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Sonntag, 9. Juli 2017

Der paranoide Killer und die Actionstars des Slapstick-Kinos

oder: was haben John Wick, Stoneface und der Tramp miteinander zu tun?

JOHN WICK: CHAPTER 2
USA / Hong Kong / Italien / Kanada 2017
Regie: Chad Stahelski
Darsteller: Keanu Reeves (John Wick), Riccardo Scamarcio (Santino D'Antonio), Common (Cassian), Ruby Rose (Ares), Claudia Gerini (Gianna D'Antonio), Lance Reddick (Charon)


JOHN WICK war für mich zweifelsohne der zweitbeste Actionfilm des Jahres 2015 – zwar deutlich hinter MAD MAX: FURY ROAD, aber dennoch sehr bemerkenswert. Der Film, der am explosivsten die Rückkehr Keanu Reeves‘ in die Sphäre einer größeren Aufmerksamkeit markierte, begeisterte mit seinen grandiosen Actionszenen, die im Gegensatz zum gegenwärtigen state of art im Actionfilm absolut glasklar gefilmt waren: kein Rumgewackel, keine Schnittgewitter, sondern präzise choreografierte Schüsse, Schläge und Tritte. Was JOHN WICK ebenfalls ausmachte: seine kompakte, elliptische Erzählweise, die mit aussagekräftigen Bildern und nur wenigen Worten Zusammenhänge andeutete, die man anderswo ausführlich und mit vielen Dialogen auserzählt bekommen würde (sei es der Tod von Wicks Ehefrau nach kurzer, akuter Krankheit oder die Funktionsweise des Continental-Hotels, des Refugiums für die Gilde der Profikiller).
Groß war die Erwartung an die Fortsetzung. Zunächst zur kleinen Enttäuschung: JOHN WICK: CHAPTER 2 beginnt damit, dass er die „offenen Fragen“ aus dem ersten Teil noch „beantwortet“. Er ist äußerst umständlich, manchmal fast behäbig erzählt, wirkt manchmal etwas wie mit Handbremse gefilmt. Der Subplot um Laurence Fishburnes Figur ist größtenteils ein billiger Gimmick für die MATRIX-Fangemeinde. Der Versuch, den legendären Shootout im „Red Circle“ in den Katakomben Roms neu aufzulegen, ist nur bedingt geglückt. Wo JOHN WICK wie aus einem Guss wirkte, erscheint JOHN WICK: CHAPTER 2 wie ein Stückwerk mit zu viel Ballast (und mit tatsächlich über 20 Minuten mehr Laufzeit).
Aber hey! Wirklich schlimm ist das nicht und JOHN WICK: CHAPTER 2 ist und bleibt ein toller Film. So schöne Parallelmontagen, die von einer pulsierenden Musik getrieben werden, kriegt momentan niemand außer diesem ehemaligen Second-Unit-Regisseur und Stunt-Koordinator Chad Stahelski hin. Mit einer solchen Selbstverständlichkeit alle Actionszenen so klar filmen – das sieht man momentan wohl nur bei George Miller und in ausgewählten Filmen des vielgehassten Paul W. S. Anderson. Eine wüste Prügelei im Herzen Roms, gefilmt ohne Musik, aber dafür mit intensiven nächtlichen Ambientegeräuschen (Sirenen, Autohupen und das Flimmern der lauwarmen Frühlingsluft)... Das Jammern über JOHN WICK: CHAPTER 2 im direkten Vergleich zu JOHN WICK ist eines dieser Luxusprobleme, von denen wir anstelle echter Probleme mehr haben sollten auf dieser Welt.
Besonders interessant war aber ein Aspekt: JOHN WICK: CHAPTER 2 enthält immer wieder Anspielungen auf den Actionfilm (sprich: Slapstickfilm) der Stummfilm-Ära – diese reichen von expliziten Zitaten bis zu milden Andeutungen.

John Wick – ein Nachfahre von Speedy?
Das fängt schon einmal mit dem ikonischen Filmposter an. Wick ist von über einem Dutzend Schützen umringt, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen, während er unbeirrt und mit intensivem Blick den Betrachter anschaut. Hier ist klar: ein Mann – furchtlos gegen den Rest der Welt. Vor allem ist das Poster aber auch die Nachstellung eines Publicity-Fotos mit Harold Lloyd.
Hier ein Link zu dem Bild. Und hier ein Link zu einem Artikel, wo die beiden Bilder ebenfalls zu sehen sein.
Lloyd ist auf dem Foto ebenfalls umringt von Schützen, die mit Pistolen auf seinen Kopf zielen – wirkt allerdings der Situation entsprechend auch ziemlich beunruhigt. Es handelt sich angeblich um ein Werbeplakat oder vielleicht ein Aushangfoto für TWO-GUN GUSSIE von 1918, der noch unter der Produktion von Hal Roach entstand, als Harold Lloyd noch kein Superstar war. Es ist ein Slapstick-Film im engeren Sinne, ein typisches Produkt der Roach-Schmiede: recht grobschlächtig im manchmal erfreulichen, manchmal nicht so erfreulichen Sinne, mit vielen akrobatischen Einlagen, die allerdings nicht mit den spektakulären Action-Sequenzen späterer Lloyd-Filme mithalten können.
Abgesehen von der Tatsache, dass John Wick ab der Mitte des Films von einem großen Teil der Gilde der Serienkiller verfolgt wird – also viele Pistolen auf ihn gerichtet sind – „taucht“ das Plakatmotiv nicht weiter im Film „auf“. Trotzdem versetzte es mich gleich im Vorfeld des Films als Fan des modernen Actionfilms und Fan des klassischen Actionfilms der Stummfilm-Ära in „Alarmbereitschaft“. Würde im Film mehr in diese Richtung zu finden sein?

