Posts mit dem Label Charles Chaplin werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Charles Chaplin werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 9. Juli 2017

Der paranoide Killer und die Actionstars des Slapstick-Kinos

oder: was haben John Wick, Stoneface und der Tramp miteinander zu tun?

JOHN WICK: CHAPTER 2
USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017
Regie: Chad Stahelski
Darsteller: Keanu Reeves (John Wick), Riccardo Scamarcio (Santino D'Antonio), Common (Cassian), Ruby Rose (Ares), Claudia Gerini (Gianna D'Antonio), Lance Reddick (Charon)


JOHN WICK war für mich zweifelsohne der zweitbeste Actionfilm des Jahres 2015 – zwar deutlich hinter MAD MAX: FURY ROAD, aber dennoch sehr bemerkenswert. Der Film, der am explosivsten die Rückkehr Keanu Reeves‘ in die Sphäre einer größeren Aufmerksamkeit markierte, begeisterte mit seinen grandiosen Actionszenen, die im Gegensatz zum gegenwärtigen state of art im Actionfilm absolut glasklar gefilmt waren: kein Rumgewackel, keine Schnittgewitter, sondern präzise choreografierte Schüsse, Schläge und Tritte. Was JOHN WICK ebenfalls ausmachte: seine kompakte, elliptische Erzählweise, die mit aussagekräftigen Bildern und nur wenigen Worten Zusammenhänge andeutete, die man anderswo ausführlich und mit vielen Dialogen auserzählt bekommen würde (sei es der Tod von Wicks Ehefrau nach kurzer, akuter Krankheit oder die Funktionsweise des Continental-Hotels, des Refugiums für die Gilde der Profikiller).
Groß war die Erwartung an die Fortsetzung. Zunächst zur kleinen Enttäuschung: JOHN WICK: CHAPTER 2 beginnt damit, dass er die „offenen Fragen“ aus dem ersten Teil noch „beantwortet“. Er ist äußerst umständlich, manchmal fast behäbig erzählt, wirkt manchmal etwas wie mit Handbremse gefilmt. Der Subplot um Laurence Fishburnes Figur ist größtenteils ein billiger Gimmick für die MATRIX-Fangemeinde. Der Versuch, den legendären Shootout im „Red Circle“ in den Katakomben Roms neu aufzulegen, ist nur bedingt geglückt. Wo JOHN WICK wie aus einem Guss wirkte, erscheint JOHN WICK: CHAPTER 2 wie ein Stückwerk mit zu viel Ballast (und mit tatsächlich über 20 Minuten mehr Laufzeit).
Aber hey! Wirklich schlimm ist das nicht und JOHN WICK: CHAPTER 2 ist und bleibt ein toller Film. So schöne Parallelmontagen, die von einer pulsierenden Musik getrieben werden, kriegt momentan niemand außer diesem ehemaligen Second-Unit-Regisseur und Stunt-Koordinator Chad Stahelski hin. Mit einer solchen Selbstverständlichkeit alle Actionszenen so klar filmen – das sieht man momentan wohl nur bei George Miller und in ausgewählten Filmen des vielgehassten Paul W. S. Anderson. Eine wüste Prügelei im Herzen Roms, gefilmt ohne Musik, aber dafür mit intensiven nächtlichen Ambientegeräuschen (Sirenen, Autohupen und das Flimmern der lauwarmen Frühlingsluft)... Das Jammern über JOHN WICK: CHAPTER 2 im direkten Vergleich zu JOHN WICK ist eines dieser Luxusprobleme, von denen wir anstelle echter Probleme mehr haben sollten auf dieser Welt.
Besonders interessant war aber ein Aspekt: JOHN WICK: CHAPTER 2 enthält immer wieder Anspielungen auf den Actionfilm (sprich: Slapstickfilm) der Stummfilm-Ära – diese reichen von expliziten Zitaten bis zu milden Andeutungen.

John Wick – ein Nachfahre von Speedy?
Das fängt schon einmal mit dem ikonischen Filmposter an. Wick ist von über einem Dutzend Schützen umringt, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen, während er unbeirrt und mit intensivem Blick den Betrachter anschaut. Hier ist klar: ein Mann – furchtlos gegen den Rest der Welt. Vor allem ist das Poster aber auch die Nachstellung eines Publicity-Fotos mit Harold Lloyd.
Hier ein Link zu dem Bild. Und hier ein Link zu einem Artikel, wo die beiden Bilder ebenfalls zu sehen sein.
Lloyd ist auf dem Foto ebenfalls umringt von Schützen, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen – wirkt allerdings der Situation entsprechend auch ziemlich beunruhigt. Es handelt sich angeblich um ein Werbeplakat oder vielleicht ein Aushangfoto für TWO-GUN GUSSIE von 1918, der noch unter der Produktion von Hal Roach entstand, als Harold Lloyd noch kein Superstar war. Es ist ein Slapstick-Film im engeren Sinne, ein typisches Produkt der Roach-Schmiede: recht grobschlächtig im manchmal erfreulichen, manchmal nicht so erfreulichen Sinne, mit vielen akrobatischen Einlagen, die allerdings nicht mit den spektakulären Action-Sequenzen späterer Lloyd-Filme mithalten können.
Abgesehen von der Tatsache, dass John Wick ab der Mitte des Films von einem großen Teil der Gilde der Serienkiller verfolgt wird – also viele Pistolen auf ihn gerichtet sind – „taucht“ das Plakatmotiv nicht weiter im Film „auf“. Trotzdem versetzte es mich gleich im Vorfeld des Films als Fan des modernen Actionfilms und Fan des klassischen Actionfilms der Stummfilm-Ära in „Alarmbereitschaft“. Würde im Film mehr in diese Richtung zu finden sein?

„Baba Jaga“ in den Fußstapfen eines träumenden Filmvorführers?
Lange warten musste ich nicht. JOHN WICK: CHAPTER 2 eröffnet mit Helikopteraufnahmen des nächtlichen, neonbeleuchteten New York. Dazu gibt es brummende Motorradgeräusche. Nach einigen Bildern in Vogelperspektive blicken wir plötzlich auf die Fassade eine Brownstone-Hauses. Auf diese Fassade wird ein Stummfilm projiziert. Der geneigte Stummfilm-Liebhaber erkennt, dass es sich um einen Ausschnitt aus Buster Keatons SHERLOCK JR. handelt, namentlich um den Showdown mit der langen „Verfolgungsjagd“, bei der Keaton auf dem Lenkrad sitzend ein herrenloses Motorrad „fährt“. Er fährt in Richtung eines Bahnübergangs und nur knapp entkommt er dem rasenden Zug. Kurz darauf kracht er in die Hütte, in der einer der Bösewichte seine Angebetete gefangen hält. Da werden keine halben Sachen gemacht: Buster/Sherlock Jr. fliegt durch den Raum, landet auf dem Tisch auf eine solche Weise, dass er den Böswatz einfach wegkickt. Nach diesem Crash in diesem Ausschnitt aus Keatons SHERLOCK JR. crasht auch in JOHN WICK: CHAPTER 2 jemand, nämlich ein Motorradfahrer auf der Straße – was wir aber nur hören und nicht sehen. Sichtbar wird der Fahrer, als er auf einer abschüssigen Straße unter dem Haus mit der Projektion mit seinem Gefährt heruntergleitet. Das suggeriert fast, dass er aus SHERLOCK JR. herausgefallen ist. Er steigt wieder auf das Motorrad und fährt davon. Wenig später rollt ein alter Sportwagen vorbei, der das Motorrad verfolgt (und in dem, wie wir kurz darauf erfahren, John Wick sitzt).

JOHN WICK: CHAPTER 2 – auf eine Hausfassade wird ein Stummfilm projiziert, nämlich...
SHERLOCK JR.
Das ist der Beginn des Prologs, in dem John Wick noch bei Abram Tarasov vorbeifährt, dem Bruder und Onkel der in Teil 1 von ihm getöteten Viggo und Josif Tarasov, um Frieden zu schließen – nachdem er selbstredend ein Dutzend von Abrams Handlangern brutal tötet, weil sie ihn nicht vorlassen wollen. Dieser Prolog ist eine interessante Verkörperung für die relativen Schwächen des zweiten Teils im Vergleich zum ersten Teil: ein narrativer Ballast, der allerdings gekonnt inszeniert ist.
Was der Prolog mit dem Ausschnitt aus SHERLOCK JR. zu tun hat? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Am einleuchtendsten scheint es, den Filmausschnitt als das Motto des Films zu begreifen – nicht in Form einer Texteinblendung, sondern als Filmeinblendung. Sherlock Jr., also der alter-ego-Protagonist im Traum des Filmvorführers, hat gerade gemerkt, dass er sich im freien Fall befindet, denn freihändig auf dem Lenkrad eines geisterfahrenden Motorrads zu balancieren ist echt keine gute Idee (also im wirklichen Leben der Figuren im Film bzw. Filmtraum – auf Film an sich bei Keaton sieht das natürlich toll aus). Das entdeckt er erst spät, weil er erst einmal minutenlang so fährt, ohne es zu merken. Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als die bittere Pille zu schlucken und mit dem Kopf voran zu gehen. Das ist genau das, was John Wick im Verlauf von JOHN WICK: CHAPTER 2 auch tun muss. Im zweiten Teil verliert der Profikiller alle Autonomie. Vom Jäger des ersten Teils wird er nun zum Getriebenen. Das wirkt sich nicht gut auf seinen Geisteszustand aus (von seiner körperlichen Gesundheit mal ganz zu schweigen).

