers, und übernahm dessen Betrieb. Schon ein Jahr, nachdem das Medium Film erfunden worden war, vertrieb Messter Filmprojektoren und produzierte eigene Filme: zwischen 1896 und 1918 sollten es fast 400 werden. Nach dem Krieg verkaufte er seine Produktionsfirma an das Unternehmen, das später zur UFA wurde. 1924 zog er sich aus dem aktiven Filmgeschäft zurück. 1932 hinterließ er seine große Sammlung cinematographischer Geräte an das Deutsche Museum in München – und erlebte damit selbst eine frühe Form der Musealisierung eines Mediums, das er während seiner Karriere stets als ernst zu nehmende Kunstform propagiert hatte.

Regisseur und Kameramann Carl
Froelich erschafft immer wieder
beeindruckende deep-focus-Bilder
Die beiden Regisseure William Wauer und Carl Froelich, die beide auch als Drehbuchautor respektive Kameramann fungierten, waren 1913 Angestellte in Messters Produktionsfirma „Messter-Film“. William Wauer, der auch eine kleine Rolle übernahm, war hauptberuflich Bildhauer, und als solcher auch eine prägende Persönlichkeit der deutschen expressionistischen und kubistischen Kunst. In den 1920er Jahren war er Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender der „Internationalen Vereinigung der Expressionisten, Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten“ (bis zu ihrem Verbot 1933). Eine zeitlang war er auch am Bauhaus tätig. Nebenbei war er Feuilletonist und Theaterregisseur. Als Filmregisseur gründete Wauer 1916 seine eigene Filmgesellschaft, die aber offensichtlich nur knapp ein Jahr lang Filme produzierte. 1921 gab er das Kinogeschäft auf. Während des Nationalsozialismus versuchte er sich zwar, mit dem neuen Regime zu arrangieren, wurde aber dennoch zum Vertreter „entarteter Kunst“ deklariert und marginalisiert. 1962 verstarb Wauer 95-jährig in Berlin.

Carl Froelich war seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Filmgeschäft tätig, genauer gesagt war er als Angestellter Oskar Messters für den Bau cinematografischer Geräte verantwortlich und als Kameramann tätig. Anfang der 1920er Jahre gründete er die Carl Froelich-Film GmbH, mit der (bis auf eine fünfjährige Pause nach dem Zweiten Weltkrieg) ununterbrochen bis Anfang der 1950er Jahre Filme produzierte. Sein zweifelsohne aufsehenerregendster Film war MÄDCHEN IN UNIFORM (1931), den er mit der Theaterregisseurin Leontine Sagan co-inszenierte (es ist gemeinhin zu lesen, dass Sagan die Schauspielerinnen anführte, während der „künstlerische Leiter“ Froelich sich auf technische Fragen beschränkte). Der Film wurde aufgrund seiner Darstellung weiblicher Homosexualität von den Nationalsozialisten verboten. Froelich hinderte dies allerdings nicht daran, ab 1933 eine große Karriere zu machen. Im selben Jahr trat er in die NSDAP ein, wirkte jahrelang aktiv als Funktionär in der nationalsozialistischen Filmindustrie und wurde 1939 Präsident der Reichsfilmkammer. Dieses Amt übte er bis 1945 aus. Nach dem Ende des Weltkrieges und der Entnazifizierung drehte er Anfang der 1950er Jahre noch zwei Komödien, bevor er 1953 in Berlin verstarb.

Filmfehler oder bewusster Bruch der vierten Wand?
Ernst Reicher als bayerischer König Ludwig II.
Über Manny Ziener, die Wagners erste Ehefrau Minna Planer spielt, gibt es nicht gerade besonders viel Informationen. Ihr Geburts- und Todesdatum scheint umstritten zu sein (1887 oder 1893 respektive 1971 oder 1972). Sie kam Anfang der 1910er vom Theater zum Film, war allerdings in den 1920er Jahren ausschließlich als Theaterschauspielerin und Kabarettistin tätig, bevor sie in den 1930er Jahren wieder zum Film zurückkehrte.
Die Darstellerin Miriam Horwitz, ist ein noch weiter unbeschriebenes Blatt, zumal sie sich den Namen mit einer 1984 geborenen TV-Schauspielerin teilt. Ihre beiden einzigen Rollen außer Mathilde Wesendonck spielte sie einmal 1913 und einmal 1959.

Wesentlich bekannter in der Stummfilm-Ära war hingegen der Mime des bayerischen Königs, Ernst Reicher. Der Schauspielersohn war zunächst am Theater tätig, bevor er 1912 zum Film kam und Joe May kennen lernte. Gemeinsam erfanden sie die überaus beliebte Detektiv-Figur Stuart Webbs: zwischen 1913 und 1929 entstanden über 40, größtenteils abendfüllende Filme mit dem Gentlemen-Ermittler. Joe May führte bei den ersten vier Filmen Regie, und Ernst Reicher verkörperte bis im Jahre 1926 (mit einer Ausnahme) jedes Mal die Hauptfigur. Seit 1913 war letzterer auch als Regisseur bzw. seit 1915 als Produzent tätig. 1933 floh Reicher, der jüdischer Herkunft war, in die Tschechoslowakei, wo der einst beliebte Detektiv-Mime in Vergessenheit und Armut geriet. Im Frühling 1936 beging er in einem ärmlichen Prager Hotel Selbstmord.


Wagner-Kult, Wagner-Bild und Nationalsozialismus

RICHARD WAGNER entstand 100. Jahre nach der Geburt der realen Titelfigur, ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, und zwanzig Jahre vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, und ist daher auch als ein Dokument der Wagner-Rezeption zu sehen: also des Umgangs mit einer der (wenn nicht sogar DER) umstrittensten Figuren der deutschen Kulturgeschichte.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Wagner-Kult in Deutschland einen Höhepunkt, der durch das Jubiläumsjahr noch befeuert wurde. Mehrere Denkmäler und Büsten für den Komponisten wurden seit der Jahrhundertwende, verstärkt aber um 1913 geschaffen und eingeweiht. Sicherlich ist auch der Film RICHARD WAGNER eine Art Denkmal für den umstrittenen Komponisten: eine Verklärung, die ganz und gar unkritisch an sein Subjekt herangeht. Wagner wird geradezu zum Held stilisiert (wodurch der Film zwischendurch eben auch den Drive eines Abenteuerfilms entwickelt).

Der Wagner in Messters Biopic ist schon früh ein Hochbegabter, und später ein zu Unrecht von der Mehrheit belächeltes und verachtetes Genie. Geradezu als Märtyrer erscheint er in seiner Armut, wird permanent von gemeinen Gläubigern verfolgt – dass Wagner (meist in seinem schieren Größenwahn) nicht mit Geld umgehen konnte, zeigt der Film durchaus, aber es taucht immer eine „deus ex machina“ auf, die ihn rettet. Er ist auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen ein unschuldiger Märtyrer, denn immer, wenn er sich gerade mit jemandem gut versteht, funkt jemand dazwischen: Seine Ehefrau etwa, wenn er mit Mathilde Wesendonck... „über seine nächste Oper spricht“, oder die bösen intriganten Minister und Münchener, wenn er nur mit seinem besten Buddy Ludwig abhängen möchte. 

Das steht natürlich alles im Kontrast zur düsteren Seite Wagners. Dessen Urenkel, Gottfried Wagner, wies als „Querschläger“ im Wagner-Jahr 2013 darauf hin, dass man den umstrittenen Komponisten keineswegs nur auf seinen Antisemitismus reduzieren könne: er sei schließlich auch ein zorniger Frauenverächter, ein von Hass zerfressener Misanthrop, ein nach oben buckelnder und nach unten tretender Kriecher und Speichellecker, ein früher und überzeugter Vertreter des modernen biologischen Rassismus und völkischen Nationalismus, ein krankhafter und intrigierender Narzisst und ein wahnhafter Apokalyptiker voller zynischer und menschenverachtender Erlösungs-, Todes- und Vernichtungsfantasien gewesen. Gottfrieds „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir: Richard Wagner – ein Minenfeld“ ist sicherlich sehr polemisch, erinnert aber noch mal in aller Deutlichkeit daran, welch eine unangenehme Person Wagner gewesen ist.

