Posts mit dem Label Ferdinando Baldi werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Ferdinando Baldi werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 27. August 2023

Endliche Ehen und unsterbliche Liebe: Bericht vom 9. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione


Mittwoch, 19. Juli 2023


ab 19:15 Uhr

Das 9. Terza Visione fing mit einem ungewöhnlichen Format an. Da ein Umstieg mit der Bahn auf der Herfahrt statt geplanten 9 Minuten schlussendlich 3 Stunden dauerte, verpasste ich den ersten Film des "inoffiziellen" Eröffnungstags, Dario Argentos L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO. Dafür gab es als Einstieg ein Regisseursgespräch im Foyer des deutschen Filmmuseums. Der Gast, ja Stargast, war... Dario Argento, der für zwei Tage in Frankfurt am Main verweilte, um die ihm gewidmete Retrospektive des Filmmuseum Frankfurt zu besuchen. Diese schloss sich in einem Synergieeffekt mit dem Terza zusammen.
Es war die zweite Gesprächs-Session, und Argento sprach unter anderem über die Zusammenarbeit mit Ennio Morricone (der Score zu seinem ersten Film L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO wurde von Morricone und einigen seiner engsten Mitarbeiter recht spontan improvisiert), darüber, wie er als Gast und stiller Beobachter im Haus des Drehbuchautors Sergio Amidei (u. a. ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ) das "Handwerk" lernte (die Essenz liegt darin, dass das Autorenteam zunächst mit "Smalltalk" sich menschlich synchronisiert, bevor es an die "harte" Arbeit geht), über seine Einflüsse (im Gegensatz zur gestellten Frage eher seine auf andere Regisseure, und nicht umgekehrt), über seine besondere Wertschätzung für Michelangelo Antonioni, über seine Begegnung mit Rainer Werner Fassbinder (den er als schweigsamen, aber extrem nervösen Mann wahrnahm) und über sein erstes prägendes Kinoerlebnis (die Stummfilmfassung von "Das Phantom der Oper").

Wie jedes Jahr wurde auch dieses Terza exklusiv mit analogen Filmkopien bestritten, geliehen aus über einem Dutzend Institutionen aus sieben Ländern.


ab 21:00 Uhr

IL FANTASMA DELL'OPERA ("Das Phantom der Oper")
Regie: Dario Argento
Italien 1998
98 Minuten, OmU
Paris, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein von Ratten aufgezogenes Findelkind haust in den Eingeweiden der Pariser Oper und meuchelt hier und da neugierige Kanalarbeiter weg. Das "Phantom" (Julian Sands – im Gegensatz zu anderen Varianten des Stoffs ohne Verstümmelung/Maske) verliebt sich dann aber in die Nachwuchssängerin Christine (Asia Argento) und ist nur allzu bereit, deren Karriere-Hindernisse aus dem Weg zu räumen...
Das gängige Narrativ zu Dario Argento ist, dass seine Regiekunst nach den 1980er Jahren einen allmählichen Niedergang erlebte, mit Variationen in der Frage, ob PHENOMENA und OPERA noch zu den "Guten" gehören. Wie schön, dass es mit Terza Visione auch immer den Blick über den Tellerrand gibt. IL FANTASMA DELL'OPERA, den ich 2019 beim Italo-Horrorfilmwochende in Nürnberg schon zum ersten Mal sah, erwies sich bei der Zweitsichtung sogar als etwas stärker als vor vier Jahren. Argento lehnte es im Filmgespräch zwar ab, ihn als "Liebesfilm" bezeichnet zu sehen, aber tatsächlich kommt er dem in Argentos Werk wohl am nächsten, gleichwohl es sicherlich keine besonders "gesunde" Liebe ist. Zumindest ist Christine hin- hergerissen zwischen einer "gesunden", gesellschaftlich respektablen aber offenbar eher sex- und keimfreien und zumindest bis zum letzten Drittel eher "kalten" Liebe zum Baron Raoul und der "ungesunden", gesellschaftlich verachteten, gefährlichen, latent von Gewalt geprägten aber eben auch extrem geilen und dreckig-animalischen Liebe zum Phantom.
Ein Liebesfilm steckt in IL FANTASMA DELL'OPERA, aber auch andere Atmosphären stecken drin: gerade in der Nebenfigur des operneigenen, unfassbar dreckigen und schmierigen Rattenjägers (gespielt von dem renommierten ungarischen Theaterschauspieler Bubik István) lebt Argento offensichtlich auch eine geheime Liebe zum Slapstick aus und erinnert daran, wieviel Humor er eben auch hat. Bubik wirft sich voll rein in die Rolle, und es macht unglaublich Spaß, die kleinen Subplots um den Rattenfänger zu sehen: Höhepunkt ist die Jungfernfahrt des steampunkig-retrofuturistischen Gefährts mit Staubsauger und rotierenden Klingen, das er durch die unterirdischen Gänge der Oper steuert, um diese von Ratten zu befreien. Diese Liebesgeschichte, und dann noch dieser Humor: das hat der Gorebauer-Fraktion unter Argentos Fans sicherlich nicht gefallen.
Noch weniger dürfte ihnen gefallen haben, wie sehr gerade im letzten Drittel und im Showdown sich ein Wille zum entfesselten Melodrama zeigt, der schon sehr faszinierend ist: mit der Verfolgungsjagd auf das Phantom, der inneren Zerrissenheit Christines zwischen ihren beiden Liebhabern und der anschwellenden Musik Morricones zielt Argento direkt auf Herz und auch auf die Tränendrüsen der Zuschauer. Der Showdown straft alle Lügen, die ihn nur als seelen- und emotionslosen Technokraten perfekt choreografierter Gewaltszenen sehen wollen.
Zwei Details hatte ich von der Nürnberger Sichtung vergessen: die extravagante und unfassbare Szene in dem Hallenbad-Edelbordell. Da scheint sich ein Stück Jess Franco oder Joe D'Amato in den Film reingeschlichen zu haben, wenn da halbnackte oder ganz nackte Männer und Frauen (und eine Trans-Frau? ich bin nicht mehr ganz sicher) in einem Luxusbad essen, trinken, turteln und sich vergnügen. Der Baron, der nach einer Abfuhr von Christine sich dort auf andere Gedanken bringen möchte, entpuppt sich als Verzichter, aber auch als ungehobelter Krawallmacher: als eine junge Dame, die sich "bocca di velluto" (Samt-Mund) nennt, ihm mit eindeutigen Zungenbewegungen eindeutige Zeichen macht, sieht der Baron plötzlich Christine das machen – eine zu wilde Vision für ihn, weshalb er dann als Party-Pooper anfängt, zu randalieren.
Ganz vergessen hatte ich auch die großbürgerlichen Creeps, die mit teuren Pralinen versuchen, die Aufmerksamkeit von ungefähr 10-jährigen Ballettschülerinnen zu gewinnen (der Film wendet hier für kurze Zeit die Mechanismen des Rape-And-Revenge-Genres an, als einer dieser Creeps eine Schülerin zu tief in die unterirdischen Gänge der Oper verfolgt und es dort vom Fantom heimgezahlt bekommt).
Die Vorstellung lief im Rahmen der Argento-Retrospektive, war zugleich aber auch eine Hommage an den viel zu früh, Anfang 2023 verstorbenen Julian Sands: ein faszinierender Darsteller, dem immer etwas Jungenhaft-Verträumtes anhängt. Scheinbar unpassend für gewalttätige Dämonenfiguren wie hier (oder als Warlock) – und dabei doch passend, seine Figuren immer leicht verundeutlichend, ihre dunkel-abgründige Romantik betonend.


Donnerstag, 20. Juli 2023


ab 13:00 Uhr

URLATORI ALLA SBARRA
Regie: Lucio Fulci
Italien 1960
83 Minuten, OmU
Die "Schreier" des Titels sind eine Gruppe von Rock'n'Rollern (Joe Santieri, Adriano Celentano, Mina): protegiert und gastlich empfangen von einem Senator a.D., angeworben von der Jeans-Industrie zu Werbezwecken, teils angefeindet und angeworben von einem quotengeilen TV-Produzenten – aber immer mit einem flotten Song in petto.

I brutos: Auftritt als ländliche Sängertruppe

Ursprünglich war Fulcis OPERAZIONE SAN PIETRO aka "Die Abenteuer des Kardinal Braun" programmiert: eine Heist-Komödie mit Heinz Rühmann, Lando Buzzanca, Jean-Claude Brialy und Edward G. Robinson (sic!). Ich bin nicht mehr sicher, warum die Kopie unpässlich war (starker Rotstich?), jedenfalls war angesichts der Fülle an gedrehten Filmen ein Ersatz aus Lucio Fulcis früher Komödienphase rasch zu finden. Zur Erinnerung: Der "Godfather of Italian Gore Cinema" hat wesentlich mehr Komödien als Horrorfilme in seiner Karriere inszeniert. In seiner Einführung betonte der (pausierende) Ex-Terza-Co-Organisator Christoph, dass die erste Werksphase sehr zu unrecht vernachlässigt oder gar als unwichtig abgetan wird: das Narrativ, Fulcis echte Bestimmung sei der Horror gewesen und alles vorher könne man skippen, sei komplett falsch. Komödien waren für den Drehbuchautoren, Regieassistenten und schließlich Regisseur Fulci knapp 15 Jahre lang das zentrale Metier, in dem er auch seine Meisterschaft entwickelte.
Der geneigte Terza-Stammzuschauer wusste davon bereits einen Teil und erinnerte sich wohlig an LE MASSAGGIATRICI bei der Festival-Ausgabe von 2018. URLATORI ALLA SBARRA war Fulcis dritter Film und war sicherlich nicht so großartig wie LE MASSAGGIATRICI, aber dennoch ein launischer Start in den "offiziellen" oder "Post-Argento-Besuch"-Teil des Terza Visione. Nach einem Prolog, der in zwei Minuten eine Kulturgeschichte des Schreiens humoristisch darlegt, geht es auch mit den ersten Musiknummern los. Adriano Celentano ist dabei (die Premiere knapp einen Monat nach LA DOLCE VITA, in dem er nur einen kurzen Cameo hatte) sowie Mina und Joe Sentieri, zu dieser Zeit wohl größere Stars als Celentano. Besonders bemerkenswert für Jazz-affine Zuschauer: in der Rolle eines dauermüden oder schlafenden Amerikaners, der Teil der musizierenden Jugendtruppe ist, gibt es den Trompeter Chet Baker zu sehen, schon offensichtlich stark lädiert von seiner Heroinsucht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass URLATORI ALLA SBARRA ein schöner Gute-Laune-Film ist, zu Weihen à la LE MASSAGGIATRICI reicht es nicht. Vielleicht zersplittert er sich zu sehr in zu viele Episoden mit zu vielen Figuren und Subplots. Joe Sentieri war so etwas wie eine der Hauptfiguren: ich finde ihn aber intuitiv irgendwie antipathisch, und dass er fünfzehn Jahre älter ist als sämtliche anderen Mitglieder der Jugendbande ist und man dies auch sieht, wirkt seine Figur bestenfalls unglaubwürdig, schlimmstenfalls leicht creepy. Eine viel bessere Hauptfigur wäre da Turi Pandolfini als alter Senator a.D. mit eindeutigen Sympathien für die "Urlatori" (er ist sowieso schwerhörig, da sollen sie doch ruhig lauter spielen), die er bei sich in der Wohnung beherbergt. Auf der Antagonisten-Seite gibt es Mario Carotenuto als schmierig-intriganter TV-Sender-Chef, der zuerst Stimmung gegen die "Urlatori" macht, bevor er herausfindet, dass er sie auch einfach kommerziell ausbeuten kann: eine Figur, die man zu hassen einfach nur liebt!
Am Ende ist URLATORI ALLA SBARRA vor allem eine schöne Nummern-Revue. Besonders hervorzuheben dürfte Minas Nummer "Whisky" sein, in der sie in einer stilisierten Bar voller geifernder Verehrer die Vorzüge des Trinkens besingt. Pastoraler wurde es bei einer anderen Nummer: ein Cameo der Sänger- und Komiker-Gruppe "I Brutos" (darunter ein junger Aldo Maccione), die bei einem Picknick der Urlatori auf dem Land als singende Schäfer zu sehen sind und mit ihrem eskalierenden Minenspiel den Saal in eine Raserei aus freudigem Toben und lauten Lachkreischern brachte.






ab 15:30 Uhr

METTI, UNA SERA A CENA (wörtlich: "Sagen wir mal, eines Abends beim Abendessen", im Programmheft: "Warum nicht eines Abends bei Tisch")
Regie: Giuseppe Patroni Griffi
Italien 1969
125 Minuten, OmU
Der Autor Michel (Jean-Louis Trintignant) schreibt gerade an einem neuen Stück: darin soll es um eine mögliche Affäre zwischen seiner Frau Nina (Florinda Bolkan) und seinem besten Freund Max (Tony Musante) gehen. Ohne Michels Wissen gibt es diese Affäre schon lange. Doch auch Max' ehemaliger Liebhaber Rick (Lino Capolicchio) kommt ins Spiel und beginnt eine Affäre mit Nina – während Michel mit der entfernten Bekannten Giovanna (Annie Girardot) ins Bett landet.
Über historische Erfolge und Misserfolge von Filmen nachzudenken, ist manchmal schon interessant, gerade auf einem Festival wie dem Terza Visione. 2022 stellte sich bei LE CINQUE GIORNATE die Frage, was wohl aus Dario Argento geworden wäre, wenn sein Slapstick-Komödien-/Period-Politdrama erfolgreich gewesen wäre und nicht ein fulminanter Flop. 2023 stellte sich für viele im Publikum wohl eher die Frage, wie der von Argento geschriebene METTI, UNA SERA A CENA einer der erfolgreichsten italienischen Filme von 1969 werden konnte (und ein Film, der gerade Dario Argento als Co-Autor zum heißesten Scheiß auf dem Kinoautorenmarkt werden ließ)? Dario Argento war schließlich damals ein Nobody und würde erst ein paar Jahre später ein Superstar des italienischen Kulturlebens werden. Das Theaterstück, auf dem der Film basierte, war auf den römischen Bühnen ein Hit, aber reichte es, um das Kinopublikum zu ziehen? Jean-Louis Trintignant dürfte zu dem Zeitpunkt der berühmteste Schauspieler des Casts gewesen sein, aber ein Massenpublikumsmagnet, gerade in Italien? Die deutsche Wikipedia erwähnt die Musik von Ennio Morricone als Faktor für den Erfolg...
Wie die Antworten auch immer lauten: METTI, UNA SERA A CENA wurde von einem bedeutenden Teil des Terza-Publikums als Flop des Festvials gesehen, und ich geselle mich durchaus dazu (gleichwohl ich prinzipiell ein Freund davon bin, das Terza Visione mit "Grenzgängern" am Rande des klassischen Genre-Kinos zu erweitern). Im Grunde erzählt der Film eine recht simple Vierer-Beziehungsgeschichte mit einem fünften Rad, der das Gefüge noch mehr durcheinander bringt. Mit an den großen Kinoerneuerungsbewegungen geschulten Erzählweise zerlegt der Film die Chronologie, um das ganze Stück für Stück zusammenzusetzen. Nicht per se völlig unspannend, aber tatsächlich bleiben sämtliche fünf Hauptfiguren des Films eher reine Drehbuch-Behauptungen, durch überlange und sehr steife Dialoge nur notbehelfsmäßig zusammengehalten, als dass echte Charaktere lebendig wurden. Die achronologische, elliptisch-puzzleartige Erzählweise lässt alles noch eher steifer und konstruierter wirken, als dass es Dynamik bringt. Dass hier (mit Ausnahme des fünften Rad am Wagens, des von Lino Capolicchio gespielten Künstlers) allesamt gutbürgerliche Figuren ihr Ennui zwei Stunden lang spazieren führen und über Probleme der Ehe sich sehr, sehr verbos austauschen, lässt auch nicht gerade große Gefühle zu, besonders nicht, weil der Erkenntnisgewinn der langen Dialoge eher minimal ist. Ein bisschen hat mich das strukturell an Roman Polanskis CARNAGE erinnert: ein theaterhaftes (weil zu sichtbar von einem Theaterstück adaptiertes) bürgerliches Selbstvergewisserungsdrama.
Faszinierend dabei ist, dass die fünf tollen Darsteller da wenig ausrichten konnten. Jean-Louis Trintignant trägt ja grundsätzlich immer ein wenig Ennui in seiner Mine mit sich – in den meisten Rollen schafft er es aber, das produktiv einzusetzen: nicht hier, wo er wirklich nur gelangweilt aussieht. Annie Girardot kämpft gefühlt die ganze Zeit gegen ihre schlecht geschriebene Figur und wirkt, als würde sie im falschen Film spielen. Lino Capolicchio, so wunderbar als Hobbyermittler in Antonio Bidos Venedig-Giallo SOLAMENTE NERO, wandelt wie ein aufgezogenes Stehaufmännchen durch den Film (aber sein gequälter Künstler, der viele Marotten hat, unter anderem eine Hakenkreuzfahne als Decke, ist schon ein sehr weinerliches Klischee). Nur Tony Musante und Florinda Bolkan ließen manchmal ihre Brillanz durchscheinen: wer beide aber in einer wirklich spektakulären, symbiotischen Chemie zusammen spielen sehen möchte, sollte lieber das wunderbare Venedig-Melodrama ANONIMO VENEZIANO mit den beiden als Protagonisten schauen.
Die Sichtungsumstände waren natürlich dem Film auch nicht sehr wohlgesonnen: die Kopie war mechanisch sehr mitgenommen (weil als Hit wohl extrem oft gespielt) und ein ziemliches Inferno aus Klebestellen und Fehlstellen. Die Live-Untertitelung hatte deshalb kaum eine Chance, über längere Zeit synchron zu bleiben, zumal angesichts des kaskadenartigen Schwalls an Dialogen: bei Rollenwechseln wurde zwei (oder drei?) Mal pausiert, um wieder Untertitelung und Film synchron zu bringen. Eine besonders dicke und/oder schlecht gemachte Klebestelle brachte dann auch die Kopie zum Stillstand: bei einem Einzelbild stehen geblieben, schmorte die Projektionslampe das stehengebliebene Einzelbild an, und nach der Manier von TWO-LANE BLACKTOP verbrannte ein Teil der Kopie vor unseren Augen – das Bild löste sich auf, und der entstehende Rauch war dabei deutlich auf der Leinwand mitprojiziert (und wirkte finster und bedrohlich). Als Sichtbarmachung von Materialität des Kinos (und ihrer Fragilität) war das ohne Zweifel ein besonderes Erlebnis. Es ist schon ein wenig schade, wenn dieser Vorfall quasi das Beste am Film war. Aber nein, so ganz stimmt das nicht, denn der große Show-Stehler des Films ist Ennio Morricones fantastischer Score, der aus einem wohl nur täuschend einfachen Motiv ein ganzes Gefühlsuniversum aufbaut (hier reinhören). METTI, UNA SERA A CENA war für diese Terza-Ausgabe allerdings auch der Startpunkt für eine ganze Reihe von Filmen, die problematische und krisenhafte Ehen thematisieren.


ab 20:00 Uhr

BUIO OMEGA (dt. Verleihtitel: "Sado – Stoß das Tor zur Hölle auf")
Regie: Joe D'Amato
Italien 1979
93 Minuten, OmU
Es war einmal in den Alpen... Francesco (Kieran Canter) ist unsterblich in seine Verlobte Anna (Cinzia Monreale) verliebt, doch diese ist leider allzu sterblich und erliegt einer akuten Erkrankung – möglicherweise von Francescos besitzergreifenden Haushälterin Iris (Franca Stoppi) mit der beauftragten Voodoo-Hexerei einer lokalen Hexe ausgelöst. Der leidenschaftliche Tierpräparator wendet seine Kenntnisse der Leichenkonservierung auf seine ausgegrabene Geliebte an. Doch allzuviele Menschen wollen das selige Liebesglück zwischen ihn und Anna stören und müssen deshalb ins Jenseits befördert werden...