Der „Boogey Man“ wird paranoid!
Nachdem John Wick Frieden mit den russischen Gangstern geschlossen hat, will er in Ruhe in das Zivilleben zurückkehren. Doch sein ehemaliger Profikillerkumpan Santino D‘Antonio besucht ihn und zwingt ihn, eine „Schuld-Marke“ zu begleichen. Santino hatte Wick einmal in einer brenzligen Situation geholfen, wofür er eine „Schuld-Marke“ nahm – die er nun einlöst. Wick muss nun also für Santino einen Auftragsmord ausführen: nämlich seine Schwester Gianna ermorden, damit er ihren Sitz im Großen Rat des internationalen organisierten Verbrechens einnehmen kann. Wick reist nach Rom und erledigt nolens volens den Job. Das gelingt ihm eher indirekt: als er bei Gianna auftaucht, wechseln sie ein paar Worte, und bevor John Wick begreift, was da passiert, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Er schießt ihr dann in den Kopf, nachdem (! – dazu unten mehr) sie bereits gestorben ist. Santino, der eh von Anfang an wie ein schmieriger Heuchler wirkte, will selbstverständlich in aller Öffentlichkeit den Mord an seiner Schwester rächen und übergibt dem US-Zweig der internationalen Profikiller-Gilde den „offenen“ Auftrag, John Wick für 7 Millionen Dollar zu ermorden. Jeder Profikiller, der der großen Organisation angehört, wird per SMS dazu ermuntert, John Wick zu töten. Alle US-amerikanischen Mitglieder der Profikiller-Gilde erhalten eine SMS mit dem Auftrag. In einer denkwürdigen Parallelmontage hört man die SMS-Töne der Mobiltelefone klingeln: alle Besucher des New Yorker Continental-Hotels, der Manager des Hotels, aber auch irgendwelche unbekannten Gesichter auf der Straße erhalten Kurznachrichten.
JOHN WICK: CHAPTER 2 entfesselt hier etwas, was in JOHN WICK noch vergleichsweise harmlos war. John Wick läuft durch Straßen, in denen an jeder Ecke ein potentieller Killer auf ihn warten könnte – und es dann tatsächlich auch tut: die harmlose Geigenspielerin an der Ecke der U-Bahn-Unterführung, der friedlich aussehende Sumo-Typ auf der Parkbank, die zwei seriösen asiatischen Geschäftsmänner beim U-Bahn-Imbiss, die Männer von der Reinigung in der Metro – sind plötzlich brutale Killer, die auf John Wick losgehen. Hier befinden wir uns im Bereich von Buster Keatons de-facto-Paranoia-Thrillern THE GOAT und COPS (über diese schrieb ich bereits hier). Die ganze Szene ist als eine dieser schönen Parallelmontagen gefilmt, mit denen beide JOHN-WICK-Filme glänzen – und sie vibriert vor fiebriger, absurder und surrealer Paranoia. Die Welt war in SHERLOCK JR. ein Traum im Film – in THE GOAT, COPS und JOHN WICK: CHAPTER 2 wird der Film zum Alptraum, in dem überall Hundertschaften von Polizisten oder Profikillern darauf warten, zuzuschlagen. 
Im Gegensatz zu Buster wird man John Wick schwerlich als „unschuldig“ bezeichnen können, und im Gegensatz zu Buster in COPS kapituliert John Wick nicht vor seinen paranoiden Schüben, um Suizid zu begehen, sondern verteidigt sich durch Angriff, indem er seine Verfolger tötet – um nicht zu sagen: sie regelrecht massakriert (unter anderem auch mit dem legendären Bleistift).

John Wick paranoid: wo er auch hingeht – überall warten Killer auf ihn
Buster paranoid: eine Welt voller Polizisten
Noch ein Gedanke zu Keaton. Alle Filialen des Hotel Continental, des Refugiums für Profikiller, sind Orte, in denen sie nicht nur vor der Polizei sicher sind, sondern auch voreinander: es dürfen dort nämlich keine „Geschäfte“ gemacht werden, und einen Gast des Hotels innerhalb des Hotels zu töten kommt der Exkommunikation aus der internationalen Profikillergilde gleich (und wird mit einem Todesurteil bestraft). Wie absolut wortwörtlich das gemeint ist, wird deutlich, als Wick sich in den Straßen Roms mit Cassian, dem Leibwächter (und wahrscheinlich Liebhaber) Gianna D‘Antonios die Seele aus dem Leib prügelt und mit ihm im Kampf eng umschlungen durch die Fensterfront einer Terrasse kracht. Der intensive Kampf wird beendet, weil beide zur Ordnung gerufen werden: sie haben nicht gemerkt, dass sie durch die Fensterfront des Rom-Continentals gekracht sind. Sie lassen einander los, gehen in die Bar, trinken zusammen und schwören sich dabei in ausgesucht höflichen Worten, sich bei nächstbester Gelegenheit gegenseitig zu ermorden. Ein Haus als heiliges Refugium, in dem nicht gemordet werden darf – was angesichts der extremen Gewalt „draußen“ auch ziemlich heuchlerisch wirkt: das gab es schon in Keatons OUR HOSPITALITY zu sehen, in dem Buster/Willie McKay sich solange sicher fühlen kann, wie er sich als Gast im Haus der mit seiner Familie befehdeten Canfields befindet.

Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp
JOHN WICK: CHAPTER 2 arbeitet sich auch fleißig an der Geschichte der plastischen Kunst und Malerei der letzten 2000 Jahre ab. John Wick flaniert durch Rom, die Gebäude und Sehenswürdigkeiten der Antike und der Renaissance im Hintergrund. Er bespricht Geschäftsprobleme vor Gemälden, die ich intuitiv in der Frühen Neuzeit ansiedeln würde. Bei einem Shootout in einem Museum wird John Wick schließlich gar selbst zum „Künstler“ und verwandelt mit dem spritzenden Blut seiner Feinde eine Kunstausstellung in eine große Action-Painting-Installation – abstrakter Expressionismus nicht mit dem Pinsel gespritzt, sondern mit der Pistole geschossen. Das ganze endet schließlich bei der modernen Installationskunst, in einem betretbaren Kunstwerk mit dem schönen Titel „Reflections of the Soul“: ein großes Spiegellabyrinth mit sphärischer Ambientemusik und einer Fahrstuhlstimme, die Kommentare zum Kunstwerk abgibt. Alternativ könnte man das Kunstwerk aber auch „Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp“ nennen.
Der Shootout in dem Spiegelkabinett ist die große „pièce de résistance“ von JOHN WICK: CHAPTER 2, der ultimative Action-Höhepunkt des Films – fast so aufregend wie der Shootout im „Red Circle“ aus dem ersten Teil. Vielfach gespiegelt laufen die Kontrahenten durch diese merkwürdigen, jenseitig aussehenden Räume und schießen aufeinander – und ballern dabei oft einen Spiegel kaputt, der Platz macht für noch mal weitere Spiegelungen. Das ganze ist je nach Raum mit kalt-blauem oder mit rötlich-farbwechselndem Neonlicht beleuchtet – und ist natürlich eine weitere Verbeugung vor einem großen Stummfilm, namentlich Charlie Chaplins meiner Meinung nach bestem und unterschätztestem Stummfilm, THE CIRCUS. Dessen Spiegelkabinett-Szene wurde vielfach nachgeahmt: in Orson Welles‘ THE LADY FROM SHANGHAI von 1947, in IL MIO NOME È NESSUNO von 1973 (dessen Protagonist, wie einst der Tramp, einem Kleinkind den Imbiss klaut) sowie in ENTER THE DRAGON, ebenfalls 1973.

Der Shootout im Spiegelkabinett, inspiriert von...
...dem Spiegelkabinett in THE CIRCUS
Wie ich kürzlich mit Manfred besprach: möglicherweise ist Chaplins THE CIRCUS nicht der erste Film, in dem eine Verfolgungsjagd in einem Spiegelkabinett zu sehen war. Vielleicht sah Chaplin eine ähnliche Szene in einem Film, der heute verschollen ist – oder sich außerhalb der großen Aufmerksamkeit bewegt, die Chaplins Werk hat. Relativ sicher ist jedenfalls, dass der verhältnismäßig berühmte THE CIRCUS als Inspirationsquelle für die oben genannten Filme und JOHN WICK: CHAPTER 2 diente.
Nun... John Wick ist natürlich kein Tramp. In JOHN WICK: CHAPTER 2 sind aber durchaus andere Leute Tramps...

Exkurs in den frühen Tonfilm, oder: Die Bettlerorganisation der Profikiller
Euro, Dollar – das ist den Profikillern in dem speziellen Universum der „John Wick“-Filmreihe egal, denn sie haben ihr eigenes Währungssystem mit speziell für sie hergestellte Goldmünzen. Das ist nicht nur etwas wert, sondern das dient auch als unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Als John Wick vor seinen Verfolgern in der New Yorker U-Bahn flieht, wendet er sich plötzlich an einen Bettler und legt ihm eine Goldmünze in den Pappbecher. Der Bettler versteckt Wick rasch unter einer naheliegenden Plastikplane. Als die zwei Verfolger näher kommen, zückt der Bettler eine Schalldämpfer-Pistole und erschießt sie. Aus der Nähe treten zwei Obdachlosen-Kollegen heran und schleifen sogleich die Leichen weg. Für kurze Zeit kommt John Wick dann bei einem Spezialzweig der internationalen Profikiller-Gilde unter: nämlich bei der New Yorker Bettlerorganisation der Profikiller.
Nach Llloyd und Keaton (das Chaplin‘sche Spiegelkabinett kommt im Film erst später) befinden wir uns nun bei Fritz Lang. Lang war in seiner deutschen Werksphase von konspirativen Geheimorganisationen fasziniert: die Verbrecherbanden in den DR. MABUSE-Filmen, die Spion- und Verbrecher-Netzwerke in SPIONE – und natürlich das organisierte Verbrechen in M, das eine Zusammenarbeit mit dem Verband der Bettler organisiert, um den Serienmörder auf eigene Faust zu finden.
In JOHN WICK: CHAPTER 2 wird die Bettlerorganisation von dem „Bowery King“ geführt, gespielt von Laurence Fishburne. Sein Verband ist äußerst mächtig, weil er permanent Profikiller vollkommen unauffällig an jeder Straßenecke von New York platzieren kann. Ob das rein taktisch ist, und wenn nein, warum mit Goldmünzen bezahlte Profikiller als Obdachlose leben müssen, wird nicht direkt beantwortet. Warum Wick, der nur einen Bleistift braucht, um schnell und effizient zahlenmäßig weit überlegene Verfolger zu töten, sich an die Bettler wendet, ist auch etwas unklar. Warum die Bettler John Wick nicht einfach plattmachen, ergibt auch wenig Sinn. Die Bettlerorganisation taucht einfach plötzlich im Film auf, und verschwindet dann wieder, nachdem Wick von dem Bowery King eine mit sieben Kugeln (eine Million Dollar pro Kugel) geladene Pistole übergeben wurde – die er sich ebenso gut bei einem Verfolger hätte holen können. Kurz: das ganze erscheint als Vehikel, um in zwei Szenen Laurence Fishburne und Keanu Reeves zusammen unterzubringen, also Morpheus und Neo wieder „zusammen zu bringen“ – ein reines Gimmick für die MATRIX-Fans im Publikum. Der Subplot um die Bettlerorganisation und ihren Chef gehört wie der Prolog zu den Teilen des Films, die wirklich erzählerischer Ballast sind und wie Fremdkörper wirken, gleichwohl sie gut gefilmt sind (die Macht des Bowery King wird in einem einzigen Bild verdeutlicht: eine Totale mit einer mächtigen Brücke im Hintergrund – die Manhattan Bridge? – macht gleich deutlich, wie „übergreifend“ er zumindest Teile der Stadt kontrolliert). Der kleine Wink an M, den man hier sehen kann, ist trotzdem ganz nett.

