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Montag, 20. Februar 2012

Leben, in denen man lernt - Leben, in denen man lebt

Weggehen und wiederkommen
(Partir, revenir, Frankreich 1985)

Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Annie Girardot, Jean-Louis Trintignant, Françoise Fabian, Erik Berchot, Michel Piccoli, Evelyne Bouix, Richard Anconina, Monique Lange u.a.

“Claude Lelouch: Merkt euch diesen Namen! Ihr werdet ihn nie wieder hören”, schrieben “Cahiers du cinéma”, als der Sohn eines jüdischen Schneiders, der seit Mitte der 50er Jahre als “cinereporter” mit Kurzfilmen das Geschehen in aller Welt dokumentierte, seinen ersten abendfüllenden Film, “Le propre de l’homme” (1961), präsentierte. Der Erstling sollte tatsächlich nie in die Kinos kommen (Lelouch zerstörte die Kopien), und der Erfolg liess auf sich warten. Spätestens “Un homme et une femme” (1966), mit einem Oscar für das beste Originaldrehbuch ausgezeichnet, zeigte jedoch, dass man sehr wohl wieder von dem Mann, der sich trotz regelmässiger Kritiker-Attacken zu einem der fleissigsten Regisseure Frankreichs entwickelte, hören sollte. Es gelang ihm auch, sich im Fahrwasser der “Nouvelle Vague” im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Heute ist der in Frankreich vom Feuilleton oft geschmähte und auch sonst umstrittene, von seinen Schauspielern aber verehrte Lelouch, der seine Filme gerne selber schreibt und produziert, hierzulande allerdings etwas in Vergessenheit geraten.

Ich empfahl anlässlich einer früheren Besprechung den allgemein geschätzten “Il y a des jours ... et des lunes” (1990) als idealen Einstieg für Leute, die sich näher mit dem unterschätzten Poeten des französischen Kinos beschäftigen möchten.  Der Film zeichnet sich zwar auch durch die für Lelouch typische überbordende Spiellaune, eine virtuose Handhabung filmischer Techniken und dem Regisseur oft vorgeworfene “Hochglanzbilder” aus, überschreitet aber nie die Grenze zum Prätentiösen - und führt die Dinge auf eine bis ins letzte Detail durchdachte Weise zusammen, der man auch nicht einen Hauch von inszenatorischer Schwäche zu unterstellen vermag. --- Dies kann man von “Partir, revenir” nicht unbedingt behaupten. Er dürfte dem Einsteiger im Vergleich zum leichten “Mond”-Film sogar als eine eher spröde, eigenwillige und gewollt künstlerische Angelegenheit vorkommen. Dass ich diesen Film dennoch ausserordentlich schätze, hat nicht zuletzt mit dem sonst in französischen Streifen eher gemiedenen Thema zu tun: Er beschäftigt sich mit dem dunklen Kapitel  der Kollaberation mancher Franzosen mit den Besatzern während des Zweiten Weltkriegs, der Denunziation, die viele Juden in den Gaskammern umkommen liess. Dabei geht Lelouch sein Thema nicht reisserisch an, er vermeidet vielmehr all den Kitsch und die Gefühlsduselei, die manche sich dem Holocaust zuwendende Filmer bewusst einsetzen:


Während des Zweiten Weltkriegs muss die Familie des jüdischen Psychoanalytikers Simon Lerner aus dem besetzten Paris fliehen. Sie findet Zuflucht  bei Freunden, den Rivières, die auf einem Schloss in Burgund leben. Alles scheint trotz der Skepsis mancher Dorfbewohner (man sei zu viert und fresse doch wie acht) gut zu gehen - bis die Lerners 1943 unerwartet von der Gestapo abgeholt und in ein Lager verschleppt werden. --- Nach Kriegsende kehrt eine verhärmte, beinahe kahlgeschorene Salomé, die Tochter der Lerners, die wohl als einzige überlebt hat, ins Dorf zurück. Jemand muss sie damals denunziert haben; und Salomé will wissen, wer es war. Doch sie stösst auf eine Mauer des Misstrauens; nur die Schlossbewohner nehmen sie wieder bei sich auf und schützen sie vor Anfeindungen. - Vier Jahrzehnte später begegnet sie dem Pianisten Erik Berchot und glaubt, die Reinkarnation ihres verstorbenen Bruders Salomon (ebenfalls von Berchot verkörpert) vor sich zu haben...