„Baba Jaga“ in den Fußstapfen eines träumenden Filmvorführers?
Lange warten musste ich nicht. JOHN WICK: CHAPTER 2 eröffnet mit Helikopteraufnahmen des nächtlichen, neonbeleuchteten New York. Dazu gibt es brummende Motorradgeräusche. Nach einigen Bildern in Vogelperspektive blicken wir plötzlich auf die Fassade eine Brownstone-Hauses. Auf diese Fassade wird ein Stummfilm projiziert. Der geneigte Stummfilm-Liebhaber erkennt, dass es sich um einen Ausschnitt aus Buster Keatons SHERLOCK JR. handelt, namentlich um den Showdown mit der langen „Verfolgungsjagd“, bei der Keaton auf dem Lenkrad sitzend ein herrenloses Motorrad „fährt“. Er fährt in Richtung eines Bahnübergangs und nur knapp entkommt er dem rasenden Zug. Kurz darauf kracht er in die Hütte, in der einer der Bösewichte seine Angebetete gefangen hält. Da werden keine halben Sachen gemacht: Buster/Sherlock Jr. fliegt durch den Raum, landet auf dem Tisch auf eine solche Weise, dass er den Böswatz einfach wegkickt. Nach diesem Crash in diesem Ausschnitt aus Keatons SHERLOCK JR. crasht auch in JOHN WICK: CHAPTER 2 jemand, nämlich ein Motorradfahrer auf der Straße – was wir aber nur hören und nicht sehen. Sichtbar wird der Fahrer, als er auf einer abschüssigen Straße unter dem Haus mit der Projektion mit seinem Gefährt heruntergleitet. Das suggeriert fast, dass er aus SHERLOCK JR. herausgefallen ist. Er steigt wieder auf das Motorrad und fährt davon. Wenig später rollt ein alter Sportwagen vorbei, der das Motorrad verfolgt (und in dem, wie wir kurz darauf erfahren, John Wick sitzt).

JOHN WICK: CHAPTER 2 – auf eine Hausfassade wird ein Stummfilm projiziert, nämlich...
SHERLOCK JR.
Das ist der Beginn des Prologs, in dem John Wick noch bei Abram Tarasov vorbeifährt, dem Bruder und Onkel der in Teil 1 von ihm getöteten Viggo und Josif Tarasov, um Frieden zu schließen – nachdem er selbstredend ein Dutzend von Abrams Handlangern brutal tötet, weil sie ihn nicht vorlassen wollen. Dieser Prolog ist eine interessante Verkörperung für die relativen Schwächen des zweiten Teils im Vergleich zum ersten Teil: ein narrativer Ballast, der allerdings gekonnt inszeniert ist.
Was der Prolog mit dem Ausschnitt aus SHERLOCK JR. zu tun hat? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Am einleuchtendsten scheint es, den Filmausschnitt als das Motto des Films zu begreifen – nicht in Form einer Texteinblendung, sondern als Filmeinblendung. Sherlock Jr., also der alter-ego-Protagonist im Traum des Filmvorführers, hat gerade gemerkt, dass er sich im freien Fall befindet, denn freihändig auf dem Lenkrad eines geisterfahrenden Motorrads zu balancieren ist echt keine gute Idee (also im wirklichen Leben der Figuren im Film bzw. Filmtraum – auf Film an sich bei Keaton sieht das natürlich toll aus). Das entdeckt er erst spät, weil er erst einmal minutenlang so fährt, ohne es zu merken. Ihm bleibt dann nichts anderes übrig, als die bittere Pille zu schlucken und mit dem Kopf voran zu gehen. Das ist genau das, was John Wick im Verlauf von JOHN WICK: CHAPTER 2 auch tun muss. Im zweiten Teil verliert der Profikiller alle Autonomie. Vom Jäger des ersten Teils wird er nun zum Getriebenen. Das wirkt sich nicht gut auf seinen Geisteszustand aus (von seiner körperlichen Gesundheit mal ganz zu schweigen).

Der „Boogey Man“ wird paranoid!
Nachdem John Wick Frieden mit den russischen Gangstern geschlossen hat, will er in Ruhe in das Zivilleben zurückkehren. Doch sein ehemaliger Profikillerkumpan Santino D‘Antonio besucht ihn und zwingt ihn, eine „Schuld-Marke“ zu begleichen. Santino hatte Wick einmal in einer brenzligen Situation geholfen, wofür er eine „Schuld-Marke“ nahm – die er nun einlöst. Wick muss nun also für Santino einen Auftragsmord ausführen: nämlich seine Schwester Gianna ermorden, damit er ihren Sitz im Großen Rat des internationalen organisierten Verbrechens einnehmen kann. Wick reist nach Rom und erledigt nolens volens den Job. Das gelingt ihm eher indirekt: als er bei Gianna auftaucht, wechseln sie ein paar Worte, und bevor John Wick begreift, was da passiert, schneidet sie sich die Pulsadern auf. Er schießt ihr dann in den Kopf, nachdem (! – dazu unten mehr) sie bereits gestorben ist. Santino, der eh von Anfang an wie ein schmieriger Heuchler wirkte, will selbstverständlich in aller Öffentlichkeit den Mord an seiner Schwester rächen und übergibt dem US-Zweig der internationalen Profikiller-Gilde den „offenen“ Auftrag, John Wick für 7 Millionen Dollar zu ermorden. Jeder Profikiller, der der großen Organisation angehört, wird per SMS dazu ermuntert, John Wick zu töten. Alle US-amerikanischen Mitglieder der Profikiller-Gilde erhalten eine SMS mit dem Auftrag. In einer denkwürdigen Parallelmontage hört man die SMS-Töne der Mobiltelefone klingeln: alle Besucher des New Yorker Continental-Hotels, der Manager des Hotels, aber auch irgendwelche unbekannten Gesichter auf der Straße erhalten Kurznachrichten.
JOHN WICK: CHAPTER 2 entfesselt hier etwas, was in JOHN WICK noch vergleichsweise harmlos war. John Wick läuft durch Straßen, in denen an jeder Ecke ein potentieller Killer auf ihn warten könnte – und es dann tatsächlich auch tut: die harmlose Geigenspielerin an der Ecke der U-Bahn-Unterführung, der friedlich aussehende Sumo-Typ auf der Parkbank, die zwei seriösen asiatischen Geschäftsmänner beim U-Bahn-Imbiss, die Männer von der Reinigung in der Metro – sind plötzlich brutale Killer, die auf John Wick losgehen. Hier befinden wir uns im Bereich von Buster Keatons de-facto-Paranoia-Thrillern THE GOAT und COPS (über diese schrieb ich bereits hier). Die ganze Szene ist als eine dieser schönen Parallelmontagen gefilmt, mit denen beide JOHN-WICK-Filme glänzen – und sie vibriert vor fiebriger, absurder und surrealer Paranoia. Die Welt war in SHERLOCK JR. ein Traum im Film – in THE GOAT, COPS und JOHN WICK: CHAPTER 2 wird der Film zum Alptraum, in dem überall Hundertschaften von Polizisten oder Profikillern darauf warten, zuzuschlagen. 
Im Gegensatz zu Buster wird man John Wick schwerlich als „unschuldig“ bezeichnen können, und im Gegensatz zu Buster in COPS kapituliert John Wick nicht vor seinen paranoiden Schüben, um Suizid zu begehen, sondern verteidigt sich durch Angriff, indem er seine Verfolger tötet – um nicht zu sagen: sie regelrecht massakriert (unter anderem auch mit dem legendären Bleistift).