John Wick beim Bowery King: Herrscher über weite Teile der Stadt

Ohne Worte: die Göttin des Massakers
Die faszinierendste Nebenfigur von JOHN WICK: CHAPTER 2 ist der Bodyguard von Santino D‘Antonio: eine Frau mit einem sehr einnehmenden, androgynen Charisma, die im Nahkampf extrem zäh ist und nur wenige Worte verliert. Um genau zu sein: überhaupt keine, denn sie ist stumm. Sie kommuniziert nur mit Schüssen, Hieben, intensiven Blicken und mit Zeichensprache. Wie die russischen Passagen in JOHN WICK werden ihre (meist sehr kurzen) Dialogzeilen mit grafisch aufbereiteten Bild-Inschriften übersetzt. Mit viel Fantasie bzw. weil es in diesem Kontext noch passt, kann man das als Rückgriff auf die „stummen“ Filmfiguren des Stummfilms interpretieren, deren wenige Worte mit Zwischentafeln oder auch schon mit grafischen Elementen direkt im Bild „übersetzt“ wurden.
Die Figur trägt übrigens den (männlichen) Namen Ares, wie die Zuschauer in den end credits erfahren oder, wenn sie extrem aufmerksam sind und sehr gute Augen haben, auf einer Karteikarte an einer Pinnwand im Hintergrund für knapp eine Sekunde sehen können. Ares – wie der griechische Gott des offensiven Zerstörungskrieges, des Blutbads und des Massakers.

Ares – hier im Continental-Hotel und daher im friedlichen Modus
Mit griechischer und auch mit römischer Mythologie kenne ich mich weniger gut aus als mit Filmen. Auch andere Figuren, etwa Gianna D‘Antonios Leibwächter Cassian oder der absolut grandios stilvolle und unendlich elegante Rezeptionist des New Yorker Continentals Charon tragen antike und mythologische Namen. JOHN WICK und JOHN WICK: CHAPTER 2, diese blutigen Rachegeschichten im Stile antiker Epen, anhand von griechischer und römischer Mythologie zu analysieren, dürfte vielleicht auch ganz interessant sein. Aber das wäre ein anderer Text von einer anderen Person.

Lesenswertes zu JOHN WICK: CHAPTER 2 und dessen Verbindungen zum Slapstick-Film
À propos andere Personen... SHERLOCK JR., die Paranoia im Stile von COPS, das Chaplin‘sche Spiegelkabinett, die Verbindung zu M, die Symbolhaftigkeit der stummen Leibwächterin – das ist mir alles sofort bei der Sichtung im Kino im Februar dieses Jahres schon aufgefallen. Wer ein wenig googelt sieht, dass auch einige andere Leute das gemerkt haben. Einige Journalisten, Blogger und Video-Blogger haben gesehen, dass es eine Verbindung zwischen JOHN WICK: CHAPTER 2 und Stummfilme, Buster Keaton, Charlie Chaplin gibt. Meistens ist nur ein kurzer Nebensatz zu lesen, und der auf die Häuserfassade zu Beginn projizierte Film wird ab und zu fälschlicherweise als THE GENERAL identifiziert.

Am interessantesten und tiefgründigsten in dieser Materie war folgender Artikel (den ich schon oben verlinkt habe beim Abschnitt um das Lloyd-Poster):

In dem Blog „Silent London“ schreibt die Journalistin Pamela Hutchinson über Stummfilme, und führt zugleich eine Rubrik mit dem schönen Titel „At the Talkies“.
Sie interpretiert tatsächlich die Figur John Wick selbst als Tramp und argumentiert, dass Keanu Reeves mit seinen spärlichen Dialogen und seinen stoischen Gesichtsausdrücken durchaus versucht, in die Fußstapfen von Buster „Stoneface“ Keaton zu treten. Hutchinson betont auch, dass JOHN WICK: CHAPTER 2 wie die Stummfilmklassiker „handgemachte“ Action bietet: mit Schauspielern, die nach brachialem Training selbst die Actionszenen spielten und wenig CGI. Gegen Ende des Artikels zieht sie zwischen den Horden von Profikillern, die Wick massenhaft tötet, und den Keystone Kops eine Parallele, kritisiert aber auch sehr scharf die exzessive Gewalt von JOHN WICK: CHAPTER 2.

auch lesenswert:

Ein interessanter Aspekt wird hier aufgeworfen: nämlich dass beide JOHN WICK-Filme sehr geschickt den Kuleschow-Effekt nutzen, um aus Keanu Reeves‘ stoischem Gesicht das Maximale rauszuziehen. Ansonsten eine Analyse der Filme als Parallelwelten von Scheintoten sowie einige Ausführungen zum mythologischen Charakter (u. a. John Wick als moderner Odysseus, der allerdings keine Penelope mehr hat, zu der zurückkehren könnte).

Von nunmehr praktisch der ganzen Welt verfolg rennt John Wick mit seinem Hund weg...
...und wird im dritten Teil zurückkehren.
JOHN WICK: CHAPTER 2 ist in Deutschland kürzlich auf DVD erschienen (und auf blu-ray und auf Ultra-HD-blu-ray). Wie im Kino kam auch die Heimveröffentlichung ungeschnitten mit einer Einstufung „ab 18“ durch die FSK. Trotzdem hat der Film ein paar Federn verloren. Die grafischen Texteinblendungen, mit denen amerikanische Zeichensprache, Russisch, Italienisch und Hebräisch übersetzt werden, fehlen auf der deutschen DVD. Die Einblendungen fehlen übrigens auch auf der DVD des ersten Teils. Die Hinweise für Hörgeschädigte („dramatische Musik“, „Motorradgeräsuche“, „weiter bedrohliche Musik“ etc.) in den Untertiteln gingen mir ehrlich gesagt nach kurzer Zeit gehörig auf die Nerven. Damit möchte ich keineswegs die Sinnhaftigkeit von Untertiteln für Hörgeschädigte bezweifeln, sondern nur beklagen, dass oft nur ausschließlich diese als Übersetzungshilfe vorhanden sind. Jedenfalls schaltete ich die Untertitel aus – was so viel heißt, dass die italienischen Passagen dann unübersetzt blieben (die konnte ich mit meinen Grundkenntnissen der Sprache überbrücken), der eine hebräische Satz auch – und alles, was Ares mit Zeichensprache sagte, wurde ebenso wenig übersetzt. Das machte die Figur zwar mysteriöser und auch etwas bedrohlicher, nahm ihr aber auch ein Stück ihrer Ausdruckskraft (an einer Stelle möchte sie John Wick – in der Bar des Continentals – tatsächlich einfach nur zu einem Drink einladen: hier ein Clip dieses Moments). Das Problem ist in Deutschland nicht neu: die deutsche DVD von Tony Scotts teils spanisch-sprachigem Mexiko-Rache-Thriller MAN ON FIRE ist auch sämtlicher grafischer Schriftelemente „befreit“.
Wer zur britischen Heimveröffentlichung greifen möchte (wo die Einblendungen wahrscheinlich enthalten sind), sollte allerdings vorsichtig sein. Die BBFC ließ den Film für eine niedrigere Kinofreigabe (ab 15 statt ab 18) kürzen. Herumgeschnippelt wurde offenbar an der Selbstmordszene der Gianna D‘Antonio (siehe hier). Das wirft einige Fragen auf. Eine Frau, die in einem Akt der Selbstermächtigung sich vor den Augen ihres Killers die Pulsadern aufschneidet, war 15-Jährigen wohl nicht zuzumuten. War das zu „sozial desorientierend“, „verrohend“ – oder wie nennen englische Zensoren so etwas? Oder war es etwa, weil Gianna dabei nackt ist? Und warum sind dann Aberdutzende von extrem brutalen Erschießungen sowie das Abstechen mit mehr oder weniger scharfen Gegenständen (von Messern bis zu Bleistiften) für 15-Jährige okay? So, wie der Selbstmord Giannas jetzt verstümmelt ist, könnte man wahrscheinlich den Eindruck erhalten, dass sie sich friedlich in ihre große Badewanne legt und John Wick ihr heimtückisch von hinten in den Kopf schießt (was offenbar für 15-Jährige wieder völlig okay ist) – tatsächlich aber ist sie dabei schon tot. Das ist nun wirklich nicht das gleiche wie in dem Film eigentlich zu sehen ist. Gemäß schnittberichte.com jedenfalls wurde die geschnittene Fassung auf DVD und blu-ray veröffentlicht (ab 15) und die ungeschnittene Fassung (ab 18) nur auf der Ultra-HD-blu-ray.

Zu den US-amerikanischen, französischen und italienischen Veröffentlichungen kann ich nichts sagen – ungeschnitten werden sie wahrscheinlich alle sein, erstere wird mit Sicherheit die grafischen Bildinschriften haben.

Mittwoch, 2. Januar 2013

2012 – Manisch-epischer Reiseführer durch ein Filmjahr mit Statistiken und Listen, oder: Wie ich auf einen Spiritisten reinfiel



Und... wieder ein Jahr rum!
Ein filmreiches Jahr. Viele Filme gesehen: in vielen Kinos, auf DVD, im Fernsehen und – ja auch das! – in den großen Weiten dieses so genannten Internets; gute Filme, Meisterwerke, schlechte Filme, totale Gurken, schwarz-weiß, farbig, 2D, 3D, kurz, sehr kurz, lang, episch... Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Filme in einem Jahr gesehen... zumal so viele mir unbekannte Werke.

Statistik, Statistik, wer ist die schönste Liste im ganzen Land?
Klar: Statistiken sagen oft nicht viel aus, üben aber trotzdem eine große Faszination aus. Bei mir entspringt dieses Bedürfnis nach statistischen Auswertungen dem Drang, mich und meine Umwelt in eine Ordnungsstruktur zu erfassen. Wer weiß, wie mein Zimmer aussieht, wird wahrscheinlich irgendetwas von „Überkompensierung“ murmeln. Sei‘s drum. Vielleicht steht auch die Neugierde dahinter, solche Fragen wie „Wie oft gehe ich ins Kino?“, „Wie viele Kinosäle lerne ich neu kennen?“, „Wie viele DVDs sehe ich?“ und „Wie groß ist der statistische Anteil an Stummfilmen in meinen Filmsichtungen?“ nicht nur rhetorisch zu stellen.
2012 habe ich 399 Filme gesehen. Alpha und Omega bildeten Viscontis SENSO und Powells PEEPING TOM. 340 der Filme waren Neusichtungen, das sind nicht ganz 90 %. Insgesamt 90 Filme (also über ein Fünftel) habe ich im Kino geschaut. Von diesen wiederum waren 42 Stück aktuelle Filme, Premieren und Vorschauen.

Vado ad cinematographico
Ob 90 Filme im Kino in einem Jahr nicht etwas teuer sind? Nicht, wenn man in mehr als die Hälfte (52 um genau zu sein) kostenlos reingekommen ist.
Dazu gehören zunächst alle Besuche bei Filmfestivals, in meinem Fall dem go East Festival in Wiesbaden, der Viennale und dem Weimarer trekoulor-Festival. Mit einem charmanten Lächeln und einer Presseakkreditierung ausgestattet, konnte ich auf diese Weise 44 Filme in neun verschiedenen Kino-Locations sehen.
Zu meinen kostenlosen Kinobesuchen gehören auch vier Pressevorführungen mit einem großartigen Film (SKYFALL), einem exzellenten Film (SHAME) und zwei dämlich-peinlich-schlechten Gurken (BLACK GOLD und TOTAL RECALL). Auch eine Aufführung von BRONENOSEC POTEMKIN mit Orchesterbegleitung im Deutschen Nationaltheater Weimar konnte ich dank Pressekarte erleben.