Liebe bis zum Tod – und auch danach: Francesco rettet seine tote Geliebte aus dem Friedhof

BUIO OMEGA ist ein berühmt-berüchtigtes Artefakt der Zensurgeschichte, vielfach zensiert, verstümmelt, verboten, beschlagnahmt. Gegner sehen ihn als schlechten B-Movie-Splatter-Schund, die lautstärksten Befürworter hingegen waren hingegen jahrelang die Gorebauer-Fraktion.
Seine "Freigabe" aus dem Kerker der deutschen Video-Nasties (die Indizierung wurde im Frühjahr 2023 aufgehoben) bietet nun die Möglichkeit, sich etwas unaufgeregter diesem Stück Kino- und Zensurgeschichte zu nähern. Das Terza Visione war der ideale Rahmen, um BUIO OMEGA als das zu entdecken (für viele im Publikum auch: wieder entdecken), was er wohl im Grunde immer war: ein kleines Meisterwerk, gleichzeitig derangiert-abseitiger Horrorfilm und dunkelromantisch-morbider Liebesfilm.
Die wunderbare, längere Einführung von Terza-Co-Organisator Sven und Joe-D'Amato-Spezialist Arthur war für D'Amato-Junioren und Buio-Jungfrauen wie mich wahrscheinlich ebenso erhellend wie für größere Kenner des Films und seines Regisseurs und Kameramanns. Sven erhellte die Ursprünge des Stoffs im traditionellen Gothic-Horror und in der filmischen Vorlage IL TERZO OCCHIO mit Franco Nero, geschrieben und inszeniert von Mino Guerrini (dessen Remake BUIO OMEGA ist). Arthur verwies auf die vielfältigen Motive und Themen des Films: auf seine Qualitäten als emotional ergreifender Liebesfilm über eine bislang nicht "konsumierte" Liebe, auf seine Andeutungen von Klassenkampf, auf die Versuche des Protagonisten nicht im engeren Sinne nekrophil tätig zu werden sondern andere Personen als "Proxys" für den (ersten!) Sex mit der geliebten Anna zu benutzen, auf die "dynastische" Dimension der Geschichte im Rahmen eines Adeligenhauses, auf die Bedeutung der vielen im ganzen Haus verteilten ausgestopften Tiere, von denen zwei als "nicht-heimisch" hervorstechen, auf die eigensinnige Erzählstruktur, die den Zuschauer immer mehr dazu auffordert, Leerstellen selbst zu befüllen. Und was ich persönlich sehr hilfreich fand: der Hinweis, auf das Medaillon zu achten, das als einer von mehreren roten Fäden sich durch die Hälfte des Films zieht.
Sven und Arthur wiesen darauf hin, dass BUIO OMEGA ein untypischer Horrorfilm sei. Wahrscheinlich ist es eh richtiger, von einem Hybrid aus Horror-Schocker, schwelgerisch-verträumtem, zärtlichem Liebesfilm, schwarzer Komödie, absurder Groteske, rohem Sleaze, Essay über Adel und Dekadenz sowie berauschendem Melodrama zu sprechen. Das Herausragende dürfte wohl darin liegen, dass alle Elemente funktionieren. Wenn Francesco riesige Säureflaschen ("Salzsäure" und "Schwefelsäure" deutsch beschriftet) wie Penisverlängerungen vor sich haltend in die Badewanne schüttet, während Iris daneben die Leiche der unglücklichen Autostopperin in Stücke hackt, dann ist das in seiner schieren ekligen Bestialität so unfassbar wie grotesk. Wenn die Leichenrestepampe dann im Gartenloch verbuddelt ist und Iris in der Küche dann erst mal zwei Suppenteller aus dem Regal holt, zeigt sich BUIO OMEGA von seiner schwarzhumorigsten Seite (nach getaner Arbeit erst mal gut futtern!) – ein Lacher ging durch den Saal, der gleich im Halse erwürgt wurde, als dann Iris den liebevoll zubereiteten Gulasch auf eine so viehische Weise verschlingt, dass selbst Bud Spencer und Terence Hill im Vergleich wie feine Pinkel wirken. Auch das feierliche Verlobungsdinner mit den offenbar schwer inzestgestörten Familiengästen (einer nimmt sein Gebiss raus und säubert es mit dem Taschentuch) ist von einer Komik und einer wilden Bissigkeit, die Buñuels Bourgeoisie-Satiren hinter sich lässt. Daneben gibt es immer wieder die Momente, in denen Francesco in schwelgerischer Liebe selbstvergessen mit seiner (toten) Anna verbringt: liebevolle Blicke, kleine Gesten der Zärtlichkeit (ein schönes Detail: Iris, als sie der frisch verstorbenen Anna noch wohlgesonnen ist, lackiert ihr die Fingernägel). Irgendwo dazwischen Francesco, der sich von Iris in einem Moment verzweifelter Trauer die Brust geben lässt (ein Motiv, das auch in D'Amatos IL PIACERE wiederkehren würde) oder der zur rasenden Bestie geworden der Autostopperin anfängt, einzeln die Fingernägel auszureissen. Paradox eigentlich: D'Amato-typisch schreitet der Film in einem meditativen, kontemplativen Rhythmus vor sich hin – und ist doch auch eine wilde Achterbahn der Gefühle.
Dass BUIO OMEGA sich mit Filmen wie L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE? den Kameramann teilt, sieht man ihm auch an: er ist elegant fotografiert, in vielen Szenen hat er fast was von Postkartenmotiven – die idyllische südtirolische Berglandschaft voller satter Grüns, malerischer Panoramen, pittoresker Waldflecken und schmucken Häusern reibt sich wunderbar an den unfassbaren Vorgängen. BUIO OMEGA ist auch ein Film, der die Wirkmächtigkeit des Kuleschow-Effekts mithilfe einer toten Figur aufzeigt: während Anna im mütterlichen Bett regungslos liegt (sie ist ja schließlich tot!), macht sich Iris an Francesco ran und holt ihm einen runter, während Francesco eher von Annas Präsenz als von Iris Tätigkeiten wirklich angeregt wird; eine Montage von Anna, dann Francesco, der einen Orgasmus bekommt und dann wieder Anna lässt die Zuschauer glauben, dass die verblichene Geliebte von Francescos Höhepunkt zu einem seligen Lächeln gebracht wird. Pure Kinomagie.


ab 22:45 Uhr

EVA MAN
Regie: Antonio D'Agostino
Italien/Spanien 1980
78 Minuten, OmU
Eva (Eva Robin's) ist sowohl Frau als Mann – und daher die ideale Testperson für Professor Popovs (Ramón Centenero) neu konzipierten "Sexmaker", der das Lustempfinden auf Knopfdruck steigern kann. Doch auch üble Gangster haben es auf die Maschine abgesehen und wollen Eva entführen. Mit der Kampfbereitschaft Evas und ihrer wackeren Freundin Ajita (Ajita Wilson) haben die Böswatze allerdings nicht gerechnet!

Ajita und Eva beschützen gemeinsam den Sexmaker

Trans-Personen, die im italienischen Genre-Kino der 1970er Jahre marginalisiert waren (und eigentlich auch im internationalen Kino sämtlicher Couleurs), bekommen in EVA MAN eine liebevolle Bühne als zentrale Protagonistinnen, als positive Heldinnen, als charismatische Ikonen, als durchschnittlichen Sterblichen bei weitem überlegene Sex-Göttinnen.
EVA MAN ist ob seines niedrigen Budgets ein durchaus rumpeliger Film: im Gegensatz zu Eva, die sowohl als Frau wie auch als Mann bestens performt, funktioniert er nicht in all seinen Facetten. Der Versuch, einen SciFi-geprägten Thriller mit Gangster-Subplot zu erzählen, geht ziemlich gehörig in die Hose, denn für Spannung und Action und auch für solides narratives Erzählen hatte Antonio D'Agostino offenbar überhaupt kein Händchen. Da trübt der Film in teils sehr steifen Szenen mit Expositionsdialogen zum Füßeeinschlafen vor sich hin, und ein Portrait von Sigmund Freud an der Wand im Büro als Marker dafür, dass Professor Popov wirklich ein Wissenschaftler ist, versprüht zwar einen netten Charme, vermag den stocksteifen Erzählstil aber nicht wirklich zu kaschieren.
Als relaxter Sexfilm, als entspannter Abhängfilm und als filmische Bühne für die Style- und Sexikonen Eva Robin's und Ajita Wilson ist EVA MAN absolut großartig. Wenn beide in Zeitlupe, begleitet von einem loungigen Score des ehemaligen Morricone-Gitarristen und -Pfeifers Alessandro Allessandroni händchenhaltend und halbnackt durch einen mediterranen Garten Freudesprünge machen und dann in den Pool tauchen, um dort minutenlang voller Lebensfreude herumzutollen und zu planschen, dann ist der Film ganz bei sich.
Als Exploitationfilm ist EVA MAN von Didaktik und Thesenkino natürlich meilenweit entfernt und trotzdem hat er auch etwas Utopisches: die Art und Weise, wie er das (nicht nur) sexuelle Charisma seiner beiden Trans-Hauptdarstellerinnen feiert, so völlig unverkrampft und ohne jegliche thematische Schwere, dürfte zu dieser Zeit recht einzigartig gewesen sein. Die, die hier bloßgestellt und lächerlich gemacht werden, sind die transphoben Gangster und Handlanger. Der "Fiancé" Evas macht irgendwann nach zwei Dritteln der Laufzeit die Entdeckung, dass seine Geliebte einen Penis hat und von dem Dreier, den Ajita und Eva ihm vorschlagen, schreckt er zunächst zurück. "Kümmer du dich doch um die weiblichen Teile, dann kümmere ich mich um die männlichen" schlägt Ajita sinngemäß vor – und der "Fiancé" legt sein Zurückschrecken ab und gibt sich dann mit Eva und Ajita dem sinnlichsten und schönsten Sex im ganzen Film hin.


Freitag, 21. Juli 2023


ab 12:30 Uhr

LA CONTROFIGURA (wörtl. "Der Stellvertreter", "Der Double", dt. Verleihtitel: "Liebe ist wie ein Sturm")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1971
89 Minuten, dF
Bei einem Urlaub in Nordafrika wollen sich Giovanni (Jean Sorel) und Lucia (Ewa Aulin) eigentlich entspannen. Doch der Architekt wird immer wieder von Eifersuchtsanfällen geplagt, wenn der hübsche Amerikaner Eddie (Sergio Doria) sich zu sehr in der Nähe befindet. Kurze Ruhepausen von seiner Eifersucht findet Giovanni in einer gewaltsamen Affäre mit Lucias Mutter Nora (Lucia Bosé). Zeichen eines drohenden, tödlichen Unheils kündigen sich an und verstärken sich nach der Rückkehr nach Rom.
Giallo ist eben auch viel mehr als Serienkiller mit schwarzen Lederhandschuhen – wie der herausragende LA CONTROFIGURA demonstrierte. Der Prolog* – Jean Sorel fährt in eine Garage, wird von einem Mann angeschossen, fällt in Zeitlupe um und beginnt sich zu erinnern – schafft eine erwartungsvolle Grundstimmung, aber besonders im ersten Drittel ist der Film vor allem erst einmal ein Ehekrisen-Drama, ausgetragen von Jean Sorel und Ewa Aulin an einem malerischen und einsamen marokkanischen Badestrand. Er, Giovanni, ist vor allem ein Arschloch, der seiner Frau die ganze Zeit versucht einzureden, dass sie dumm sei, sie, Lucia, vor allem eine Frau, die offenbar Mühe hat, ihren Urlaub in Präsenz eines solchen Mannes zu genießen (verständlicherweise). Taucht auf: ein mysteriöser und sehr attraktiver fremder Mann am Strand; eine anderes Ehepaar (Silvano Tranquilli und die wunderbare Marilù Tolo); und Lucias Mutter (Lucia Bosé). Das bringt nicht nur Jean Sorels Hormonhaushalt durcheinander (und offenbart seine rapey Tendenzen), sondern zersplittert auch den Film rasch in ein großes Puzzle aus Erinnerungs- und Fantasie-Fragmenten, das sich weder für chronologische oder geografische Kontinuität interessiert noch dafür, ob es sich um Realität, Erinnerung, paranoide Einbildung oder Wunschfantasie handelt.
Im Grunde genommen also etwa das, was METTI, UNA SERA A CENA auch macht, bloß als "richtiger" Genrefilm mit mehr nackter Haut, mehr Sex-Szenen und mehr blutiger und tödlicher Gewalt – und vor allem wesentlich virtuoser und fesselnder inszeniert. All das zusammengehalten von Armando Trovajolis wunderbarem Score, der im Gegensatz zu Morricones in METTI, UNA SERA A CENA nicht nur wunderschön ist, sondern auch dramaturgisch gekonnt eingesetzt: Trovajoli arbeitet mit einer Palette, die wunderschöne Lounge-Musik am Rand des Kitsches und verstörende Dissonanzen umfasst – beide Atmosphären kommen stellenweise gleichzeitig zum Zuge, um die unter der Idylle der nordafrikanischen Sonne lauernden Abgründe zu illustrieren. Jederzeit kann die Stimmung umkippen, genauso wie dissonante Klavierakkorde den sanft einlullende Lounge-Klangteppich "beschmutzen".
LA CONTROFIGURA dürfte wesentlich komplexer erzählt sein als METTI, UNA SERA A CENA, ohne dabei verkopft-bleiern zu wirken. Die Vorführung beim Terza hielt allerdings eine besondere Überraschung bereit: die letzten zwei Akte wurden vertauscht angeliefert und abgespielt, die puzzle-artige Struktur des Films wurde noch weiter aufgebrochen und durcheinander geworfen mit wohl einigen interessanten Effekten. Ein industrieller Ofen in einer Ziegelei wurde so sofort zum makabren Ort der Entsorgung einer Leiche – und war später "wieder" harmlos und doch "aufgeladen" bei der "normalen" Tagestätigkeit zu sehen (während in der richtigen Reihenfolge der Ofen zunächst als "trivialer" Produktionsort präsentiert wird, der später "produktiv" zur Leichenentsorgung verwendet wird). Eine oder zwei Sequenzen waren nun noch weniger klar als "Realität" oder "Fantasie" auszumachen. Der erste Aktwechsel führte ohne jegliche Exposition die Figuren Tranquillis und Tolos ein, so dass nicht nur ich, sondern viele andere Zuschauer das Gefühl hatten, hier bereits einen Akttausch schon erlebt zu haben – während der "wirkliche" Akttausch für mich und für viele andere zunächst unbemerkt blieb und erst aufgedeckt wurde, als dem "gefühlten" Ende des Films (rein visuell, ohne die Musikbegleitung, nur als kurze Schwarzblende ohne "Ende"-Einblendung oder Credits bemerkbar) mehr Film folgte.
*Interessantes Detail: die gezeigte deutsche Kopie enthielt im Vorspann nur den deutschen Titel des Films "Liebe ist wie ein Sturm", sämtliche Credits fehlten komplett. Es scheint so, als hätte man im Kopierwerk vergessen, die deutschen Credits einzufügen, was dazu führte, dass wir eine etwa dreiminütige, ungeschnittene Einstellung auf die Motorhaube eines fahrenden dunkelblauen Citroën DS sahen, mit zahlreichen Spiegelungen vorbeirauschender Gebäude auf der Motorhaube und mit Armando Trovajolis meisterhafter Musik untermalt.


ab 16:00 Uhr

UN AMORE (wörtlich: "Eine Liebe", dt. Verleihtitel: "Junge Haut")
Regie: Gianni Vernuccio
Italien/Frankreich 1965
95 Minuten, OmU
Antonio (Rossano Brazzi), ein wohlhabender Architekt, der auch jenseits seines 40. Geburtstags noch bei Mutti lebt, verliebt sich in die Tanzschülerin Laïde (Agnès Spaak), die er über ein... Institut zur Anbahnung von Bekanntschaften kennenlernt. Als Antonio mehr als nur eine Gelegenheitsbekanntschaft will, wird es kompliziert, denn Laïde scheint mehr als nur einen Verehrer zu haben.

