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Sonntag, 3. Juni 2012

Leben wie Gott im Herzogtum Burgund

Blockade in London
(Passport to Pimlico, Grossbritannien 1949)

Regie: Henry Cornelius
Darsteller: Stanley Holloway, Betty Warren, Barbara Murray, Paul Dupuis, John Slater, Jane Hylton, Raymond Huntley, Philip Stainton, Margaret Rutherford u.a.

Obwohl die Ealing Studios im Westen Londons einer langen und wechselhaften Geschichte ausgesetzt waren, bringt man sie vor allem mit ein paar Nachkriegskomödien in Zusammenhang, die unter der Leitung von Michael Balcon entstanden. Diese Komödien - es waren 17, um genau zu sein - werden auf diffuse Art als „deeply British“ empfunden, was auch die an Verehrung grenzende Einstellung erklärt, die ihnen Engländer noch heute entgegenbringen. Es fällt allerdings schwer, dieses angeblich typisch Britische in Worte zu fassen, haben wir es doch keineswegs mit einer homogenen, sich gegenseitig beeinflussenden Reihe zu tun. Manche wollen es in einer durchgehenden Feier der Gemeinschaft, die leicht exzentrisch erscheinend zusammenfindet, erkennen. Kritiker verweisen denn auch nostalgisch gestimmt auf die „Ealing tradition“, wenn sie von späteren Filmen sprechen, in denen auf harmlos-humorvolle Weise ein Gemeinschaftsgefühl beschworen wird: von „Local Hero“, 1983, über die von mir an anderer Stelle erwähnten Komödien, die an „The Full Monty“, 1997, anschliessen  - bis zu „Attack the Block“, 2011. Alleine schon die ultimative Ealing Comedy, „Kind Hearts and Coronets“ (1949), in der sich ein verarmter Aristokrat durch seine ganze Verwandtschaft mordet, zeigt jedoch, dass dieser durchgehend harmlose Humor wohl eher dem Wunsch entspringt, Ealing als „point of reverence“ für "gemütliche" Komödienmacher zu bestimmen, beinahe zwanghaft an die grosse Ealing-Zeit zu erinnern. 


Wer verstehen will, was so bezeichnend für diese Ealing Comedies ist, muss sie einerseits wohl oder übel als Produkte der späten 40er und 50er-Jahre akzeptieren, andererseits aber auch die Philosophie der Ealing Studios unter der Ägide des Patriarchen Michael Balcon berücksichtigen: Während des Zweiten Weltkriegs und kurz darauf entstanden abgesehen von ein paar verfilmten Lustspielen kaum britische Komödien. Der dominierenden Rank Organisation lag vielmehr daran, mit aufsteigenden Filmemachern Werke zu drehen, die internationalen Ansprüchen genügen sollten („Great Expectations“, 1946, „The Red Shoes“, 1948, „The Third Man“, 1949, und andere). Erst Ende der 40er Jahre kam Balcon, der die kleinen, eher auf „bescheidenere“ Kriegsfilme spezialisierten Ealing Studios 1938 übernommen hatte, auf die Idee, sich mit finanzieller Unterstützung von Rank in verschiedenen Genres zu versuchen. Die Atmosphäre bei Ealing galt als familiär (man sprach vom „studio with the team spirit“), es wurden stets die gleichen Techniker und Drehbuchautoren beschäftigt. Vor allem bemühte man sich aber auch um neue Talente, und zu diesen Talenten gehörten begabte Komiker, die sich nach dem Niedergang der Music Halls gerne der Ealing-Familie anschlossen. Komödien, die ebenfalls Weltruhm erlangen sollten, waren die Folge. Und die meisten dieser Komödien (abgesehen von den Filmen die mit dem neuen Star Alec Guinness aufwarteten) ermöglichten es einem ganzen Ensemble, mit seinem humoristischen Können zu glänzen. 

Michael Balcon, durchaus ein komplexer Produzent, war vor allem daran interessiert, der Wirklichkeitsflucht Hollywoods Filme entgegenzusetzen, die sich auf subversive Weise, wenn auch nicht aufdringlich, mit einem Stück Wirklichkeit auseinandersetzten, einen politischen Subtext einbrachten. Er sprach in diesem Zusammenhang gern von einer "mild revolution", die seine Produktionen auszeichnen sollte. Was er damit meinte, erklärte er einmal in einem Interview: "By and large we were a group of liberal-minded, like-minded people... we were middle-class people brought up with middle-class backgrounds and rather conventional educations...we voted Labour for the first time after the war: that was our mild revolution." - Man kann von einer leichten politischen Dimension reden, die sich in den Ealing Comedies Raum verschafft, manchmal beängstigende Vorstellungen entwickelnd (etwa in "The Man In the White Suit", 1951), oft einfach die sture Torheit der (Nachkriegs-)Regierung, der so leicht beizukommen war, auf die Schippe nehmend - aber nie auch nur annähernd so anarchisch wirkend wie  Monty Python, die in den 70ern mit einer zeitgemässen Kombination von Humor mit politischem Subtext antraten.  - Die Ealing-Komödien mögen dem heutigen Zuschauer wie auch die angeblich in ihrer Tradition stehenden Filme oft etwas harmlos und veraltet vorkommen. Wer sich aber die vielen "Doctor"- und "Carry On"-Filme vor Augen hält, die die britischen Zuschauer nach dem Verkauf der Ealing Studios in der zweiten Hälfte der 50er Jahre "erfreuen" sollten, wird sie zu schätzen wissen. Und er erkennt vor allem auch: Sie stecken voller Humor, der auf eigenartige Weise  nur wirkt, weil er von sich scheinbar ernst nehmenden Briten dargeboten wird. 