Eine kostenlose Vorstellung von Manfred Noas NATHAN DER WEISE gab es am 16. November im Weimarer mon ami-Kino im Rahmen des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“ – die befremdlichen antisemitischen Kommentare eines Senioren nach Ende des Films kamen als unerfreuliche und ärgerliche Zugabe ebenfalls kostenlos dazu. Je einen Film von Chaplin (EASY STREET) und Keaton (COPS) sah ich im Jenaer Haus auf der Mauer: Der Pianist Richard Siedhoff begleitete seine eigenen, selbst zusammen geschnittenen und vervollständigten 8-Millimeter-Fassungen. Als Werbeveranstaltung für das Magazin unique war der Eintritt kostenfrei, aber nicht umsonst. Last but not least hat mich der nette luzifus mit einer Freikarte in das Weimarer Cinemagnum zu THE DARKEST HOUR eingeladen.
So kommt man als Cinephiler auch kostenlos an seinen Filmgenuss. Aber keine Angst: einerseits wurden durch Fahrt- und teilweise auch Übernachtungskosten diese Gewinne wieder gut ausgeglichen, andererseits habe ich zur Mehrheit dieser Filme auch Artikel verfasst – und die schreiben sich bekanntlich nicht von alleine. Für den Rest habe ich wie alle anderen Normalsterblichen bezahlt: zwischen vier Euro Ermäßigungs-Flatrate im mon ami-Kino und rekordverdächtigen 12,80 Euro für einen 3D-Film mit Überlänge an einem Samstag-Abend im CineStar Weimar (HUGO) – die 3D-Brille natürlich noch nicht mit eingerechnet...

18 Kino-Locations
Lichthaus-Kino im Straßenbahndepot Weimar: 26
Kino mon ami Weimar: 12
Caligari FilmBühne Wiesbaden: 9
Apollo-Kinocenter Wiesbaden: 8
Gartenbaukino Wien: 6
CineStar Weimar: 4
Filmmuseum Wien: 4
Metro-Kino Wien: 4
Murnau-Filmtheater im Deutschen Filmhaus Wiesbaden: 4
Café Wagner Jena (35-Millimeter-Projektion): 2
CineStar Leipzig: 2
Haus auf der Mauer Jena (8-Millimeter-Projektion): 2
Passage-Kino Leipzig: 2
Cinemagnum 3D-Kino Weimar: 1
Congress Centrum Neue Weimarhalle (35-Millimeter-Projektion): 1
Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar (Stummfilm-Aufführung mit Orchester): 1
Stadtkino Wien: 1
Weimarhallenpark (Open Air-Kino): 1

Das perfekte Kino zu finden ist nahezu unmöglich.
Der prunkvolle Saal der Caligari FilmBühne in Wiesbaden hat eine Sitzbequemlichkeit und eine Beinfreiheit, die als fürstlich, nein geradezu als kaiserlich zu bezeichnen ist. Die Leiste zum Abstellen der Getränke („Caligaris Bierrampe“) ist eine tolle Idee. Und doch: die Leinwand ist gerade groß genug, wenn man ganz vorne sitzt, die Getränkepreise sind völlig horrend und zu den Toiletten muss man gefühlte 100 Treppenstufen steigen. Trotzdem ist die Caligari FilmBühne das wohl beeindruckendste Kino, das ich 2012 kennen gelernt habe. Zumal der allererste hier jemals gezeigte Film... Murnaus FAUST war!
Ein großer Favorit ist und bleibt das Lichthaus, mit seiner kleinen Lounge, seinem heruntergekommenen Charme, seinen immer wieder wechselnden und gut bezahlbaren Angeboten an „exotischen“ Bieren, seinem exklusiven Stummfilm-Programm... Kern ist nach wie vor die Urigkeit von Saal 1 mit seinen Sofas und Sesseln, die wie vom Sperrmüll aufgelesen aussehen (weil sie es wahrscheinlich sind): individueller Sitzkomfort für jeden einzelnen Zuschauer! Aus dreier solcher Reihen (die klassischen Kino-Sitzreihen dahinter beachte ich nicht) wurden kürzlich zwei gemacht, und damit die Beinfreiheit in der zweiten und von mir bevorzugten Reihe erhöht. Das liegt hoffentlich nicht an Einbussen – zum Beispiel MOONRISE KINGDOM war gerade hier ein fulminanter und im wörtlichen Sinne heißer Hit –, sondern am Anbau eines zusätzlichen Kinosaals: Saal 3, den ich zum leicht enttäuschenden WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in seiner provisorischen Form und Lage kennen gelernt habe. Ein kleiner Minuspunkt ist jedoch die weiterhin eklatante Unterrepräsentation von OV-Aufführungen, die nur selten durchbrochen wird... Cine-Wüste Thüringen halt.
Cinematographische Primzahl
Für Stummfilme ist der Saal 1 jedoch unschlagbar – 2012 sah ich hier acht Stück: METROPOLIS (zwei Mal), DER LETZTE MANN, VARIETÉ, FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, FRAU IM MOND, GEFAHREN DER BRAUTZEIT, GENERAL‘NAJA LINIJA und SPIONE. Dabei ist es bezeichnend für mich, dass ich in diesem Jahr drei 3D-Filme gesehen habe (THE DARKEST HOUR, HUGO, THE PIRATES), jedoch insgesamt 51 Stummfilme (knapp ein Achtel aller Sichtungen) .

Dass ich als Mensch gelegentlich zu Einzelgängertum neige, färbt sich auch auf meine Art des Kinobesuchs. Dieser war
alleine: 40 X
in Begleitung von
1 Person: 32 X
2 Personen: 11 X
3 Personen: 3 X
5 Personen: 1 X
6 Personen: 1 X
Bei zwei der von mir in Kino-Aufführung gesichteten Filme war ich hingegen Co-Organisator (und daher weder „alleine“ noch „begleitet“ im klassischen Sinne).

Kino alleine oder in Begleitung?
Beides hat Vorteile und Nachteile. Mit einer oder mehreren Personen, die man im Idealfall gut leiden kann, etwas zu unternehmen, ist an sich erfreulich. Zusätzlich kann man sich unterhalten, bevor der Film beginnt (ein Vorteil, wenn der Film zu spät startet). Oder man kann sich noch während der Vorstellung des Gefühls vergewissern, im falschen Film gelandet zu sein, oder bei Toilettengängen gegenseitig auf Jacken, Taschen und Getränke aufpassen oder Kekstüten, die für eine Person zu groß sind, gemeinschaftlich leer futtern. Man kann nach der Vorstellung in Gesellschaft essen, trinken und den Film diskutieren.
Jedoch neigt manch Kinobegleiter dazu, Geräusche zu machen: etwa mit geschmuggelten Chipstüten oder mit dem nervösen Tick, die Filmmusik mittels rhythmischen Klopfens auf einer Flasche zu unterstützen. Größere Gruppen haben auch ochlokratische Neigungen und setzen sich aller Vernunft zum Trotz viel zu weit hinten im Kinosaal.
Ebenso sei hier auf das Meditative, ja fast Kontemplative, aber auch sehr Intime der Filmrezeption verwiesen...
Vielleicht sollte man folgende Regel aufstellen: je „anspruchsvoller“ der Film ist, desto alleiner sollte man ihn schauen. Doch was bedeutet schon „anspruchsvoll“? Tarr Belás A TORINÓI LÓ alleine zu schauen und im Anschluss etwas verwirrt, verstört und in persönlichen Gedanken versunken durch Weimar zu spazieren war genau so richtig, wie THE EXPENDABLES 2 in Begleitung von fünf Kollegen zu sehen: im Anschluss wurde bei einem Bier in aller Ausführlichkeit das bestmögliche Casting für THE EXPENDABLES 3 besprochen. Eine der Erkenntnisse: Michael Dudikoff und Lorenzo Lamas dürfen nicht fehlen!

Bleiben immer noch die restlichen Dreiviertel der Filme, die ich in folgenden Formaten gesehen habe:
DVD: 240 (≈ 60 %)
gWdsgI: 54 (≈ 14 %)
TV-Ausstrahlung: 15 (≈ 4 %)

Scribo ergo sum oder: Cinephilie funktioniert wie Heroinsucht!
Das einzige Mittel gegen das Virus des Films ist: mehr Film. Die Vorteile liegen auf der Hand: auf die Dauer ist Cinephilie weniger teuer als Toxikomanie, sie ist sozial etwas verträglicher, und eine Überdosis führt nicht zum Tod, sondern höchstens zu Müdigkeit, Sekundenschlaf-Attacken und Schlaf.
Seit April 2012 fungiert luzifus als mein größter DVD-Dealer, der mich regelmäßig versorgt: sowohl die Qualität der Filme selbst als auch die Präsentationsform sind großen Schwankungen unterworfen. Vom Meisterwerk bis zur fast körperlich schmerzhaften Gurke, von wundervollen, üppigen DVD-Boxen bis zum miserablen Screener in schlechter Qualität und mit bildfüllenden Wasserzeichen war alles dabei. Meine Gegenleistung: zu jedem Film eine Besprechung schreiben, die je nach Rubrik zwischen 1.500 und 7.000 Zeichen schwankt und irgendwann bei multimania. Das Magazin für zeitgenössische multimediale Kultur veröffentlicht wird (oder auch nicht).
Insgesamt habe ich 2012 147 Filme gesehen (global also etwa 37 %), die ich im weitesten Sinne besprochen habe – vom häufigsten Format der 1.500-Zeichen-Kurzrezension bis hin zur ausführlichen 25.000-Zeichen-Besprechung, von einer konzentrierten Abhandlung bis zu einem peripherem Kommentar in einem Sammeltext.