John Wick paranoid: wo er auch hingeht – überall warten Killer auf ihn
Buster paranoid: eine Welt voller Polizisten
Noch ein Gedanke zu Keaton. Alle Filialen des Hotel Continental, des Refugiums für Profikiller, sind Orte, in denen sie nicht nur vor der Polizei sicher sind, sondern auch voreinander: es dürfen dort nämlich keine „Geschäfte“ gemacht werden, und einen Gast des Hotels innerhalb des Hotels zu töten kommt der Exkommunikation aus der internationalen Profikillergilde gleich (und wird mit einem Todesurteil bestraft). Wie absolut wortwörtlich das gemeint ist, wird deutlich, als Wick sich in den Straßen Roms mit Cassian, dem Leibwächter (und wahrscheinlich Liebhaber) Gianna D‘Antonios die Seele aus dem Leib prügelt und mit ihm im Kampf eng umschlungen durch die Fensterfront einer Terrasse kracht. Der intensive Kampf wird beendet, weil beide zur Ordnung gerufen werden: sie haben nicht gemerkt, dass sie durch die Fensterfront des Rom-Continentals gekracht sind. Sie lassen einander los, gehen in die Bar, trinken zusammen und schwören sich dabei in ausgesucht höflichen Worten, sich bei nächstbester Gelegenheit gegenseitig zu ermorden. Ein Haus als heiliges Refugium, in dem nicht gemordet werden darf – was angesichts der extremen Gewalt „draußen“ auch ziemlich heuchlerisch wirkt: das gab es schon in Keatons OUR HOSPITALITY zu sehen, in dem Buster/Willie McKay sich solange sicher fühlen kann, wie er sich als Gast im Haus der mit seiner Familie befehdeten Canfields befindet.

Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp
JOHN WICK: CHAPTER 2 arbeitet sich auch fleißig an der Geschichte der plastischen Kunst und Malerei der letzten 2000 Jahre ab. John Wick flaniert durch Rom, die Gebäude und Sehenswürdigkeiten der Antike und der Renaissance im Hintergrund. Er bespricht Geschäftsprobleme vor Gemälden, die ich intuitiv in der Frühen Neuzeit ansiedeln würde. Bei einem Shootout in einem Museum wird John Wick schließlich gar selbst zum „Künstler“ und verwandelt mit dem spritzenden Blut seiner Feinde eine Kunstausstellung in eine große Action-Painting-Installation – abstrakter Expressionismus nicht mit dem Pinsel gespritzt, sondern mit der Pistole geschossen. Das ganze endet schließlich bei der modernen Installationskunst, in einem betretbaren Kunstwerk mit dem schönen Titel „Reflections of the Soul“: ein großes Spiegellabyrinth mit sphärischer Ambientemusik und einer Fahrstuhlstimme, die Kommentare zum Kunstwerk abgibt. Alternativ könnte man das Kunstwerk aber auch „Das Spiegelkabinett des Mr. Tramp“ nennen.
Der Shootout in dem Spiegelkabinett ist die große „pièce de résistance“ von JOHN WICK: CHAPTER 2, der ultimative Action-Höhepunkt des Films – fast so aufregend wie der Shootout im „Red Circle“ aus dem ersten Teil. Vielfach gespiegelt laufen die Kontrahenten durch diese merkwürdigen, jenseitig aussehenden Räume und schießen aufeinander – und ballern dabei oft einen Spiegel kaputt, der Platz macht für noch mal weitere Spiegelungen. Das ganze ist je nach Raum mit kalt-blauem oder mit rötlich-farbwechselndem Neonlicht beleuchtet – und ist natürlich eine weitere Verbeugung vor einem großen Stummfilm, namentlich Charlie Chaplins meiner Meinung nach bestem und unterschätztestem Stummfilm, THE CIRCUS. Dessen Spiegelkabinett-Szene wurde vielfach nachgeahmt: in Orson Welles‘ THE LADY FROM SHANGHAI von 1947, in IL MIO NOME È NESSUNO von 1973 (dessen Protagonist, wie einst der Tramp, einem Kleinkind den Imbiss klaut) sowie in ENTER THE DRAGON, ebenfalls 1973.

Der Shootout im Spiegelkabinett, inspiriert von...
...dem Spiegelkabinett in THE CIRCUS
Wie ich kürzlich mit Manfred besprach: möglicherweise ist Chaplins THE CIRCUS nicht der erste Film, in dem eine Verfolgungsjagd in einem Spiegelkabinett zu sehen war. Vielleicht sah Chaplin eine ähnliche Szene in einem Film, der heute verschollen ist – oder sich außerhalb der großen Aufmerksamkeit bewegt, die Chaplins Werk hat. Relativ sicher ist jedenfalls, dass der verhältnismäßig berühmte THE CIRCUS als Inspirationsquelle für die oben genannten Filme und JOHN WICK: CHAPTER 2 diente.
Nun... John Wick ist natürlich kein Tramp. In JOHN WICK: CHAPTER 2 sind aber durchaus andere Leute Tramps...