Laïde und Antonio: kein Traumpaar

 
UN AMORE ist eine Variation des Themas "Junge Frau verführt reiferen Mann in die Narrerei". Ich muss zugeben, dass mich der Film ein bisschen kalt gelassen hat. Das Terza Visione ist aber zum Glück auch ein Ort des vielseitigen Austauschs und beim anschließenden Gespräch am geselligen Abendessentisch eines Frankfurter Apfelwein-Restaurants erläuterte ein Co-Zuschauer in sehr schlüssigen Argumenten, warum er den Film so toll fand:
Zunächst war da einmal die Stärke, dass der Film seinen Figuren viel Raum zu Ambivalenzen lässt, wenig Schwarzweiß und dafür viele Grauschattierungen lässt: UN AMORE ist kein Film über ein Flittchen, das einen armen alten Herrn ins Verderben führt noch ein Film über einen alten Wüstling, der ein unschuldiges Mädchen verführt – beide durchleben eine Dynamik von Situationen, die für beide Unangenehmes beinhaltet. Es ist auch ein Film, der letztendlich nicht an eindeutigen Klärungen interessiert ist: wieviel von dem, was Laïde Antonio auftischt, wirklich wahr oder erlogen ist, interessiert ihn weniger als tatsächlich das fragile Gefüge ihrer Beziehung, und wie beide FIguren mit der Situation umgehen. Dabei hat UN AMORE besonders ein Talent für Situationen der "social akwardness": die Silvesterfeier im Dreier mit Laïde, ihrem "Cousin" Marcello (Gérard Blain) und ihrem "Onkel" Antonio nimmt in ihrer Schmerzhaftigkeit fast schon Züge eines schwarzen Horrorfilms an.
Dann ist UN AMORE auch ein wirklich toll fotografierter Film. Besonders hervorstechend sind Visionen und Träume Antonios, bei denen Figuren durch ein komplett mit weißem Licht durchflutetes Nichts wandeln und Gegenstände (etwa die Armlehne eines Stuhls) nur sichtbar werden, wenn sich Antonio im dunklen Anzug davor platziert.
UN AMORE ist auch ein Film der vielen kleinen Ideen – und hier etwas, was ich schon während des Films super fand: Laïde lässt Antonio für ein Mittagessen einfach stehen, und übergibt ihren kleinen Schoßhund in seine Obhut, damit sie sich mit ihrem "Cousin" Marcello vergnügen kann. Antonio ist also versetzt worden für das Mittagessen. Dann halt eben Mittagessen mit dem Hund So sitzt er dann auch einsam in einem Restaurant, auf einem Stuhl neben ihm das Schoßhündchen. Ein extravagant großes Steak wird vom Kellner auf einem mobilen Grill fertig gebraten: Antonio gönnt sich offenbar was Schönes. Das Steak wird auf ein Teller gehievt, und das Ganze dann dem Schosshündchen vor die Nase platziert. Der Hund ist mit dem Stück Fleisch, das etwa zwei mal so breit ist wie er selbst, sichtlich überfordert.


ab 20:00 Uhr

PIZZA CONNECTION
Regie: Damiano Damiani
Italien 1985
116 Minuten, dF
Der Mafia-Hitman Mario (Michele Placido), der als Tarnung einen Pizzaladen in New York führt, bekommt den Auftrag, in der alten Heimat, in Palermo, einen Staatsanwalt zu ermorden. Dort versucht er, seinen jüngeren Bruder Michele (Mark Chase) für seinen Attentatsplan zu rekrutieren.

Brüder und Rivalen beim Männlichkeitstest: wird Michele auf das Pony schießen?

 

Nachdem ich mit UN AMORE nicht so ganz warm geworden bin, hielt sich meine Begeisterung bei PIZZA CONNECTION leider noch etwas mehr in Grenzen. Allerdings bin ich generell eher nicht ein guter Ansprechpartner, wenn es um italienische Polizei- und Mafiafilme der 1970er geht, die Subgenres des italienischen Genrekinos, mit denen ich wahrscheinlich im Allgemeinen am wenigsten anfangen kann (auch wenn ich wohl gerade die sehr "extremen" Vertreter goutiere: sei es Deodatos UOMINI SI NASCE POLIZIOTTI SI MUORE, Fulcis LUCA IL CONTRABBANDIERE oder Bianchis QUELLI CHE CONTANO).
PIZZA CONNECTION hat sich für mich wie ein wenig gelungener Hybrid aus melodramatischem Familien-Drama und ultratrockenem Mafia-Procedural angefühlt. Angereichert mit einigen rohen Sleaze-Spitzen (der Subplot um die Zwangsprostitution von Micheles Teenager-Liebe durch ihre drogenverseuchte Familie) für den Melo-Teil und sehr arm an Action-Attraktionen für den Procedural-Teil (um nicht zu sagen, dass da teilweise sogar durch Ellipsen bewußt alle Thrills abgeblockt werden). Beide Hauptfiguren haben mich auch eher kalt gelassen.
Sehr bizarr: der Prolog und der Epilog spielen beide in New York City. Und beide dürften wohl meine liebsten Teile des Films sein, vielleicht, weil beide Teile für sich kleine geschlossene Perlen des Spannungskinos sind, mit jeweils einem Auftragsmord, der langsam vor unseren Augen vorbereitet und durchgeführt wird.


ab 22:45 Uhr

STRIDULUM (US: THE VISITOR, dt. Verleihtitel: "Die Außerirdischen")
Regie: Giulio Paradisi
Italien/USA 1979
101 Minuten, EF
Das Böse from outer space versucht, die Erde zu knechten. Barbara (Joanne Nail) kann das Böse vererben, ohne selbst böse zu sein, und deshalb soll Raymond (Lance Henriksen), deren Lebensgefährte, Manager eines Basketball-Teams und Henchman des irdischen Stakeholders (Mel Ferrer) der außerirdischen Macht, mit ihr den Antichristen zeugen. Dieser soll zusammen mit seiner bereits achtjährigen großen Schwester Katy (Paige Conner), einem echten Satansbraten vor dem Herren, das auf Geburtstagsfeiern schon für makabre "Unfälle" sorgt, das Böse in der Welt verbreiten. Doch Jerzy Colsowicz (John Huston), der nicht aus Warschau oder Krakau kommt, sondern von den außerirdischen Absolut-Guten, steigt auf die Erde hinab, um gegen das Böse zu kämpfen, unter anderem mit der Unterstützung von Barbaras Haushälterin (Shelley Winters).

Katy: Süßes Gesicht, mörderische Absichten

 
Ein sehr bizarrer Cocktail aus Star-Power (John Huston, Mel Ferrer, Lance Henriksen, Shelley Winters, Glenn Ford, Sam Peckinpah, Franco Nero), Rip-Off-Elementen (THE EXORCIST, THE OMEN, ROSEMARY'S BABY, CARRIE, THE FURY, CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und Strukturelemente der Polit-Paranoia-Thriller der 1970er Jahre stecken drin), einem faszinierend teurem Look (in dem Film steckte wohl viel mehr Geld drin als bei den meisten anderen Filmen dieses Terzas), völlig wahnsinnigen Ideen (u. a. Franco Nero als Jesus-Double from outer space mit einer knallgelben Wikinger-Damenperücke) und einer kompletten Ungerührtheit dabei – ja, das mögen vielleicht etwas zu viele Zutaten sein, damit das wirklich rund wird, aber faszinierend war STRIDULUM doch auf jeden Fall.
Die wirklich hart verstrahlten Elemente konzentrieren sich vornehmlich auf den Prolog. John Huston als eine Art Gottfigur beschwört Wolken in einer Art Outer-Space-Wüstenlandschaft und erzählt dann einer Gruppe von glatzköpfigen Kindern in weißen Uniformen (sie sollen "gut" sein, sehen aber eher wie eine Gruppe von gehirngewaschenen potentiellen Selbstmord-Attentätern aus) eine komplizierte Geschichte über den Kampf zwischen Gut und Böse, die wohl nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch niemand sonst im Saal im Detail verstanden hat, weil sie so verschlungen-verzweigt und mit unzähligen Namen vollgestopft war. Das darauffolgende Basketballspiel, bei dem Barbara und Katy sowie Raymond eingeführt werden, ist da wieder etwas weltlicher und baut sehr geschickt eine sehr ominöse Spannung auf: dass Katy das vorher von Huston beschworene Böse ist, wird an ihrem Blick klar. Die Auflösung, der Twist der Szene allerdings ist wieder... bizarr? Mel Ferrer wird dann später als weltlicher Vertreter des intergalaktischen Bösen präsentiert – als Vorsitzender einer Gruppe ominöser Geschäftsmänner, die Lance Henriksen in einem riesigen, prunkvoll-pompösen Verschwörungsgruppen-Saal erwarten und von ihm fordern, endlich Barbara zu begatten, damit das Böse sich potenzieren kann.
"Ripoffs" haben oft den Vorteil, dass sie ihren Stoff komplett verdichten können, bis es anfängt zu krachen. Das würde es am übernächsten Tag bei LADY TERMINATOR zu sehen geben, wo die Südseekönigin auf Rachefeldzug jeglichem Terminator das Fürchten lehren sollte und auch hier ist es so: Paige Conners Katy lässt Damien aus THE OMEN (oder auch die bereits besessene Regan aus THE EXORCIST) im direkten Vergleich wie ein süßes kleines Kind wirken, dem man den Kopf tätscheln und einen Keks in die Hand drücken möchte. STRIDULUM ist Terrorkinder-Kino der Extraklasse und das ist vielleicht der klarste rote Faden des Films. Katy sagt nicht nur zu Polizisten (gespielt von Glenn Ford) liebreizende Sätze wie "Go fuck yourself", schlägt nicht nur ihrer Mutter vor, "mit Raymond Liebe [zu] machen, damit ich bald einen kleinen Bruder bekomme" (und schleicht sich dafür zu später Stunde an das mütterliche Bett), sondern schlägt auch ganz alleine eine Bande von Halbstarken auf einer Mall-Schlittschuhbahn, lässt einige von ihnen gar durch die Fenster nahe gelegener Restaurants krachen.
Es gibt etwa 15 bis 20 Minuten vor Ende die vielleicht merkwürdigste Szene im ganzen Film, ganz ohne extravagante Dekors und total verrückten Ideen: es ist einfach nur ein etwas längerer Dialog zwischen John Huston und Shelley Winters. Hier kommt raus, dass die Haushälterin offenbar durchaus irgendwie mit den Kräften des Guten verbündet ist. Ein etwas überraschender Twist, aber das ist es nicht: der Dialog zwischen Huston und Winter ist von einer fast jenseitigen Zärtlichkeit, eine elektrisierende Chemie ist spürbar, als würden sich hier zwei austauschen, die schon seit Jahrzehnten intim sind. Sie sprechen ziemliche Banalitäten, die irgendwie von Abschied handeln, aber durch die Präsenz und das Mimenspiel der beiden Darsteller wird hier fast eine Art romantischer Sub-Liebesfilm innerhalb des Films angedeutet. Andere Co-Zuschauer sahen darin sogar ein Verhandeln von Altern im Hollywood-Starsystem. Wie dem auch sei: auf eine eigensinnige Weise war diese nur scheinbar banale Szene wohl der magischste Moment von STRIDULUM.


Samstag, 22. Juli 2023


ab 14:00 Uhr

LA CORONA DI FERRO ("Die eiserne Krone")
Regie: Alessandro Blasetti
Italien 1941
109 Minuten, OmU
Der mittelalterliche Tyrann Sedemondo (Gino Cervi) versucht nach seinem Putsch die Territorien zu konsolidieren und muss dabei sowohl eine legendäre Krone wie auch seinen eigenen kleinen Sohn in eine weit entfernte Todesschlucht verbannen. Die Krone ist tief versunken und der kleine Junge totgeblaubt – doch dieser kehrt 20 Jahre später als junger Mann (Massimo Girotti) zurück, um an einem Tournier zur Verlosung der Hand von Sedemondos Tochter teilzunehmen.
LA CORONA DI FERRO wurde vor der "großen" Ära des italienischen Genrekinos produziert, die im Mittelpunkt des Terza Visione steht. Ein Vorläufer des Peplums mit einigen Motiven des Mantel- und Degenfilms und einigen mystisch-mythologischen Fantasy-Elementen – das ganze vornehmlich als Mittelalter-Schlachten-Epos, der seine Entstehungszeit in der faschistischen Ära zwar nicht ganz zu verstecken vermag, andererseits viel Pathos und Pomp durch lockere Verspieltheit, Freude an witzigen Ideen, purem Quatsch und einer Begeisterung für schiere Schauwerte zu vermeiden weiß.
 Skepsis und Freude hielten sich bei mir etwas die Waage. Trotzdem die Erzählung wahrscheinlich nicht sonderlich kompliziert sein sollte, wirkte sie für mich verwirrender als manch ein verschlungener Giallo. Viele Texttafeln (grafisch schön aufbereitet als aufgeklapptes Buch, um die märchenhafte Stimmung zu betonen) arbeiteten manchmal sehr oberflächlich, manchmal überakribisch detailliert Exposition ab. Die Dramaturgie des Films navigierte sehr brüsk zwischen harten Ellipsen und vielen Szenen, die mühsam (aber nicht immer schlüssig) eine Brücke zwischen verschiedenen Sinneinheiten bilden sollten. Kurz: ich hatte große Mühe, der Geschichte zu folgen – dadurch aber auch viel Muße, um mich an den vielen schönen Setpieces zu erfreuen. LA CORONA DI FERRO war schon ein "Blockbuster", ein Prestige-Projekt der Zeit und das viele Geld, das in diesen teuren Film gesteckt wurde, sieht man ihm auch durchaus an: opulente, detailreiche, glitzernd-verführerische Set-Designs, denen dem Ton des Films entsprechend weniger daran gelegen ist, ein "realistisches" Bild des Mittelalters zu zeichnen als viel mehr eine kleine Traumwelt zu erschaffen.
Auf der Schauspielerseite auch ein wenig Ambivalenz. Einerseits fand ich den Haupthelden, Arminio, gespielt von Massimo Girotti, eine ziemlich nervtötende Figur und auch die Königin eher blass gespielt von Elisa Cegani. Aber das macht nichts, wenn dafür Gino Cervi (bekannt als Peppone aus den französisch-italienischen Don-Camillo-Filmen mit Fernandel) den König Sedemondo als ruppig-rabiaten und unkultivierten Raufbold spielt, der ständig seine Umgebung mit der Beschimpfung "bestià" bedachte (beispielsweise seine Dienerschaft "Dammi da bere, bestià!" anschnauzend, wenn er zwischendurch jetzt, sofort (!) saufen möchte). Und eine noch bemerkenswertere Darstellung gibt es von Luisa Ferida als militante Kämpferin und "henchwoman" Tundra, die in langen Stiefeln und kurzen Hotpants eine Prise Domina und eine Messerspitze Femme Fatale in ihre Figur bringt. Was für eine wunderbare alternde Grande-Dame hätte sie in der Giallo-Welle der späten 1960er und frühen 1970er werden können, aber sie wurde 1945 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Opfer einer summarischen Hinrichtung durch anti-faschistische Partisanen.


ab 16:30 Uhr

NEROSUBIANCO ("Attraction")
Regie: Tinto Brass
Italien 1969
76 Minuten, dF
Barbara (Anita Sanders) wird am Hyde-Park von ihrem Ehemann Paolo aus dem Auto gelassen. Während er noch Geschäfte machen muss, wird ihr Spaziergang durch Swinging London zu einem wilden Trip zwischen Sex, Pop und Politik.

Ein kurzes Cameo des Regisseurs: Tinto Brass als Gynäkologe

 
Mit NEROSUBIANCO feierte das Terza in seiner neunten Ausgabe seine Tinto-Brass-Premiere, und zwar nicht mit einem seiner erotischen Werke der mittleren oder späten Phase, sondern mit einem Film aus seiner frühen Phase, als er noch der experimentellen, avantgardistischen Seite des europäischen Neue-Welle-Kinos nahe stand. Ein Grenzgänger-Film also am Rande dessen, was man noch Genre-Kino (ja gar narratives Kino) nennen kann, eine knapp 80-minütige "Psychedelic Pop Art Experience", wie ein Filmplakat versprach. Ein Film, der wohl leider bei einem großen Teil des Terza-Publikums durchfiel.
Eine gewisse Neigung für Experimentalfilm dürfte wohl nicht schaden, um NEROSUBIANCO zu goutieren. Es ist ein harter, wilder und mit schwindelerregender Intensität geschnittener Ritt durch Swinging London, durch Popart- und Comic-Bilder, durch krieseliges Dokumentar-Found-Footage, begleitet von einem kakophonischen Sound-Design und tranceartige Voiceovers, die ab und zu Platz machen für Song-Einlagen der Band Freedom.
NEROSUBIANCO ist wie gesagt am Rande dessen, was man noch narrativer Film nennen kann, aber Spuren von roten Fäden gibt es dennoch. So steckt auch (schon wieder!) ein Ehekrisen-Drama in diesem Film: Barbaras Ehe mit Paolo ist offenbar erkaltet, nicht unbedingt in abgründige Untiefen als vielmehr in gelangweilte Routine gefangen. Der Spaziergang durch Swinging London bietet ihr die Möglichkeit, mal abseits ihrer Routine nach Eindrücken und Inspirationen zu suchen.
NEROSUBIANCO ist tatsächlich eher eine "Experience" als ein "normaler" Film. Ich bin gerne mit Barbara durch Swinging London gebummelt und habe mich gerne von dem Bilder- und Sound-Strom mitreissen lassen, besonders auf einer großen Kinoleinwand. An vieles kann ich mich schon nicht mehr genau erinnern, dafür ist der Film auch viel zu voll und dicht, aber das ist okay. Wenn Godard sich etwas mehr für nackte Haut, Sex und Erotik interessiert hätte und ein bisschen mehr Spaß und Jux in ihm gesteckt hätte, dann hätten manche seiner Filme vielleicht so aussehen können wie NEROSUBIANCO.


ab 20:00 Uhr

BLINDMAN ("Blindman, der Vollstrecker")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien/USA 1971
102 Minuten, dF
Ein blinder Revolverheld (Tony Anthony) ist hinter einer Gruppe von 50 "Mail Order Brides" her, die er zu ihrer Bestimmung eskortieren muss und die ihm von mexikanischen Militärs und amerikanischen Banditen abgeknüpft wurde.