Wagner mit polnischen Revolutionären, einem jüdischen
Freund, in einer Straßenschlacht, mit Kaiser Wilhelm I.
Davon ist natürlich in RICHARD WAGNER nichts zu spüren. Allerdings lässt sich der Film auch keineswegs als deutsch-nationale Form der Wagner-Rezeption interpretieren, denn dafür ist eine Struktur viel zu impressionistisch, und das Drehbuch viel zu sehr als Heldenbiografie über individuelle Genialität angelegt. Wagners Antisemitismus taucht auch nicht auf (der Film machte sich gewissermaßen auch die Normalität des Antisemitismus nicht zu eigen). Vielmehr wird die Titelfigur in Riga von einem offenbar befreundeten Juden (an seinen Schläfenlocken zu erkennen) tatkräftig bei der Flucht unterstützt: er besorgt die Kutsche, organisiert den Wechsel der Pferde, und bringt Richard und Minna Wagner sicher über die Grenze zum Schiff. Wenn, dann wird Wagner tatsächlich eher als „linker“ Revolutionär dargestellt, in den Szenen mit Bakunin und den Dresdener Straßenkämpfen – gerade letztere dienen aber eher als actionreiche Schauwerte denn als tiefgründige politische Reflexionen. Später empfängt Wagner den deutschen Kaiser Wilhelm I. zu den Nibelungenfestspielen, allerdings war gerade Wilhelm I. alles andere als eine deutschnationale Identifikationsfigur.

Wie bzw. überhaupt ob RICHARD WAGNER in den Jahren 1933 bis 1945 erneut gezeigt, ausgewertet, umgearbeitet, gedeutet oder vielleicht auch unter Verschluss gebracht wurde, kann ich nicht sagen. Zu beachten wäre natürlich, dass zwischen 1913 und 1933 das Aufkommen des Tonfilms liegt, insofern der Film am wahrscheinlichsten zu einer Tonfassung umgeschnitten bzw. umgearbeitet worden wäre (wie etwa mit Fritz Langs DIE NIBELUNGEN: SIEGFRIED geschehen).

Gerade der weitere Lebenslauf der Beteiligten zeigt, dass die Zeitgeschichte natürlich nicht einfach so an ihnen vorüber gegangen ist, wenn einer der Regisseure knapp ein Vierteljahrhundert später zu einem der höchsten nationalsozialistischen Filmfunktionäre aufsteigt, oder der Mime des ersten ganz großen Wagner-Liebhabers zum Verfolgten und Opfer der unheilvollsten aller Wagner-Liebhaber wurde.

All diese Ausführungen zur Verknüpfung von problematischer Persönlichkeit, Wagner-Rezeption und -Kult und den Entwicklungen des völkischen Nationalismus hin zum Nationalsozialismus sind als Fragen, als Denkanstöße, nicht als fixe Antworten gedacht. Ich denke, als fiktionaler, „epischer“ Film (sozusagen als Wagner, wie man ihn sich wünschen könnte) ist RICHARD WAGNER problemlos zu genießen. Als eine bestimmte Form der Wagner-Rezeption kann man den Film durchaus mit Fragen im Hinterkopf sehen – denkendes und vergnügt-unterhaltsames Filmeschauen sind ja bekanntlich keine Gegensätze.


Zur DVD

Seit Dezember letzten Jahres ist RICHARD WAGNER auf einer DVD von universumfilm erhältlich. Hier die Erklärung zur Restauration zu Beginn des Films: „Die Restaurierung fand 2011/12 durch das EYE Film Institute Netherlands, Amsterdam, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden statt. Von zwei viragierten und getonten 35mm-Nitrokopien aus der Desmet Collection des EYE Film Institute Netherlands wurde ein 35mm-schwarzweiß-Dup-Negativ hergestellt. Den davon gezogenen Kopien wurden die Färbungen nach der Desmet-Methode hinzugefügt. Bei der Digitalisierung in 2K-Auflösung wurden die Färbungen nochmals überarbeitet. Die Texte der deutschen Zwischentitel folgen einem Programmheft aus dem Deutschen Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main. Die Texte für die deutschen Inserts wurden aus einer 16-mm-Safetykopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung übernommen.“
Bei der Musik handelt es sich um eine Live-Aufzeichnung der Restaurations-Uraufführung am 22. Mai 2013 im Festspielhaus Baden-Baden, mit der von Bernd Schultheis bearbeiteten, arrangierten und instrumentierten Musik Giuseppe Becces, gespielt von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Frank Strobel.
Der Film dauert etwa 98 Minuten bei einer Geschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde. Das Bild ist, dem Alter des Films entsprechend und mit einigen Schwankungen, überaus gut. Extras enthält die DVD leider überhaupt keine. Dafür gibt es im Archiv von arte einiges zu stöbern.

Mittwoch, 2. Januar 2013

2012 – Manisch-epischer Reiseführer durch ein Filmjahr mit Statistiken und Listen, oder: Wie ich auf einen Spiritisten reinfiel



Und... wieder ein Jahr rum!
Ein filmreiches Jahr. Viele Filme gesehen: in vielen Kinos, auf DVD, im Fernsehen und – ja auch das! – in den großen Weiten dieses so genannten Internets; gute Filme, Meisterwerke, schlechte Filme, totale Gurken, schwarz-weiß, farbig, 2D, 3D, kurz, sehr kurz, lang, episch... Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Filme in einem Jahr gesehen... zumal so viele mir unbekannte Werke.

Statistik, Statistik, wer ist die schönste Liste im ganzen Land?
Klar: Statistiken sagen oft nicht viel aus, üben aber trotzdem eine große Faszination aus. Bei mir entspringt dieses Bedürfnis nach statistischen Auswertungen dem Drang, mich und meine Umwelt in eine Ordnungsstruktur zu erfassen. Wer weiß, wie mein Zimmer aussieht, wird wahrscheinlich irgendetwas von „Überkompensierung“ murmeln. Sei‘s drum. Vielleicht steht auch die Neugierde dahinter, solche Fragen wie „Wie oft gehe ich ins Kino?“, „Wie viele Kinosäle lerne ich neu kennen?“, „Wie viele DVDs sehe ich?“ und „Wie groß ist der statistische Anteil an Stummfilmen in meinen Filmsichtungen?“ nicht nur rhetorisch zu stellen.
2012 habe ich 399 Filme gesehen. Alpha und Omega bildeten Viscontis SENSO und Powells PEEPING TOM. 340 der Filme waren Neusichtungen, das sind nicht ganz 90 %. Insgesamt 90 Filme (also über ein Fünftel) habe ich im Kino geschaut. Von diesen wiederum waren 42 Stück aktuelle Filme, Premieren und Vorschauen.

Vado ad cinematographico
Ob 90 Filme im Kino in einem Jahr nicht etwas teuer sind? Nicht, wenn man in mehr als die Hälfte (52 um genau zu sein) kostenlos reingekommen ist.
Dazu gehören zunächst alle Besuche bei Filmfestivals, in meinem Fall dem go East Festival in Wiesbaden, der Viennale und dem Weimarer trekoulor-Festival. Mit einem charmanten Lächeln und einer Presseakkreditierung ausgestattet, konnte ich auf diese Weise 44 Filme in neun verschiedenen Kino-Locations sehen.
Zu meinen kostenlosen Kinobesuchen gehören auch vier Pressevorführungen mit einem großartigen Film (SKYFALL), einem exzellenten Film (SHAME) und zwei dämlich-peinlich-schlechten Gurken (BLACK GOLD und TOTAL RECALL). Auch eine Aufführung von BRONENOSEC POTEMKIN mit Orchesterbegleitung im Deutschen Nationaltheater Weimar konnte ich dank Pressekarte erleben.

Eine kostenlose Vorstellung von Manfred Noas NATHAN DER WEISE gab es am 16. November im Weimarer mon ami-Kino im Rahmen des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“ – die befremdlichen antisemitischen Kommentare eines Senioren nach Ende des Films kamen als unerfreuliche und ärgerliche Zugabe ebenfalls kostenlos dazu. Je einen Film von Chaplin (EASY STREET) und Keaton (COPS) sah ich im Jenaer Haus auf der Mauer: Der Pianist Richard Siedhoff begleitete seine eigenen, selbst zusammen geschnittenen und vervollständigten 8-Millimeter-Fassungen. Als Werbeveranstaltung für das Magazin unique war der Eintritt kostenfrei, aber nicht umsonst. Last but not least hat mich der nette luzifus mit einer Freikarte in das Weimarer Cinemagnum zu THE DARKEST HOUR eingeladen.
So kommt man als Cinephiler auch kostenlos an seinen Filmgenuss. Aber keine Angst: einerseits wurden durch Fahrt- und teilweise auch Übernachtungskosten diese Gewinne wieder gut ausgeglichen, andererseits habe ich zur Mehrheit dieser Filme auch Artikel verfasst – und die schreiben sich bekanntlich nicht von alleine. Für den Rest habe ich wie alle anderen Normalsterblichen bezahlt: zwischen vier Euro Ermäßigungs-Flatrate im mon ami-Kino und rekordverdächtigen 12,80 Euro für einen 3D-Film mit Überlänge an einem Samstag-Abend im CineStar Weimar (HUGO) – die 3D-Brille natürlich noch nicht mit eingerechnet...