Zur Herkunft, nach Häufigkeit geordnet
211: USA
28: Frankreich
26: Deutschland (ausgehendes Kaiserreich und Weimarer Republik)
18: Deutschland (alte und neue Bundesrepublik)
17: UK
12: Italien, UdSSR
7: Polen
6: Hongkong, Kanada, Russland
4: SFR Jugoslawien
3: ČSSR, Japan, Korea (Süd), Neuseeland, Spanien, Ungarn
2: Belgien, Dänemark, Serbien
1: Argentinien, Australien, Brasilien, Bulgarien, China, Deutschland (DDR), Finnland, Griechenland, Kazachstan, Kosovo, Kuba, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Philippinen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Uzbekistan


Ein Amerikaner namens David
Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass US-amerikanische Werke die Mehrheit der Filme bildet, die ich gesehen habe. In der Tat gehen einige meiner größten Entdeckungen des Jahres auf die USA zurück. Darunter finden sich Werke von Regisseuren, die mir bis dahin entweder unbekannt oder sehr wenig vertraut gewesen sind: Gregg Araki, Budd Boetticher, Charles Chaplin, Roger Corman, Samuel Fuller, Elia Kazan, Fritz Lang, Joseph Lewis, Anthony Mann, Otto Preminger, Nicholas Ray, Robert Siodmak, Jacques Tourneur, Orson Welles.
Meine relative Vernachlässigung des ostasiatischen Raums ist im Gegenzug nach wie vor sträflich und wird mir immer wieder – dankenswerterweise! – durch Manfred Polak in Erinnerung gerufen, wenn er eine Besprechung zu einem japanischen Film veröffentlicht. Noch viel sträflicher ist die völlige Abwesenheit des afrikanischen Kinos: widerspiegelt dies vielleicht die Veröffentlichungspolitik deutscher (westeuropäischer) Filmverleihe? Bin ich selbst gegenüber den spärlichen Angeboten blind? Ich hoffe, dass diese Kinoregion, die ich in den Jahren zuvor zumindest bruchstückhaft kennen gelernt habe, bei mir 2013 nicht leer ausgehen wird.
Besser vertreten ist hingegen das osteuropäische Kino, dessen Qualitäten ich immer wieder verteidigen werde! Dies hat mir mein erstmaliger (und hoffentlich nicht letzter) Besuch beim go East Festival Wiesbaden vollends bestätigt.
Lateinamerika und Skandinavien sind wiederum selten in meinen diesjährigen Sichtungen vertreten. Zumindest aber ersteres taucht ein Mal (im weitesten Sinne sogar zwei Mal) in meiner aktuellen Top-10-Liste auf.

Zum Erscheinungsjahr, nach Häufigkeit geordnet und in Jahrzehnten gruppiert
77 2010er Jahre
62 1950er Jahre
54 2000er Jahre
48 1940er Jahre
41 1920er Jahre
31 1990er Jahre
27 1960er Jahre
19 1970er Jahre
19 1980er Jahre
11 1930er Jahre
8 1910er Jahre
2 1900er Jahre

Die starke bis sehr starke Überrepräsentation von Filmen der 1920er, 1940er und 1950er Jahre ist teilweise (aber keineswegs absolut) eine Erklärung dafür, dass knapp 41 % aller 2012 gesehenen Filme schwarz-weiß waren, nämlich 163 Stück!

Du sitzt also den ganzen Tag im Kino und schaust einen Film nach dem anderen? ...
... fragte mich etwas ungläubig die Mitbewohnerin meines Gastgebers bei der Viennale. Manche Menschen denken, dass es eine Verschwendung sei, seine Zeit mit Filmen zu verbringen. Mir fallen hingegen Hunderte Dinge ein, mit denen man seine Zeit noch sinnloser vergeuden kann (z. B. Joggen, eine Dorfdisco besuchen, Fußball gucken, Gesichts-Buchen und vieles mehr).
Zur Ehrung dieser netten jungen Dame, die mir trotz großer Zweifel an meiner geistigen Gesundheit liebenswürdigerweise einen Pausen-Apfel mitgab...

Der filmreichste Tag des Jahres: Samstag, 21. April, oder: ein typischer Filmfestival-Tag
An diesem Tag habe ich beim go East Festival zehn Filme in sechs Filmblöcken geschaut. Auch qualitativ erwies sich der Tag als außergewöhnlich.
1. Filmblock – DEDUNA, russ.: SVETLJAČKI (Dato Janelidze, UdSSR 1987): Vom Alltag eines kleinen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Filmpoesie in Reinform.
2. Filmblock – GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK / ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU / O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM / NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Karpo Godina, Jugoslawien 1970-1972): Vier formal strenge, aber wundersame Experimental-Kurzfilme aus dem Lande Titos.
3. Filmblock – GOMARËT E KUFIRIT (Jeton Ahmetaj, Kosovo 2010): Der erste von und in der unabhängigen Republik Kosovo produzierte Film handelt von absurd-komischen jugoslawisch-albanischen Grenzstreitigkeiten, in denen unter anderem ein der Spionage verdächtiger Esel (der titelgebende „Grenzesel“) eine Rolle spielt.
4. Filmblock – FABRIKA / BLOKADA (Sergej Loznica, Russland 2004-05): Zwei sehr unterschiedliche Experimentaldokus – ein faszinierender, meditativer Blick in eine russische Metall-Fabrik und eine grundlegend misslungene Soundcollage zu historischen Bildern der Leningrader Blockade.
5. Filmblock – GAAMER (Oleg Sencov, Ukraine 2011): Wenig beeindruckende psychologische Studie eines jugendlichen Spielsüchtigen.
6. Filmblock – PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011): Wunderbare romantische Komödie der etwas anderen Art, die nicht umsonst drei Mal frenetischen Applaus vom Publikum erhielt.


Robert, Roman, Buster & Charlie
Manch ein Regisseur ist mir 2012 genug oft begegnet, um die Sichtungen im Rückblick zu fragmentarischen Werk-Retrospektiven erklären zu können – inklusive persönlicher Rangliste mit Wertungen.

Robert Siodmak
Den gebürtigen Dresdener lernte ich mit THE KILLERS im Rahmen meiner film noir-Retrospektive kennen, die unser aller liebster deutsch-französischer Sender im Januar ausgelöst hatte. Möglicherweise war es vollkommen beknackte Synchro, die sich wie ein hässlicher kakophonischer Schleier über den ganzen Film legte, die meine Begeisterungsstürme in Grenzen hielt. Doch Siodmak drehte vier Jahre später fast genau den selben Film (Überfall-Story mit femme fatale und Burt Lancaster) noch einmal, mit meiner Meinung nach erheblich größerem Erfolg. Dass er nicht nur noirs und freudianische Schocker drehen konnte, bewies er auch in einem „trivialen“, aber soliden Piraten-Abenteuer und in einem frühen Proto-Neorealismus/Proto-Nouvelle-Vague-Film.

1 CRISS CROSS, USA 1949, 5/5
2 THE SPIRAL STAIRCASE, USA 1946, 4,5/5
3 THE DARK MIRROR, USA 1946,4,5/5
4 MENSCHEN AM SONNTAG (Co-Regie mit Edgar G. Ulmer), Deutschland 1930, 4/5
5 THE FILE ON THELMA JORDON, USA 1950, 3,5/5
6 THE CRIMSON PIRATE, USA 1952, 3,5/5
7 THE KILLERS, USA 1946, 3/5

Roman Polański
Drei zu besprechende Rezensions-Exemplare (die polnische, die britische und die aktuellste Produktion) führten zu einer Ausleihe aus der Stadtbücherei (dem Shakespeare-Stoff) und zu einer im Vergleich zur Erstsichtung überaus erfreulichen Neuentdeckung des Neo-Noirs. Den Satanisten-Film gab es etwas früher unabhängig von den anderen. Fazit: „Polańskis Horrorfilm“ wird für mich von nun an immer REPULSION sein und der gute Mann sollte nie wieder Hörbuch-Adaptionen von Theaterstücken verfilmen.

1 NÓŻ W WODZIE, Polen 1962, 5/5
2 REPULSION, UK 1965, 5/5
3 CHINATOWN, USA 1974, 4,5/5
4 MACBETH, UK/USA 1971, 4/5
5 ROSEMARY‘S BABY, USA 1968, 3/5
6 CARNAGE, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien, 0/5

Buster Keaton
THE GENERAL blieb auch bei der zweiten Sichtung auf großer Leinwand und der vielleicht fünften oder sechsten insgesamt ein unschlagbares Filmerlebnis. Er zeugt vom visuellen Genie eines Mannes, dessen zeitgenössische Erfolglosigkeit vielleicht am ehesten durch seinen „trockenen“ und sogar „zynischen“ Humor erklärbar ist. Mit der Verschmelzung von Kino-Realität, Kino-Projektion und Traum in SHERLOCK JR. schuf er im wörtlichen Sinne todesmutig etwas, was man heute wohl als postmoderne Reflexion über das Medium Film bezeichnen würde. Selbst seine Filme, die an laschen Drehbüchern leiden, weisen eine visuelle Phantasie auf, die mir persönlich bei einem gewissen schnurrbärtigen Zeitgenossen etwas fehlt: genannt sei eine Point-Of-View-Kamerafahrt aus der Perspektive eines wütenden Bullen (in GO WEST wohlgemerkt, nicht in COPS), die möglicherweise Eisenstein zu einer Sex-Szene in GENERAL‘NAJA LINIJA inspirierte.

1 THE GENERAL, USA 1926, 5/5
2 SHERLOCK JR., USA 1924, 5/5
3 STEAMBOAT BILL JR., USA 1928, 4,5/5
4 COPS, USA 1922, 4,5/5
5 OUR HOSPITALITY, USA 1923, 4/5
6 THREE AGES, USA 1923, 3,5/5
7 THE NAVIGATOR, USA 1924, 3,5/5
8 GO WEST, USA 1925, 3,5/5
9 COLLEGE, USA 1927, 3/5

Charles Chaplin
Wenn wir den Keaton-Chaplin-Dualismus als existierend anerkennen mögen, dann bin ich definitiv ein Keaton-ist! Dafür gibt es mehrere Gründe. Chaplin filmt keine Drehbücher, sondern reiht oft nur Gags und Kurz-Sequenzen aneinander, die für sich genommen manchmal ganz nett sind (und manchmal eben nicht), zur Summe addiert jedoch kein sinnvolles Ganzes ergeben: als hätte er beliebige Szenen beliebig und vor allem ohne dramaturgischen Rhythmus montiert. Gerade bei MODERN TIMES, CITY LIGHTS und THE GOLD RUSH wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Filme ebenso gut vierzig Minuten länger hätten sein können... oder eben vierzig Minuten kürzer: was freilich nichts an der großartigen Schönheit (die Einführung des Blumenmädchens in CITY LIGHTS) oder überaus erquicklichen Komik einzelner Sequenzen (der Tramp experimentiert mit Kokain in MODERN TIMES) ändert. Doch selbst der Kurzfilm THE IMMIGRANT fühlt sich wie zwei willkürlich aneinander geklatschte Episoden an (was er tatsächlich auch war!). THE CIRCUS scheint mir eine Ausnahme zu sein: ein starkes und stringentes Drehbuch, das nicht in lose Einzelteilchen zerfällt, wird verknüpft mit einer visuell ausdrucksstarken Bildgestaltung, die so konsistent ist wie in keinem anderen Werk Chaplins. Ironischerweise fühlte sich THE CIRCUS ein bisschen wie ein Film von Buster Keaton an... und teilt sich nun mit THE GREAT DICTATOR, dem einzigen Chaplin-Film, den ich vor 2012 kannte, das erste Treppchen auf meinem Chaplin-Podest.