Auch ohne Augenlicht schlägt sich der Revolverheld gegen Banditen und Militärs

 
Wie einst PER UN PUGNO DI DOLLARI sich vor dem japanischen Kino verbeugte (wobei das japanische Vorbild selbst von Dashiell Hammett inspiriert wurde), so transponierte BLINDMAN nun die Figur des blinden Samurais in den wilden Westen. So wie mein Verhältnis zu Leones erstem Western 2017 (kurz vor meinem ersten Terza) erkaltete, konnte ich mich für BLINDMAN leider nicht wirklich erwärmen. Die Titelfigur hat mich weitestgehend kalt gelassen: ob es an der Art, wie die Figur geschrieben war (über weite Strecken scheint der Film mit seiner Blindheit nichts anzufangen) oder am Darsteller (und Co-Produzent und Co-Autor) Tony Anthony selbst lag, der für mich merkwürdig blutleer wirkte – ich bin mir unschlüssig. Auch die Erzählweise des Films, die sich für mich ein bisschen zu sehr wie "Und dann passiert das, und dann das, und dann das, und dann das..." anfühlte, hat mich nicht wirklich mitgerissen. Ist der ganze Film zu zynisch-ironisch-distanziert und hat mich deshalb kaum involviert? Die Mail-Order-Brides schienen mir fast vollkommen belanglos in der Erzählung zu sein, wie ein Element, das halt so im Drehbuch steht – ebenso gut hätte es auch eine Viehherde oder irgendein seltenes Gewehr oder ein Goldschatz sein können. Oder für den Hofbauer-Kongress-Stammgast: das hätte auch eine zünftige Geschichte über Zwangsprostitution im sleazigen Wilden Westen (statt in einer europäischen Großstadt im sleazigen Noir-Ambiente) sein können, aber dann halt nicht (und wozu dazu den blinden Revolverhelden)... Und Ringo Starr als Bruder des Hauptbösewichten scheint mir auch leicht verschenkt.
Nun, irgendwie nicht mein Film, auch wenn das eher Jammern auf hohem Niveau ist: er plätscherte nett vor sich hin. Es gibt jedoch ein kleines Detail, das ich gerne besonders hervorheben möchte. Von dem Gebrüder-Duo der Bösewichte wird knapp nach der Hälfte einer von Blindman getötet. Als der Bruder zusammen mit seinen Schergen die Leiche entdeckt, folgt keine formelhafte Beschwörung von Rache, sondern ein emotionaler Moment der Trauer. Ein Mann hat hier seinen Bruder gewaltsam verloren, ist davon sichtlich gerührt und diese Rührung überträgt sich auch auf seine Schergen und auf die Zuschauer: für eine kurze Zeit steht der Film hier still und räumt der Trauer Platz ein. Das wird mir wohl länger im Gedächtnis bleiben als sämtliche Schießereien und Kämpfe und erzählerischen Wendungen und Kniffe.


ab 22:30 Uhr

PROFUMO (dt. Verleihtitel: "Lorenza")
Regie: Giuliana Gamba
Italien 1987
98 Minuten, OmU
Lorenza (Florence Guérin) hat genug davon, von ihrem allumfassend besitzergreifenden Ehemann Guido (Luciano Bartoli) sexuell erniedrigt und terrorisiert zu werden. Sie flieht und startet ein neues Leben mit dem Gärtner Eddie (Robert Egon Spechtenhauser). Als Guido gewaltsam gegen das frischverliebte Paar vorgeht, täuscht Lorenza ihren Tod vor und heckt einen Racheplan aus, bei dem sie Guido von seinen eigenen Methoden kosten lässt.
PROFUMO war nicht nur für mich eines der großen Highlights des Terza Visione 2023. Mit dem 1980er-Sleaze-Saxofon-Thema (interessante Variation: Altsaxofon statt dem üblichen Tenor-Saxofon – und später davon wieder eine Variation mit Bassklarinette) verführte mich der Film schon, bevor überhaupt das erste Bild zu sehen war und führte uns dann nach den Credits in ein bizarr-groteskes Bordell, bei dem die Grenzen zwischen Kundin / Prostituierte, Security-Angestellter / Freier, Vergewaltigung / Rollenspiel, Körper / Gegenstand ins Strudeln gebracht wurden – ein absolut meisterhafter Prolog, der bereits viele Themen und Motive des Films enthält und in ein... nun, schon wieder, Ehe-Drama führte (und den thematischen roten Faden dieses Terzas seit METTI, UNA SERA A CENA fortspann).
Besonders spannend erscheint mir, wie der Film mit seinen Sets umgeht, man könnte sagen: neureich-dekadenter 80er-Barock, mit Inneneinrichtungen, die allesamt sehr teuer, dabei aber auch erstickend, leblos, leer, seelenlos, minimalistisch um des Minimalismus willen aussehen, hermetisch gegen Tageslicht abgeschirmt, reduziert auf totale Funktionalität (in Guidos riesigem Arbeitszimmer gibt es praktisch nur einen riesigen Schreibtisch mit einem Computer drauf, daneben steht ein Fernrohr, mit dem er die Nachbarn bespannt) oder auf reine Repräsentation (eine Hotel-Lounge mit schweren, erstickenden Teppichen und überteuerten Designer-Möbeln). Lorenza wandelt in ihrem Zuhause und in ihren Hotels durch kalte Landschaften, die sehr gut dem emotionalen Zustand ihrer Ehe entsprechen. Befreiung gibt es hier teilweise am Strandhaus, an dem sie vor ihrem Ehemann entfliehen kann und eine Affäre mit dem tollpatschigen aber süßen Junior-Hausmeister und -Gärtner anfängt, aber wahrscheinlich nur, weil mehr Sonnenlicht zu sehen ist, wenn sie und ihr Toyboy am Strand auf dem nassen Sand Sex haben.
Ich verdanke PROFUMO auch, dass ich in meinem Leben nie wieder eine Dose Coca-Cola mit unschuldigen Augen werde sehen können. Es fängt harmlos an: Lorenza und Edward, am Rand des Pools am Strandhaus, schütteln die Dosen und spritzen sich gegenseitig mit Cola voll, aber die phallische Dose und vor allem ihr Inhalt werden danach von Lorenza auf sehr kreative Weise in ihr Liebesspiel eingebaut. Da kann Christie aus NINJA III: THE DOMINATION ihren V8-Tomatensaft einpacken! Es wird geträufelt und geleckt, dass einem Sehen und Hören vergeht und die Kinnlade runterklappt. Und dann verschwimmen – wie im Prolog angekündigt – wieder die Grenzen und Zehen nehmen die Funktion von Penissen ein...
Motive aus Filmen wie Lucio Fulcis furiosem Melodrama am Rande des selbstzerstörerischen Wahnsinns IL MIELE DEL DIAVOLO, Brian De Palmas Meditation über Voyeurismus und die Inszenierung von Verführung als Performance BODY DOUBLE und Yves Boissets genre- und gender-fluiden Identitäts-Psychogramm LA TRAVESTIE waren für mich bei PROFUMO spürbar: allesamt Filme, die ich letztes Jahr zum ersten Mal gesehen habe, auf unterschiedliche Weisen (aber stets sehr hohem Niveau) für meisterhaft halte und in deren Reihe ich jetzt ohne zu zögern PROFUMO stellen würde. Eine Frau, die von einer latent gewalttätigen Beziehung in die Enge getrieben wird; die performative Inszenierung von Körpern zur Irreleitung sehgieriger Voyeure; das geschlechtsübergreifende Spiel mit verschiedenen Identitäten.
Besonders letzteres führt in der zweiten Hälfte des Films zu schier unglaublichen Momenten, als Lorenza das Geschlecht "wechselt" und sich mit Kurzhaar-Perücke und Maßanzug als Yuppie inszeniert (die Ähnlichkeit mit Nicole aus Boissets LA TRAVESTIE war verblüffend) und Edward mit ein bisschen Makeup und Stöckelschuhen in eine passende "Trophy-Wife" verwandelt wird – und beide ihre Performances zunächst in der Öffentlichkeit ausprobieren, bevor sie dann auch gewalttätigen Sex (Lorenza nimmt Edward hart von hinten) hinter der Gaze des Vorhangs proben, der für Fernrohr-Voyeure das Spektakel verundeutlicht und umso anregender macht.
Die überaus charismatische Florence Guérin legt hier nicht weniger als eine Jahrzehnt-Performance ein und hat weit mehr als ein schönes Äußeres zu bieten. Schade, dass ein Großteil des damaligen (und wohl auch heutigen) Publikums niemals auf die Idee käme, Schauspieltalent in einem kostengünstigen Sexfilm zu sehen. Und wie gut, dass es da eben Terza Visione gibt. Oder kurz: gemeinsam mit BUIO OMEGA war PROFUMO der große, alles überragende Höhepunkt dieses Terzas.


Sonntag, 23. Juli 2023


2022 wurde beim Terza Visione der "internationale Tag" eingeführt: gezeigt wurden Genrefilme nicht-italienischer Produktion. Der Blick "über den Tellerrand" soll die Perspektiven auf das italienische Genrekino erweitern und die transnationalen Verflechtungen des Genrekinos im internationalen Kontext verdeutlichen. Also gewissermaßen den Dialog zwischen Subgenres eines einzelnen Landes erweitern zu einem Dialog des Genrekinos jenseits von Ländergrenzen.
Als Anhänger der Programmierung von italienischen "Grenzgängern" (also Filmen am äußersten Rande dessen, was noch "Genrekino" genannt werden kann) fand ich die Idee schon letztes Jahr sehr schön und gelungen. Dieses Jahr wurde das allerdings sogar noch weiter getoppt, angefangen mit einem "Übergangsfilm", nämlich einer italienischen Bearbeitung der US-amerikanischen Version eines japanischen Films...



ab 12:45 Uhr

GODZILLA
Regie: Luigi Cozzi, Ishiro Honda, Terry Morse
Italien/Japan/USA 1977
97 Minuten, OmU
Am 6. August 1945 wird Hiroshima durch die Atombombe zerstört. Knapp zehn Jahre später ist es ein ungeheuerliches Monster, das Tokyo zerstört. Und der amerikanische Journalist Steve Martin (Raymond Burr) muss das hilflos mit ansehen.

Raymond Burr als ultimative Popart-Ikone des Reaction-Shots

 
GODZILLA, auch als "Cozzilla" bezeichnet (die für den Film geschaffene Produktionsfirma trug tatsächlich diesen Namen), ist ohne Zweifel die bizarrste Entdeckung des diesjährigen Terzas. Luigi Cozzi, großer Liebhaber von US-Monsterfilmen der 1950er Jahre, wollte nach dem großen Erfolg von KING KONG 1976 aus diesem etwas Kapital schlagen und eigentlich "nur" irgendeinen Monsterfilm neu verleihen. Es wurde GODZILLA, doch statt des originalen japanischen Films wurde die US-amerikanische Version genommen, die nachgedrehte Szenen mit Raymond Burr enthielt. Aber ein Schwarzweiß-Film im Jahre 1977 wieder in die Kinos zu bringen, das ging doch nicht – außerdem war der mit 80 Minuten zu kurz. So schnitt Cozzi dokumentarisches Material zu den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki in den Film, dazu noch ein paar Schnipsel aus weiteren japanischen Monsterfilmen und hier und da noch Second-Unit-Material aus anderen Filmen (u. a. aus Frankenheimers THE TRAIN) und in einem umständlichen Verfahren (wohl teilweise mit Einzelframe-Bearbeitungen) wurden mit Gel gefärbte Schablonen genutzt, um aus dem Schwarzweißfilm einen "Farbfilm" zu machen. Und das ganze für den italienischen Markt noch italienisch synchronisiert, zumindest die meisten Szenen – aber nicht alle: einige japanische Dialoge sind unbearbeitet im Film verblieben.
Ein Kommerzprojekt also, das sich vom Erfolg von KING KONG ein schönes Scheibchen abschneiden wollte und die Kolorierung als Prozess mit dem klangvollen Namen "Spectorama 70" vermarktete... und das aus heutiger Sicht eher teilweise wie abstrakte Videoinstallationskunst aussieht. Oder wie das Programmheft beschrieb: wie ein "postmoderner Experimentalfilm".
Luigi Cozzis GODZILLA hat wohl viele Zuschauer im Publikum ganz fürchterlich gelangweilt, und ich kann durchaus verstehen, warum das so ist. Auch die Aussage "Muss ich mir niemals wieder antun" kann ich ein Stück weit nachvollziehen. Mich hat der Film allerdings vollkommen fasziniert. In seiner Einführung erwähnte Sven den Gedankengang, dass GODZILLA in dieser Fassung quasi zu den Ursprüngen des Kinos als Jahrmarktattraktion zurückkehrte. Tatsächlich hatte der Film ein komisches Feeling: teilweise wie ein Artefakt des Ur-Kinos in seinen ersten 20 Jahren; teilweise sehr in seiner Entstehungszeit verankert mit dem Disco-gefärbten Elektroscore (von Vince Tempera und Fabio Frizzi); teilweise wie ein undefinierbares retrofuturistisches Etwas, das unaufhaltsam vor sich hinwaberte und den Zuschauer wahlweise K.O.-mäßig langweilte oder unaufhörlich hypnotisierte.
Die Kolorierung sieht eben nicht aus wie eine Stummfilm-Virage, mit einer einheitlichen Farbe, sondern unterschiedliche Areale des Bilds werden mit gelben, oder grünen, oder blauen, oder magentafarbenen, oder roten Schattierungen eingefärbt, teils einzeln, teils mit drei oder vier Farben gleichzeitig. Das Verfahren führte auch zu einem leichten Schärfeverlust der einzelnen Bilder, machte sie noch etwas weicher. Traumartiger auch: GODZILLA scheint man weniger zu sehen als zu träumen. Auch wenn stellenweise die Einfärbungen dramaturgischen Rahmenbedingungen folgten (ein sagen wir mal teilweise gelblich eingefärbtes Bild wird teilweise in Blau eingetaucht, nachdem eine Figur in einem Raum den Lichtschalter ausknipst) – den größten Teil der Laufzeit tut sie es nicht! Jedes einzelne Bild wird hier zu einem Ereignis gemacht (an dieser Stelle frage ich mich, ob Andy Warhol wohl GODZILLA gemocht hätte) und das machte für mich den Film so spannend: jede nächste Szene, jedes weitere Bild war potentiell eine Überraschung. Verblüffend sind nicht die Bilder mit ihrem Inhalt an sich, sondern eher, dass halbwegs vertraute Bilder mit bekannten Monsterfilmmotiven derartig verfremdet werden (durch die Kolorierung, durch den Score, durch die italienische Synchro), dass etwas komplett Neues entstand, das wesentlich weiter geht als nur elektronische Musik zu einem Stummfilm, sondern vielleicht eher vergleichbar ist mit Bill Morrisons Collagen degradierter alter Filmkopien. Es zählt natürlich für alle Filme, die beim Terza liefen, aber für diesen Film wohl noch mehr: es ist ein Werk, das man definitiv im Kino auf einer guten 35mm-Kopie sehen sollte.
Der Film nimmt durchaus Gesten eines engagierten Plädoyers gegen die Atombombe ein – er tut es mit diskutablen Mitteln, die man je nach Neigung als völlig geschmacklos oder sehr interessant ansehen kann, denn der Prolog zerrt den Subtext des originalen GODZILLA gnadenlos in den Scheinwerfer: eine Einblendung datiert uns auf den 6. August 1945, es folgen dokumentarische Bilder des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, inklusive materiellen Zerstörungen und auch Bildern von Schwerverletzten und Leichen, das ganze mit einem Score untermalt, der hybrid zwischen Disco und Industrial schwankt. Der Begleittext im Programmheft spricht von "Mondo-Qualitäten", in der Einführung zum Film wurde die Lust an Gewalt erwähnt. Im Kontext der 1970er Jahre sprechen wir von einer Zeit, in der Bilder von Hiroshima und Diskurse um Hiroshima eher Teil von Subgruppen (Friedensbewegung) oder von "intellektuelleren" Kunstformen (sagen wir dem Autorenkino) waren, und nicht etwas, was in den Mainstream der Popkultur vorgedrungen war.
Und dazwischen Raymond Burr, in der amerikanischen Fassung von GODZILLA so etwas wie der "kulturell nähere" Erzähler, der wahrscheinlich auch dort schon viel vor sich hin starren musste: hier wird er zu einer Pop-Art-Ikone des Reaction-Shots. (Oder zum Meta-Kommentar über die amerikanische Präsenz in Zeiten der Atombombe und des Kalten Kriegs, wie andere Zuschauer danach meinten). Tokyo wird von einem Monster in kleine Stücke kaputt gehauen und getreten, ein Liebes-Dreieck mit großem Melo-Einschlag entfaltet sich vor seinen Augen zwischen zwei japanischen Männern und einer Frau, aber er kann nur fassungslos da stehen und starren, während gelbe, blaue, magentafarbene Schleier ihm durch das Gesicht flimmern.
Der Film endet mit der mahnend-fragenden Einblendung "Fine?" über einem knallroten Bild. Die Antwort war auf gewisse Weise "ja". Am Ende des Kassensturzes war der Film mittelmäßig erfolgreich in Rom und Mailand: kein Flop, aber auch kein richtiger Hit. Cozzi hat mit GODZILLA ein komplett eigenes Subgenre geschaffen – und dessen (wahrscheinlich) einziger Vertreter. Ruggero Deodatos LA MOGLIE DI FRANKENSTEIN, Lucio Fulcis DEVIAZIONE PER L'INFERNO, Umberto Lenzis LA COSA DA UN ALTRO MONDO, Alberto De Martinos IL PENSIONANTE – das wäre doch was gewesen! Später machte wenigstens Dario Argento IL FANTASMA DELL'OPERA, aber der war "nur" ein "normaler" Film.


ab 16:30 Uhr

COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT ("Wie wäre es mit Spinat?")
Regie: Václav Vorlíček
ČSSR 1971
86 Minuten, OmU
Zemanek und Liška sind kleine Fische, die in ihrer Fabrik für organisierte Schieber einmal zu oft stehlen, einige Zeit absitzen und dann schon an den nächsten Coup gelangen: ein Ganove (Jurai Herz, der Regisseur von DER LEICHENVERBRENNER), der auf Friseur umgesattelt ist, möchte eine für die Rinderzucht konzipierte Verjüngungsmaschine als Verjüngungskur für zahlungskräftige Kunden missbrauchen. Leider hat die Verjüngungskur ungeahnte und schwere Nebenwirkungen, wenn die bestrahlten Subjekte vorher Spinat gegessen haben...