18 Kino-Locations
Lichthaus-Kino im Straßenbahndepot Weimar: 26
Kino mon ami Weimar: 12
Caligari FilmBühne Wiesbaden: 9
Apollo-Kinocenter Wiesbaden: 8
Gartenbaukino Wien: 6
CineStar Weimar: 4
Filmmuseum Wien: 4
Metro-Kino Wien: 4
Murnau-Filmtheater im Deutschen Filmhaus Wiesbaden: 4
Café Wagner Jena (35-Millimeter-Projektion): 2
CineStar Leipzig: 2
Haus auf der Mauer Jena (8-Millimeter-Projektion): 2
Passage-Kino Leipzig: 2
Cinemagnum 3D-Kino Weimar: 1
Congress Centrum Neue Weimarhalle (35-Millimeter-Projektion): 1
Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar (Stummfilm-Aufführung mit Orchester): 1
Stadtkino Wien: 1
Weimarhallenpark (Open Air-Kino): 1

Das perfekte Kino zu finden ist nahezu unmöglich.
Der prunkvolle Saal der Caligari FilmBühne in Wiesbaden hat eine Sitzbequemlichkeit und eine Beinfreiheit, die als fürstlich, nein geradezu als kaiserlich zu bezeichnen ist. Die Leiste zum Abstellen der Getränke („Caligaris Bierrampe“) ist eine tolle Idee. Und doch: die Leinwand ist gerade groß genug, wenn man ganz vorne sitzt, die Getränkepreise sind völlig horrend und zu den Toiletten muss man gefühlte 100 Treppenstufen steigen. Trotzdem ist die Caligari FilmBühne das wohl beeindruckendste Kino, das ich 2012 kennen gelernt habe. Zumal der allererste hier jemals gezeigte Film... Murnaus FAUST war!
Ein großer Favorit ist und bleibt das Lichthaus, mit seiner kleinen Lounge, seinem heruntergekommenen Charme, seinen immer wieder wechselnden und gut bezahlbaren Angeboten an „exotischen“ Bieren, seinem exklusiven Stummfilm-Programm... Kern ist nach wie vor die Urigkeit von Saal 1 mit seinen Sofas und Sesseln, die wie vom Sperrmüll aufgelesen aussehen (weil sie es wahrscheinlich sind): individueller Sitzkomfort für jeden einzelnen Zuschauer! Aus dreier solcher Reihen (die klassischen Kino-Sitzreihen dahinter beachte ich nicht) wurden kürzlich zwei gemacht, und damit die Beinfreiheit in der zweiten und von mir bevorzugten Reihe erhöht. Das liegt hoffentlich nicht an Einbussen – zum Beispiel MOONRISE KINGDOM war gerade hier ein fulminanter und im wörtlichen Sinne heißer Hit –, sondern am Anbau eines zusätzlichen Kinosaals: Saal 3, den ich zum leicht enttäuschenden WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in seiner provisorischen Form und Lage kennen gelernt habe. Ein kleiner Minuspunkt ist jedoch die weiterhin eklatante Unterrepräsentation von OV-Aufführungen, die nur selten durchbrochen wird... Cine-Wüste Thüringen halt.
Cinematographische Primzahl
Für Stummfilme ist der Saal 1 jedoch unschlagbar – 2012 sah ich hier acht Stück: METROPOLIS (zwei Mal), DER LETZTE MANN, VARIETÉ, FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, FRAU IM MOND, GEFAHREN DER BRAUTZEIT, GENERAL‘NAJA LINIJA und SPIONE. Dabei ist es bezeichnend für mich, dass ich in diesem Jahr drei 3D-Filme gesehen habe (THE DARKEST HOUR, HUGO, THE PIRATES), jedoch insgesamt 51 Stummfilme (knapp ein Achtel aller Sichtungen) .

Dass ich als Mensch gelegentlich zu Einzelgängertum neige, färbt sich auch auf meine Art des Kinobesuchs. Dieser war
alleine: 40 X
in Begleitung von
1 Person: 32 X
2 Personen: 11 X
3 Personen: 3 X
5 Personen: 1 X
6 Personen: 1 X
Bei zwei der von mir in Kino-Aufführung gesichteten Filme war ich hingegen Co-Organisator (und daher weder „alleine“ noch „begleitet“ im klassischen Sinne).

Kino alleine oder in Begleitung?
Beides hat Vorteile und Nachteile. Mit einer oder mehreren Personen, die man im Idealfall gut leiden kann, etwas zu unternehmen, ist an sich erfreulich. Zusätzlich kann man sich unterhalten, bevor der Film beginnt (ein Vorteil, wenn der Film zu spät startet). Oder man kann sich noch während der Vorstellung des Gefühls vergewissern, im falschen Film gelandet zu sein, oder bei Toilettengängen gegenseitig auf Jacken, Taschen und Getränke aufpassen oder Kekstüten, die für eine Person zu groß sind, gemeinschaftlich leer futtern. Man kann nach der Vorstellung in Gesellschaft essen, trinken und den Film diskutieren.
Jedoch neigt manch Kinobegleiter dazu, Geräusche zu machen: etwa mit geschmuggelten Chipstüten oder mit dem nervösen Tick, die Filmmusik mittels rhythmischen Klopfens auf einer Flasche zu unterstützen. Größere Gruppen haben auch ochlokratische Neigungen und setzen sich aller Vernunft zum Trotz viel zu weit hinten im Kinosaal.
Ebenso sei hier auf das Meditative, ja fast Kontemplative, aber auch sehr Intime der Filmrezeption verwiesen...
Vielleicht sollte man folgende Regel aufstellen: je „anspruchsvoller“ der Film ist, desto alleiner sollte man ihn schauen. Doch was bedeutet schon „anspruchsvoll“? Tarr Belás A TORINÓI LÓ alleine zu schauen und im Anschluss etwas verwirrt, verstört und in persönlichen Gedanken versunken durch Weimar zu spazieren war genau so richtig, wie THE EXPENDABLES 2 in Begleitung von fünf Kollegen zu sehen: im Anschluss wurde bei einem Bier in aller Ausführlichkeit das bestmögliche Casting für THE EXPENDABLES 3 besprochen. Eine der Erkenntnisse: Michael Dudikoff und Lorenzo Lamas dürfen nicht fehlen!

Bleiben immer noch die restlichen Dreiviertel der Filme, die ich in folgenden Formaten gesehen habe:
DVD: 240 (≈ 60 %)
gWdsgI: 54 (≈ 14 %)
TV-Ausstrahlung: 15 (≈ 4 %)

Scribo ergo sum oder: Cinephilie funktioniert wie Heroinsucht!
Das einzige Mittel gegen das Virus des Films ist: mehr Film. Die Vorteile liegen auf der Hand: auf die Dauer ist Cinephilie weniger teuer als Toxikomanie, sie ist sozial etwas verträglicher, und eine Überdosis führt nicht zum Tod, sondern höchstens zu Müdigkeit, Sekundenschlaf-Attacken und Schlaf.
Seit April 2012 fungiert luzifus als mein größter DVD-Dealer, der mich regelmäßig versorgt: sowohl die Qualität der Filme selbst als auch die Präsentationsform sind großen Schwankungen unterworfen. Vom Meisterwerk bis zur fast körperlich schmerzhaften Gurke, von wundervollen, üppigen DVD-Boxen bis zum miserablen Screener in schlechter Qualität und mit bildfüllenden Wasserzeichen war alles dabei. Meine Gegenleistung: zu jedem Film eine Besprechung schreiben, die je nach Rubrik zwischen 1.500 und 7.000 Zeichen schwankt und irgendwann bei multimania. Das Magazin für zeitgenössische multimediale Kultur veröffentlicht wird (oder auch nicht).
Insgesamt habe ich 2012 147 Filme gesehen (global also etwa 37 %), die ich im weitesten Sinne besprochen habe – vom häufigsten Format der 1.500-Zeichen-Kurzrezension bis hin zur ausführlichen 25.000-Zeichen-Besprechung, von einer konzentrierten Abhandlung bis zu einem peripherem Kommentar in einem Sammeltext.