1 THE CIRCUS, USA 1928, 5/5
2 THE IMMIGRANT, USA 1917, 4/5
3 EASY STREET, USA 1917, 3,5/5
4 MODERN TIMES, USA 1936, 3/5
5 CITY LIGHTS, USA 1931, 3/5
6 THE GOLD RUSH, USA 1925, 2,5/5


Die Top-10-Liste der aktuellen Kino-Filme 2012
Das Kerngeschäft bei „Whoknows Presents“ liegt seit jeher nicht bei aktuellen Kinoproduktionen. Trotzdem folgt hier, zwecks Vollständigkeit, meine persönliche Top-Ten der aktuellen Filme (deutscher Kinostart bzw. Kino-Uraufführung bzw. Direct-to-Video-Auswertung im Jahre 2012).

001
PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen), Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011
Vier Paare mit jeweils einem Belgrader und einem nicht-serbischen Partner erleben die Freuden und Mühen der Liebe mit Alkohol, Autoverfolgungsjagden und S&M-Spielchen.
Bojan Vuletićs Debütfilm ist eine herrliche Dekonstruktion der Rom-Com als verspielte Experimental-Agitprop für den Beitritt Serbiens zur EU. Wunderbar vergnüglich und vergnüglich wunderbar entfaltet sich ein Werk von einer unbändigen Energie, das Genre-Unterhaltung und hoher cinematographischer Anspruch verknüpft. Wir dürfen alle hoffen, dass in der westeuropäischen und angelsächsichen Hemisphäre sich irgendein Filmverleih findet, das bereit ist, diese Perle von einem Film unter mehr Leute zu bringen!

002
SKYFALL, Sam Mendes, UK/USA 2012
Ein britischer Geheimagent wird wieder mal auf die Welt losgelassen und erlebt Abenteuer, die ihn in den (provisorischen) Tod, in die Vergangenheit und in ödipale Neurosen führen.
Ein Mann wird von einer Menge dazu angefeuert, ein Glas Whiskey zu trinken. Auf der Hand, die das Getränk hält, krabbelt ein sichtlich gereizter Skorpion. Unser Held zögert kurz, trinkt auf ex und stellt Gefäß und Arachnidum wieder ab. Dies, aber auch die restlichen 142 Minuten des Films erlauben diesem, neben THE SPY WHO LOVED ME und YOU ONLY LIVE TWICE, sowohl auf dem Podest meiner Lieblings-Bond-Filme aller Zeiten wie auch auf diesem Jahres-Podest zu kuscheln.

003
KILLER JOE, William Friedkin, USA 2011
Der Mordkomplott einer Trailer-Trash-Familie läuft außer Kontrolle, als der beauftragte Profikiller mit der Tochter anfängt anzubandeln.
In Wien verpasst, bei der Direct-to-DVD-Auswertung in Deutschland nachgeholt... Das Versprechen des deutschen Covers (Action-Thriller) führt noch mehr in die Irre als die Tag-Line des Original-Plakats: „A totally twisted deep-fried Texas redneck trailer park murder story“. Vielmehr ist KILLER JOE eine völlig irrsinnige Groteske, ein schockierendes Prinzessinnen-Märchen, das sich offen und hemmungslos in seinem abstoßenden Sadismus und seiner abartigen Lüsternheit suhlt und zugleich ein hysterisch-komischer Abgesang auf den Amerikanischen Traum, dessen heftige Lacher einem manchmal (ja: wie ein Hähnchen-Schenkel) im Hals stecken bleibt... Und ein großartiges Ensemble-Stück, aus dem freilich Matthew McConaughey mit seiner vollkommen wahnsinnigen und Oscar-reifen Darstellung am überraschendsten hervorsticht!

004
A TORINÓI LÓ (Das Turiner Pferd), Tarr Belá/Hranitzky Ágnes, Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz/USA 2011
Ein Kutscher, seine Tochter und ihr Pferd erleben die letzten Tage vor dem windig angekündigten Weltuntergang.
Eine Abfolge von hypnotischen, minutenlangen und präzise choreographierten Plansequenzen baut mit Víg Mihálys Cello-Musik eine unheimliche Bedrohungskulisse auf, die für über zwei Stunden aufrechterhalten wird. Tarrs letzter Film (so angekündigt) ist ein herausforderndes, sehr extremes, aber letztlich auch sehr lohnendes Kino-Erlebnis.

005
COSMOPOLIS, David Cronenberg, Kanada/Frankreich/Portugal/Italien 2012
Ein Börsenmakler-Yuppie lässt sich mit seiner Limousine zu seinem Friseur chauffieren. Dabei läuft einiges schief.
Nach drei konsternierend schlechten Filmen (der „Viggo-Mortensen-Trilogie des Grauens“), kehrt David Cronenberg wieder zu ganz großer Form zurück. Aspekte des im vorangehenden Mainstream-und-Ödnis-Gesuhle verloren geglaubten „Body Horrors“ kehren leicht verzerrt zurück, verknüpft mit einer Hauptfigur, die in ihrer absurden Odyssee etwas an Pavel Čičikov erinnert: kryptische Dialoge reihen sich aneinander, gerahmt von kryptischen Handlungen. Diese sollte man vielleicht trotz vieler sozialer Implikationen am besten jenseits gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rezipieren, als reines „l‘art pour l‘art“ – wie die Prosa des Nikolaj Gogol‘.

006
MONEYBALL (Die Kunst zu gewinnen – Moneyball), Bennett Miller, USA 2011
Ein frustrierter Trainer und ein Wirtschafts-Mathe-Nerd stellen mit Hilfe von Statistiken die beste Baseball-Mannschaft des Jahres zusammen.
Bennett Millers drittes Werk ist der ultimative Film für intellektuelle Sportmuffel, da es sich nicht um einen richtigen Sport- oder Baseball-Film handelt: Weg mit Sportler-Kitsch, Champion-Märchen, und epischen Endspielen, her mit Mathematiker-Nüchternheit, Wirtschafts-Nerd-Berechnungen und Stochastik-basierten Kulissen-Gesprächen! Der Höhepunkt des Films ist daher kein Baseball-Spiel (von denen sieht man sowieso kaum etwas), sondern ein telefonisches Konferenz-Gespräch, bei dem ein desillusionierter Trainer und ein Yale-Absolvent über Sieg und Niederlage entscheiden.

007
MEDIANERAS, Gustavo Taretto, Argentinien/Spanien/Deutschland 2011
Ein junger Mann und eine junge Frau suchen in Buenos Aires die große Liebe und merken dabei gar nicht, dass sie nebeneinander aneinander vorbei leben.
Eine romantische Komödie zeigt normalerweise, wie sich ein Paar kennenlernt, zunächst nicht versteht, dann zusammenkommt, dann Konflikte meistern muss und schließlich doch „happy ever after“ lebt. In seinem ersten abendfüllenden Film zeigt Gustavo Taretto hingegen den Prolog dazu: den parallel verlaufenden Lebensalltag zweier Personen, die sich erst ganz am Schluss überhaupt begegnen. Eine äußerst fruchtbare Idee, die zwischen leichter Komödie und sowjetisch anmutenden Montage-Sequenzen nebenbei auch die Stadt Buenos Aires portraitiert. Als experimentelle Rom-Com die perfekte Ergänzung zur Nummer eins der Liste.

008
CHICO & RITA, Tono Errando/Javier Mariscal/Fernando Trueba, Spanien/UK 2010
Ein kubanischer Pianist teilt eine Nacht und einen Musikhit mit einer Sängerin, die daraufhin sehr viel erfolgreicher als er Karriere in den USA macht.
Ein Animationsfilm, der Jazz-, Latin-Music-, Musical-, Melodrama- und Kuba-Liebhaber gleichermaßen erfreuen dürfte: seelische Konflikte, Abwägungen zwischen Kunst und Kommerz, Milieu-Studien, Liebesgeschichten und Musik bringen die warmen gezeichneten Bilder auf wunderbare Weise nahe. CHICO & RITA ist wahrscheinlich der schönste „kleine“ Film, der (erst) 2012 in Deutschland zu sehen war.

009
THE EXPENDABLES 2, Simon West, USA 2012
Einige alte Männer brechen auf, um einige Bösewichter wegzurotzen.
In einem bestimmten Moment gegen Ende des Films wird eine Milchglasscheibe zerschossen. Sie bricht zusammen und offenbart 188 Jahre geballter Actionkraft: Sly, Arnie und Bruce ballern sich, nebeneinander stehend, ihren Weg frei! Natürlich hat man auf diesen Moment die ganze Zeit gewartet. Aber auch bis dahin bekam man eine blutig-schmackhafte Schlachtplatte mit einer Portion Ironie, einem Klecks Selbstreferentialität und einer vollhumorigen Sättigungsbeilage serviert, die besser mundete als der erste Menü-Teil. Was nicht so glücklich verlief: eine Kobra biss Chuck Norris, und nach fünf Tagen voller Schmerzen und Agonie... starb die Kobra.

010
THE DARKEST HOUR, Chris Gorak, USA 2011
Zwei verblödete Yuppies und einige extrem dämliche Party-Touristinnen wehren in Moskau eine Invasion elektromagnetischer Aliens ab.
Dieser wackere Bewerber um einen Platz in der Flop-Liste scheiterte letztlich in diesem Bestreben, weil er sich als herrliches SciFi-Trash-Vehikel entpuppt hat. Kein Wunder, dass der 3D-Blödsinn in dem Moment weitestgehend weggelassen wird, als es mit dem Tohuwabohu richtig losgeht. Und wenn gerade keine nonchalant spannende und effizient inszenierte Action-Sequenz läuft, kann man sich über die irrsinnigen Filmfehler (Faradayischer Käfig für Dummies) und sonstige Dämlichkeiten köstlich amüsieren – zwar unfreiwillig, aber köstliches Amüsement bleibt köstliches Amüsement! Und von der gekonnten Inszenierung des Raumes (ein komplett menschenleeres Moskau) durch Chris Gorak hätte Fledermaus-Chris was lernen können.

À propos Fledermäuse...
Wer Top sagt, muss auch Flop sagen können:

1 zerschnittene Gurke
THE DARK KNIGHT RISES, Christopher Nolan, USA/UK 2012
Ein Ex-Vigilant mit Hinkebein holt sein Fledermaus-Gummikostüm aus der Mottenkiste und macht sich daran, einen bösen Bodybuilder mit komischer Maske und einer Kehlkopf-Krankheit zu schnappen.
Ein einstündiger Film mit einem unnötigen und dämlichen 90-Minuten-Prolog, der dem Zuschauer fünf Mal das bisher Geschehene wiederkäut und in den Rachen stopft... mit unfassbar dilettantisch gefilmten Action-Szenen... mit unzähligen unnötigen Figuren (unter anderem eine Frau mit einem Katzen-S&M-Fetisch)... mit einem so unsubtilen wie unentschlossenen Subtext... gefilmt von einem Regisseur, der trotz enormer Budget-Ausgaben für das Setdesign scheinbar noch nie in seinem Leben etwas von „deep focus photography“ gehört hat – soll das Blockbuster-Kinoereignis des Sommers gewesen sein?