"Passport to Pimlico" wird gerne als "the most Ealingish of Ealing comedies" bezeichnet, und dies ist vielleicht der Grund, weshalb der Film ausserhalb Englands wenig bekannt ist und seine Gags auch von jüngeren Briten nicht ohne Erläuterungen verstanden werden. Er spielt im unmittelbaren Nachkriegs-London mit seiner übertriebenen Bürokratie, aus der sich ein paar Menschen unerwartet  befreien zu können glauben: Während einer britisch-steifen Sitzung, in der es um die Errichtung eines mit Swimming Pool ausgestatteten Kinderspielplatzes an einer vom Krieg zerstörten Stelle im Londoner Stadtteil Pimlico geht, lassen ein paar sich herumtreibende Knaben das Rad eines Traktors in ein Loch rollen und lösen eine Explosion aus. Denn im Loch befand sich eine Luftwaffe-Bombe aus dem Krieg, die nun unerwartet ein Kellergewölbe freilegt, in dem man nicht nur uralten Schmuck entdeckt, sondern auch eine Kassette mit einem Dokument. Dieses Dokument erweist sich, wie die Geschichtsprofessorin Hatton-Jones wort- und gestenreich erläutert, als authentischer und nie widerrufener Freibrief, in dem König Edward IV. (1442-1483) einen Strassenzug Pimlicos an Karl den Kühnen als burgundisches Gebiet abgetreten hatte, als dieser dort Zuflucht suchte. - Die Bewohner des Strassenzugs bemerken rasch, dass sie als „echte Burgunder“ den oft mühsamen Schikanen der Regierung, aber auch der Lebensmittelrationierung entkommen können – und bald jauchzt sogar der einzige Bobby des Distrikts: „Blimey, I’m a foreigner.“ – Doch Whitehall reagiert auf die Freiheiten, die sich der unerwartete Nachbarstaat mitten in London nimmt, keineswegs mit Begeisterung. Und als dann auch noch der Schwarzhandel dort zu blühen beginnt, entschliesst man sich zu einer Blockade des Stadtteils inklusive Grenzschliessung und Stacheldraht. Die Burgunder in London wiederum reagieren mit einer Passkontrolle der U-Bahn-Passagiere an ihrer „Grenze“. Man schaukelt sich gegenseitig hoch, bis sich eigentlich keine Partei mehr in ihrer Situation wohl fühlt. Dann erscheint auch noch der echte, äusserst gut aussehende Herzog von Burgund auf der Bildfläche und bringt die bislang typisch englisch ablaufenden Liebesgeschichten mit seinem europäischen Charme durcheinander…

T.E.B. Clarke widmete sich im ersten und angeblich besten seiner sechs Drehbücher für Ealing Comedies der Sehnsucht, an einem anderen Ort als England zu sein, zeigte aber auf lustige und deshalb nicht übermässig konservativ wirkende Weise auf, wohin die damit verbundene Freiheit ohne Verantwortung seiner Meinung nach führe: zum Bedürfnis, doch wieder Teil dieses geordneten Englands zu werden. Die ersehnte Ferne wird schon in den einleitenden Bildern auf raffinierte Weise heraufbeschworen: Ein weiss gekleideter Mann tritt zu mediterraner Musik an sein Fenster und blickt auf einen Sonnenschirm, unter dem jemand ruht, während sich eine Frau im Badekleid in der Sonne räkelt. Erst das Heraufziehen des Sonnenschutzes über einem Geschäft zeigt, dass sich der Zuschauer nicht am Mittelmeer befindet, sondern mitten im alltäglichen London, das, man glaubt es kaum, einer Hitzewelle ausgesetzt ist. Es mag auch an dieser Hitze liegen, dass sich sowohl die zukünftigen Burgunder auf Zeit als auch Whitehall („Technically, these Burgundians are aliens.“) unfähig zeigen, mit der Entdeckung des Dokuments umzugehen oder zu vernünftigen Lösungen zu gelangen. – Der Übermut bricht in einem neo-burgundischen Pub aus, wo man plötzlich auf die Idee kommt, man müsse sich nicht an die von der Regierung verordneten Öffnungszeiten halten. Als Polizist P.C. Spiller, der bald in einer eleganten weissen Uniform für „burgundische“ Bobbies herumlaufen wird, für Ordnung sorgen will, fordert man ihn auf, sich doch auch noch ein Bierchen zu genehmigen. Und um den Abend mit einem Höhepunkt abzuschliessen, verbrennt und zerreisst man die 1938 eingeführten, unbeliebten Identitätskarten (ähnlich verhielt sich 1950 ein Mann namens Clarence Henry Willcock, der sich mit der frechen Ausrede „I am a Liberal, and I am against this sort of thing“ weigerte, seine Karte zu zeigen und als letzter zu einer Strafe von zehn Schilling verdonnert wurde). 