Zur Herkunft, nach Häufigkeit geordnet
211: USA
28: Frankreich
26: Deutschland (ausgehendes Kaiserreich und Weimarer Republik)
18: Deutschland (alte und neue Bundesrepublik)
17: UK
12: Italien, UdSSR
7: Polen
6: Hongkong, Kanada, Russland
4: SFR Jugoslawien
3: ČSSR, Japan, Korea (Süd), Neuseeland, Spanien, Ungarn
2: Belgien, Dänemark, Serbien
1: Argentinien, Australien, Brasilien, Bulgarien, China, Deutschland (DDR), Finnland, Griechenland, Kazachstan, Kosovo, Kuba, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Philippinen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Uzbekistan


Ein Amerikaner namens David
Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass US-amerikanische Werke die Mehrheit der Filme bildet, die ich gesehen habe. In der Tat gehen einige meiner größten Entdeckungen des Jahres auf die USA zurück. Darunter finden sich Werke von Regisseuren, die mir bis dahin entweder unbekannt oder sehr wenig vertraut gewesen sind: Gregg Araki, Budd Boetticher, Charles Chaplin, Roger Corman, Samuel Fuller, Elia Kazan, Fritz Lang, Joseph Lewis, Anthony Mann, Otto Preminger, Nicholas Ray, Robert Siodmak, Jacques Tourneur, Orson Welles.
Meine relative Vernachlässigung des ostasiatischen Raums ist im Gegenzug nach wie vor sträflich und wird mir immer wieder – dankenswerterweise! – durch Manfred Polak in Erinnerung gerufen, wenn er eine Besprechung zu einem japanischen Film veröffentlicht. Noch viel sträflicher ist die völlige Abwesenheit des afrikanischen Kinos: widerspiegelt dies vielleicht die Veröffentlichungspolitik deutscher (westeuropäischer) Filmverleihe? Bin ich selbst gegenüber den spärlichen Angeboten blind? Ich hoffe, dass diese Kinoregion, die ich in den Jahren zuvor zumindest bruchstückhaft kennen gelernt habe, bei mir 2013 nicht leer ausgehen wird.
Besser vertreten ist hingegen das osteuropäische Kino, dessen Qualitäten ich immer wieder verteidigen werde! Dies hat mir mein erstmaliger (und hoffentlich nicht letzter) Besuch beim go East Festival Wiesbaden vollends bestätigt.
Lateinamerika und Skandinavien sind wiederum selten in meinen diesjährigen Sichtungen vertreten. Zumindest aber ersteres taucht ein Mal (im weitesten Sinne sogar zwei Mal) in meiner aktuellen Top-10-Liste auf.

Zum Erscheinungsjahr, nach Häufigkeit geordnet und in Jahrzehnten gruppiert
77 2010er Jahre
62 1950er Jahre
54 2000er Jahre
48 1940er Jahre
41 1920er Jahre
31 1990er Jahre
27 1960er Jahre
19 1970er Jahre
19 1980er Jahre
11 1930er Jahre
8 1910er Jahre
2 1900er Jahre

Die starke bis sehr starke Überrepräsentation von Filmen der 1920er, 1940er und 1950er Jahre ist teilweise (aber keineswegs absolut) eine Erklärung dafür, dass knapp 41 % aller 2012 gesehenen Filme schwarz-weiß waren, nämlich 163 Stück!

Du sitzt also den ganzen Tag im Kino und schaust einen Film nach dem anderen? ...
... fragte mich etwas ungläubig die Mitbewohnerin meines Gastgebers bei der Viennale. Manche Menschen denken, dass es eine Verschwendung sei, seine Zeit mit Filmen zu verbringen. Mir fallen hingegen Hunderte Dinge ein, mit denen man seine Zeit noch sinnloser vergeuden kann (z. B. Joggen, eine Dorfdisco besuchen, Fußball gucken, Gesichts-Buchen und vieles mehr).
Zur Ehrung dieser netten jungen Dame, die mir trotz großer Zweifel an meiner geistigen Gesundheit liebenswürdigerweise einen Pausen-Apfel mitgab...

Der filmreichste Tag des Jahres: Samstag, 21. April, oder: ein typischer Filmfestival-Tag
An diesem Tag habe ich beim go East Festival zehn Filme in sechs Filmblöcken geschaut. Auch qualitativ erwies sich der Tag als außergewöhnlich.
1. Filmblock – DEDUNA, russ.: SVETLJAČKI (Dato Janelidze, UdSSR 1987): Vom Alltag eines kleinen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Filmpoesie in Reinform.
2. Filmblock – GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK / ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU / O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM / NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Karpo Godina, Jugoslawien 1970-1972): Vier formal strenge, aber wundersame Experimental-Kurzfilme aus dem Lande Titos.
3. Filmblock – GOMARËT E KUFIRIT (Jeton Ahmetaj, Kosovo 2010): Der erste von und in der unabhängigen Republik Kosovo produzierte Film handelt von absurd-komischen jugoslawisch-albanischen Grenzstreitigkeiten, in denen unter anderem ein der Spionage verdächtiger Esel (der titelgebende „Grenzesel“) eine Rolle spielt.
4. Filmblock – FABRIKA / BLOKADA (Sergej Loznica, Russland 2004-05): Zwei sehr unterschiedliche Experimentaldokus – ein faszinierender, meditativer Blick in eine russische Metall-Fabrik und eine grundlegend misslungene Soundcollage zu historischen Bildern der Leningrader Blockade.
5. Filmblock – GAAMER (Oleg Sencov, Ukraine 2011): Wenig beeindruckende psychologische Studie eines jugendlichen Spielsüchtigen.
6. Filmblock – PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011): Wunderbare romantische Komödie der etwas anderen Art, die nicht umsonst drei Mal frenetischen Applaus vom Publikum erhielt.


Robert, Roman, Buster & Charlie
Manch ein Regisseur ist mir 2012 genug oft begegnet, um die Sichtungen im Rückblick zu fragmentarischen Werk-Retrospektiven erklären zu können – inklusive persönlicher Rangliste mit Wertungen.

Robert Siodmak
Den gebürtigen Dresdener lernte ich mit THE KILLERS im Rahmen meiner film noir-Retrospektive kennen, die unser aller liebster deutsch-französischer Sender im Januar ausgelöst hatte. Möglicherweise war es vollkommen beknackte Synchro, die sich wie ein hässlicher kakophonischer Schleier über den ganzen Film legte, die meine Begeisterungsstürme in Grenzen hielt. Doch Siodmak drehte vier Jahre später fast genau den selben Film (Überfall-Story mit femme fatale und Burt Lancaster) noch einmal, mit meiner Meinung nach erheblich größerem Erfolg. Dass er nicht nur noirs und freudianische Schocker drehen konnte, bewies er auch in einem „trivialen“, aber soliden Piraten-Abenteuer und in einem frühen Proto-Neorealismus/Proto-Nouvelle-Vague-Film.

1 CRISS CROSS, USA 1949, 5/5
2 THE SPIRAL STAIRCASE, USA 1946, 4,5/5
3 THE DARK MIRROR, USA 1946,4,5/5
4 MENSCHEN AM SONNTAG (Co-Regie mit Edgar G. Ulmer), Deutschland 1930, 4/5
5 THE FILE ON THELMA JORDON, USA 1950, 3,5/5
6 THE CRIMSON PIRATE, USA 1952, 3,5/5
7 THE KILLERS, USA 1946, 3/5

Roman Polański
Drei zu besprechende Rezensions-Exemplare (die polnische, die britische und die aktuellste Produktion) führten zu einer Ausleihe aus der Stadtbücherei (dem Shakespeare-Stoff) und zu einer im Vergleich zur Erstsichtung überaus erfreulichen Neuentdeckung des Neo-Noirs. Den Satanisten-Film gab es etwas früher unabhängig von den anderen. Fazit: „Polańskis Horrorfilm“ wird für mich von nun an immer REPULSION sein und der gute Mann sollte nie wieder Hörbuch-Adaptionen von Theaterstücken verfilmen.

1 NÓŻ W WODZIE, Polen 1962, 5/5
2 REPULSION, UK 1965, 5/5
3 CHINATOWN, USA 1974, 4,5/5
4 MACBETH, UK/USA 1971, 4/5
5 ROSEMARY‘S BABY, USA 1968, 3/5
6 CARNAGE, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien, 0/5

Buster Keaton
THE GENERAL blieb auch bei der zweiten Sichtung auf großer Leinwand und der vielleicht fünften oder sechsten insgesamt ein unschlagbares Filmerlebnis. Er zeugt vom visuellen Genie eines Mannes, dessen zeitgenössische Erfolglosigkeit vielleicht am ehesten durch seinen „trockenen“ und sogar „zynischen“ Humor erklärbar ist. Mit der Verschmelzung von Kino-Realität, Kino-Projektion und Traum in SHERLOCK JR. schuf er im wörtlichen Sinne todesmutig etwas, was man heute wohl als postmoderne Reflexion über das Medium Film bezeichnen würde. Selbst seine Filme, die an laschen Drehbüchern leiden, weisen eine visuelle Phantasie auf, die mir persönlich bei einem gewissen schnurrbärtigen Zeitgenossen etwas fehlt: genannt sei eine Point-Of-View-Kamerafahrt aus der Perspektive eines wütenden Bullen (in GO WEST wohlgemerkt, nicht in COPS), die möglicherweise Eisenstein zu einer Sex-Szene in GENERAL‘NAJA LINIJA inspirierte.