2 Joghurt
TOTAL RECALL, Len Wiseman, USA/Kanada 2012
Ein langweiliger Hänfling mit zu wenig Phantasie will sich Urlaubersatz-Erinnerungen ins Gehirn implantieren lassen. Plötzlich verfolgen ihn seine Frau und andere unangenehme Erscheinungen und wollen ihn töten.
Ein typischer „Der-alte-Film-bringts-nicht-mehr-aber-wir-sind-so-geil-und-machen-‘n-neueren-und-besseren-Film-und-sahnen-nebenbei-schön-ab“-Remake: die sind meistens fürchterlich. Da freut es einen riesig, wenn das mit dem Absahnen nicht geklappt hat. Das lag hoffentlich auch am mangelnden Talent von so ziemlich allen Beteiligten: Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Cutter, Darsteller... Ob der Setdesigner talentiert ist, kann man nur schwer sagen, denn „deep focus photography“ und „establishing shots“ sind hier Fremdwörter. Ob die Action-Sequenzen gut sind, ist ebenso schwierig zu sagen: dazu wackelt die Kamera zu stark und offenbar wurde der ohnehin unfähige Cutter nicht stundenweise, sondern im Akkord bezahlt.

3 Salz & Pfeffer
WILLIAM BURROUGHS: A MAN WITHIN, Yoni Leyser, USA 2010
Ein junger Dokumentarfilm-Regisseur, der sich für unglaublich hip hält, interviewt ein paar aufmerksamkeitsbedürftige Promis und montiert dieses Material mit Stopmotion-Arbeiten aus dem Kinderg... ersten Semester und Wochenschau-Clips aus Yout... Filmarchiven.
Falls sich jemand ob der Synopsis im Kontrast zum Titel wundert: ja, es soll im Film eigentlich um den Beat-Poeten und Kult-Schriftsteller William Burroughs gehen! Stattdessen gibt es eine der unzähligen Dokus, die mangelnde Recherche über und fehlendes Verständnis für das Subjekt mit einem Schnittgewitter aus Promi-Interviews („ja, also damals bla-bla-blub-blub...“), Zeitkolorit-Clips („60er Jahre, ich sage jetzt einfach mal ‚Kubakrise‘ und fühl mich dabei klug“) und „impressionistischen“ Bildern („Bin ich ein geiler Künstler oder bin ich ein geiler Künstler?“) zu übertünchen versucht. Material und Informationen über das eigentliche Thema können bei dieser masturbatorischen Selbstdarstellung eigentlich nur stören.

4 Essig & Öl
BLACK GOLD, Jean-Jacques Annaud, Frankreich/Italien/Katar/Tunesien 2011
Ein arabischer Fürst übergibt seinen Sohn einem rivalisierenden Fürsten zur Erziehung. Wegen des Öls, der im Niemandsland zwischen ihren Territorien gefunden wird, gibt‘s später Zoff und der Milchbubi, der mittlerweile einen netten kleinen Milchbubi-Bart hat, mischt auch ein bisschen mit.
Kaum zu glauben, aber wahr: einer der interessantesten europäischen Regisseure der 1980er Jahre hat einen dämlichen Lawrence von Arabien-Verschnitt mit billigem CGI, lausigen Darstellern, einer „hippen“ Wackel-„Ästhetik“, lächerlicher Ethno-Musik mit gelegentlichen Maurice Jarre-Versätzen und Dialogen jenseits von Gut und Böse gedreht. Über 130 Minuten lang balancierte der Film zwischen unfreiwilliger, schreiender Komik und fast körperlich fühlbaren Schmerzen ob des unfassbaren Blödsinns.

...und fertig ist der Gurken-Salat!

Ein süßer Nachtisch gefällig?
JACK & JILL, Dennis Dugan, USA 2011
Adam Sandler (gespielt von Adam Sandler in einem Adam-Sandler-Kostüm) bekommt Besuch von seiner nervigen Zwillingsschwester (gespielt von Adam Sandler in Frauenkleidern) und ein Al Pacino am Rande des Nervenzusammenbruchs (gespielt von Al Pacino in verschiedenen Theater- und Alltagskostümen) verliebt sich in Adam Sandler (also in jene Fassung mit Frauenkleidern)...
Die große Befriedigung, die ich beim hemmungslosen redaktionellen Zerreissen dieses erbärmlichen Dings verspürte, war geradezu orgiastisch... und rechtfertigt eine privilegierte Sonderkategorie. Das Resultat: wahrscheinlich der beste Text, den ich 2012 geschrieben habe.


Die große und tolle und wunderbare Top-52-Liste
Nun folgt das emotionale Zentrum, der Kern dieses manisch-epischen Reiseführers: meine persönliche Bestenliste nicht-aktueller Filme, nach Präferenz geordnet. Die Regeln: es handelt sich ausschließlich um Neusichtungen (ich habe also keinen der gelisteten Filme vor dem Jahr 2012 je gesehen) und um Produktionen von vor 2011. Die Zahl 52 bietet sich als banale Zahl ohne besondere Eigenschaften an und steht am ehesten für die Anzahl der Wochen im Jahr...

1 THE AMAZING MR. X aka THE SPIRITUALIST, Bernard Vorhaus, USA 1948
2 DEDUNA [russ.: SVETLJAČKI], Dato Janelidze, UdSSR 1987
3 THE BIG COMBO, Joseph H. Lewis, USA 1955
4 JOHNNY GUITAR, Nicholas Ray, USA 1954
5 HANGOVER SQUARE, John Brahm, USA 1945
6 SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS, Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1927
7 FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, Friedrich Wilhelm Murnau, Deutschland 1926 
8 DETOUR, Edgar G. Ulmer, USA 1945
9 GENERAL‘NAJA LINIJA aka STAROE I NOVOE, Sergej Ėjzenštejn/Grigorij Aleksandrov, UdSSR 1929
10 DIE NIBELUNGEN, Fritz Lang, Deutschland 1924
11 THE LIVING END, Gregg Araki, USA 1992
12 THE INTRUDER aka SHAME aka I HATE YOUR GUTS!, Roger Corman, USA 1962
13 THE LADY FROM SHANGHAI, Orson Welles, USA 1947
14 VARIETÉ, Ewald André Dupont, Deutschland 1925
15 LE PLAISIR, Max Ophüls, Frankreich 1952
16 THE RED SHOES, Michael Powell/Emeric Pressburger, UK 1948
17 IMITATION OF LIFE, Douglas Sirk, USA 1959
18 YOU ONLY LIVE ONCE, Fritz Lang, USA 1937
19 FORTY GUNS, Samuel Fuller, USA 1957
20 ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, Karpo Godina, Jugoslawien 1971
21 RIDE LONESOME, Budd Boetticher, USA 1959
22 THE LONG, HOT SUMMER, Martin Ritt, USA 1958
23 CHEMI BEBIA [russ.: MOJA BABUŠKA], Kote Mikaberidze, UdSSR 1929
24 SHERLOCK JR., Buster Keaton, USA 1924
25 POINT BLANK, John Boorman, USA 1967
26 SUSPIRIA, Dario Argento, Italien 1977
27 PSYCHO 2, Richard Franklin, USA 1983
28 FERRIS BUELLER‘S DAY OFF, John Hughes, USA 1986
29 KISS ME DEADLY, Robert Aldrich, USA 1955
30 SZEGÉNYLEGÉNYEK, Jancsó Miklós, Ungarn 1966
31 OBLOMOK IMPERII, Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929
32 OUT OF THE PAST, Jacques Tourneur, USA 1947
33 CRISS CROSS, Robert Siodmak, USA 1949
34 AKAI TENSHI, Masumura Yasuzō, Japan 1966
35 ADVISE & CONSENT, Otto Preminger, USA 1962
36 KLADIVO NA CARODEJNICE, Otakar Vávra, ČSSR 1970
37 THE THIN RED LINE, Andrew Marton, USA 1964
38 IN A LONELY PLACE, Nicholas Ray, USA 1950
39 THE LONG GOODBYE, Robert Altman, USA 1973
40 DOUBLE INDEMNITY, Billy Wilder, USA 1944
41 BODY HEAT, Lawrence Kasdan, USA 1981
42 THE IRON HORSE, John Ford, USA 1924
43 BLOOD BEACH, Jeffrey Bloom, USA 1980
44 HEAVENLY CREATURES, Peter Jackson, Neuseeland/Deutschland 1994
45 LAWRENCE OF ARABIA, David Lean, UK/USA 1962
46 KONTO AUSGEGLICHEN, Franz Peter Wirth, BRD 1959
47 BOUDU SAUVÉ DES EAUX, Jean Renoir, Frankreich 1932
48 CAT PEOPLE, Jacques Tourneur, USA 1942
49 IM SCHATTEN DER MADE, John Bock, Deutschland 2010
50 MYSTERIOUS SKIN, Gregg Araki, USA/Niederlande 2004
51 THE BIG RED ONE, Samuel Fuller, USA 1980
52 THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS, Lewis Milestone, USA 1946

Auch hier gilt: wer topt, muss auch floppen können.

Flop-Seven der nicht mehr ganz frischen Filme (chronologisch geordnet)
Knapp die Hälfte der Liste bilden Filme, die ich 2011 nicht gesehen und nun 2012 nachgeholt habe; könnte also einiges dafür sprechen, dass 2011 das schlechtere Kinojahr war...

1 DER GEISTERZUG, Rainer Wolffhardt, BRD 1957
2 LA COLLECTIONNEUSE, Eric Rohmer, Frankreich 1967
3 THE THIN RED LINE, Terrence Malick, USA 1998
4 BLACK SWAN, Darren Aronofsky, USA 2010
5 HOTEL LUX, Leander Haußmann, Deutschland 2011
6 CARNAGE, Roman Polański, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien 2011
7 THE IDES OF MARCH, George Clooney, USA 2011

Aber das traumatischste Filmerlebnis des Jahres war mit großer Wahrscheinlichkeit...
SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS: Eine „besondere“ Projektion mit einer „ganz“ „besonderen“ Live-„Musik“-„Begleitung“... oder wie ich lieber sage: SONNENUNTERGANG – EIN LIED VON ZWEI TÖLPELN
7. August, Tatort Kulturarena Jena: eine Projektion von Murnaus Meisterwerk wird von einem Schlagzeuger und einem DJ-Elektronik-Sampling-Typen „begleitet“, oder besser gesagt in elektroakustischem Müll mit brutalster Gewalt erstickt...
Wenn ich nach Metaphern suchen müsste, würde ich wohl irgendetwas von Folter-Session mit Schlagbohrer und Fleischerhaken oder lebendiger Vivisektion mit einem rostigen Suppenlöffel erzählen. Am unerträglichsten war diese nonchalante „Wir-peppen-den-ollen-Film-mal-n‘-bissel-auf“-Attitüde, die den (Un-)Geist solcher Veranstaltungen ausmachen: Konzerte, bei denen sich die Musiker selbst in den Mittelpunkt stellen und die Filmprojektion lediglich als Schmuckwerk dient. Eine ungeheure und argumentations-arme Respektlosigkeit gegenüber Filmkunst. Schockierend, grenzenlos empörend und traumatisierend bis heute.