Von nun an kennen beide Seiten keine Gnade mehr. Die Burgunder suhlen sich im Schwarzmarkt, und Whitehall stellt ihnen im Gegenzug Wasser und Elektrizität ab. Gegnerische Autos streiten sich via Lautsprecher, während Pimlico vom Wunsch nach einer „politischen“ Ordnung in seinem Burgund ergriffen wird.  Doch die Frage, wer denn eigentlich das Sagen haben solle, führt zu einem weiteren Chaos. Am Ende wird der Geschäftsführer und Entdecker des Dokuments Arthur Pemberton zum „Prime Minister“ nach britischem Vorbild ernannt. Denn im Grunde genommen möchte man, wie es Pemberton’s Frau sehr britisch auf den Punkt bringt, Engländer und Burgunder zugleich sein, die Vorteile beider „Nationalitäten“ geniessen: „We always were English, and we'll always be English, and it's just because we are English that we're sticking up for our rights to be Burgundians!“ – Und alle sich überschlagenden Geschehnisse werden von Journalisten verfolgt, teilweise sogar angeheizt. Die immer wieder eingeblendeten Schlagzeilen diverser Zeitungen zeigen, dass die Presse Grossbritanniens schon vor Rupert Murdoch Einfluss zu nehmen verstand. Höhepunkt des Films ist eine Wochenschau, die sich ein paar Jungs aus Pimlico in einem Kino anschauen und die dem Motto „The Siege of Burgundy“ folgend nicht nur die heldenhaften Bewohner Pimlicos sondern auch reale Gestalten wie Winston Churchill (dessen Reden für diverse harmlose Gags herhalten mussten) vorstellt und mit britischem Understatement wie „Water is cut up, but liquor makes, too“ glänzt.
"Passport to Pimlico" lebt vor allem vom Spiel einst in ganz England bekannter Komiker wie Stanley Holloway, John Slater und Philip Stainton, die als stereotype Figuren für Humor sorgen. Und allein schon die in einer Nebenrolle auftretende Margaret Rutherford als ebenso neugierige wie taktlose Professorin (die Rolle sollte ursprünglich von einem Mann gespielt werden), die den Herzog von Burgund fragt, ob er Bluter sei, lohnt eine Sichtung. Ansonsten vermag die Geschichte mit ihren kleinen Anspielungen auf die Blockade Berlins heute nur noch stellenweise zu begeistern. Sie folgt vielleicht zu sehr Michael Balcon’s Philosophie einer „mild revolution“ – und legt die Betonung auf „mild“. Das scheinbar in Anarchie mündende Aufbegehren der Möchtegern-Burgunder ist von einer Nostalgie durchzogen, die nicht nur einem England gilt, sondern sogar einem England während des Kriegs, als Zusammengehörigkeit noch gelebt wurde. Diese Zusammengehörigkeit wird gegen Ende des Films gefeiert, als die eingeschlossenen Burgunder mit Unmengen von Lebensmittel-Paketen beliefert werden. Ein von einem Hubschrauber herabgelassenes Schwein, das in der Luft fliegt, deutet aber zugleich das rein Illusorische der heraufbeschworenen Stimmung  an, verweist es doch auf das Idiom „when pigs fly“ (das geschieht, wenn Schweine fliegen, also nie). – Balcon liebte diese „Was wäre wenn?“-Geschichten, die gelegentlich für harmlose Lacher sorgten, aber nicht immer ihre Zeit zu überdauern vermochten - weil sie dem "Was wäre wenn" gar nicht ernsthat nachgingen, es nicht ausloteten. – Ich hatte neulich Gelegenheit, mich mit einem Filmfreund über ein Phänomen zu unterhalten, das wir alle kennen: Wir schauen uns einen Film an, der weitum als Klassiker gefeiert wird – und sind leicht von ihm enttäuscht. „Passport to Pimlico“ gilt zumindest in England als kleiner Klassiker; mir bereitete er längst nicht das erwartete Vergnügen. Ich verstehe, dass er mehr an seine Zeit gebunden ist als zum Beispiel die grossen Ealing Studio Comedies mit Alec Guinness. Aber daran allein kann es nicht liegen. Hat es vielleicht mit der verpassten Chance zu tun, einem anarchischen Aufbegehren sein Anarchisches wenigstens teilweise zu lassen? Verliess man sich zu sehr auf die schrulligen Typen und machte  aus der Idee mit Potential das, was oft mit dem Beiwort „charming“ versehen wurde?  --- Und doch kommt man nicht umhin, an die witzelnden Filme zu denken, die England in der zweiten Hälfte der 50er heimzusuchen begannen und muss zugeben: Man hat es mit einer schätzenswerten, wenn auch zu harmlosen kleinen Komödie zu tun.