Exkurs in den frühen Tonfilm, oder: Die Bettlerorganisation der Profikiller
Euro, Dollar – das ist den Profikillern in dem speziellen Universum der „John Wick“-Filmreihe egal, denn sie haben ihr eigenes Währungssystem mit speziell für sie hergestellte Goldmünzen. Das ist nicht nur etwas wert, sondern das dient auch als unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Als John Wick vor seinen Verfolgern in der New Yorker U-Bahn flieht, wendet er sich plötzlich an einen Bettler und legt ihm eine Goldmünze in den Pappbecher. Der Bettler versteckt Wick rasch unter einer naheliegenden Plastikplane. Als die zwei Verfolger näher kommen, zückt der Bettler eine Schalldämpfer-Pistole und erschießt sie. Aus der Nähe treten zwei Obdachlosen-Kollegen heran und schleifen sogleich die Leichen weg. Für kurze Zeit kommt John Wick dann bei einem Spezialzweig der internationalen Profikiller-Gilde unter: nämlich bei der New Yorker Bettlerorganisation der Profikiller.
Nach Llloyd und Keaton (das Chaplin‘sche Spiegelkabinett kommt im Film erst später) befinden wir uns nun bei Fritz Lang. Lang war in seiner deutschen Werksphase von konspirativen Geheimorganisationen fasziniert: die Verbrecherbanden in den DR. MABUSE-Filmen, die Spion- und Verbrecher-Netzwerke in SPIONE – und natürlich das organisierte Verbrechen in M, das eine Zusammenarbeit mit dem Verband der Bettler organisiert, um den Serienmörder auf eigene Faust zu finden.
In JOHN WICK: CHAPTER 2 wird die Bettlerorganisation von dem „Bowery King“ geführt, gespielt von Laurence Fishburne. Sein Verband ist äußerst mächtig, weil er permanent Profikiller vollkommen unauffällig an jeder Straßenecke von New York platzieren kann. Ob das rein taktisch ist, und wenn nein, warum mit Goldmünzen bezahlte Profikiller als Obdachlose leben müssen, wird nicht direkt beantwortet. Warum Wick, der nur einen Bleistift braucht, um schnell und effizient zahlenmäßig weit überlegene Verfolger zu töten, sich an die Bettler wendet, ist auch etwas unklar. Warum die Bettler John Wick nicht einfach plattmachen, ergibt auch wenig Sinn. Die Bettlerorganisation taucht einfach plötzlich im Film auf, und verschwindet dann wieder, nachdem Wick von dem Bowery King eine mit sieben Kugeln (eine Million Dollar pro Kugel) geladene Pistole übergeben wurde – die er sich ebenso gut bei einem Verfolger hätte holen können. Kurz: das ganze erscheint als Vehikel, um in zwei Szenen Laurence Fishburne und Keanu Reeves zusammen unterzubringen, also Morpheus und Neo wieder „zusammen zu bringen“ – ein reines Gimmick für die MATRIX-Fans im Publikum. Der Subplot um die Bettlerorganisation und ihren Chef gehört wie der Prolog zu den Teilen des Films, die wirklich erzählerischer Ballast sind und wie Fremdkörper wirken, gleichwohl sie gut gefilmt sind (die Macht des Bowery King wird in einem einzigen Bild verdeutlicht: eine Totale mit einer mächtigen Brücke im Hintergrund – die Manhattan Bridge? – macht gleich deutlich, wie „übergreifend“ er zumindest Teile der Stadt kontrolliert). Der kleine Wink an M, den man hier sehen kann, ist trotzdem ganz nett.

John Wick beim Bowery King: Herrscher über weite Teile der Stadt

Ohne Worte: die Göttin des Massakers
Die faszinierendste Nebenfigur von JOHN WICK: CHAPTER 2 ist der Bodyguard von Santino D‘Antonio: eine Frau mit einem sehr einnehmenden, androgynen Charisma, die im Nahkampf extrem zäh ist und nur wenige Worte verliert. Um genau zu sein: überhaupt keine, denn sie ist stumm. Sie kommuniziert nur mit Schüssen, Hieben, intensiven Blicken und mit Zeichensprache. Wie die russischen Passagen in JOHN WICK werden ihre (meist sehr kurzen) Dialogzeilen mit grafisch aufbereiteten Bild-Inschriften übersetzt. Mit viel Fantasie bzw. weil es in diesem Kontext noch passt, kann man das als Rückgriff auf die „stummen“ Filmfiguren des Stummfilms interpretieren, deren wenige Worte mit Zwischentafeln oder auch schon mit grafischen Elementen direkt im Bild „übersetzt“ wurden.
Die Figur trägt übrigens den (männlichen) Namen Ares, wie die Zuschauer in den end credits erfahren oder, wenn sie extrem aufmerksam sind und sehr gute Augen haben, auf einer Karteikarte an einer Pinnwand im Hintergrund für knapp eine Sekunde sehen können. Ares – wie der griechische Gott des offensiven Zerstörungskrieges, des Blutbads und des Massakers.

Ares – hier im Continental-Hotel und daher im friedlichen Modus
Mit griechischer und auch mit römischer Mythologie kenne ich mich weniger gut aus als mit Filmen. Auch andere Figuren, etwa Gianna D‘Antonios Leibwächter Cassian oder der absolut grandios stilvolle und unendlich elegante Rezeptionist des New Yorker Continentals Charon tragen antike und mythologische Namen. JOHN WICK und JOHN WICK: CHAPTER 2, diese blutigen Rachegeschichten im Stile antiker Epen, anhand von griechischer und römischer Mythologie zu analysieren, dürfte vielleicht auch ganz interessant sein. Aber das wäre ein anderer Text von einer anderen Person.

Lesenswertes zu JOHN WICK: CHAPTER 2 und dessen Verbindungen zum Slapstick-Film
À propos andere Personen... SHERLOCK JR., die Paranoia im Stile von COPS, das Chaplin‘sche Spiegelkabinett, die Verbindung zu M, die Symbolhaftigkeit der stummen Leibwächterin – das ist mir alles sofort bei der Sichtung im Kino im Februar dieses Jahres schon aufgefallen. Wer ein wenig googelt sieht, dass auch einige andere Leute das gemerkt haben. Einige Journalisten, Blogger und Video-Blogger haben gesehen, dass es eine Verbindung zwischen JOHN WICK: CHAPTER 2 und Stummfilme, Buster Keaton, Charlie Chaplin gibt. Meistens ist nur ein kurzer Nebensatz zu lesen, und der auf die Häuserfassade zu Beginn projizierte Film wird ab und zu fälschlicherweise als THE GENERAL identifiziert.