Die Reihen und Entdeckungen des Jahres


Die düstere Seite Hollywoods
Der film noir oder der Anfang des modernen Kinos?
Auf die Frage, was eigentlich einen film noir ausmacht, kann es so viele Antworten geben wie... Zeichen in diesem Text. Ist es die barock-expressionistische Photographie? Dann müsste der visuell gemäßigt inszenierte THE BIG SLEEP wohl rausfallen. Ist es die verwirrte bis gar fast vollkommen unverständliche Geschichte? Der minimalistische DETOUR wäre dann wohl kein noir. Ist es die femme fatale? Dann zählt THE RECKLESS MOMENT mit seiner Hausfrau-Protagonistin wohl nicht dazu. Ist es die Darstellung einer Welt der Verzweiflung, des Misstrauens, der Paranoia, der triebhaften Begierde, der irrationalen Gewalt und der Todessehnsucht, in der es keine Zukunft, sondern nur eine unerträgliche Gegenwart und eine abscheuliche Vergangenheit gibt? Vielleicht. Ein Universum der existentiellen Angst, in der es keine Klarheiten, keine Sicherheiten, keine Antworten gibt. Möglich. Eine Umwelt, in der das unaufhaltsame Schicksal mahlt und aus guten Menschen Mörder macht. Auch... Die noirs sind jedenfalls Filme, in denen visueller Stil und ungewöhnliche Erwählweisen einer klassischen erzählerisch-dramaturgischen Kohärenz übergeordnet sind: das „wie“ siegt über das „was“.
Ein Double-Feature THE LADY FROM SHANGHAI/DOUBLE INDEMNITY am 16. Januar im Rahmen einer kurzweiligen noir-Reihe bei arte regte mich dazu an, in den nächsten Monaten möglichst viele Filme aus dieser spannenden Stilrichtung zu sehen. Darunter waren viele Meisterwerke, jedoch keine einzige Niete – höchstens mittelmäßig gute Filme. Am Schluss des Jahres zähle ich 43 klassische noirs, drei Proto-noirs und elf Neo-noirs. Eine Liste nach Präferenz soll hier dem Hinweis weichen, dass zwölf der ersten, zwei der zweiten und drei der dritten Kategorie in meiner Top-52-Liste zu finden sind.


Der geheimnisvolle Deutsche und der unbekannte Amerikaner
Fritz Lang jenseits von M und METROPOLIS

Es ist eine Schande, aber wahr: bis zu Beginn des Jahres 2012 hatte ich lediglich drei Filme Fritz Langs gesehen: M, METROPOLIS, und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Nun sind es 21 Stück, und statt einer Spanne von sechs Jahren seines Schaffens überblicke ich nun (zumindest fragmentarisch) 40 Jahre der umfangreichen Filmografie.
Mehrere Faktoren haben zu häufigen Begegnungen mit diesem österreichisch-deutsch-amerikanischen Ausnahmeregisseur geführt: meine persönliche film-noir-Schau, die Retrospektive bei der Viennale, eine über mehrere Wochen ausgedehnte Reihe beim dritten französischen Fernsehen FR3, mehrere Aufführungen in Weimarer und Jenaer Kinos, eine zu Rezensionszwecken zur Verfügung stehende DVD... alle haben dazu beigetragen, dass Fritz Lang für mich zum meist gesehenen Regisseur des Jahres wurde... und gewissermaßen auch zu meinem persönlichen 2012er-Star.
Meine Grunderkenntnis, die ich schon kurz nach der Viennale geäußert habe, hat sich bestätigt: Abwägungen zwischen dem „deutschen“ und dem „amerikanischen“ Lang sind nicht gerechtfertigt! Oder einfacher ausgedrückt: Naserümpfen vor seinen amerikanischen Filmen ist genau so dämlich, wie sein frühes deutsches Schaffen unterschiedslos auf einen Podest zu stellen.
So hat mich ein Werk, in dem ein Meisterverbrecher Verwirrung und Chaos stiftet, sehr beeindruckt: die Rede ist hier vom relativ unbekannten SPIONE, während alle drei DR. MABUSE-Filme mich nur wenig überzeugt haben. Über den tollen YOU ONLY LIVE ONCE schrieb ich hier bereits. Sehr langsam, in einem klassischen Sinne fast völlig spannungslos, dafür umso unerbittlicher entwickelt sich SCARLET STREET, der sich als der (bislang) emotional verstörendste Film Langs entpuppt hat. Eher enttäuschend, da meiner Meinung nach nur „solide“, war das andernorts in den Himmel gelobte Plädoyer eines Österreichers zum verantwortungsvollen Kaffeegenuss: THE BIG HEAT. Die gerne als dümmlicher Kitsch verschrieene Indien-Dilogie punktete hingegen mit erstaunlich klaren und scharfen Farb-Bildern, die eine irreale, (alp)traumhafte Atmosphäre schufen... und natürlich auch mit „a costume that definitely pushes the envelope on 1950s movie dress codes“ (Tom Wiener, allmovie.com).
Eine dritte und vierte Sichtung von METROPOLIS waren mir diesmal wieder im Kino gegönnt. Bei der ersten Aufführung döste ich stellenweise fast weg (was auch an meiner Tagesform lag). Die zweite Aufführung drei Wochen später erwies sich als großartiges Kinoerlebnis. Der Pianist Richard Siedhoff spielte zwar den gleichen, selbst komponierten, äußerst düsteren Score, jedoch sehr viel ungestümer: die Musik verwandelte sich in entscheidenden Momenten von einer ohnehin exzellenten Begleitung in einen Katalysator, der die Emotionen der Bilder in einem völlig wahnsinnigen Ausmaß potenzierte (eine Kostprobe, die der tatsächlichen Live-Aufführung naturgemäß nicht gerecht werden kann, gibt es hier).

5/5
1 M, Deutschland 1931
2 METROPOLIS (Sichtung am 19. Februar), Deutschland 1927
3 DIE NIBELUNGEN, Deutschland 1924
4 YOU ONLY LIVE ONCE, USA 1937
– SCARLET STREET, USA 1945

4,5/5
6 FRAU IM MOND, Deutschland 1929
7 SPIONE, Deutschland 1928
8 MAN HUNT, USA 1941
9 HANGMEN ALSO DIE!, USA 1943
10 THE WOMAN IN THE WINDOW, USA 1944

4/5
11 METROPOLIS (Sichtung am 29. Januar), Deutschland 1927
12 DER TIGER VON ESCHNAPUR, BRD/Frankreich/Italien 1959
13 DAS INDISCHE GRABMAL, BRD/Frankreich/Italien 1959
14 HOUSE BY THE RIVER, USA 1950
15 DER MÜDE TOD, Deutschland 1921

3,5/5
16 THE BLUE GARDENIA, USA 1953
17 SECRET BEYOND THE DOOR, USA 1948

3/5
18 DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, Deutschland 1933
19 THE BIG HEAT, USA 1953
20 DR. MABUSE, DER SPIELER, Deutschland 1922

2,5/5
21 DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, BRD/Frankreich/Italien 1960

2/5
22 DAS WANDERNDE BILD, Deutschland 1920


Sex, Gewalt und Drogen mit Homos, Bis, Heteros... und Aliens
Gregg Araki: Queer-Ikone, Independent-Rebell, Kino-Visionär
Was wäre, wenn Jean-Luc Godard ein knapp drei Jahrzehnte jüngerer bisexueller japanisch-stämmiger Amerikaner wäre, der Filme über desillusionierte queere Jugendliche und Alien-Invasionen dreht? Die Antwort lautet: Gregg Araki. 
Als vielleicht radikalster und konsequentester Vertreter einer Independent-Filmbewegung, für die der Name „New Queer Cinema“ geprägt wurde, verteilte Gregg Araki seit Beginn der 1990er heftige cineastische Ohrfeigen an alle Homophoben, Konservativen und religiösen Extremisten in den USA. In seinem dritten Film THE LIVING END (seine ersten beiden gelten als quasi verschollen) weigern sich die beiden Homosexuellen Luke und Jon, einer homophoben Gesellschaft klein beizugeben und schlagen gegen diese bei einem Roadtrip mit aller Gewalt zurück. Zu Unrecht als „schwule Variante“ von THELMA & LOUISE abgetan, erinnert Arakis Film mit seiner rohen, ungezügelten und explosiven Energie eher an Godards À BOUT DE SOUFFLE.
In dieser rohen Energie liegt auch der Reiz von Arakis Werk. Alleine sein thematischer Mut würde ihn zu einem beachtenswerten Regisseur machen. Doch es ist die besondere Ästhetik seiner Filme, die ihn einzigartig macht und den Begriff „Visionär“ rechtfertigt: der fragmentierte Erzählstil, die extremen subjektiven Perspektiven seiner Protagonisten (oft an der Grenze zum Voyeuristischen), der zutiefst schwarze Humor deren Lacher oft im Halse stecken bleiben, die exaltierte Farbdramaturgie mit ihren extremen Übersättigungen. Nicht zuletzt pflegt der Regisseur eine Motivik, die wohl als „Araki-Raum“ bezeichnet werden könnte: weitwinklig fotografierte Totale mit bizarren Setdesigns, in denen sich die Figuren in ihrer Einsamkeit verlieren.
Araki ist ein ungezügelter amerikanischen Independent, der vieles von jenen Sachen, die uns heutzutage gerne als „Indie“ verkauft werden, blass aussehen lässt...

1 THE LIVING END, USA 1992, 5/5
2 MYSTERIOUS SKIN, USA/Niederlande 2004, 5/5
3 SMILEY FACE, USA/Deutschland 2007, 4,5/5
4 KABOOM, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
5 NOWHERE, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
6 TOTALLY FUCKED UP, USA 1993, 4/5
7 THE DOOM GENERATION, USA/Frankreich 1995, 3,5/5
8 SPLENDOR, UK/USA 1999, 3,5/5

Ein exzessiver und gigantomanischer Rückblick auf das Filmjahr 2012 an sich und auf mein ganz persönliches Filmjahr 2012 findet hier sein Ende. Der eine oder andere Film oder Regisseur wird sich bestimmt in der einen oder anderen künftigen Besprechung bei „Whoknows Presents“ finden.
Mein Ausblick für 2013: viele Filme...