Der Geist eines hungrigen Säuglings im Körper einer Erwachsenen in einem Nobel-Restaurant: das kann nicht gut gehen!

 
Wer sich schon immer gefragt hat, wo der Missing Link zwischen Howard Hawks' MONKEY BUSINESS und HONEY, I SHRUNK THE KIDS liegt: in der Tschechoslowakei, genauer gesagt im Barrandov-Filmstudio!
COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT war der Ersatzfilm für den ursprünglich geplanten PANE, VY JSTE VDOVA! ("Mein Herr, Sie sind eine Witwe!") des gleichen Regisseurs (Václav Vorlíček, Regisseur des in Deutschland berühmten Märchenfilms DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL) und des gleichen Drehbuchautors (Miloš Macourek), deren siebenter gemeinsamer Film. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 1966 und konnten nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nahtlos weiterarbeiten, um populäre Komödien zu drehen.
Aller Anfang ist schwierig, und so begann "Wie wäre es mit Spinat?" auch eher zäh, mit einer eher schwerfälligen Exposition, die die beiden kleinen Betrüger Liška und Zemanek erst einmal in den Knast bringt, um sie dann auf ihrer neuen Arbeit auf eine Verjüngungsmaschine treffen zu lassen. Daneben werden auch die anderen Charaktere, darunter die Chefin einer argentinischen Rinderzuchtfarm auf Geschäftsreise, eher wenig elegant in den Film geführt. Dann aber fängt es an, für die Figuren richtig schief zu laufen – und der Film selbst beginnt, Fahrt zu nehmen. Nach einer geruhsamen Nacht neben der geliebten Frau bzw. Freundin wachen unsere beiden Gauner als Kinder auf: sie werden nun von Kinderdarstellern gemimt, die von den ursprünglichen Darstellern synchronisiert werden – kleine Jungs also, die mit röhrenden Stimmen und erwachsenem Jargon sprechen.
Im letzten Drittel gewinnt der Film eine Dynamik, eine Beschleunigung, schließlich eine Rasanz, ein Niveau an totaler Eskalation der Gags und der puren Action und der Lust an Chaos und Zerstörung, die sich durchaus mit Hollywood und Hawks messen können. Das Set: Eingangsbereich, Speiseaal und Küche eines Prager Hotels. Die Protagonisten: die zwei nunmehr gealterten Ganoven, ein körperlich aber geistig nicht gealterter weiblicher Säugling, ein jähzorniger Koch und viele Gäste. Die Action: eine komplette Verwüstung des Speisesaals und der Küche, mit Verfolgungsjagden über und unter die Tische, mit Verschüttung und Verschmierung unzähliger creme-haltiger Saucen und Desserts, mit einer obsessiven Jagd nach den letzten Resten von Spinat (notfalls auch vom Jackett-Rücken am Träger, der eben in einen Spinatbottich gefallen ist, abzukratzen und abzulecken), Verwechslungen von bratfertigen Lämmern und Säuglingen und dazwischen werden noch Leute geschrumpft. Eine filmische Lachexplosion erster Güte!


ab 20:00 Uhr

PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN ("Lady Terminator")
Regie: Tjut Djalil
Indonesien 1989
82 Minuten, EF
Es gelingt einfach keinem Mann, die Südseekönigin zu befriedigen. Deshalb murkst sie jeden Sexpartner ab. Nur einer schafft es, ihr die Schlange zwischen den Beinen zu entwinden und daraus einen Dolch zu zaubern. Die Südseekönigin nimmt übel und schwört Rache für in 100 Jahren. Ihr Fluch fällt auf eine Doktorandin der Anthropologie (Barbara Anne Constable), die vom Geist der Königin besessen wird und in den Straßen Jakartas ein Blutbad nach dem anderen veranstaltet. Können der Polizist Max und die Sängerin Erica sie stoppen?

In rasender Zerstörungswut durch Jakarta: Barbara Anne Constable als "Lady Terminator"

 
LADY TERMINATOR gehörte mit seinem verheißungsvollen Plakat ("She mates. Then she terminates" plus Barbara Anne Constable mit großer Wumme gleich fünf mal) und seinem eher exotischen Ursprungsland zu den heiß erwarteten Filmen des internationalen Tags. Die Versprechen wurden mehr als eingelöst: in kompakten, knapp 80 Minuten dürfte der Film mehr knallige Action und blinde Zerstörungswut auffahren als die kompletten sechs Teile von TERMINATOR zusammengenommen – und dazwischen auch mehr ruppigen Sleaze. Die Szene, als die Titelheldin (ja-ja, eigentlich Antagonistin) in ein Polizeirevier einfällt und es Raum für Raum, Korridor für Korridor, Stockwerk für Stockwerk in nicht weniger als eine monströse Schlachteplatte kaputt und tot schießt, war alleine schon der Eintritt wert. Der Film weiß dann auch ganz genau, was er an der charismatischen Barbara Anne Constable hat, die er in ihrer leider einzigen Filmrolle leicht von unten gefilmt in eine Action-Ikone verwandelt, in eine tödliche Göttin der Zerstörung. (Als sie noch nicht besessen ist, mimt sie die tollpatschige, leicht naive Anthropologie-Doktorandin. Nach ihrer Inbesitznahme durch die Südseekönigin ist sie eine komplett andere Person. Bei aller Action ist LADY TERMINATOR zumindest für die Hauptfigur auch Schauspielerkino, gleichwohl Max' Christopher J. Hart wie ein Jeff Daniels mit eingefrorenem Gesicht und vergessenem Text wirkt).
Der internationale Anspruch der Produktion zeigt sich nicht nur in den Darstellern, mit einigen anglo-amerikanischen Protagonisten sowie rein indonesischen Side-Kicks und Komparsen, sondern auch in einigen geschickt eingefügten Second-Unit-Shots von New York (man sieht die Twin-Towers), die die geografische Verortung verundeutlichen: die Discos, Malls, Hinterhofgassen, Straßen und mehrspurigen Schnellstraßen scheinen aber offenbar alle in (Süd)ostasien zu liegen – ihre kalte Großstadtdschungel-Anonymität bilden den idealen Boden für rasante Verfolgungsjagden zu Fuß und mit dem Auto.
Faszinierend ist auch, dass PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN (also wörtlich "Die Rache der Südseekönigin") kein reiner TERMINATOR-Ripoff ist, sondern eher Motive aus James Camerons Film in eine mythologische Horror-Märchengeschichte einbaut. Und die ersten paar Minuten erinnern dann auch eher an Softerotik-Sleaze-Hobel italienischer Provinienz als an US-SciFi-Action der Zeit: glitschig-schmieriger Sex, fotografiert in edel glitzernden (aber doch sichtbar billigen) Dekoren, mit einem bösen Ende für den von der Südseekönigin berittenen Mann, der seinen Penis von der Schlange abgebissen bekommt, die sich in ihrer Vagina befindet und dem dann nichts anderes bleibt, als sich selbst mit Blut voll zu spritzen (same procedure as 100 years ago, als dann die besessene Anthropologin schmierige Hotelbedienstete und in Punk-Klamotten gekleidete Halbstarke verführt).
Wenn eines, dann zeigt LADY TERMINATOR dass gutes Exploitationkino international ist. 34 Jahre, eine bewegte Zensurgeschichte mit leicht ummontierter internationaler Fassung und 11.000 Kilometer zwischen Jakarta und Frankfurt am Main ändern nichts daran, dass der Film an diesem Sonntagabend sich ganz direkt in die Herzen des Publikums hineinballerte.


ab 22:15 Uhr

LE FRISSON DES VAMPIRES ("Das Schaudern der Vampire" aka "Sexual-Terror der entfesselten Vampire")
Regie: Jean Rollin
Frankreich 1971
95 Minuten, OmU
Isla und Antoine haben frisch geheiratet und möchten die Cousins der Braut in deren Schloss besuchen. Gerüchte über deren Tod erweisen sich als falsch – oder auch nicht: die beiden Exzentriker sind Vampire geworden und ihr vampiristisches Entourage übt auf Isla einen wesentlich größeren Reiz aus als die Aussicht auf den Vollzug der ersten Ehenacht mit ihrem Gemahl.

Das Brautpaar und die Dienerinnen der Vampire

 
Die letzten Terzas endeten immer auf einer jenseitigen Note: Fulcis L'ALDILÀ und QUELLA VILLA ACANTO AL CIMITERO 2021 und 2019. Dieses Jahr wurde der Ausklang mit Jean Rollin weitergeführt, nachdem LA ROSE DE FER 2022 das Terza im Jenseits eines Friedhofs beziehungsweise am jenseitigen Strand von Pourville beendet hatte. Einen Friedhof gibt es auch in LE FRISSON DES VAMPIRES und er endet auch am Strand von Pourville.
Rollin ist gewissermaßen der Ozu des europäischen Vampirfilms: ein Teil seiner Filme mit ihren vielen ähnlichen Vampir-Titeln wirken zusammengedacht fast wie ein einziger Film, und so hat mich das letzte Drittel von LE FRISSON DES VAMPIRES, den ich 2018 kennengelernt habe, merkwürdig auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich wohl Teile mit dem Ende (oder zumindest längeren Passagen) von LE REQUIEM DES VAMPIRES verwechselt habe. So fühlte ich mich im letzten Drittel "wie im falschen Film" – letztendlich ein Meckern auf sehr hohem Niveau, das bestätigt, dass ich LE FRISSON etwas weniger mag als REQUIEM und ihn in Kenntnis von mittlerweile ein paar Rollins nicht mehr zu den Tops zähle.
Aber es ist natürlich immer noch Rollin. Über LE REQUIEM DES VAMPIRES schrieb ich einst: "Karge französische Landschaften, in denen die Figuren ganz klein und verlassen erscheinen; leicht verfallene, mystisch aufgeladene Friedhöfe; ein Schloss, das man ohne Mühe als denkmalgeschütztes historisches Gebäude identifizieren kann, das aber Rollin mit der Kamera in eine Art Paralleldimension hebt. Abgesehen von einem Klecks Kunstblut hier und da und einer gelegentlichen Beleuchtung in Primärfarben entfaltet sich Rollins Vampirmär völlig ohne Spezialeffekte, denn für den Franzosen ist das Kino selbst der Spezialeffekt." Und wo merkt man letzteres besser als in einem Kino?
Völlig außerweltlich war Rollin dennoch nicht. Ihn als politischen Regisseur zu bezeichnen, würde wohl nicht vielen auf den ersten Blick einfallen, aber LE FRISSON DES VAMPIRES zeigt wieder seine Sympathie für die Verstoßenen, die Freaks, die Außenseiter, die Marginalisierten, die außerhalb der gängigen gesellschaftlichen und sexuellen Normen stehen, während die spießigen, geradlinigen Alpha-Männchen mit ihren kleinbürgerlichen und engstirnigen Vorstellungen als Antagonisten wirken – und auch mal bloßgestellt und ins Lächerliche gezogen werden, etwa in der fantastischen Bibliotheksszene, in der Antoine wie von unsichtbarer Hand die ganzen Bücher über den Kopf geworfen bekommt. LE FRISSON DES VAMPIRES war auch der ideale Abschluss für das Thema, das sich, angefangen mit METTI, UNA SERA A CENA, durch das ganze Festival zog: Ehe in der Krise. Denn Rollin erzählt hier auch die Geschichte einer dysfunktionalen Ehe und einer Frau, die außerhalb dieser pappigen und unwürzigen Ehe und ihrer Restriktionen (Antoine ist furchtbar besitzergreifend, auch wenn er seine "erste Nacht" nicht bekommt) von den köstlichen Früchten des nicht-heteronormativen Sex, des Vampirismus und des Lebens außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kostet.
Des weiteren schrieb ich über Rollin einmal: "Seine Filme fließen wie Träume vorbei. An nicht alles kann man sich erinnern und wenig scheint vernünftig zu sein – aber nach dem Aufwachen scheint die Realität noch etwas öder, und mit dem nächsten Schlaf lockt eine süße Versuchung!"
Und ich bin sicher: das nächste Terza wird mit vielen weiteren süßen Versuchungen locken!

Ende am Strand von Pourville

 

Freitag, 15. Mai 2020

Bericht vom 6. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Editorische Notiz:
Viel Zeit ist vergangen zwischen dem 6. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione im Juli 2019 und heute. Der nachfolgende Text wurde so auch zwischen den Festivaltagen selbst und dem Tag der Veröffentlichung geschrieben, in kleinen Stücken, mit einem Fragment hier, einem Fragment dort, dazwischen immer wieder wochenlange Pausen. Das ist sicherlich nicht der ideale Weg, und eine zeitnähere Veröffentlichtung hätte der Qualität sicherlich besser getan. Aber es ist mir ein Herzanliegen, über diese besondere und besonders schöne Veranstaltung zu berichten.

-----

Es war einmal das italienische Kino...
Ein Cinemärchen in der Hölle des Sommers

Francoforte sul Meno
40°C
35mm


Donnerstag, 25. Juli 2019


18.00 Uhr

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (übersetzt in etwa: "Bete zu den Toten, töte die Lebenden", deutscher DVD-Titel: "Die Mörder des Klans")
Regie: Giuseppe Vari
Italien 1971
94 Minuten
Deutsche Kinopremiere
Eine Bande von Verbrechern wartet in einer isolierten Poststation darauf, dass die Ehefrau des Anführers Hogan (Klaus Kinski) eine Ladung mit kürzlich geraubtem Gold vorbeibringt. In der Poststation befindet sich – neben einer Handvoll von Postkutschen-Reisenden, die zufällig dort gestrandet sind – auch der mysteriöse Fremde John Webb (Paolo Casella). Dieser verspricht den Gangstern, sie bis an die mexikanische Grenze zu bringen. Die paranoiden Spannungen, die sich teilweise schon in der Station entladen haben, eskalieren auf dem Ritt durch die Wüste vollends...


Die Ruhe nach dem Sturm: Hogan mit einem seiner Opfer im Bildhintergrund

PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO lief beim Terza Visione zum ersten Mal in einem deutschen Kino. In Deutschland auf DVD zunächst im falschen Bildformat und nur auf Deutsch und Englisch veröffentlicht, erlebte der Film in der Reihe "Western Unchained" eine Edition in Scope und mit italienischem Ton. Die Reihe erschien anlässlich des Kinostarts von DJANGO UNCHAINED und wurde von einer Liste mit Quentin Tarantinos liebsten Italowesterns inspiriert. Jetzt ist mir auch klar, dass sein THE HATEFUL EIGHT nicht nur bei Carpenters THE THING, sondern auch bei der ersten Hälfte von Varis PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO abkupferte.
Der Film ist ganz klar in zwei Teile strukturiert: ein Kammerspiel in der Poststation in der ersten Hälfte, ein langer Ritt durch die Wüste in der zweiten (wobei dieser Ritt ein wenig an Monte Hellmans THE SHOOTING erinnert). Unsicherheit und Paranoia bilden den roten Faden des Ganzen: Der Handlungsraum wird zwar scheinbar geöffnet, aber der psychologische Spielraum der Figuren noch weiter eingeengt.
Es gibt in der ersten Hälfte sehr viele, scheinbare "Expositionsdialoge", die aber keinerlei Expositionsfunktion haben: die Figuren reden in den Codes ihres Gewerbes und im Wissen auf eine Weise, dass ihr Gegenüber (aber nicht unbedingt der Zuschauer) weiß, was gemeint ist. Sie reden für sich, nicht für das Publikum. Das war einerseits ziemlich verwirrend – aber andererseits auch sehr modern und erinnerte mich ein wenig an Hong-Konger Gangsterfilme ab den späten 1980er Jahren.
Die Verwirrung, die sich im Poststation-Kammerspiel beim Zuschauer (na ja: also zumindest bei mir) entwickelt hat, überträgt sich allerdings auch auf die Figuren selbst. Die Machtbeziehungen zwischen Hogan und seiner Bande, zwischen der Bande und Webb, zwischen Webb und den zufällig dort gestrandeten Reisenden (und natürlich alle Überkreuz-Beziehungen) sind völlig unklar: wer unbewaffnet bzw. entwaffnet ist, ist nicht unbedingt der Machtlose. Hogan wird von seinen misstrauischen Untergebenen entwaffnet und zunächst in einem Zimmer im ersten Stockwerk eingesperrt – doch irgendwann stürmt er wutentbrannt nach unten und beginnt, alle Anwesenden nur mit seiner Körperhaltung, seiner Mimik, kleinen Gesten und einigen latent androhenden Bemerkungen zu verunsichern. Das funktioniert sehr gut, weil Hogan eben von Klaus Kinski gespielt wird und natürlich ist PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO auch eine große Kinski-Show. Mehr als in den großen Ausbrüchen, die eher selten, dafür umso eruptiver kommen, verbleibt Kinski eher in einem Zustand des permanenten Brodelns – vor oder nach dem lauten Knall ist er immer am bedrohlichsten.
Zu den Bedrohungen Hogans gehört, dass er eine der anwesenden Damen zum Singen auffordert. So fängt sie dann auch an, "Jingle Bells" zu singen. Das dauert eine ganze Weile, während Hogan gespannt lauscht und sämtliche anderen Anwesenden zu Salzsäulen erstarrt sind. Und dann... tja... dauert es noch etwas länger. Bis Hogan zum Liedwechsel animiert und dann die Melodie von "An der schönen blauen Donau" geträllert wird. Was sich so, in Worte gefasst, etwas lächerlich anhört, ist der erste große Höhepunkt von PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO: ein sehr unangenehmer, beklemmender und extrem spannungsvoller Moment.
Sehr interessant ist die zunehmend immer weniger verschleierte Tatsache, dass Kinskis Hogan offensichtlich impotent ist. Nachdem er in der Poststation einen seiner aufmüpfigen Schergen solange erschießt, bis sein Revolver leer durchdreht, kommt ein harter Schnitt zum zweiten Teil des Films: ein Tableau in einer gebirgigen Wüstenlandschaft, mit dem ganzen Troß, der im Bild von rechts nach links reitet – rechts im Bild schießt eine Gesteinsformation in Phallusform empor. Das wirkt mit dem harten Schnitt wie ein ironischer Kommentar auf Hogans "ultramännliche" Tat. Später wird Hogan von einer der zwei mitgenommenen Damen dazu herausgefordert, sie zu nehmen – er lässt sie daraufhin stattdessen von zwei seiner Schergen "stellvertretend" vergewaltigen. Zu sehen ist dabei nur Hogans eiskalt-berechnendes Gesicht, während er sich auf den Wachposten niedergelassen hat, von dem er einen seiner Schergen zwecks der Vergewaltigung abgelöst hat. Ein Moment, bei dem es einem eiskalt den Rücken herunterläuft.
Wenige Minuten vorher hatte sich die Kamera noch lasziv zwischen Kinskis Beine gekuschelt, während er sich, zum Nachtlager entspannend, breitbeinig in den Sand hingefläzt hat. Die Kamera in PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO (Franco Villa, der auch Fernando Di Leos Polizeifilme fotografiert hat), sie ist sowieso fast ein eigener Protagonist in diesem Film: viele stark gekippte Perspektiven; Gesichter, die wie Felsen in den Vordergrund hineinragen; ruhig-elegische Tableaus und dynamische Handkameramomente. Gegen Ende finden Kinskis brodelnd-aufbrausendes Schauspiel und Villas grandiose Kamera zu einer absoluten Symbiose zusammen: in einem extremen Wutanfall schneidet Hogan die Kisten mit den Goldbarren von den Pferden, schlägt die Kisten auf, schrammt die Goldbarren mit seinem Messer an, läuft zum nächsten Pferd – alles gedreht in einer gerade auf der großen Leinwand atemberaubenden Handkamera, die ohne Schnitt von der Totalen bis hin zur Nahaufnahme reicht. (Das I-Tüpfelchen: ein Pferd weicht vor Hogan bzw. Kinski mehrmals weg, bis dieser sich mit gezücktem Messer heranpirscht und schließlich nach einigen Mühen doch die festgebundene Kiste abschneiden kann.)
Eines der markantesten Bilder im ganzen Film: nach einem guten Stück Gebirgsweg marschiert unsere Truppe durch eine richtige Sandwüste – man sieht dann in einer Nahaufnahme, wie ihre Füße im Sand Abdrücke hinterlassen, und diese Abdrücke sinken langsam durch rieselnden Sand wieder in sich zusammen. Was für ein wunderschönes Bild für die gesamte Situation: es ist nicht nur ein "vergänglicher" Sand, so vergänglich wie die Sicherheit der Protagonisten, sondern auch ein sehr "mühsamer" Sand, den zu durchschreiten allergrößte körperliche Energie abfordert.