Am interessantesten und tiefgründigsten in dieser Materie war folgender Artikel (den ich schon oben verlinkt habe beim Abschnitt um das Lloyd-Poster):

In dem Blog „Silent London“ schreibt die Journalistin Pamela Hutchinson über Stummfilme, und führt zugleich eine Rubrik mit dem schönen Titel „At the Talkies“.
Sie interpretiert tatsächlich die Figur John Wick selbst als Tramp und argumentiert, dass Keanu Reeves mit seinen spärlichen Dialogen und seinen stoischen Gesichtsausdrücken durchaus versucht, in die Fußstapfen von Buster „Stoneface“ Keaton zu treten. Hutchinson betont auch, dass JOHN WICK: CHAPTER 2 wie die Stummfilmklassiker „handgemachte“ Action bietet: mit Schauspielern, die nach brachialem Training selbst die Actionszenen spielten und wenig CGI. Gegen Ende des Artikels zieht sie zwischen den Horden von Profikillern, die Wick massenhaft tötet, und den Keystone Kops eine Parallele, kritisiert aber auch sehr scharf die exzessive Gewalt von JOHN WICK: CHAPTER 2.

auch lesenswert:

Ein interessanter Aspekt wird hier aufgeworfen: nämlich dass beide JOHN WICK-Filme sehr geschickt den Kuleschow-Effekt nutzen, um aus Keanu Reeves‘ stoischem Gesicht das Maximale rauszuziehen. Ansonsten eine Analyse der Filme als Parallelwelten von Scheintoten sowie einige Ausführungen zum mythologischen Charakter (u. a. John Wick als moderner Odysseus, der allerdings keine Penelope mehr hat, zu der zurückkehren könnte).

Von nunmehr praktisch der ganzen Welt verfolg rennt John Wick mit seinem Hund weg...
...und wird im dritten Teil zurückkehren.
JOHN WICK: CHAPTER 2 ist in Deutschland kürzlich auf DVD erschienen (und auf blu-ray und auf Ultra-HD-blu-ray). Wie im Kino kam auch die Heimveröffentlichung ungeschnitten mit einer Einstufung „ab 18“ durch die FSK. Trotzdem hat der Film ein paar Federn verloren. Die grafischen Texteinblendungen, mit denen amerikanische Zeichensprache, Russisch, Italienisch und Hebräisch übersetzt werden, fehlen auf der deutschen DVD. Die Einblendungen fehlen übrigens auch auf der DVD des ersten Teils. Die Hinweise für Hörgeschädigte („dramatische Musik“, „Motorradgeräsuche“, „weiter bedrohliche Musik“ etc.) in den Untertiteln gingen mir ehrlich gesagt nach kurzer Zeit gehörig auf die Nerven. Damit möchte ich keineswegs die Sinnhaftigkeit von Untertiteln für Hörgeschädigte bezweifeln, sondern nur beklagen, dass oft nur ausschließlich diese als Übersetzungshilfe vorhanden sind. Jedenfalls schaltete ich die Untertitel aus – was so viel heißt, dass die italienischen Passagen dann unübersetzt blieben (die konnte ich mit meinen Grundkenntnissen der Sprache überbrücken), der eine hebräische Satz auch – und alles, was Ares mit Zeichensprache sagte, wurde ebenso wenig übersetzt. Das machte die Figur zwar mysteriöser und auch etwas bedrohlicher, nahm ihr aber auch ein Stück ihrer Ausdruckskraft (an einer Stelle möchte sie John Wick – in der Bar des Continentals – tatsächlich einfach nur zu einem Drink einladen: hier ein Clip dieses Moments). Das Problem ist in Deutschland nicht neu: die deutsche DVD von Tony Scotts teils spanisch-sprachigem Mexiko-Rache-Thriller MAN ON FIRE ist auch sämtlicher grafischer Schriftelemente „befreit“.
Wer zur britischen Heimveröffentlichung greifen möchte (wo die Einblendungen wahrscheinlich enthalten sind), sollte allerdings vorsichtig sein. Die BBFC ließ den Film für eine niedrigere Kinofreigabe (ab 15 statt ab 18) kürzen. Herumgeschnippelt wurde offenbar an der Selbstmordszene der Gianna D‘Antonio (siehe hier). Das wirft einige Fragen auf. Eine Frau, die in einem Akt der Selbstermächtigung sich vor den Augen ihres Killers die Pulsadern aufschneidet, war 15-Jährigen wohl nicht zuzumuten. War das zu „sozial desorientierend“, „verrohend“ – oder wie nennen englische Zensoren so etwas? Oder war es etwa, weil Gianna dabei nackt ist? Und warum sind dann Aberdutzende von extrem brutalen Erschießungen sowie das Abstechen mit mehr oder weniger scharfen Gegenständen (von Messern bis zu Bleistiften) für 15-Jährige okay? So, wie der Selbstmord Giannas jetzt verstümmelt ist, könnte man wahrscheinlich den Eindruck erhalten, dass sie sich friedlich in ihre große Badewanne legt und John Wick ihr heimtückisch von hinten in den Kopf schießt (was offenbar für 15-Jährige wieder völlig okay ist) – tatsächlich aber ist sie dabei schon tot. Das ist nun wirklich nicht das gleiche wie in dem Film eigentlich zu sehen ist. Gemäß schnittberichte.com jedenfalls wurde die geschnittene Fassung auf DVD und blu-ray veröffentlicht (ab 15) und die ungeschnittene Fassung (ab 18) nur auf der Ultra-HD-blu-ray.

Zu den US-amerikanischen, französischen und italienischen Veröffentlichungen kann ich nichts sagen – ungeschnitten werden sie wahrscheinlich alle sein, erstere wird mit Sicherheit die grafischen Bildinschriften haben.

Donnerstag, 26. Januar 2017

Mit Höchstgeschwindigkeit durch New York

SPEEDY („Los – Harold – los“ / „Straßenjagd mit Speedy“)
USA 1928
Regie: Ted Wilde
Darsteller: Harold Lloyd (Harold „Speedy“ Swift), Ann Christy (Jane Dillon), Bert Woodruff (Pop Dillon), Babe Ruth (Babe Ruth)


New York in den 1920er Jahren – eine schnelllebige Stadt für schnelllebige Leute. Abseits der großen Boulevards gibt es aber auch Oasen der Ruhe, wo es etwas gemächlicher zugeht. So etwa im der Tram des alten Pop Dillon, die von Pferden gezogen wird. Doch diese Idylle ist in Gefahr. Ein Magnat will für kleines Geld das altmodische Unternehmen aufkaufen, um für einen großen Schienen-Trust Platz zu machen. Als Dillon sich weigert, wird er mehr oder weniger offen von dem Magnaten bedroht. Dieser will sich eine Klausel in den Vereinbarungen zwischen der Stadt New York und Dillon zunutze machen: die Pferde-Tram muss mindestens einmal alle 24 Stunden fahren, sonst verliert Dillon seine Genehmigung. Der Magnat plant also, ein paar schwere Jungs vorbei zu schicken, die Dillon für 24 Stunden kidnappen und seine Bahn wegräumen sollen. Die bösen Buben haben allerdings nicht mit den Händlern des Viertels gerechnet, die jeden Abend die ruhende Tram als Treffpunkt nutzen und bereit sind, sie mit ihrem militärischen Knowhow aus Bürgerkriegszeiten zu verteidigen; und auch nicht mit Harold, dem Verlobten von Dillons Enkelin, ein unverbesserlicher Baseball-Fanatiker und leidenschaftlicher Liebhaber des puren Geschwindigkeitsrauschs auf den Straßen New Yorks: ein Mann mit dem Spitznamen „Speedy“, der bereit ist, die langsame Gemächlichkeit Pop Dillons engagiert und in Höchstgeschwindigkeit zu verteidigen.