1 THE GENERAL, USA 1926, 5/5
2 SHERLOCK JR., USA 1924, 5/5
3 STEAMBOAT BILL JR., USA 1928, 4,5/5
4 COPS, USA 1922, 4,5/5
5 OUR HOSPITALITY, USA 1923, 4/5
6 THREE AGES, USA 1923, 3,5/5
7 THE NAVIGATOR, USA 1924, 3,5/5
8 GO WEST, USA 1925, 3,5/5
9 COLLEGE, USA 1927, 3/5

Charles Chaplin
Wenn wir den Keaton-Chaplin-Dualismus als existierend anerkennen mögen, dann bin ich definitiv ein Keaton-ist! Dafür gibt es mehrere Gründe. Chaplin filmt keine Drehbücher, sondern reiht oft nur Gags und Kurz-Sequenzen aneinander, die für sich genommen manchmal ganz nett sind (und manchmal eben nicht), zur Summe addiert jedoch kein sinnvolles Ganzes ergeben: als hätte er beliebige Szenen beliebig und vor allem ohne dramaturgischen Rhythmus montiert. Gerade bei MODERN TIMES, CITY LIGHTS und THE GOLD RUSH wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Filme ebenso gut vierzig Minuten länger hätten sein können... oder eben vierzig Minuten kürzer: was freilich nichts an der großartigen Schönheit (die Einführung des Blumenmädchens in CITY LIGHTS) oder überaus erquicklichen Komik einzelner Sequenzen (der Tramp experimentiert mit Kokain in MODERN TIMES) ändert. Doch selbst der Kurzfilm THE IMMIGRANT fühlt sich wie zwei willkürlich aneinander geklatschte Episoden an (was er tatsächlich auch war!). THE CIRCUS scheint mir eine Ausnahme zu sein: ein starkes und stringentes Drehbuch, das nicht in lose Einzelteilchen zerfällt, wird verknüpft mit einer visuell ausdrucksstarken Bildgestaltung, die so konsistent ist wie in keinem anderen Werk Chaplins. Ironischerweise fühlte sich THE CIRCUS ein bisschen wie ein Film von Buster Keaton an... und teilt sich nun mit THE GREAT DICTATOR, dem einzigen Chaplin-Film, den ich vor 2012 kannte, das erste Treppchen auf meinem Chaplin-Podest.

1 THE CIRCUS, USA 1928, 5/5
2 THE IMMIGRANT, USA 1917, 4/5
3 EASY STREET, USA 1917, 3,5/5
4 MODERN TIMES, USA 1936, 3/5
5 CITY LIGHTS, USA 1931, 3/5
6 THE GOLD RUSH, USA 1925, 2,5/5


Die Top-10-Liste der aktuellen Kino-Filme 2012
Das Kerngeschäft bei „Whoknows Presents“ liegt seit jeher nicht bei aktuellen Kinoproduktionen. Trotzdem folgt hier, zwecks Vollständigkeit, meine persönliche Top-Ten der aktuellen Filme (deutscher Kinostart bzw. Kino-Uraufführung bzw. Direct-to-Video-Auswertung im Jahre 2012).

001
PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen), Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011
Vier Paare mit jeweils einem Belgrader und einem nicht-serbischen Partner erleben die Freuden und Mühen der Liebe mit Alkohol, Autoverfolgungsjagden und S&M-Spielchen.
Bojan Vuletićs Debütfilm ist eine herrliche Dekonstruktion der Rom-Com als verspielte Experimental-Agitprop für den Beitritt Serbiens zur EU. Wunderbar vergnüglich und vergnüglich wunderbar entfaltet sich ein Werk von einer unbändigen Energie, das Genre-Unterhaltung und hoher cinematographischer Anspruch verknüpft. Wir dürfen alle hoffen, dass in der westeuropäischen und angelsächsichen Hemisphäre sich irgendein Filmverleih findet, das bereit ist, diese Perle von einem Film unter mehr Leute zu bringen!

002
SKYFALL, Sam Mendes, UK/USA 2012
Ein britischer Geheimagent wird wieder mal auf die Welt losgelassen und erlebt Abenteuer, die ihn in den (provisorischen) Tod, in die Vergangenheit und in ödipale Neurosen führen.
Ein Mann wird von einer Menge dazu angefeuert, ein Glas Whiskey zu trinken. Auf der Hand, die das Getränk hält, krabbelt ein sichtlich gereizter Skorpion. Unser Held zögert kurz, trinkt auf ex und stellt Gefäß und Arachnidum wieder ab. Dies, aber auch die restlichen 142 Minuten des Films erlauben diesem, neben THE SPY WHO LOVED ME und YOU ONLY LIVE TWICE, sowohl auf dem Podest meiner Lieblings-Bond-Filme aller Zeiten wie auch auf diesem Jahres-Podest zu kuscheln.

003
KILLER JOE, William Friedkin, USA 2011
Der Mordkomplott einer Trailer-Trash-Familie läuft außer Kontrolle, als der beauftragte Profikiller mit der Tochter anfängt anzubandeln.
In Wien verpasst, bei der Direct-to-DVD-Auswertung in Deutschland nachgeholt... Das Versprechen des deutschen Covers (Action-Thriller) führt noch mehr in die Irre als die Tag-Line des Original-Plakats: „A totally twisted deep-fried Texas redneck trailer park murder story“. Vielmehr ist KILLER JOE eine völlig irrsinnige Groteske, ein schockierendes Prinzessinnen-Märchen, das sich offen und hemmungslos in seinem abstoßenden Sadismus und seiner abartigen Lüsternheit suhlt und zugleich ein hysterisch-komischer Abgesang auf den Amerikanischen Traum, dessen heftige Lacher einem manchmal (ja: wie ein Hähnchen-Schenkel) im Hals stecken bleibt... Und ein großartiges Ensemble-Stück, aus dem freilich Matthew McConaughey mit seiner vollkommen wahnsinnigen und Oscar-reifen Darstellung am überraschendsten hervorsticht!

004
A TORINÓI LÓ (Das Turiner Pferd), Tarr Belá/Hranitzky Ágnes, Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz/USA 2011
Ein Kutscher, seine Tochter und ihr Pferd erleben die letzten Tage vor dem windig angekündigten Weltuntergang.
Eine Abfolge von hypnotischen, minutenlangen und präzise choreographierten Plansequenzen baut mit Víg Mihálys Cello-Musik eine unheimliche Bedrohungskulisse auf, die für über zwei Stunden aufrechterhalten wird. Tarrs letzter Film (so angekündigt) ist ein herausforderndes, sehr extremes, aber letztlich auch sehr lohnendes Kino-Erlebnis.

005
COSMOPOLIS, David Cronenberg, Kanada/Frankreich/Portugal/Italien 2012
Ein Börsenmakler-Yuppie lässt sich mit seiner Limousine zu seinem Friseur chauffieren. Dabei läuft einiges schief.
Nach drei konsternierend schlechten Filmen (der „Viggo-Mortensen-Trilogie des Grauens“), kehrt David Cronenberg wieder zu ganz großer Form zurück. Aspekte des im vorangehenden Mainstream-und-Ödnis-Gesuhle verloren geglaubten „Body Horrors“ kehren leicht verzerrt zurück, verknüpft mit einer Hauptfigur, die in ihrer absurden Odyssee etwas an Pavel Čičikov erinnert: kryptische Dialoge reihen sich aneinander, gerahmt von kryptischen Handlungen. Diese sollte man vielleicht trotz vieler sozialer Implikationen am besten jenseits gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rezipieren, als reines „l‘art pour l‘art“ – wie die Prosa des Nikolaj Gogol‘.

006
MONEYBALL (Die Kunst zu gewinnen – Moneyball), Bennett Miller, USA 2011
Ein frustrierter Trainer und ein Wirtschafts-Mathe-Nerd stellen mit Hilfe von Statistiken die beste Baseball-Mannschaft des Jahres zusammen.
Bennett Millers drittes Werk ist der ultimative Film für intellektuelle Sportmuffel, da es sich nicht um einen richtigen Sport- oder Baseball-Film handelt: Weg mit Sportler-Kitsch, Champion-Märchen, und epischen Endspielen, her mit Mathematiker-Nüchternheit, Wirtschafts-Nerd-Berechnungen und Stochastik-basierten Kulissen-Gesprächen! Der Höhepunkt des Films ist daher kein Baseball-Spiel (von denen sieht man sowieso kaum etwas), sondern ein telefonisches Konferenz-Gespräch, bei dem ein desillusionierter Trainer und ein Yale-Absolvent über Sieg und Niederlage entscheiden.