20.15 Uhr

LA MORTE SCENDE LEGGERA (übersetzt: "Sanft sinkt der Tod")
Regie: Leopoldo Savona
Italien 1972
86 Minuten
Deutschlandpremiere
Als der Gangster Darica (Stelio Candelli) eines Morgens nach Hause kommt, findet er seine Ehefrau ermordet wieder. Da er in der Nacht dubiose Gangstersachen gemacht hat, besitzt er kein Alibi und lässt sich, zusammen mit seiner Geliebten Liz (Patrizio Viotti) von befreundeten Juristen und Notabeln (die er aufgrund ihrer Verstrickungen im organisierten Verbrechen erpressen kann) in einem leerstehenden Hotel verstecken. Na ja... nicht ganz leerstehend.


Darica flüchtet vom Ort des Verbrechens weg – und geradewegs in sein Verderben rein

Der italienische Giallo ist ein Genre, von dem viele üblicherweise erwarten, dass schick gekleidete, hübsche Leute in bunten Pop-Art-Dekors aus eleganten Longdrink-Gläsern J&B trinken und sich dabei gepflegt ermorden. Nun, in LA MORTE SCENDE LEGGERA sind die Figuren eher dürftig gekleidet, von nur moderater Schönheit (der Hauptdarsteller sieht, besonders ohne Sonnenbrille, wie der kränkliche italienische Cousin des charismatischen, aber sicherlich nicht klassisch "schönen" Jack Palance aus), das Dekor des leerstehenden Hotels ist mit "trist" noch sehr nett umschrieben, und statt J&B gibt es irgendeine unbekannte Whiskymarke (wahrscheinlich gekauft in dem, was in Italien in den 1970er Jahren der "Discounter" war) und getrunken wird direkt aus der Flasche! Wenn man es genau nimmt: es geht um zwei Figuren, die in einem heruntergekommenen Haus eingesperrt sind, nicht rauskommen und langsam wahnsinnig werden. Ein echter "poverty-row"-Giallo – als solcher möglicherweise der vergessene italienische Neffe von Edgar Ulmers DETOUR: wie dieser ist LA MORTE SCENDE LEGGERA ein unglamouröser, von gallig-perversem Humor durchzogener und durch und durch billiger B-Film, der seine produktionsbedingten Einschränkungen nicht nur überwindet, sondern geradezu in einen cineastischen Triumph verwandelt.
Wer beim Lesen von Filmtexten gerne über aerodynamische Bestandteile von Autos denkt, soll das hiermit gerne tun. LA MORTE SCENDE LEGGERA beginnt nach einer kurzen Einleitung – und war daher ein idealer Folgefilm zu PREGA IL MORTO E AMMAZZA IL VIVO – als ultratrockenes Kammerspiel mit nur zwei Personen zwischen einem schäbigen Hotelzimmer, einem leergefegten Treppenhaus und einem vollgemüllten Speisesaal und verwandelt sich nach und nach in einen surrealistischen Alptraum, in eine schaurige Odyssee durch versteckte Seelen(t)räume des Unterbewussten, in der eine Tür nach der anderen durchschritten wird. Das widerspiegelt den Seelenzustand des Protagonisten Darica: ein Mann, der nach eigener Aussage unschuldig am Mord an seiner Ehefrau ist (wie in DETOUR kann man seiner Selbstauskunft bezüglich seiner Unschuld glauben – oder auch nicht) aber unter extremem Druck steht, weil er natürlich als Hauptverdächtiger gilt. Was könnte beunruhigender auf ihn wirken, als im angeblich leerstehenden Hotel einen Mann zu treffen, der vor seinen Augen eine Frau ermordet und ihn dann auch noch bittet, bei der Beseitigung der Leiche Hilfe zu leisten... Wie die Psyche des Protagonisten bekommt auch der Film hier einen Sprung: Figuren tauchen ebenso unvermittelt wie bislang verborgene Hotelräume. Zu den Highlights gehört der Raum, den Darica selbst später als "absurder Raum" betitelt: groß und dunkel, mit einer isolierten Badewanne in der Mitte, darin eine badende Frau, am Rande des Raums im Hintergrund ein Bügelhalter, auf dem ein kleines Äffchen herumbalanciert und spielt. Darica wird mit immer mehr bizarren, surrealen Situationen in merkwürdigen Räumen konfrontiert – damit auch immer wieder auf seine eigene Schuld zurückgeworfen: vielleicht als Mörder seiner Frau, jedenfalls als Komplize beim Mord im Hotel. Gegen Ende entpuppt sich das ganze dann als eine Inszenierung: die Juristen und Notabeln, die Darica damit beauftragt hat, ihm ein Alibi zu bauen und ihn währenddessen zu verstecken, haben eine Filmcrew engagiert, um Daricas Hotel-Alptraum mithilfe von Schauspielern, selbstgebauten Dekoren und selbstgebauten Blutspritzeffekten zu inszenieren, ihn so an den Rand des Wahnsinns zu treiben und damit zu zwingen, ein Geständnis über die Ermordung seiner Ehefrau abzulegen. Die Inszenierung übertrifft die Realität, die ihr nachläuft. So wird LA MORTE SCENDE LEGGERA schließlich gar zu einem Film über das Filmemachen: ein Prozess, bei dem es unter anderem darum gehen kann, bestehende Ängste zu verstärken, zu kanalisieren, zu ästhetisieren – und aus Bauchgefühlen (manipulative) Bilder zu schaffen. Oder man ersetzt Ängste und Bauchgefühle durch Begehren und Lendengefühle: weil Darica und Liz im Hotel nichts zu tun haben, gucken sie sich zwischendurch einen Super-8-Porno an, geilen sich daran auf und haben Sex, während der Film weiter dreht und weiter rattert. Das sieht aus wie die "selbstzweckhafte" Sexszene, die jeder Giallo genreüblich eben haben muss, ist dann aber doch ein deutlicher Wink darauf, was gerade auf einer höheren Ebene in diesem Film läuft.
LA MORTE SCENDE LEGGERA geht es dabei sichtlich um mehr als um reine metareflexive Spielerei. Am Ende ist die Unschuld Daricas an der Ermordung seiner Ehefrau bewiesen, doch die Macht die er früher hatte, ist gebrochen: zu Beginn konnte er respektable Notabeln mit Wissen um ihre Verstrickung im organisierten Verbrechen noch erpressen. Am Ende wird er als elendes Häufchen und Nervenbündel aus dem Hotel weggebracht, während seine "legalen" Freunde die Oberhand gewonnen haben – mit Hilfe des Kinos bzw. des Filmemachens.

Wer noch mehr zu LA MORTE SCENDE LEGGERA lesen möchte, sei hier auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen.



22.30 Uhr

SUSPIRIA
Regie: Dario Argento
Italien 1977
92 Minuten (deutsche Fassung)
Die US-Amerikanerin Suzy (Jessica Harper) reist nach Freiburg im Breisgau, um an einer Ballettschule zu studieren. Nach einem schrecklichen Mord geschehen weitere mysteriöse Dinge mit okkultem und magischem Hintergrund... 


Suzy in einem samtig tapezierten Korridor der unheimlichen Schule

SUSPIRIA gehört wahrscheinlich zu den meistbesprochenen italienischen Genrefilmen überhaupt und ich bezweifle, dass ich da besonders viel hinzuzufügen habe. Bei meiner mittlerweile fünften Sichtung gab es keine großen Offenbarungen, keine völlig neuen, bislang unentdeckten Blickwinkel – wenngleich sich fast jedes einzelne Bild immer wieder als verblüffend schön entpuppte. Vielleicht nur ein kleines Detail: SUSPIRIA ist zwar ein sehr lauter Film, aber zwischendurch arbeitet er auch mit totaler Stille: absolut muxmäuschenstill war es dann für mehrere Sekunden im Saal, jedes Geräusch scheinbar verschluckt.
Am ehesten fühlte ich so etwas wie ein (cineastisches) Heimatgefühl: die Verblüffung, wie toll der Film aussieht, ging einher mit dem Empfinden, das meiste doch so gut wie einen alten Freund zu kennen. Da gibt es keine großen Überraschungen, aber doch ein schönes Wohlsein...
Das Hauptereignis des Abends war allerdings die 35mm-Kopie selbst: eine originale Technicolor-Erstaufführungskopie. SUSPIRIA wurde, wie Andreas, einer der beiden Leiter des Festivals, in seiner schönen Einführung erklärte, auf Eastmancolor-Negativ gedreht, dann allerdings im Technicolor-Kopierwerk in Rom auf ein Technicolor-Positiv gezogen und zwar unter sehr präzisen Anweisungen Dario Argentos und seine Kameramanns Luciano Tovoli: Moderne Filter, die beim Ziehen des Positivs verhindern sollten, dass Farben auf der Kopie zu stark "ausbluten", an den Rändern verlaufen, zu grell, intensiv und leuchtend werden, sollten für diesen Film deaktiviert werden, um den ganz speziellen, im Kern expressionistischen Look zu erzeugen. SUSPIRIA ist also nicht nur in der Kamera und am Schneidetisch entstanden, sondern auch im Kopierwerk. Die Umwandlung des Negativs in das Positiv gehörte noch zum kreativen Entstehungsprozess. Restaurierungen des Films, die auf das Kamera-Negativ zurückgreifen (als angebliche "Ur-Quelle" des Films) – und das sind, wie ich dann einige Monate später erfuhr, alle – unterschlagen also den letzten, maßgeblichen Schritt in der Entstehung des Films.
Nun... von SUSPIRIA gibt es gefühlt ein Dutzend "Restaurationen" pro Jahr, aber tatsächlich dürfte diese nichtrestaurierte (es gab auch nichts zu "restaurieren": die Kopie war kristallklar, wohl fast ungespielt), originale 35mm-Aufführung nicht zu toppen sein.* Die Farben des Films wirkten irreal, und waren dabei doch so lebendig. Im Foyer des Filmmuseums wurde während des Festivals in Dauerschleife eine Anteaserung einer Sonderausstellung zur digitalen Revolution der Medien projiziert und darunter war auch ein Filmclip aus SUSPIRIA zu sehen: wie flach und leblos wirkte das digital totgefilterte Bild im Vergleich zur Kopie. Suzy läuft im Korridor mit den roten, samtbezogenen Wänden an der Haushälterin vorbei, die gerade einen spitzen, bedrohlich glänzenden Gegenstand aus Silber poliert. Die samtige Textur des roten Wandbezugs ist nur noch zu erahnen, während Suzy erschreckend wächsern aussieht, als könnte sie die Schwester der mechanischen Puppe aus Fellinis CASANOVA oder die potentielle Protagonistin eines "lacrima movie" mit einer seltenen Hautkrankheit sein. Meine DVD zuhause ist zum Glück nicht so "tot-ge-HD't" – dem Erlebnis einer originalen 35mm-Erstaufführungskopie reicht sie aber absolut nicht das Wasser. (Ein Erlebnis, das ich im Oktober bei "Terrore a Norimberga. Festival des italienischen Horrorfilms" wiederholen durfte: hier wurde diese Kopie, die im Besitz des KommKinos ist, noch einmal gezeigt).

*Mit allerdings der deutlichen Einschränkung, dass die deutsche Kinofassung von SUSPIRIA gekürzt war (einige Frames bei Gewaltszenen und einige Dialogszenen). Wirklich "original" wäre eigentlich eine ungekürzte, italienische Erstaufführungskopie




Freitag, 26. Juli 2019

12.30 Uhr

L'ULTIMO PARADISO (deutscher Titel: "Das letzte Paradies")
Regie: Folco Quilici
Italien 1955
88 Minuten (deutsche Fassung)
In mehreren kleinen Episoden erzählt L'ULTIMO PARADISO vom Leben (und Lieben) in Polynesien: die Männer eines Stamms beweisen ihren Mut beim Bunjee-Jumping; ein kleiner Junge, der wie sein Vater Perlentaucher werden soll, muss seine Ängste vor dem Wasser und den Haien überwinden; ein junger Mann, der einem prekären Dasein als Fischer entfliehen will, entdeckt das Leben als Minenarbeiter und erkundet die Stadt Papeete; ein junges Paar, gebürtig von zwei verschiedenen Inseln, bereitet sich zur Hochzeit vor...
L'ULTIMO PARADISO ist ein ethnografischer Dokumentarfilm mit mehreren, von lokalen Komparsen gespielten Szenen, allerdings ohne Dialog, sondern nur mit Off-Kommentar (soweit ich mich erinnere – und natürlich bezieht sich das auf die gezeigte deutsche Kinofassung). Das Programmheft des Festivals wies bereits darauf hin: L'ULTIMO PARADISO ist ein bisschen wie ein Missing Link in einer langen Reihe von Filmen mit (semi-/pseudo-)dokumentarischem Anspruch bzw. Hintergrund: Robert Flahertys ethnografische Dokumentarfilme – – Friedrich Wilhelm Murnaus TABU (an dem Flaherty auch beteiligt war) – – der italienische Neorealismus – – L'ULTIMO PARADISO – – der italienische Mondo-Film (und von letzterem aus schließlich zum Kannibalenfilm).
Wenngleich in dieser "Ahnenreihe" gleich der Mondo-Film folgt: L'ULTIMO PARADISO ist noch ein sehr "sanfter", "zahmer", man könnte sagen "familienfreundlicher" Film. Im zeitgenössischen Kontext, also in den 1950er Jahren, dürfte er ästhetisch wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt sein von Dokumentarfilmen aus der Disney-Schmiede (z. B. der "People & Places"-Serie, die ich selbst allerdings nicht kenne). Kindergerecht – für das geneigte erwachsene Publikum gab es dann trotzdem leicht bekleidete, junge Menschen (Frauen wie Männer) zu sehen und "goutieren".
Ich könnte nicht sagen, dass der Film mich völlig begeistert hat: viel eher hat er mich recht angenehm und sanft in den Tag eingeführt (zumal ein Tag mit zunehmend härteren Filmen). Besonders visuell war er natürlich eine Wonne: eine farbechte Ferraniacolor-Kopie (Agfacolor nachempfunden). Das Blau des Meeres war also genauso intensiv wie das Grün der Palmblätter und das dunkle Orange des Sonnenunterganges: viele gekonnt festgehaltene Postkarten-Motive in Scope – oft zum Dahinschmelzen.
L'ULTIMO PARADISO bediente natürlich westeuropäische Fantasien von der unberührten, zivilisationsfernen und freien Südsee und seinen schönen, leicht bekleideten Bewohnern. Und doch gelang ihm das auch paradoxerweise nicht vollkommen, denn die pathetische Einführung, die das eben geschriebene bestätigte, stieß sich im weiteren Verlauf immer wieder an den Bildern, an den Wegen der dargestellten Figuren und Komparsen. Die Fischer zum Beispiel: kein Traumjob, sondern ein knallharter Knochenjob, der zudem auch hochgradig gefährlich ist (Haiangriffe und die Gefahr, zu ertrinken), aber zugleich nur zum Allernötigsten reicht. Zumindest sind das die Bilder, die wir sehen, während der Off-Kommentator scheinbar nie merkt, dass hier keine Südseetraummänner spaßig tauchen gehen, sondern Arbeiter unter prekären Bedingungen schuften.
Genau dieser Armut will einer der jungen Männer entfliehen, und der Off-Kommentator wird nicht müde zu betonen, dass das eigentlich nicht geht, weil er doch dazu determiniert sei, auf seiner Insel bei seinen Leuten zu bleiben (ob da Reste von Blut-und-Boden-Gedankengut in die deutsche Filmfassung eingeflossen ist, sei dahin gestellt – da müsste man wohl schauen, wie die italienische Fassung das kommentiert). Als der junge Mann nach Tahiti umzieht und dort Arbeit in einem Steinbruch findet, ist der Off-Kommentator trotzdem erst einmal ganz begeistert: endlich habe der Mann eine Arbeit gefunden, die ihm gefällt. Die Bilder zeigen etwas anderes: nämlich eine Knochenarbeit in einem Steinbruch, bei dem Männer in der prallen Sonne schwere Steine herumschleppen. Dieser Paradox machte den Film sehr interessant: die Bilder zeigten sehr wohl Armut und prekäre Arbeitsverhältnisse, der Off-Kommentator thematisierte das aber überhaupt nicht.
Noch schöner wurde es, als der junge Mann durch ein Stadtfest in Papeete zum Nationalfeiertag (also: 14. Juli) begleitet wurde. Der junge Mann hat sich zurecht gemacht und geht durch die Tanzlokale auf der Suche nach einer Tanzpartnerin. Nach mehreren Abweisungen beschließt er, zu trinken. Und als das rauschende Fest vorbei ist, fährt er dann wieder auf seine Heimatinsel zurück. Der Off-Kommentar sieht das gleich als Bestätigung, dass der junge Mann nicht in die "große" Stadt, sondern nur auf "seiner" Insel glücklich werden kann. Als Zuschauer haben wir einen Arbeitsmigranten gehen, dessen Arbeit in der Stadt genau so prekär war wie in seinem Heimatdorf und der dann noch nicht einmal Sex mit einer Frau haben konnte und deshalb noch mal doppelt frustriert war...
Aber ganz ohne Sex geht es dann doch nicht. Die letzte Episode des Films zeigt das Anbahnen einer Hochzeit und schließlich die Hochzeitszeremonie. Da trifft sich die ganze Dorfgemeinschaft, es wird viel getanzt, und besonders ein älterer Herr (was für ein Charaktergesicht!) lächelt dabei immer etwas wissend. Das Paar geht dann in der Lagune baden und umschwimmt schließlich einen im Wasser aufgestellten Totem in Phallusform.