SPEEDY ist Harold Lloyds letzter Stummfilm und sein wahrscheinlich puristischster Film: ein Werk, das die Freude am Geschwindigkeitsrausch und die Glückseligkeit kleiner Momente zelebriert und zum eigentlichen Inhalt macht. Wer Filme nur auf das Erzählen von Geschichten reduziert, wird mit SPEEDY sicherlich nicht glücklich werden. Nicht weniger als sieben Autoren (Harold Lloyd, der wahrscheinlich entscheidenden Input geleistet hat, nicht eingerechnet) haben das Drehbuch geschrieben, so dass seine dramaturgische Zerfahrenheit (oder positiver ausgedrückt: Lockerheit) kein Zufall ist. In der ersten Viertelstunde werden der Grundkonflikt etabliert (Pferdetram-Opa bedroht von bösem Magnat) und die Hauptfiguren eingeführt. Dann „bricht“ SPEEDY einfach den Lauf der Geschichte „ab“ und gönnt sich eine dramaturgisch völlig unnütze, wunderbar ausgelassene, urkomische und anrührende 20-Minuten-Sequenz im Vergnügungspark Luna Park auf Coney Island. Quasi ein eigener Film im Film, nach dessen Ende nicht etwa der rote Faden wieder aufgegriffen wird: nein, vielmehr erleben wir dann den Tag danach, in dem Harold, der seine Jobs immer wieder verliert, um dann neue zu versuchen, sich als Taxifahrer verdingt, durch die Umstände wieder einmal versagt und zwischendurch Baseball-Star Babe Ruth in einem halsbrecherischen Tempo zum nächsten Spiel kutschiert. Wieder ein etwa 20-minütiger Film-im-Film – an dessen Ende dann „endlich“ der rote Faden der Exposition wieder aufgegriffen wird.

Rauschhaftes Vergnügen in Coney Island.
Unten rechts hat sich eine lebende Krabbe in Harolds rechter Jackentasche versteckt und
die Handtaschen fremder Damen geplündert – was Harold später Ärger einbringt.

Gut die Hälfte verbringt der Film also damit, Sachen zu zeigen, die dramaturgisch „irrelevant“ sind. Produktionstechnisch kann man mutmaßen, dass hier möglicherweise mehrere Kurzfilmideen zu einem abendfüllenden Film zusammen „gekittet“ wurden. Da hätten wir also einen Film, in dem Harold die Pferdetram seines Schwiegeropas gegen böse Magnaten verteidigt (die Rahmenhandlung sozusagen), einen Film, in dem Harold mit seiner Verlobten Coney Island besucht und dort Lustiges (mehr für den Zuschauer als für ihn selbst) erlebt und einen Film, in dem Harold als Taxifahrer jobbt und dabei nicht davor scheut, halsbrecherische Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen.
Dennoch wirkt SPEEDY wie aus einem Guss. Filmische „Verkittungen“ sieht man etwa Chaplins Filmen (auch wenn ich mit dieser Meinung auf einsamer Flur stehe) wesentlich mehr an. SPEEDY ist auch der Harold-Lloyd-Film mit der wahrscheinlich höchsten Gag-Dichte: ein Feuerwerk an brillanten Ideen, die sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben und zur nächsten tollen Idee führen – hier zahlten sich die sieben bzw. acht Autoren aus. SPEEDY schafft den Spagat zwischen einer extremen dramaturgischen Entspanntheit und dieser Mischung aus Gag-Feuerwerken und Geschwindigkeitsrausch. Er ist gleichzeitig beruhigend und anregend.
Zumindest ersteres liegt nicht zuletzt daran, dass Harold „sein Mädchen“ hier schon gleich von Anfang an „hat“ und es nicht darum geht, wie er trotz widriger Umstände den Tag rettet und nebenbei noch ihr Herz erobert (in HOT WATER von 1924 spielt Harold Lloyd zwar einen glücklich verheirateten Mann, der allerdings sich selbst, seinen Besitz und seinen Verstand vor dem Treiben einer extrem anstrengenden Schwiegerfamilie retten muss). Nein, Harold und Jane haben gar die romantische Anfangsphase ihrer Beziehung schon längst hinter sich: da wird zwischendurch lustig gerauft, Ellbogen werden munter in die Rippen gerammt, kleine Streiche in der U-Bahn gemeinsam gefeiert und Fastfood wird hemmungslos zusammen in rauen Mengen vernichtet. Harold muss sich nicht mehr beweisen. Am Ende der Coney-Island-Sequenz wollen beide heiraten, nur Jane möchte warten, bis Pop seine Probleme mit der Tram in den Griff bekommt – natürlich ein zusätzlicher Anreiz für Harold, seinen künftigen Schwiegeropa beim Kampf gegen den Magnaten zu unterstützen. So, wie er mit Pop allerdings auch vorher umgeht, wird allerdings klar, dass er dies auch ohne diesen Anreiz tun würde.

Fastfood-Genüsse für ein Paar, das sich voreinander nicht mehr geniert, doch viele Gefahren lauern auf Harolds brandneuen Anzug.
Unten rechts: die "obscene gesture", mit der Harold seinem Spiegelbild das Missfallen über die Verschmutzung des Anzugs signalisiert,
war eigentlich auch in pre-code-Zeiten undenkbar in einem Film. Zensoren haben diesen kurzen Moment allerdings einfach übersehen.