007
MEDIANERAS, Gustavo Taretto, Argentinien/Spanien/Deutschland 2011
Ein junger Mann und eine junge Frau suchen in Buenos Aires die große Liebe und merken dabei gar nicht, dass sie nebeneinander aneinander vorbei leben.
Eine romantische Komödie zeigt normalerweise, wie sich ein Paar kennenlernt, zunächst nicht versteht, dann zusammenkommt, dann Konflikte meistern muss und schließlich doch „happy ever after“ lebt. In seinem ersten abendfüllenden Film zeigt Gustavo Taretto hingegen den Prolog dazu: den parallel verlaufenden Lebensalltag zweier Personen, die sich erst ganz am Schluss überhaupt begegnen. Eine äußerst fruchtbare Idee, die zwischen leichter Komödie und sowjetisch anmutenden Montage-Sequenzen nebenbei auch die Stadt Buenos Aires portraitiert. Als experimentelle Rom-Com die perfekte Ergänzung zur Nummer eins der Liste.

008
CHICO & RITA, Tono Errando/Javier Mariscal/Fernando Trueba, Spanien/UK 2010
Ein kubanischer Pianist teilt eine Nacht und einen Musikhit mit einer Sängerin, die daraufhin sehr viel erfolgreicher als er Karriere in den USA macht.
Ein Animationsfilm, der Jazz-, Latin-Music-, Musical-, Melodrama- und Kuba-Liebhaber gleichermaßen erfreuen dürfte: seelische Konflikte, Abwägungen zwischen Kunst und Kommerz, Milieu-Studien, Liebesgeschichten und Musik bringen die warmen gezeichneten Bilder auf wunderbare Weise nahe. CHICO & RITA ist wahrscheinlich der schönste „kleine“ Film, der (erst) 2012 in Deutschland zu sehen war.

009
THE EXPENDABLES 2, Simon West, USA 2012
Einige alte Männer brechen auf, um einige Bösewichter wegzurotzen.
In einem bestimmten Moment gegen Ende des Films wird eine Milchglasscheibe zerschossen. Sie bricht zusammen und offenbart 188 Jahre geballter Actionkraft: Sly, Arnie und Bruce ballern sich, nebeneinander stehend, ihren Weg frei! Natürlich hat man auf diesen Moment die ganze Zeit gewartet. Aber auch bis dahin bekam man eine blutig-schmackhafte Schlachtplatte mit einer Portion Ironie, einem Klecks Selbstreferentialität und einer vollhumorigen Sättigungsbeilage serviert, die besser mundete als der erste Menü-Teil. Was nicht so glücklich verlief: eine Kobra biss Chuck Norris, und nach fünf Tagen voller Schmerzen und Agonie... starb die Kobra.

010
THE DARKEST HOUR, Chris Gorak, USA 2011
Zwei verblödete Yuppies und einige extrem dämliche Party-Touristinnen wehren in Moskau eine Invasion elektromagnetischer Aliens ab.
Dieser wackere Bewerber um einen Platz in der Flop-Liste scheiterte letztlich in diesem Bestreben, weil er sich als herrliches SciFi-Trash-Vehikel entpuppt hat. Kein Wunder, dass der 3D-Blödsinn in dem Moment weitestgehend weggelassen wird, als es mit dem Tohuwabohu richtig losgeht. Und wenn gerade keine nonchalant spannende und effizient inszenierte Action-Sequenz läuft, kann man sich über die irrsinnigen Filmfehler (Faradayischer Käfig für Dummies) und sonstige Dämlichkeiten köstlich amüsieren – zwar unfreiwillig, aber köstliches Amüsement bleibt köstliches Amüsement! Und von der gekonnten Inszenierung des Raumes (ein komplett menschenleeres Moskau) durch Chris Gorak hätte Fledermaus-Chris was lernen können.

À propos Fledermäuse...
Wer Top sagt, muss auch Flop sagen können:

1 zerschnittene Gurke
THE DARK KNIGHT RISES, Christopher Nolan, USA/UK 2012
Ein Ex-Vigilant mit Hinkebein holt sein Fledermaus-Gummikostüm aus der Mottenkiste und macht sich daran, einen bösen Bodybuilder mit komischer Maske und einer Kehlkopf-Krankheit zu schnappen.
Ein einstündiger Film mit einem unnötigen und dämlichen 90-Minuten-Prolog, der dem Zuschauer fünf Mal das bisher Geschehene wiederkäut und in den Rachen stopft... mit unfassbar dilettantisch gefilmten Action-Szenen... mit unzähligen unnötigen Figuren (unter anderem eine Frau mit einem Katzen-S&M-Fetisch)... mit einem so unsubtilen wie unentschlossenen Subtext... gefilmt von einem Regisseur, der trotz enormer Budget-Ausgaben für das Setdesign scheinbar noch nie in seinem Leben etwas von „deep focus photography“ gehört hat – soll das Blockbuster-Kinoereignis des Sommers gewesen sein?

2 Joghurt
TOTAL RECALL, Len Wiseman, USA/Kanada 2012
Ein langweiliger Hänfling mit zu wenig Phantasie will sich Urlaubersatz-Erinnerungen ins Gehirn implantieren lassen. Plötzlich verfolgen ihn seine Frau und andere unangenehme Erscheinungen und wollen ihn töten.
Ein typischer „Der-alte-Film-bringts-nicht-mehr-aber-wir-sind-so-geil-und-machen-‘n-neueren-und-besseren-Film-und-sahnen-nebenbei-schön-ab“-Remake: die sind meistens fürchterlich. Da freut es einen riesig, wenn das mit dem Absahnen nicht geklappt hat. Das lag hoffentlich auch am mangelnden Talent von so ziemlich allen Beteiligten: Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Cutter, Darsteller... Ob der Setdesigner talentiert ist, kann man nur schwer sagen, denn „deep focus photography“ und „establishing shots“ sind hier Fremdwörter. Ob die Action-Sequenzen gut sind, ist ebenso schwierig zu sagen: dazu wackelt die Kamera zu stark und offenbar wurde der ohnehin unfähige Cutter nicht stundenweise, sondern im Akkord bezahlt.

3 Salz & Pfeffer
WILLIAM BURROUGHS: A MAN WITHIN, Yoni Leyser, USA 2010
Ein junger Dokumentarfilm-Regisseur, der sich für unglaublich hip hält, interviewt ein paar aufmerksamkeitsbedürftige Promis und montiert dieses Material mit Stopmotion-Arbeiten aus dem Kinderg... ersten Semester und Wochenschau-Clips aus Yout... Filmarchiven.
Falls sich jemand ob der Synopsis im Kontrast zum Titel wundert: ja, es soll im Film eigentlich um den Beat-Poeten und Kult-Schriftsteller William Burroughs gehen! Stattdessen gibt es eine der unzähligen Dokus, die mangelnde Recherche über und fehlendes Verständnis für das Subjekt mit einem Schnittgewitter aus Promi-Interviews („ja, also damals bla-bla-blub-blub...“), Zeitkolorit-Clips („60er Jahre, ich sage jetzt einfach mal ‚Kubakrise‘ und fühl mich dabei klug“) und „impressionistischen“ Bildern („Bin ich ein geiler Künstler oder bin ich ein geiler Künstler?“) zu übertünchen versucht. Material und Informationen über das eigentliche Thema können bei dieser masturbatorischen Selbstdarstellung eigentlich nur stören.

4 Essig & Öl
BLACK GOLD, Jean-Jacques Annaud, Frankreich/Italien/Katar/Tunesien 2011
Ein arabischer Fürst übergibt seinen Sohn einem rivalisierenden Fürsten zur Erziehung. Wegen des Öls, der im Niemandsland zwischen ihren Territorien gefunden wird, gibt‘s später Zoff und der Milchbubi, der mittlerweile einen netten kleinen Milchbubi-Bart hat, mischt auch ein bisschen mit.
Kaum zu glauben, aber wahr: einer der interessantesten europäischen Regisseure der 1980er Jahre hat einen dämlichen Lawrence von Arabien-Verschnitt mit billigem CGI, lausigen Darstellern, einer „hippen“ Wackel-„Ästhetik“, lächerlicher Ethno-Musik mit gelegentlichen Maurice Jarre-Versätzen und Dialogen jenseits von Gut und Böse gedreht. Über 130 Minuten lang balancierte der Film zwischen unfreiwilliger, schreiender Komik und fast körperlich fühlbaren Schmerzen ob des unfassbaren Blödsinns.

...und fertig ist der Gurken-Salat!