Eine der Gefahren von Sex (auch praktiziert in einer Pazifiklagune) ist die Geburt von Kindern... Also weiter mit Kindern!



15.45 Uhr

QUESTO SI CHE È AMORE (übersetzt etwa: "Ja, das ist wirklich Liebe", Alternativtitel, von den Kuratoren in Anlehnung an den englischen Verleihtitel vorgeschlagen: "Am Tag, als der Weihnachtsmann weinte")
Regie: Filippo Ottoni
Italien 1978
102 Minuten
Deutschlandpremiere
Der Junge Tommy (Sven Valsecchi) leidet an einer seltenen Autoimmunerkrankung (Agammaglobulinämie): er kann keine Antikörper bilden und muss deshalb im Krankenhaus in einem aseptischen Glaskäfig leben. Essen bekommt er durch eine Sepsis-Schleuse, Besucher "anfassen" kann er nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Am meisten freut er sich auf den gelegentlichen Besuch seines besten Kumpels Larry (Mauro Curi) und dessen Hundes Peluche. Seine Eltern (Christopher George & Gay Hamilton) haben sich "draußen" voneinander entfremdet, stehen kurz vor der Scheidung und vernachlässigen darüber, ihren Sohn regelmäßig (und gemeinsam) im Krankenhaus zu besuchen. Dieser will seine Eltern wieder zusammenbringen – und dafür notfalls auch aus seinem Käfig in die lebens- und keimgesättigte Außenwelt ausbrechen.
Leukämie und Gehirntumore waren die üblicherweise die Krankheiten, an denen die Kinder in den sogenannten "lacrima movies" starben (zu diesem Subgenre des Melodramas und speziell L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA schrieb ich anlässlich des Terza 2018). QUESTO SI CHE È AMORE sollte dem Fass noch den Boden ausschlagen und das Konzept des Kindersterbe-Melodramas mit einer noch extremeren und exploitativeren Prämisse auf eine unerhörte Spitze treiben: ein Kind, das so krank ist, dass es in einem Glaskäfig leben muss! Zum Glück gehen solche Kalkulationen nicht immer auf: von den rührseligen Melodramen um sterbende Kinder, die ich bislang geschaut habe (insgesamt sieben Stück) war QUESTO SI CHE È AMORE für mich der subtilste, intelligenteste, warmherzigste, humorvollste und schönste!
Filippo Ottonis Filmografie ist relativ übersichtlich und dabei doch recht eklektisch: ein ländliches und offenbar zappendusteres Familien-Melodrama, eine Giallo-Komödie/-Parodie, eine von Cannon co-produzierte Klamauk-Komödie und ein wiederum von Cannon co-produzierter Film, der wie eine Mischung aus Musikfilm und Melodrama aussieht – und eben QUESTO SI CHE È AMORE. Außerdem war Ottoni einer von 9 Autoren, die an Mario Bavas Giallo/Proto-Slasher/schwarzer Kapitalismusgroteske REAZIONE A CATENA mitgeschrieben haben und Synchron-Regisseur für die italienischen Dialoge von Andrej Tarkovskijs NOSTALGHIA. Ein eher unbekannter Filmemacher also, aber für mich einer der Helden des Terza Visione 2019. Er hat auch das Drehbuch zu QUESTO SI CHE È AMORE geschrieben, zusammen mit Enrico Oldoini (in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur umtriebiger Autor, sondern auch Regisseur) und Sonia Molteni (die auch am Drehbuch von Luigi Cozzis großartigem "lacrima movie" DEDICATO A UNA STELLA mitgearbeitet hat).
Wenn die Grundidee von QUESTO SI CHE È AMORE wirklich nur darin bestand, die Krankheit des Kindes noch krasser zu machen, dann ist am Schluss doch ein extrem komplexer und intelligenter Film dabei heraus gekommen: ein Feuerwerk an Spiegelungen, Dualismen, Dialektik. Erwachsene & Kinder; "Realismus" & "Naivität"; Lüge & Wahrheit; draußen & drinnen; Mensch & Tier; Konvention & Rebellion; Stellvertreter-Kommunikation & direkter Dialog; Sein & Schein; Körperlichkeit & Imagination; Leben & Tod; geboren werden & sterben. Diese Gegensätze werden (manchmal plakativ, manchmal subtil) gegenübergestellt, durcheinander gewirbelt, teils vom Kopf auf die Füße gestellt, dass einem ganz schwindelig werden kann.
Die italienischen Kindersterbe-Melodramen sind meiner Meinung dann am besten, wenn sie ihre kindlichen Protagonisten ernst und als "volle" Figuren nehmen (die schwächeren Filme zeigen sie tatsächlich "nur" als klein und niedlich und süß und traurig – "Tristkinder", wie das Hofbauer-Kommando sie nennt). Von den "lacrima movies", die ich bislang gesehen habe, gibt es allerdings bislang keinen einzigen, der seine kindlichen Protagonisten derartig ernst genommen hat, wie QUESTO SI CHE È AMORE. Der Gegensatz zwischen Kindern und Erwachsenen wird im Prinzip auf den Kopf gestellt: die Kinder benehmen sich wie Erwachsene, während sich die Erwachsenen "kindisch" benehmen. Der kranke Tommy, das ist völlig klar, ist ein extrem intelligenter Junge, der – trotzdem er in einem Glaskäfig lebt (oder vielleicht genau deshalb) – sehr genau weiß, dass die Ehe seiner Eltern sich in Brüchen befindet – während die beiden draußen noch zaghaft überlegen, ob und wie sie es ihm beibringen sollen; der auf sehr geschickte Weise seinem Vater eine liebevolle und doch auch tadelnde Botschaft zukommen lässt, als dieser ihn einfach nicht mehr besuchen kommt, nämlich als Audiotape zu einem Singwettbewerb in der TV-Sendung seines Vaters – einer der großen emotionalen Momente des Films (die stets durch ein erstaunliches understatement charakterisiert sind – hier eine ungefähre Impression dieser Song-Szene); der wahrscheinlich bei vollem Bewusstsein, welchen Preis er dafür zahlen wird, aus seinem Käfig ausbricht, um einige Stunden in Freiheit zu leben, mit seinem Freund Larry zu verbringen und seine Eltern wieder zu sehen. Sein Vater währenddessen spielt in dieser ganzen Zeit mit Puppen: er ist TV-Moderator einer Kindersendung und spricht dabei mit einer Handpuppe (als Bauchredner). Diese Puppe nimmt er, als er seinen Sohn dann doch mal im Krankenhaus besucht, mit und benutzt sie dann auch als "Schutzschild": als Papa redet er bemüht abgebrüht und "männlich" mit seinem Sohn – nur über seine Stellvertreter-Puppe, also in einer "Rolle", traut er sich seinem Sohn zu sagen, wie sehr er ihn liebt. Eine völlig unglaubliche Szene, weil sie einerseits sehr emotional ist, und andererseits doch unfassbar hart, weil das kleine, kranke Kind tatsächlich offener spricht als der erwachsene Mann.
Wie der Film mit der Eingeschlossenheit des Protagonisten umgeht und es reflektiert, ist ebenfalls sehr faszinierend. Zu Beginn sehen wir Tommy vor dem Hintergrund eines Waldes Rollschuh fahren – erst nach und nach, während die Kamera zurückfährt, merkt man, dass der Wald eine Tapete ist. Und schließlich, dass der Protagonist des Films in einem hermetischen Glaskäfig lebt. Und dass das im Grunde niemals thematisiert wird, aber doch stets reflektiert. Wenn der Vater sich in der Wohnung seiner neuen Lebensgefährtin befindet, sieht er im Zieraquarium eigentlich nicht einen Fisch, sondern seinen eigenen Sohn. Nach seinem Ausbruch aus dem Krankenhaus, als Tommy mit Larry den Zoo besucht, erkennt er sich plötzlich selbst in einem Affen, der in einem zootypischen Glaskäfig sitzt. Hier wird das beachtliche schauspielerische Können Sven Valsecchis deutlich: die Selbsterkenntnis Tommys zeigt sich nur in seinem Blick – ganz ohne Worte.
Tommys Leben im Käfig ist extrem unsinnlich: das Essen schmeckt nach nichts, er sieht immer nur die gleiche Umgebung und er kann seine Besucher nicht berühren, oder zumindest nicht richtig, nämlich nur über eine Gummihandschuh-Apparatur an der Außenwand seines Käfigs. Seine Mutter greift in die Handschuhe und umarmt ihren Sohn Tommy "durch die Glaswand" hindurch: auch hier gehen die genreimmanente, rührselige Sentimentalität und die "harte", intellektuelle Reflexion des Films über die Ungeheuerlichkeit von Tommys Leben Hand in Hand. Tommy lebt eine Dystopie des "neuen Fleisches" (QUESTO SI CHE È AMORE gibt eine ungefähre Vorstellung davon, wie ein von David Cronenberg in den 1980er Jahren gedrehtes Melodrama über ein sterbendes Kind hätte aussehen können).
Und doch gibt es für Tommy (und auch für die Zuschauer) immer wieder Abwechslung, wenn zum Beispiel Kumpel Larry seinen Hund Peluche in das Krankenhaus schmuggelt, indem er ihn in einem Textil-Wäschekorb versteckt. Tommy macht ein ganz verwundertes Gesicht, als Larry einen Wäschekorb vor die Glaswand fährt – doch dann fließt aus einer Ecke des Korbs ein gelber Strahl und Tommy begreift, was Larry gemacht hat. Und dann geben sich nicht nur die beiden Jungs mit den Gummihandschuhen die Hand, sondern auch Peluche wird auf seine Hinterbeine gestellt, während seine Vorderbeine in die Gummihandschuhe gesteckt werden (worüber der Hund offenbar nur mäßig erfreut ist): damit können sich dann Tommy und Peluche gegenseitig befühlen – also indirekt zumindest. QUESTO SI CHE È AMORE ist auch ein wunderschöner Film über Freundschaft und nicht zuletzt auch ein großartiger Buddy-Movie, der auch über die Chemie zwischen den beiden Jungs so gut funktioniert. Nicht zu vernachlässigen ist, dass der rothaarig-lockige Mauro Curi mit seinem natürlichen Charisma wahrscheinlich der heimliche, eigentliche Star des Films ist (was danach beim Essen auch mehrere Co-Zuschauer bestätigt haben).
Im letzten Viertel schließlich entscheidet sich Tommy dazu, seinen Käfig zu verlassen und in die reale und sinnliche Welt zu tauchen. Sein (de facto) Gang in den Tod ist gleichzeitig seine Wiedergeburt und wird fast wortwörtlich so inszeniert: nachdem er sehr geschickt den Sicherheitsmechanismus der Essensschleuse K. O. gestellt hat, kriecht er durch diese wie durch den Geburtskanal. Sein Todesurteil (er wird mit Keimen in Kontakt kommen und in wenigen Stunden sterben) ist zugleich sein neues Leben. Tommy "muss" sterben, um für kurze Zeit "richtig" leben zu "können". Für einige Minuten wird QUESTO SI CHE È AMORE zu einem richtigen Knastausbruchfilm – inklusive Larry, der mit Peluche zur vereinbarten Zeit als Komplize draußen wartet, um den Ausbrecher abzuholen. Eine unglaubliche Explosion der Gefühle überrannt den geneigten Zuschauer, als Tommy und Larry sich endlich wirklich berühren und umarmen. Danach knuddelt Tommy noch kurz mit Peluche, und dann läuft das Trio zu seinen Tagesabenteuern los. Es war für mich wahrscheinlich der größte "kleine" Moment des Terza Visione 2019 und das Tolle ist, dass er ohne Sperenzchen und verblüffend nüchtern in einer Totalen gefilmt wird: auch an dieser Stelle vertraut der Film ganz dem Zuschauers, diesen Moment emotional und intellektuell zu "begreifen".
"Warum hast du mir nie erzählt, wie toll das ist" fragt Tommy seinen Freund Larry, als die beiden in einem Park im Gras herumtollen. Larry ist von der Frage überfordert, reagiert aber kurz darauf sehr spontan mit einem grenzenlosen Erschrecken, als Tommy kurzzeitig unsanft hinfällt: "Questo si che è amore" – das ist wirklich Liebe.
Der Film endet – wie viele seiner Genre-Genossen – mit dem Tod des Protagonisten. Tommy hat sich zusammen mit Larry den Weg zum Wochenendhäuschen seiner Eltern erkämpft. Wieder befindet er sich in einer Art Glaskäfig, doch nun sitzen seine Eltern wiedervereint (machen wir uns nichts vor: wahrscheinlich nur auf Zeit) mit ihm in diesem Käfig – an ihnen gebettet sinkt er in seinen allerletzten Schlaf. Larry schaut sich das von draußen durch das Fenster an: es beginnt zu schneien, es ist Weihnachten...

Noch zwei Bemerkungen:
Erstens: Ich habe QUESTO SI CHE È AMORE im Sommer 2019 gesehen und einen großen Teil des Textes im Januar/Februar 2020 beendet. Die aktuelle Corona-Situation könnte manchen dazu einladen, tagesaktuelle Betrachtungen in die Besprechung eines Films über einen sich aufgrund einer gefährlichen Krankheit in Dauerquarantäne befindlichen Kleinkindes einfließen zu lassen – ich fände das persönlich eher uninteressant. Deshalb belasse ich es bei diesem Hinweis.

Zweitens: wer mehr zu QUESTO SI CHE È AMORE lesen möchte, sei auf André Malbergs Text im Weird-Magazin verwiesen. Besonders interessant darin der Satz: "Schnörkellos in der Aussprache gesteht Ottoni einem Kind im Grundschulalter die emotionale Reife zu, einen selbstbestimmten Tod zu sterben." Und sehr interessant auch die Qualifizierung als "italienischer Ozu-Film".


Nach dem Abendessen in einer "klimatisierten" Pizzeria (entweder war das mit der Klimaanlage ein Marketing-Gag, oder wir sollten heilfroh sein, dass sie "klimatisiert" war, sonst wären wir wahrscheinlich in Flammen aufgegangen) folgten zwei Filme, die auf den ersten Blick extrem gegensätzlich erscheinen: eine Musik-Komödie ("musicarello") und ein berüchtigter Nazi-Exploitation-Schocker. Doch bei näherem Hinsehen war das schon sehr genial und passend kuratiert: man könnte sagen...

...das inoffizielle thematische Double-Feature "Die junge Frau und der Faschist"



20.00 Uhr

IO NON PROTESTO, IO AMO ("Ich protestiere nicht, ich liebe")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien 1967
97 Minuten
Deutschlandpremiere
Caterina (Caterina Caselli) unterrichtet die Grundschulklasse eines kleinen Fischerdorfes mit außergewöhnlichen Methoden – nämlich singend. Dem Baron (Livio Lorenzon), der seine politischen Einstellungen aus der Zeit zwischen 1922 und 1944 weiter pflegt, passt das gar nicht: er intrigiert gegen Caterina, um sie aus dem Dorf zu vertreiben. Als ein Cousin aus den USA, der mit Plattenverkäufen steinreich geworden ist, zu Besuch kommt, eröffnen sich dem Baron ganz neue Möglichkeiten, die störrische Lehrerin "einzuhegen"...