Die Coney-Island-Sequenz, in dem sich ein Liebespaar vergnügt (er sich aber auch zwischendurch zünftig ärgert), erinnert entfernt ein wenig an die Vergnügungen des zuerst entfremdeten, dann doch versöhnten Paares in Friedrich Wilhelm Murnaus bahnbrechendem SUNRISE. Wo dort jedoch alle städtischen Szenen im Studio entstanden, wurde SPEEDY mehrheitlich in New York on location gedreht. Die Szenen im Vergnügungspark wurden offenbar teils mit versteckter Kamera gefilmt, damit nicht allzu viele Leute mitbekommen, dass hier Harold Lloyd gerade dreht – ein Star im Höhepunkt seines Ruhms. Die gefühlte Modernität von SPEEDY ergibt sich nicht nur im Vergleich zu SUNRISE. Ein luftig-leichter Film, figurenzentriert, mehr an kleinen Momenten als an der großen Geschichte interessiert, gefilmt auf den Straßen statt im Studio – das gibt dem SPEEDY zwischendurch beinahe so etwas wie ein verfrühtes nouvelle-vague-Feeling. Aber vielleicht ist das auch nur mein Gefühl, weil LES 400 COUPS (den ich knapp zwei Wochen nach der Erstsichtung von SPEEDY wieder sah) auch einen Moment enthält, in dem die Hauptfigur ein sehr denkwürdiges Karussell benutzt.

Ich glaube, in einem Video-Blog die These gehört zu haben, dass Lloyd, mehr als Keaton und Chaplin, auch ein Dokumentarist seiner Zeit und seiner Orte war. SPEEDY ist in diesem Sinne auch ein historisches Dokument von New York in den 1920er Jahren. Die Slums, die im letzten Drittel des Films gezeigt werden, wurden in einem Studio in Hollywood nachgebaut, der größte Teil des Rests zeigt die Weltmetropole jedoch in echt. Zu sehen sind nicht nur sind nur der Luna Park in Coney Island (der nicht mehr existiert), die Brooklyn Bridge, das Yankee Stadium und der Washington Square Arch beim Washington Square Park, sondern auch viele „anonyme“ Ansichten New Yorker Straßen. Die Macher von SPEEDY hatten offensichtlich großen Spaß daran, in New York zu drehen. Immer wieder werden Straßenzüge länger gezeigt als dramaturgisch „notwendig“, und der Gagfluss wird dann für kurze Zeit für New Yorker Straßenimpressionen unterbrochen, oft gefilmt aus einem fahrenden Auto.

Prominente New Yorker Wahrzeichen: Luna Park in Coney Island, das Yankee Stadium
Washington Square Arch, Brooklyn Bridge...

...und weniger offensichtlich bekannte Straßen und Orte in Filmimpressionen.

Durchaus auch im Geiste der Zeit, nämlich der USA in der „progressive era“ der 1890er bis 1920er Jahre, ist die (gleichwohl eher milde) Kapitalismuskritik von SPEEDY. Auch wenn viele Europäer das nicht so auf dem Schirm haben oder wahrhaben möchten, so hat Kapitalismuskritik durchaus eine eigenständige Tradition in der US-amerikanischen politischen Kultur. Die „progressive era“ war eine Zeit der industriellen Entwicklung, in der viele Wirtschaftszweige (am prominentesten Eisenbahn und Öl) begannen, sich in großen „Trusts“ zu konzentrieren – große Kombinate, die die Manufakturen und Familienunternehmen des „kleinen Mannes“ zu zerstören drohten. Das Feindbild des großen Trusts und ihrer „robber barons“ war durchaus mehrheitsfähig, die Vorschläge politischer Gegenmaßnahmen waren allerdings uneinheitlich: sie reichten von „trust busting“ (Zerschlagung großer Kombinate und forcierte Anti-Kartell-Gesetzgebung) bis hin zur Verstaatlichung von Trusts über zumindest eine gesetzliche Regulierung der Unternehmen (beispielsweise in Form des Pure Food & Drug Act von 1906, einem frühen Verbraucherschutzgesetz, das in Reaktion auf Upton Sinclairs Roman „The Jungle“ über die horrenden Arbeitsweisen der Fleischindustrie erlassen wurde). Jedenfalls stellt SPEEDY sehr deutlich diesen Gegensatz her zwischen der auf überschaubare Zusammenhänge ausgerichteten Wirtschaft von Kleinunternehmern, personifiziert durch den sympathischen Pop und seinen Kumpels, die kleine Geschäfte betreiben, und dem skrupellosen Gebaren der Trusts, personifiziert durch den groben, selbstgefälligen Boss, der kleinkriminelle Schlägertypen als Handlanger beschäftigt. Beim Konflikt, um den es hier geht, steht nicht weniger als eine der Säulen der amerikanischen Republik auf dem Spiel: nach dem Besuch des Magnaten reibt Harold seinem Schwiegeropa den versteiften Nacken aus Versehen nicht mit medizinischem Öl, sondern mit einem Catsup der Marke „Liberty“ ein.
Ich habe mir mal einen kleinen Exkurs in die politische Kultur der USA des frühen 20. Jahrhunderts erlaubt. Die Kapitalismuskritik von SPEEDY, die im Ideal des autark wirtschaftenden Kleinunternehmers durchaus anschlussfähig an antimodernem Konservatismus war, läuft aber schlussendlich ins Leere, als Pop am Ende dann doch den Scheck des Magnaten entgegen nimmt – es sich aber auch nicht nehmen lässt, ihn vorher noch öffentlich zu demütigen.

Ein Großunternehmer und seine finsteren Gesellen bedrohen Pops Kleinunternehmen,
doch der Pferdebahn-Fahrer und seine Kleinhändler-Freunde erweisen sich als wahrhaft.

Zurück also zum eigentlich Hauptthema des Films: dem puren Rausch der Geschwindigkeit. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einige der Screenshots, die ich für den Film gemacht habe, durch Bewegungsunschärfe etwas verschwommen wirken, denn der „rote Faden“ der Geschichte ist in SPEEDY tatsächlich das einzige, was an Ort und Stelle stehen bleibt.
Die wunderbare Coney-Island-Sequenz ist sicherlich von großer Dynamik, flott und rasant inszeniert. Doch richtig Gas geben SPEEDY und „Speedy“ dann am Tag nach Coney Island, als Harold Taxi fährt. Hartnäckige „out of order“-Schilder, blockierende Türen, unfreiwillige Abschleppaktionen und potentielle Kunden, die erst einsteigen können, wenn sie eine Prügelei überstanden haben, sorgen zunächst für mangelnde Kundschaft. Polizisten auf Verfolgungsjagd geben Harold dann grünes Licht: mit ihnen als Passagiere gäbe es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Das lässt sich Harold nicht zweimal sagen und rast durch die Straßen New Yorks, dass einem ganz schwindlig wird (sehr zum späteren Missfallen eines Verkehrspolizisten merkt Harold leider den Austausch seiner Kundschaft zwischendurch nicht). Ohne Fahrtgeld, aber mit Strafzettel, gewinnt Harold durch Zufall den Star-Baseballspieler Babe Ruth als Gast. Der ermuntert seinen Taxifahrer, zügig zum Yankee Stadium zu fahren – eine Entscheidung, die der Sportler rasch bereut, als Harold mit selbstmörderischem Tempo rast und es sich dabei nicht nehmen lässt, mit seinem berühmten Gast zu locker zu plaudern, ohne groß darauf Acht zu geben, welche Autos gerade frontal auf ihn zufahren. „If I ever want to commit suicide I‘ll call you.“ verspricht Ruth dem Taxifahrer eine Handvoll Nah-Toderfahrungen und einigen Dutzenden Fast-Unfällen später.