Ein süßer Nachtisch gefällig?
JACK & JILL, Dennis Dugan, USA 2011
Adam Sandler (gespielt von Adam Sandler in einem Adam-Sandler-Kostüm) bekommt Besuch von seiner nervigen Zwillingsschwester (gespielt von Adam Sandler in Frauenkleidern) und ein Al Pacino am Rande des Nervenzusammenbruchs (gespielt von Al Pacino in verschiedenen Theater- und Alltagskostümen) verliebt sich in Adam Sandler (also in jene Fassung mit Frauenkleidern)...
Die große Befriedigung, die ich beim hemmungslosen redaktionellen Zerreissen dieses erbärmlichen Dings verspürte, war geradezu orgiastisch... und rechtfertigt eine privilegierte Sonderkategorie. Das Resultat: wahrscheinlich der beste Text, den ich 2012 geschrieben habe.


Die große und tolle und wunderbare Top-52-Liste
Nun folgt das emotionale Zentrum, der Kern dieses manisch-epischen Reiseführers: meine persönliche Bestenliste nicht-aktueller Filme, nach Präferenz geordnet. Die Regeln: es handelt sich ausschließlich um Neusichtungen (ich habe also keinen der gelisteten Filme vor dem Jahr 2012 je gesehen) und um Produktionen von vor 2011. Die Zahl 52 bietet sich als banale Zahl ohne besondere Eigenschaften an und steht am ehesten für die Anzahl der Wochen im Jahr...

1 THE AMAZING MR. X aka THE SPIRITUALIST, Bernard Vorhaus, USA 1948
2 DEDUNA [russ.: SVETLJAČKI], Dato Janelidze, UdSSR 1987
3 THE BIG COMBO, Joseph H. Lewis, USA 1955
4 JOHNNY GUITAR, Nicholas Ray, USA 1954
5 HANGOVER SQUARE, John Brahm, USA 1945
6 SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS, Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1927
7 FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, Friedrich Wilhelm Murnau, Deutschland 1926 
8 DETOUR, Edgar G. Ulmer, USA 1945
9 GENERAL‘NAJA LINIJA aka STAROE I NOVOE, Sergej Ėjzenštejn/Grigorij Aleksandrov, UdSSR 1929
10 DIE NIBELUNGEN, Fritz Lang, Deutschland 1924
11 THE LIVING END, Gregg Araki, USA 1992
12 THE INTRUDER aka SHAME aka I HATE YOUR GUTS!, Roger Corman, USA 1962
13 THE LADY FROM SHANGHAI, Orson Welles, USA 1947
14 VARIETÉ, Ewald André Dupont, Deutschland 1925
15 LE PLAISIR, Max Ophüls, Frankreich 1952
16 THE RED SHOES, Michael Powell/Emeric Pressburger, UK 1948
17 IMITATION OF LIFE, Douglas Sirk, USA 1959
18 YOU ONLY LIVE ONCE, Fritz Lang, USA 1937
19 FORTY GUNS, Samuel Fuller, USA 1957
20 ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, Karpo Godina, Jugoslawien 1971
21 RIDE LONESOME, Budd Boetticher, USA 1959
22 THE LONG, HOT SUMMER, Martin Ritt, USA 1958
23 CHEMI BEBIA [russ.: MOJA BABUŠKA], Kote Mikaberidze, UdSSR 1929
24 SHERLOCK JR., Buster Keaton, USA 1924
25 POINT BLANK, John Boorman, USA 1967
26 SUSPIRIA, Dario Argento, Italien 1977
27 PSYCHO 2, Richard Franklin, USA 1983
28 FERRIS BUELLER‘S DAY OFF, John Hughes, USA 1986
29 KISS ME DEADLY, Robert Aldrich, USA 1955
30 SZEGÉNYLEGÉNYEK, Jancsó Miklós, Ungarn 1966
31 OBLOMOK IMPERII, Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929
32 OUT OF THE PAST, Jacques Tourneur, USA 1947
33 CRISS CROSS, Robert Siodmak, USA 1949
34 AKAI TENSHI, Masumura Yasuzō, Japan 1966
35 ADVISE & CONSENT, Otto Preminger, USA 1962
36 KLADIVO NA CARODEJNICE, Otakar Vávra, ČSSR 1970
37 THE THIN RED LINE, Andrew Marton, USA 1964
38 IN A LONELY PLACE, Nicholas Ray, USA 1950
39 THE LONG GOODBYE, Robert Altman, USA 1973
40 DOUBLE INDEMNITY, Billy Wilder, USA 1944
41 BODY HEAT, Lawrence Kasdan, USA 1981
42 THE IRON HORSE, John Ford, USA 1924
43 BLOOD BEACH, Jeffrey Bloom, USA 1980
44 HEAVENLY CREATURES, Peter Jackson, Neuseeland/Deutschland 1994
45 LAWRENCE OF ARABIA, David Lean, UK/USA 1962
46 KONTO AUSGEGLICHEN, Franz Peter Wirth, BRD 1959
47 BOUDU SAUVÉ DES EAUX, Jean Renoir, Frankreich 1932
48 CAT PEOPLE, Jacques Tourneur, USA 1942
49 IM SCHATTEN DER MADE, John Bock, Deutschland 2010
50 MYSTERIOUS SKIN, Gregg Araki, USA/Niederlande 2004
51 THE BIG RED ONE, Samuel Fuller, USA 1980
52 THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS, Lewis Milestone, USA 1946

Auch hier gilt: wer topt, muss auch floppen können.

Flop-Seven der nicht mehr ganz frischen Filme (chronologisch geordnet)
Knapp die Hälfte der Liste bilden Filme, die ich 2011 nicht gesehen und nun 2012 nachgeholt habe; könnte also einiges dafür sprechen, dass 2011 das schlechtere Kinojahr war...

1 DER GEISTERZUG, Rainer Wolffhardt, BRD 1957
2 LA COLLECTIONNEUSE, Eric Rohmer, Frankreich 1967
3 THE THIN RED LINE, Terrence Malick, USA 1998
4 BLACK SWAN, Darren Aronofsky, USA 2010
5 HOTEL LUX, Leander Haußmann, Deutschland 2011
6 CARNAGE, Roman Polański, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien 2011
7 THE IDES OF MARCH, George Clooney, USA 2011

Aber das traumatischste Filmerlebnis des Jahres war mit großer Wahrscheinlichkeit...
SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS: Eine „besondere“ Projektion mit einer „ganz“ „besonderen“ Live-„Musik“-„Begleitung“... oder wie ich lieber sage: SONNENUNTERGANG – EIN LIED VON ZWEI TÖLPELN
7. August, Tatort Kulturarena Jena: eine Projektion von Murnaus Meisterwerk wird von einem Schlagzeuger und einem DJ-Elektronik-Sampling-Typen „begleitet“, oder besser gesagt in elektroakustischem Müll mit brutalster Gewalt erstickt...
Wenn ich nach Metaphern suchen müsste, würde ich wohl irgendetwas von Folter-Session mit Schlagbohrer und Fleischerhaken oder lebendiger Vivisektion mit einem rostigen Suppenlöffel erzählen. Am unerträglichsten war diese nonchalante „Wir-peppen-den-ollen-Film-mal-n‘-bissel-auf“-Attitüde, die den (Un-)Geist solcher Veranstaltungen ausmachen: Konzerte, bei denen sich die Musiker selbst in den Mittelpunkt stellen und die Filmprojektion lediglich als Schmuckwerk dient. Eine ungeheure und argumentations-arme Respektlosigkeit gegenüber Filmkunst. Schockierend, grenzenlos empörend und traumatisierend bis heute.


Die Reihen und Entdeckungen des Jahres


Die düstere Seite Hollywoods
Der film noir oder der Anfang des modernen Kinos?
Auf die Frage, was eigentlich einen film noir ausmacht, kann es so viele Antworten geben wie... Zeichen in diesem Text. Ist es die barock-expressionistische Photographie? Dann müsste der visuell gemäßigt inszenierte THE BIG SLEEP wohl rausfallen. Ist es die verwirrte bis gar fast vollkommen unverständliche Geschichte? Der minimalistische DETOUR wäre dann wohl kein noir. Ist es die femme fatale? Dann zählt THE RECKLESS MOMENT mit seiner Hausfrau-Protagonistin wohl nicht dazu. Ist es die Darstellung einer Welt der Verzweiflung, des Misstrauens, der Paranoia, der triebhaften Begierde, der irrationalen Gewalt und der Todessehnsucht, in der es keine Zukunft, sondern nur eine unerträgliche Gegenwart und eine abscheuliche Vergangenheit gibt? Vielleicht. Ein Universum der existentiellen Angst, in der es keine Klarheiten, keine Sicherheiten, keine Antworten gibt. Möglich. Eine Umwelt, in der das unaufhaltsame Schicksal mahlt und aus guten Menschen Mörder macht. Auch... Die noirs sind jedenfalls Filme, in denen visueller Stil und ungewöhnliche Erwählweisen einer klassischen erzählerisch-dramaturgischen Kohärenz übergeordnet sind: das „wie“ siegt über das „was“.
Ein Double-Feature THE LADY FROM SHANGHAI/DOUBLE INDEMNITY am 16. Januar im Rahmen einer kurzweiligen noir-Reihe bei arte regte mich dazu an, in den nächsten Monaten möglichst viele Filme aus dieser spannenden Stilrichtung zu sehen. Darunter waren viele Meisterwerke, jedoch keine einzige Niete – höchstens mittelmäßig gute Filme. Am Schluss des Jahres zähle ich 43 klassische noirs, drei Proto-noirs und elf Neo-noirs. Eine Liste nach Präferenz soll hier dem Hinweis weichen, dass zwölf der ersten, zwei der zweiten und drei der dritten Kategorie in meiner Top-52-Liste zu finden sind.