Wer nun glaubt, es mit einem geradlinigen, seine Geschichte chronologisch aufrollenden Werk zu tun zu haben, irrt sich gewaltig. Denn Lelouch, der sich allgemein gern der Musik anvertraut, bietet uns weniger eine filmische Erzählung als eine musikalische Phantasie, deren assoziative Rückblenden oft willkürlich erscheinen, einander aber bedingen. - Und nun folgt eine “Zusammenfassung”, die  mit der vorangegangenen zuerst gar nicht viel zu tun zu haben scheint: Die nicht mehr ganz junge Salomé Lerner hat nach der Begegnung mit dem Pianisten Berchot ihre Autobiographie geschrieben und stellt sie in einer Fernsehshow vor. Dort stimmt sie dem Moderator zu, dass sich aus dem Buch wohl ein ganz guter Film machen liesse (man unterhält sich sogar über die geeignete Besetzung). Dieser Film müsste allerdings die Musik von Sergej Rachmaninoff (ich übernehme hier die vom Komponisten bevorzugte Schreibweise seines Namens) in den Mittelpunkt stellen, sich ihr sozusagen unterwerfen. Denn Salomés Bruder verehrte den Russen, von dem er glaubte, er würde nie in der Lage sein, seine Stücke zu bewältigen; während Berchot wiederum Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, dessen Bewegungen und heraufbeschworenen Emotionen sich die folgende Geschichte fügt, in Vollendung spielt. Und so erhält der Film, über den man erst als Möglichkeit spricht, die Bedeutung seiner Bestandteile in absteigender Reihenfolge aufzählend, den Untertitel “Histoire romanesque pour piano, orchestre & camera”.

Wir bewegen uns von nun an zwischen vier Zeitebenen hin und her, erfahren nach und nach Details, die uns die Ereignisse aus wechselnden Perspektiven betrachten lassen, ihnen Facetten hinzufügen - und doch, was besonders reizvoll ist, am Ende nicht alles aufzulösen scheinen. Diese Zeitebenen sind: der letzte scheinbar sorglose Sonntag vor dem Krieg, den die Lerners zusammen mit ihren Freunden an einem festlichen Sommertag verbringen, das nicht immer spannungslose und ungefährliche Leben auf dem Schloss, das ihnen als Refugium angeboten wurde, die Zeit nach Salomés Rückkehr und die filmische Gegenwart, die uns eine den Tränen nahe ältere Frau im Konzertsaal zeigt, wo sie dem Klavierkonzert zuhört. -  Jener “letzte” Sonntag ist erfüllt von jugendlicher Unbeschwertheit, lässt auch erkennen, welch enges Verhältnis Salomé zu ihrem Bruder hatte. Sogar die ältere Generation versucht den drohenden Krieg - nicht immer erfolgreich - zu verdrängen. Simon, der Psychoanalytiker, erweist sich als Anhänger der Reinkarnationslehre und berechnet das Alter der Menschen nicht nach Jahren, sondern nach Leben. Er glaubt - wie er betont - in aller Bescheidenheit, es gebe Leben, in denen man lerne, und Leben, in denen man lebe - eine für die Geschichte wichtige Vorstellung, die dem Titel des Films eine zusätzliche Bedeutung gibt  - und später die Frage aufwerfen wird, ob Berchot in einem früheren Leben etwa der “lernende” Salomon war. Es ist allerdings auch denkbar, dass die Lerners wie Salomé überlebten und der Pianist der Sohn ihres Bruders ist - ein Rätsel, das am Ende möglicherweise wortlos aufgelöst wird.

Neben dem uns vielleicht etwas seltsam vorkommenden Glauben an die Reinkarnation gibt es noch weitere dem “Aberglauben” zuzuordnende Elemente, die von den Protagonisten mit Bedeutung gefüllt werden: ein “Rad der Fortuna” auf dem Schloss, ein Medaillon, dessen Inhalt niemand kennt - und von dem Salomé am Ende vermutet, es beinhalte das Überleben. Gerade diese sich scheinbar ausschliesslich im Geistigen (bis ins Abergläubische ausufernde) wohlfühlende Welt  soll nun aber bald von einer grausamen Realität eingeholt werden, und das Kreisen um  die Problematik “Denunziation - Reinkarnation - Wiederkommen” wird das weitere Leben der Hauptfigur in mehrfacher Hinsicht bestimmen. Man kann sich am Ende sogar die Frage stellen, ob Salomé selber während des Kriegs und danach bereits ein "lernendes Leben" in diesem hinter sich gebracht habe. Schliesslich führte auch die Denunziation zu einem Weggehen, das in ein unerwartetes Wiederkommen mündete.