Die junge Frau und der Faschist I:
Der Baron und Caterina und seinem Fiebertraum

Nach Domenico Modugnos Wahnsinnsfilm TUTTO È MUSICA 2018 nun erneut ein eher untypischer "Musicarello" aus der Spätphase des Genres beim Terza. IO NON PROTESTO, IO AMO kann bei oberflächlicher Betrachtung durchaus auch als eskapistische Unterhaltung genossen werden, aber wenn man genau darüber nachdenkt, ist es ein unglaublich finsterer Film, der bereits ein Jahr vorher den Kater der 68er-Bewegung vorwegzunehmen scheint. Dann sieht man nicht einen Film, in dem eine singende Lehrerin sich mit dem stockkonservativen Dorf-Notabeln streitet, sondern eine pessimistische Bestandsaufnahme von Italiens "Bewältigung" des Faschismus, mit einer Gegenwart, in der politische Gegner nicht mehr deportiert, gefoltert, vergewaltigt und ermordet, sondern gekauft oder besser gesagt verkauft werden. Im Laufe des Films verwandelt sich dann Caterina auch von einer freigeistigen Lehrerin nach und nach in einen nichtssagenden Popstar, bevor sie dann ihre eigentliche Bestimmung als Hausmutti findet und nicht nur auf Popstarruhm, sondern auch auf eine "Karriere" als Lehrerin verzichtet, vor einem wunderschönen Sonnenuntergang mit ihrem künftigen Ehemann stehend (ein Mann, der sich anfänglich als geradezu putzig- schüchterner Dorfarzt präsentiert, um im Laufe des Films immer mehr seine dunklen Seiten als machistisches und latent gewaltbereites Arschloch und potentieller "wife beater" herauszukehren – eine interessante und ambivalente frühe Rolle für Mario Girotti alias Terence Hill).
Die Erzählstrategie von IO NON PROTESTO, IO AMO scheint mir zumindest teilweise jene von Paul Verhoevens SHOWGIRLS vorwegzunehmen: eine junge idealistische Frau mit großen Träumen, die der Film angesichts eines übermächtigen Systems (in beiden Fällen die Unterhaltungsindustrie, bei Verhoeven mit einem Schuss Hollywood-Metapher, bei Baldi mit Italiens faschistischer Vergangenheit im Hinterkopf) völlig auflaufen lässt. Caterina Caselli ist meiner Meinung nach keine besonders gute, charismatische Schauspielerin, aber dieses "Defizit" passt ausgezeichnet zum Film, wenn man ihn "gegen den Strich" schaut. IO NON PROTESTO, IO AMO ist ziemlich klar zweigeteilt: in der ersten Hälfte kämpft die freigeistige Lehrerin Caterina gegen den "Baron", dem sie ein Dorn im Auge ist. Die zweite Hälfte, nach der Traum-Offenbarung des Baron (dazu gleich mehr), zeigt Caterinas langsamen, vom Baron in die Wege geleiteten Aufstieg zum Popstar. Dadurch, dass Caselli eben recht "farblos" spielt, wirkt ihr Fall (also dass sie auf den Baron und seine Pläne, sie zu "vermarkten", reinfällt) umso überzeugender.
Die zweite Hälfte war für mich teilweise eine Geduldsprobe – aber ich bin davon überzeugt, dass das zum Konzept des Films gehört (ein "normalerer" Film hätte den Kampf Caterinas gegen den Baron wahrscheinlich abendfüllend gezeigt, und nicht nach der Hälfte abgebrochen). Die opening credits zeigen Caterina Caselli, wie sie am Strand eine Singstunde abhält (mit dem Lied "Il sole non tramonterà") und die wunderschöne Kamera Enzo Barbonis (später Regisseur zahlreicher Filme mit Terence Hill und Bud Spencer) fängt ihre Unterrichtsstunde in sehr erlesenen Bildern mit langsamen, eleganten Schwenks und Fahrten ein (siehe hier). Ihr Ausbruch der Liebe nach einem Treffen mit ihrem Verehrer, dem Dorfarzt Gabriele, wirkt etwas zu viel des Guten, wenn sie "Cento giorni" singt, ist aber immer noch recht elegant gefilmt. Aber die Rock'n'Roll-Nummer, die sie dann – als "bad girl" in schwarzem Leder gekleidet – zum Besten gibt, wirkt im Vergleich dazu steif, verkrampft, gestellt, ohne Schwung und ist dazu noch verblüffend statisch gefilmt. Als der Baron sich vom Gegner der singenden Lehrerin zum Manager des aufsteigenden Popsternchens, kommt der ganze Film fast zum Stillstand, hangelt sich von einem scheinbar gelangweilten Nebenplot zur nächsten hüftsteifen Nummer: es zieht sich alles wie ein Kaugummi, dass es fast grausam ist – und ich denke, genau das will der Film auch sein. Hinzu kommt noch, dass viele weitere Sachen "madig" werden: Gabriele, der schüchterne Dorfarzt, entpuppt sich immer mehr als latent aggressiver Macho, der Caterina verbal immer nachdrücklicher bedrängt und offensichtlich eine Frau braucht, der er seinen Willen aufdrängen kann (und diese bekommt er am Ende).
Es gehört wohl zu den Grausamkeiten des Films, dass die irrsinnigste und spaßigste Nummer nicht Caterina, sondern dem Baron bzw. seinem Fiebertraum gehört (nachdem er auf die Idee gekommen ist, sie nicht aus dem Dorf zu vertreiben, sondern sie zu verkaufen): Er sitzt in einem mit knallbunten Luftballons gefüllten Raum auf einem Thron, lässt sich von seinem Hausdiener Sandwiches in Geldbündelform bringen, die er genüsslich verspeist, während die zwei hübschen Sekretärinnen seines Cousins und Caterina um ihn herum tanzen. Wie gesagt: ein Fiebertraum – deshalb wohl der irrsinnigste Moment des Films und wahrscheinlich der farbigste (hier zu sehen). Die Kopie von IO NON PROTESTO, IO AMO war leider stark rotstichig, doch die Farben haben im Fiebertraum des Barons dem Rotstich ein wenig getrotzt.
Gegen Ende, nach der letzten Nummer von Caterina als Star (auch diese zieht sich qualvoll in die Länge), erklärt sich auch der Titel des Films, der von ihr Caterina als Erklärung zu ihrem Rücktritt wortwörtlich ausgesprochen wird: "Ich protestiere nicht, ich liebe" – das ist nicht eine kämpferisch 68er-Aussage über die subversive Kraft der Liebe, sondern eine Kapitulationserklärung. Der Film filmt ihren Rücktritt als kleinen Sieg über den geldgierigen Baron, der jetzt kein Geld mehr mit ihr machen kann – aber dieses scheinbare Happy gehört zu den perfidesten, die man sich nur denken kann. Die Zeile "Ed invece la corsa della vita per me si è già fermata negli occhi tuoi" aus dem Lied "Cento giorni" (Und stattdessen hat der Lauf meines Lebens in deinen Augen geendet) bekommt retrospektiv einen ganz besonders bitteren Geschmack.

...ideal, um in den nächsten Film zu starten, trotz des scheinbar riesigen Grabens, der zwischen einer Musikkomödie und einem Sadiconazista-Schocker liegt.



22.45 Uhr

L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ("Die letzte Orgie des Dritten Reiches")
Regie: Cesare Canevari
Italien 1977
95 Minuten
Deutschlandpremiere
Lise Cohen (Daniela Poggi), eine ehemalige Insassin eines Nazi-Konzentrationslagers, und Konrad von Starker (Adriano Micantoni), ehemaliger Kommandant dieses Lagers, treffen sich wenige Jahre nach dem Krieg wieder am Ort der Verbrechen, haben Sex und erinnern sich an ihre gemeinsame Vergangenheit: Nachdem Konrad mit zunehmend perfiden Folterungen vergeblich versucht hatte, Lises Geist zu brechen, verliebte er sich in sie und machte sie zu seiner Geliebten.


Die junge Frau und der Faschist II:
Konrad und Lise in der Hölle des Nazi-Lagers

Die Vorstellung von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH begann mit einer Erklärung von Andreas, einem der beiden Leiter und Kuratoren des Terza Visione: der Sinn des Festivals bestehe darin, das italienische Kino in all seinen Facetten, seinen Subgenres, seinen Atmosphären zu zeigen, und dazu gehöre auch Nazi-Exploitation. Nach dieser ausdrücklichen Verteidigung der Entscheidung, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH zu zeigen, erwiesen sich Roberts einleitende Worte als besonders wertvoll, um den Film, wenn nicht zu verstehen, so sich doch ihm zumindest anzunähern. Besonders der allgemeine Hinweis auf Bourdieus These, dass das Perfide von Herrschaft darin besteht, dass die Ausgeschlossenen bzw. die Opfer in den Selbsthass getrieben werden. Auch ein Schlüssel (wobei Indiz vielleicht das bessere Wort ist) zum Verständnis des Films war ein Missverständnis meinerseits: ich dachte, Robert hätte in seinen Ausführungen zu Regisseur Cesare Canevari gesagt, dass die Figuren in seinen Filmen meistens wie Geister erscheinen (Robert meinte allerdings explizit den Western MATALO!). Zumindest erschien es mir dann, dass Lise die ganze Zeit wie ein Geist durch L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH wandle.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH ist ohne Zweifel ein scheusslicher, bestialischer und zutiefst verstörender Film und genau das wollte er höchstwahrscheinlich auch sein. Robert hat in seinen einführenden Worten richtig gesagt: es macht keinen Spaß, diesen Film zu sehen. Das Subgenre der "Nazi-Exploitation" gilt gemeinhin als Bodensatz des Exploitation-Kinos (gleichwohl seine Wurzeln u. a. mit Viscontis LA CADUTA DEGLI DEI im "respektablen" Autoren- und Kunstkino liegen), aber in vielerlei Hinsicht erscheint mir L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH als Anti-Exploitation-Film, unter seiner wilden und rauen Oberfläche als sehr intelligenter Film über die Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Film lässt seine Protagonistin Lise durch die Hölle gehen. Er verlangt auch seinen Zuschauern alles ab. Und er macht sich selbst auch nichts einfach.
Zu den großen Stärken (je nach Blickwinkel auch: Perfidien) von L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH gehört, dass er gleichermaßen Täter- und Opferperspektive einnimmt und keiner der beiden Seiten irgendetwas "schenkt". Lises Figur ist besonders "schwierig": sie lässt sich nicht zum hilflosen Opfer machen, weil sie die ganze Zeit unnahbar, kalt, abwesend erscheint. Daniela Poggi spielt sie – ja, wie ein Geist, eine Untote, die während des ganzen Films (abgesehen vielleicht des letzten Drittels) geradezu apathisch wirkt. "Diese arme Lise"... "Das hat sie aber toll gemacht"... "Lise ist ein Vorbild"... Nein, so etwas kann man über Lise nicht sagen und das ist vielleicht das intellektuell Anregendste an dem Film: L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von den Zuschauern eine intellektuelle Draufsicht, weil er mit dieser sperrigen Figur, mit diesem wandelnden Geist, keine Möglichkeit von Identifikation bietet. Der Film will auch nicht "Betroffenheit" auslösen (Betroffenheit, die man dann auch wieder ablegen kann, wenn es vorbei ist, um zum "normalen Tagesgeschäft" überzugehen). Opfer des Nationalsozialismus sind nicht per se gute Menschen: das erscheint extrem kalt; aber da der Film aber auch keinerlei Relativierung betreibt, ist es vielleicht nicht weniger als konsequent und letztendlich wohl weniger exploitativ als SCHINDLER'S LIST, der kleine süße Mädchen in roten Mänteln auffährt, um die Emotionen der Zuschauer zu erwecken.
Umgekehrt gilt es ebenso: "Das ist ja ein scheusslicher Mensch"... so etwas kann man über Konrad nicht sagen. Es geht in L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht um Konrad, sondern um den wahnsinnigen Terror des Nationalsozialismus, in dem er auch nur ein Rädchen ist. Um erneut den Vergleich zu SCHINDLER'S LIST zu eröffnen: Konrad ist keine Nazi-Karikatur wie Amon Göth mit der leicht grotesken Darstellung Ralph Fiennes', er ist ein (um Christopher Browning zu paraphrasieren) ganz normaler Mann, der die Handlungsspielräume innerhalb des nationalsozialistischen Systems nutzt.
Autor-Regisseur-Produzent Cesare Canevari war ein großer Stilist, denn allen inhaltlichen Abscheulichkeiten zum Trotz sieht L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH atemberaubend aus. Man siehe schon nur die Anfangsszenen, in denen sich Lise und Konrad auf dem Gelände des ehemaligen Lagers wieder treffen und ihre stürmischen Umarmungen mit Erinnerungsfetzen aus ihren Erlebnissen während des Nationalsozialismus in einer assoziativen Montage kollidieren. Von vielen Bildern des Schreckens abgesehen dringt auch immer wieder eine surreale, verträumte Poesie durch den Film. Unvergesslich der Moment, wenn Lise, mittlerweile die Geliebte Konrads, in einem eleganten Pelzmantel gekleidet auf einem Boot einen See durchquert, während die Kamera um das Boot herumkreist: sinnlich schön, und zugleich hoffnungsvoll, weil Lisa der Hölle der Folterungen (für einen ganz kurzen Moment) entkommen ist und doch niederschmetternd, weil das wie eine symbolische Flussüberquerung in den Tod wirkt. Dass der Film so dermaßen kontrolliert gut aussieht, wirkt fast wie eine "konzeptionelle" Schwäche, aber es demonstriert auch immer, dass L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH nicht ein gedankenlos heruntergekurbeltes Machwerk, sondern ein schwieriges Kunstwerk ist.
Christoph, einer der beiden Leiter des Festivals, betonte in einem Gespräch nach dem Film, dass die verbal geäußerten Gewaltfantasien noch wesentlich schlimmer seien als das, was der Film rein visuell zeige (nicht, dass letzteres besonders zurückgenommen wäre). Das erschien mir im Nachhinein als sehr erhellender und interessanter Punkt: der Film lässt oft durch die Äußerungen der Folterer, die ihre Opfer mit noch entsetzlicheren Qualen drohen, noch entsetzlichere Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen, als die auf der Leinwand zu sehen sind. Im Grunde keine besonders "originelle" filmische Technik, aber hier besonders effektiv angewandt. L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH handelt nicht nur von der Macht der Bilder, sondern auch von der Macht der Worte. Exemplarisch ist das lange Bankett-Dîner mit den Leitern des Lagers: einer von ihnen äußert die Fantasie äußert, ermordete Juden auch nach ihrem Tod zu "verwerten" und lässt anschließend ein Ragout aus einem ermordeten Häftling servieren. Im Nachhinein scheint mir seine lange, lange, lange Rede, in der er umständlich seine Idee präsentiert, als der schrecklichste Moment im ganzen Film.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH fordert von seinen Zuschauern Mündigkeit, Reife, Reflexionsvermögen: heutzutage, nachdem eben unter anderem SCHINDLER'S LIST auf gewisse Weise einen internationalen "Standard" des Umgangs mit dem Holocaust im "respektablen" Kino gesetzt hat, ist er vielleicht sogar noch überfordernder als zu seiner Zeit. Im Gegensatz zu SCHINDLER'S LIST verweigert L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH seinen Zuschauern, eine schöne Zeit im Kino zu verbringen und dann mit einem guten und erhabenen Gefühl wieder den Saal zu verlassen. Canevari bietet keinen Trost, keine Erhebung, keine "Moral der Geschichte", keine "Lektion, die wir lernen können", keine Beruhigung, dass das alles Geschichte ist, keine Gewissheit, dass das "Böse" besiegt wurde.
Am Ende läuft Liese weg, nachdem sie Konrad bei der letzten Vereinigung erschossen und anschließend in ein brennendes Feuer geworfen hat. Während des Films sieht man sie oft mit einem lethargischen Gesichtsausdruck und leeren Augen. Doch in diesem Schlussbild scheinen ihre Augen leerer denn je zu sein. Das ist emotional noch viel niederdrückender als der Gedanke, dass sie (wie in einigen Schnittfassungen des Films*) in tödlicher Umarmung mit Konrad stürbe.
L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH war sicherlich der schwierigste Film des Terza 2019 – ich merke es daran, dass ich doch große Mühe hatte, die Eindrücke des Films in Worte zu fassen – aber ohne jegliche Zweifel ein Höhepunkt. Ich bin Andreas und Christoph sehr dankbar dafür, dass sie ihn ins Programm aufgenommen haben.

* in einigen Schnittfassungen des Films sind am Ende "alle tot", wie Robert in seiner Einführung erläuterte. Die gezeigte italienische Kinofassung aus der Cineteca Nazionale in Rom war gekürzt: viele Nacktbilder (mit Penissen, wie Robert versprochen hatte) aus einer frühen Szene mit einer Soldateninspektion fehlten wohl, die Ermordung und anschließende Verbrennung einer Gefangenen nach dem infamen, kannibalistischen Bankett wurde auch gekürzt (diese eine Kürzung wurde glaube ich auch angekündigt) und einer längeren Montage, in der Häftlinge gefoltert werden, fehlten weniger sichtbar als vielmehr hörbar zahlreiche Frames (weil hier die Tonspur ganz offensichtlich durcheinander kam).

Mehr zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH findet sich in Roberts Sehtagebuch bei Eskalierende Träume. Da hat Robert natürlich nicht nur zu Canevaris Film, sondern auch zu allen anderen von ihm gesehenen Filmen des Festivals geschrieben und das ist auch sehr lesenswert!

Auch Frank Castenholz hat in seinem Text zum Terza Visione im Weird-Magazine ein paar Worte zu L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH geschrieben, durchaus mit einigen kritischen Tönen. Ebenfalls sehr lesenswert (auch durch die Ausführungen zu vielen anderen Filmen und zum Terza-Visione-Festival im Allgemeinen).

-----

Der zweite Teil meines Berichts zum Terza Visione Festival folgt... Wann genau, weiß ich noch nicht. Sicher ist, dass ich solch unglaubliche Filme wie Renato Polsellis MANIA, Mario Bavas QUANTE VOLTE... QUELLA NOTTE und Alberto Cavallones SPELL (DOLCE MATTATOIO) nicht unbesprochen lassen möchte!