Der geheimnisvolle Deutsche und der unbekannte Amerikaner
Fritz Lang jenseits von M und METROPOLIS

Es ist eine Schande, aber wahr: bis zu Beginn des Jahres 2012 hatte ich lediglich drei Filme Fritz Langs gesehen: M, METROPOLIS, und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Nun sind es 21 Stück, und statt einer Spanne von sechs Jahren seines Schaffens überblicke ich nun (zumindest fragmentarisch) 40 Jahre der umfangreichen Filmografie.
Mehrere Faktoren haben zu häufigen Begegnungen mit diesem österreichisch-deutsch-amerikanischen Ausnahmeregisseur geführt: meine persönliche film-noir-Schau, die Retrospektive bei der Viennale, eine über mehrere Wochen ausgedehnte Reihe beim dritten französischen Fernsehen FR3, mehrere Aufführungen in Weimarer und Jenaer Kinos, eine zu Rezensionszwecken zur Verfügung stehende DVD... alle haben dazu beigetragen, dass Fritz Lang für mich zum meist gesehenen Regisseur des Jahres wurde... und gewissermaßen auch zu meinem persönlichen 2012er-Star.
Meine Grunderkenntnis, die ich schon kurz nach der Viennale geäußert habe, hat sich bestätigt: Abwägungen zwischen dem „deutschen“ und dem „amerikanischen“ Lang sind nicht gerechtfertigt! Oder einfacher ausgedrückt: Naserümpfen vor seinen amerikanischen Filmen ist genau so dämlich, wie sein frühes deutsches Schaffen unterschiedslos auf einen Podest zu stellen.
So hat mich ein Werk, in dem ein Meisterverbrecher Verwirrung und Chaos stiftet, sehr beeindruckt: die Rede ist hier vom relativ unbekannten SPIONE, während alle drei DR. MABUSE-Filme mich nur wenig überzeugt haben. Über den tollen YOU ONLY LIVE ONCE schrieb ich hier bereits. Sehr langsam, in einem klassischen Sinne fast völlig spannungslos, dafür umso unerbittlicher entwickelt sich SCARLET STREET, der sich als der (bislang) emotional verstörendste Film Langs entpuppt hat. Eher enttäuschend, da meiner Meinung nach nur „solide“, war das andernorts in den Himmel gelobte Plädoyer eines Österreichers zum verantwortungsvollen Kaffeegenuss: THE BIG HEAT. Die gerne als dümmlicher Kitsch verschrieene Indien-Dilogie punktete hingegen mit erstaunlich klaren und scharfen Farb-Bildern, die eine irreale, (alp)traumhafte Atmosphäre schufen... und natürlich auch mit „a costume that definitely pushes the envelope on 1950s movie dress codes“ (Tom Wiener, allmovie.com).
Eine dritte und vierte Sichtung von METROPOLIS waren mir diesmal wieder im Kino gegönnt. Bei der ersten Aufführung döste ich stellenweise fast weg (was auch an meiner Tagesform lag). Die zweite Aufführung drei Wochen später erwies sich als großartiges Kinoerlebnis. Der Pianist Richard Siedhoff spielte zwar den gleichen, selbst komponierten, äußerst düsteren Score, jedoch sehr viel ungestümer: die Musik verwandelte sich in entscheidenden Momenten von einer ohnehin exzellenten Begleitung in einen Katalysator, der die Emotionen der Bilder in einem völlig wahnsinnigen Ausmaß potenzierte (eine Kostprobe, die der tatsächlichen Live-Aufführung naturgemäß nicht gerecht werden kann, gibt es hier).

5/5
1 M, Deutschland 1931
2 METROPOLIS (Sichtung am 19. Februar), Deutschland 1927
3 DIE NIBELUNGEN, Deutschland 1924
4 YOU ONLY LIVE ONCE, USA 1937
– SCARLET STREET, USA 1945

4,5/5
6 FRAU IM MOND, Deutschland 1929
7 SPIONE, Deutschland 1928
8 MAN HUNT, USA 1941
9 HANGMEN ALSO DIE!, USA 1943
10 THE WOMAN IN THE WINDOW, USA 1944

4/5
11 METROPOLIS (Sichtung am 29. Januar), Deutschland 1927
12 DER TIGER VON ESCHNAPUR, BRD/Frankreich/Italien 1959
13 DAS INDISCHE GRABMAL, BRD/Frankreich/Italien 1959
14 HOUSE BY THE RIVER, USA 1950
15 DER MÜDE TOD, Deutschland 1921

3,5/5
16 THE BLUE GARDENIA, USA 1953
17 SECRET BEYOND THE DOOR, USA 1948

3/5
18 DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, Deutschland 1933
19 THE BIG HEAT, USA 1953
20 DR. MABUSE, DER SPIELER, Deutschland 1922

2,5/5
21 DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, BRD/Frankreich/Italien 1960

2/5
22 DAS WANDERNDE BILD, Deutschland 1920


Sex, Gewalt und Drogen mit Homos, Bis, Heteros... und Aliens
Gregg Araki: Queer-Ikone, Independent-Rebell, Kino-Visionär
Was wäre, wenn Jean-Luc Godard ein knapp drei Jahrzehnte jüngerer bisexueller japanisch-stämmiger Amerikaner wäre, der Filme über desillusionierte queere Jugendliche und Alien-Invasionen dreht? Die Antwort lautet: Gregg Araki. 
Als vielleicht radikalster und konsequentester Vertreter einer Independent-Filmbewegung, für die der Name „New Queer Cinema“ geprägt wurde, verteilte Gregg Araki seit Beginn der 1990er heftige cineastische Ohrfeigen an alle Homophoben, Konservativen und religiösen Extremisten in den USA. In seinem dritten Film THE LIVING END (seine ersten beiden gelten als quasi verschollen) weigern sich die beiden Homosexuellen Luke und Jon, einer homophoben Gesellschaft klein beizugeben und schlagen gegen diese bei einem Roadtrip mit aller Gewalt zurück. Zu Unrecht als „schwule Variante“ von THELMA & LOUISE abgetan, erinnert Arakis Film mit seiner rohen, ungezügelten und explosiven Energie eher an Godards À BOUT DE SOUFFLE.
In dieser rohen Energie liegt auch der Reiz von Arakis Werk. Alleine sein thematischer Mut würde ihn zu einem beachtenswerten Regisseur machen. Doch es ist die besondere Ästhetik seiner Filme, die ihn einzigartig macht und den Begriff „Visionär“ rechtfertigt: der fragmentierte Erzählstil, die extremen subjektiven Perspektiven seiner Protagonisten (oft an der Grenze zum Voyeuristischen), der zutiefst schwarze Humor deren Lacher oft im Halse stecken bleiben, die exaltierte Farbdramaturgie mit ihren extremen Übersättigungen. Nicht zuletzt pflegt der Regisseur eine Motivik, die wohl als „Araki-Raum“ bezeichnet werden könnte: weitwinklig fotografierte Totale mit bizarren Setdesigns, in denen sich die Figuren in ihrer Einsamkeit verlieren.
Araki ist ein ungezügelter amerikanischen Independent, der vieles von jenen Sachen, die uns heutzutage gerne als „Indie“ verkauft werden, blass aussehen lässt...

1 THE LIVING END, USA 1992, 5/5
2 MYSTERIOUS SKIN, USA/Niederlande 2004, 5/5
3 SMILEY FACE, USA/Deutschland 2007, 4,5/5
4 KABOOM, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
5 NOWHERE, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
6 TOTALLY FUCKED UP, USA 1993, 4/5
7 THE DOOM GENERATION, USA/Frankreich 1995, 3,5/5
8 SPLENDOR, UK/USA 1999, 3,5/5

Ein exzessiver und gigantomanischer Rückblick auf das Filmjahr 2012 an sich und auf mein ganz persönliches Filmjahr 2012 findet hier sein Ende. Der eine oder andere Film oder Regisseur wird sich bestimmt in der einen oder anderen künftigen Besprechung bei „Whoknows Presents“ finden.
Mein Ausblick für 2013: viele Filme...