Nach Salomés Rückkehr führt  Schlossherr Rivière den Dorfbewohnern Henri Clouzots “Le Corbeau” (1943) vor und unterstellt ihnen, jemand aus ihrer Reihe habe den Film als Vorbild benutzt, sei der “Rabe”, der die Lerners verraten habe. Wir erfahren jedoch auch, dass sich die beiden Familien kennen lernten, weil Vincent, der der Hochseilakrobatik zugeneigte Sohn der Rivières, psychische Auffälligkeiten zeigte, die Simon als sein Analytiker zum Schluss kommen liessen, er sei sowohl zum Besten als auch zum Schlimmsten fähig. - War es etwa gar er, dessen Name Salomé in vielen anonymen Briefen genannt wird, der die jüdischen Freunde an die Gestapo verriet, weil sie als damals launisches junges Mädchen  seine Zuneigung abgewiesen hatte? --- So entwickelt sich im Rückblick eine Geschichte, von deren Einzelheiten man zu Beginn gar nichts ahnte, die jedoch, sich Rachmaninoffs Musik anpassend, nur folgerichtig erzählt und aufgeschlüsselt wird. Dass sich am Ende überraschend der “Rabe” zu erkennen gibt, ist nicht nur für den Abschluss der Handlung unumgänglich; sein Geständnis, das den Leser aus diesem Labyrinth der Zeiten hinausführt, zeigt auch, wie persönlich,  alles andere als ideologisch bedingt, eine solche Denunziation sein konnte.

Die eigenwillige "musikalische Phantasie" wartet mit wahrhaft poetischen Bildern auf; den berüchtigten Vorwurf der Hochglanzphotographie kann man ihr aber schon wegen der heraufbeschworenen Atmosphäre nicht machen. Freilich: Von inszenatorischen Schwächen darf "Partir, revenir" nicht ganz freigesprochen werden (ich denke zum Beispiel an eine Autofahrt zu Beginn, die möglicherweise den Transport auf einem Laster der Gestapo wiedergeben soll).  Es ist wohl so, dass Lelouch wie üblich einen “Larger than Life”-Streifen drehen wollte - und nicht ganz reüssierte. Er überlud ihn unnötig mit - gelegentlich geradezu ins Esoterische abgleitender - Bedeutsamkeit, vermochte auch der ein oder anderen Versuchung, sich arg dem Virtuosen hinzugeben, nicht zu widerstehen. Und das ist schade, wagte er sich doch an ein sonst gerne verdrängtes Thema und drehte einen ernsten, trotz einzelner Schwächen höchst sehenswerten und mit seinen Lieblingsschauspielern wie üblich glänzend besetzten Film - der es dem Zuschauer nicht ganz einfach macht, wenn er sich nicht voll und ganz Rachmaninoffs 2.Klavierkonzert hingibt, darauf bauend, dass der Regisseur schon etwas damit anzufangen wisse.

Noch ein Wort zu jenem eigenartigen Phänomen, dass eine regelrechte "Schauspielerfamilie" dem immer umstrittenen, von der Presse gern mit Häme überschütteten Kinomagier, der vereinzelt tatsächlich mit eher trivialer Kost aufwartet, über Jahrzehnte hinweg die Treue hält: Nach dem Tode von Annie Girardot im Februar 2011 war in vielen Nachrufen von der Nichtbeachtung die Rede, mit der das französische Kino-Establishment die grosse Schauspielerin lange Zeit bestraft habe. Tatsächlich wurde sie von den Herren der “Nouvelle Vague” nicht ein einziges Mal besetzt, weil François Truffaut sie einst als Vertreterin des “cinéma de qualité” abzustempeln beliebte. Als die “Aussätzige” 1985 beinahe ihr ganzes Vermögen verlor, bot ihr Claude Lelouch, der mit ihr 1969 schon “Un homme qui me plaît” gedreht hatte, an, die Hauptrolle in “Partir, revenir” zu übernehmen.  Wie die “Frankfurter Allgemeine” in einer Erinnerung an die Girardot schrieb, erhielt sie in einer Szene in diesem Film als Mme Rivière die Gelegenheit, all ihr Leid aus sich herauszuschreien. Es soll auch ein Herausschreien dessen gewesen sein, was sie unter der Nichtbeachtung des französischen Kinos durchmachen musste. Am Ende ihres Lebens sollte Annie Girardot in sechs Lelouch-Filmen mitgewirkt haben und erhielt als späte Genugtuung für ihre Nebenrolle in  “Les misérables” (ebenfalls von Lelouch) einen César. - Dies vermag vielleicht zu erklären, was Schauspieler an dem Regisseur haben, der sich wenig um Vorgaben eines Establishments kümmert, sondern schlicht Filme dreht, die er drehen will, und das mit Leuten, die ihm am Herzen liegen. Es erklärt vielleicht auch, weshalb es sich lohnt, an Claude Lelouch zu erinnern, Lesern im deutschsprachigen Raum sein vielfältiges und wirklich sehenswertes Werk ans Herz zu legen.

Montag, 5. April 2010

Die Macht des Vollmonds


Vorbemerkung:
Dieser Text wurde von mir bereits in einem Film-Tagebuch veröffentlicht, das ich während einiger Zeit in einem Film-Forum  führte. Ich habe ihn  beinahe unverändert übernommen, da der Admin des betreffenden Forums mir auf meine Anfrage hin gestattete, meine seinerzeitigen Einträge als mein geistiges Eigentum zu betrachten.  "Whoknows Presents" wird nämlich z.T. von Leuten gelesen (man ahnt ja glücklicherweise nicht, wo ich es überall verlinkt habe), die das ehemalige Tagebuch nicht kennen, und es liegt mir am Herzen, ihnen manche  meiner früheren unmassgeblichen Betrachtungen zu Filmen nicht vorzuenthalten. Im Falle von zukünftigen "Übernahmen" werde ich auf diesen Hinweis verzichten und bitte “alte" Bekannte und Freunde, sich im Zweifelsfall  meinen Haftungsausschluss anzusehen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei meinem alten Kumpel Joe Ratzi dafür bedanken, dass er es mir erlaubt, im Osservatore Romano für neue Blog-Einträge Werbung zu betreiben. Die Rückmeldungen der Kurie fallen jedoch zum Teil noch spärlicher aus als die der Hustler-Leser.



So sind die Tage und der Mond
(Il y a des jours ... et des lunes, Frankreich 1990)
Regie: Claude Lelouch
Darsteller: Gérard Lanvin, Patrick Chesnais, Marie-Sophie L., Vincent Lindon, Annie Girardot, Gérard Darmon, Phillipe Léotard, Serge Reggiani, Anouk Aimée u.a.

Episodenfilme, die ganz auf ein grosses Ensemble bauen, haben es bei mir nicht leicht, weil ich sie automatisch an Robert Altman's Meisterwerk "Short Cuts" (1993) messe, zu dem sie entweder hinführen oder das sie nachahmen - und an dem sie, insbesondere wenn es wie in "Magnolia" (1999) zu allem Überfluss noch Frösche regnet, für gewöhnlich scheitern. Der Vergleich mit Altman scheint mir gerechtfertigt, gilt "Short Cuts" doch sozusagen als Mutter aller Ensemblefilme, als unerreichter Höhepunkt.

Claude Lelouchs "Il y a des jours ... et des lunes" ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme, was wohl nicht bloss mit dem Herkunftsland Frankreich, sondern vor allem mit der eigenartigen poetischen Stimmung, ja traumhaften Schwerelosigkeit, die den Film im Gegensatz zu Altman's bewusst auf dem Boden bleibendem Mix aus Erzählungen von Raymond Carver durchzieht, zu tun haben dürfte. Bereits am Anfang erfahren wir zu den Klängen eines seltsam unstimmigen Chansons, das eine an einem Tisch im Freien sitzende Hochzeitsgesellschaft singt, eine der Hauptfiguren des Films werde in 18 Stunden vor unseren Augen sterben. Dies der Ausgangspunkt eines heiter-melancholischen Werks, dem man gleich anmerkt, dass es nicht wie andere Filme ist und dessen Titel auf jene Tage anspielt, die man lieber vermeiden würde, weil das unsagbar Grosse (der Vollmond) sich über uns unbedeutende Wesen lustig macht, die wir schreien und flüstern, andere zum Lachen oder Weinen bringen - und eventuell sterben!

"Il y a des jours ... et des lunes" beginnt in einer Frühlingsnacht, in der Vollmond, eine Mondfinsternis und die Zeitumstellung zusammenfallen. Eine solche Nacht habe es in sich, berichtet ein redseliger Rentner, in dessen Wohnung Dutzende von Fernsehapparaten aus unterschiedlichen Zeiten herumstehen, einer Meinungsforschern; und er warnt eindringlich vor dem Mond, dessen Macht unserem Leben eine katastrophale Wende zu geben vermöge. - Tatsächlich wirken die Erlebnisse der Hauptpersonen, von denen uns Lelouch temporeich und in rasch wechselnden Szenen (wodurch der Zuschauer regelrecht in den Sog des Geschehens hineingezogen wird) erzählt, auf den ersten Blick alltäglich, wenn auch leicht skurril: Ein Lastwagenfahrer, der seine Lieferung (Autos) wegen der fehlenden Stunde nicht rasch genug nach Paris bringen kann, schnappt sich einfach einen Wagen, mit dem er durch die Gegend fährt und eine junge Frau mitnimmt (sie ist ihrem Mann in der Hochzeitsnacht davongelaufen und möchte ans Meer); ein Arzt, der sich intensiv um seine Patienten kümmert, so intensiv, dass er sich nicht einmal Zeit für seine schwangere, noch verheiratete Geliebte nimmt; ein Restaurantbesitzer, der beim Glücksspiel alles verloren hat und von seiner Frau, mit der er noch um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter spielt, verlassen wird; eine mögliche Käuferin, die dem Koch nicht passt; ein einsamer Gast aus Rio, der ein Hotelmädchen zu sich aufs Zimmer bestellt, damit er mit jemandem reden kann; ein von einer jungen Frau umgarnter schwuler Priester, Komödianten, die mit dem Bus unterwegs sind (sie bereichern den Film mit beinahe surrealistisch anmutenden Chanson-Szenen). - Alle diese und andere Figuren scheint nichts zu verbinden, ausser der fehlenden Stunde, die sie an diesem Tag wohl brauchen könnten. Sie leben einfach ihr Leben, das aus Lieben, Weinen, Trennung, Trost, Hoffnung und ständiger Todesnähe besteht. Und doch hat Lelouch, der seine Geschichten immer wieder von einer zu Beginn auf einem unsichtbaren, scheinbar in der Luft hängenden Piano gespielten und sich zunehmend formenden Melodie  begleiten lässt, für das Ende (jemand kommt tatsächlich ums Leben) eine Überraschung bereit, die scheinbar banal wirkt, aber jedes "Konzept" von Zufall in Frage stellt.


Dem kleinen Meisterwerk, das - ohne die "Ikonen" des französischen Kinos (Deneuve, Huppert, Depardieu etc.) in Anspruch zu nehmen - mit einem hervorragenden Ensemble etwas völlig Eigenes auf die Beine stellt, haftet etwas Mystisches an. Es wirkt unwirklich und doch leicht zugänglich, erzählt wundersame Geschichten - und stellt Fragen: Weshalb hat der Mond angeblich solche Macht über uns? Warum beschert er uns diese Leidenschaften und Obsessionen? Muss er ein Menschenopfer fordern? Macht er sich über unsere nichtigen Zweifel lustig - oder ist alles doch bloss das, was auch immer wir unter "Zufall" verstehen mögen?

Lelouch, der sogar seine Darsteller (er arbeitet gerne immer mit den gleiche Schauspielern, die ihn wie eine Familie umgeben sollen) bis zum Ende über den Handlungsablauf im Unklaren liess, soll seinen 31. Film in 31 Tagen gedreht haben. Ich weiss nicht, ob diese Behauptung bloss in die Welt gesetzt wurde, um den mysteriösen Charakter von "Il y a des jours ... et des lunes" zu unterstreichen; auf jeden Fall fand der in Frankreich stets umstrittene Regisseur (ist er nun trivial oder genial?), dessen Anfänge mit der Nouvelle Vague in Verbindung gebracht werden und der schon für "Un homme et une femme" (1966) den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhalten hatte, bei Kritikern und Zuschauern für einmal grossen Anklang - verdientermassen! - Ich schaue mir den Film gerne an einem Abend an, an dem ich weder Probleme wälzen noch unterhalten, sondern einfach von einer unaussprechlichen Leichtigkeit erfüllt werden möchte. Dass er diese Wirkung zu erzeugen vermag, ist einem Balanceakt zu verdanken, wie ihn sonst bloss ein Meister des Soufflés zustande bringt: Wäre eine "Zutat" falsch dosiert oder im ungünstigen Moment eingesetzt, würde das Kunstwerk in sich zusammenfallen. Erst am Ende, wenn die luftige Köstlichkeit aus dem Ofen genommen wird, darf ein Moment des wahrhaft Tragischen einsetzen. Lelouchs kleiner Triumph über das Medium Film mit all seinen Tücken ist in diesem Punkt mit Jim Jarmusch's "Night on Earth" (1991) vergleichbar, dessen Hang zur Schwerelosigkeit auch erst mit dem ächzend hervorgebrachten Wort "Helsinki" am Ende aufgehoben wird.


Was noch hinzuzufügen wäre: Für alle, die sich näher mit dem unterschätzten Poeten des französischen Films beschäftigen möchten, dürfte "Il y a des jours ... et des lunes" der ideale Einstieg sein.