Harold freut sich riesig, Babe Ruth kutschieren zu dürfen. Für diesen wird allerdings die Fahrt mit dem Raser,
der nicht auf den Verkehr achtet, eher unentspannt.

Im letzten Teil des Films kommt es schließlich zu einer langen Verfolgungsjagd, bei der Harold die Tram seines Schwiegeropas von dem Hangar, zu dem sie die Bösewichte gebracht haben, wieder zu Pop fährt, bevor die 24-Stunden-Deadline verfällt – ohne dabei irgendwelche Schienen zu nutzen.
Hier kommt es zu einem interessanten Effekt. Einzelne Momente der Verfolgungsjagd sind eindeutig als rumpelige Rückprojektionen identifizierbar – meist jene, in denen man Harold frontal von vorne oder direkt von hinten den Wagen manövrieren sieht. Diese Rückprojektionen – das CGI der expressionistischen Ära – lassen den Rest allerdings noch wesentlich realer aussehen: hier wurde tatsächlich ein Tramwagen durch die Straßen New Yorks gefahren. Klar, meistens läuft der Film leicht beschleunigt ab, so dass das ganze etwas dramatischer aussieht, als es wohl war. Nichtsdestotrotz: die Illusion klappt. Schier unfassbar ist der völlig unerwartete Crash: mitten in der Verfolgungsjagd knallt die Tram hart gegen einen Stützpfeiler der Hochbahn. Hier erreicht SPEEDY fast die Dramatik des großen Zug-Brücken-Crashs in THE GENERAL, doch im Gegensatz zu Keatons Crew hatten Lloyd und Co. den Unfall nicht geplant. Niemand wurde verletzt, die „verpatzte“ Szene blieb dennoch im Film. Der Einfall, das zerbrochene Rad durch einen Gullydeckel zu ersetzen, war improvisiert.

Finale Verfolungsjagd. Oben links vor Rückprojektion – alle anderen auf den New Yorker Straßen.
Unten rechts der ungeplante Crash.

Nicht unerwähnt bleiben soll natürlich die große Massenschlägerei, bei der eine Gruppe von Senioren zusammen mit Harold einigen harten Straßenschlägern ordentlich den Hintern versohlt. Doch wie gesagt ist SPEEDY ein Film, bei dem Momente der Ruhe ebenso wirkungsvoll sind wie die vielen Kicks des Geschwindigkeitsrausches. Die Coney-Island-Sequenz endet damit, dass Harold und Jane bei einem Kumpel Harolds, einem Umzugsfahrer, im Wagen hinten mitfahren. Dort steht allerlei Gerümpel, den es eben so bei einem Umzug so gibt. Nicht besonders gemütlich; tatsächlich nur eine unbequeme Mitfahrgelegenheit. Doch Harold und Jane lassen sich nicht unterkriegen. Mit nur wenigen Handgriffen verwandelt Harold den unbequemen Umzugswagen in ein gemütliches Wohnzimmer – so gemütlich, dass man da sogar die zukünftigen Kinder in der Wiege sehen kann. Aus nichts mit wenigen Handgriffen eine Illusion basteln – die pure Freude des Filmemachens in einem Bild zusammengefasst...

Vom vollbeladenen Umzugswagen zum gemütlichen Wohnzimmer

Im Gegensatz zu Chaplin und Keaton (letzterer teilte sich meist die Regie-Credits) ließ sich Harold Lloyd nie als Regisseur und Autor seiner Filme nennen, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass er die kreative treibende Kraft seiner eigenen Star-Vehikel war. Er hatte auf jeden Fall einen harten Kern an festen Mitarbeitern und Gagschreibern, denen er die Regie-Credits trotz, wie man manchmal lesen kann „streibarer Regiebeiträge“, überließ. Ted Wilde jedenfalls war kein einfacher „ghost director“, sondern ein integraler Bestandteil von Harold Lloyds Crew. Er war Autor und Gagschreiber von WHY WORRY?, GIRL SHY, THE FRESHMAN, FOR HEAVEN‘S SAKE und THE KID BROTHER – für letzteren, Lloyds schönster Film neben SPEEDY, war er auch der nominelle unter ganzen fünf inoffiziellen Regisseuren. Der gebürtige New Yorker hatte wie Lloyd selbst auch für Hal-Roach-Produktionen debütiert und inszenierte nach SPEEDY noch zwei weitere Filme unabhängig von Harold Lloyd. Mit nur 40 Jahren starb Wilde Ende 1929 an den Folgen eines Herzinfarkts. An der Kamera gab es keine personellen Überraschungen: Walter Lundin saß schon 1915 bei den ersten Filmen „Speedys“ hinter der Kamera, fotografierte alle Lloyd-Klassiker der 1920er Jahre und machte mit dem großen Slapstick-Komiker auch den Übergang zum Tonfilm in die 1930er Jahre mit.
Bert Woodruff war beim Dreh von SPEEDY 71 Jahre alt und damit im richtigen Alter, um einen überzeugenden Pop Dillon zu spielen. Der Vaudeville-Darsteller versuchte sich ab den 1910er Jahren (als er bereits um die 60 Jahre alt war) im Film und spielte für namhafte Filmemacher wie Tod Browning, Frank Borzage und John Ford. Ann Christy ist keine Mildred Davis und schon erst recht keine Jobyna Ralston, spielt aber dennoch eine überzeugende Jane. Sie drehte ihre ersten Filme (darunter ironischerweise einer mit dem Titel THE KID SISTER) 1927, bevor der Slapstickstar sie für SPEEDY engagierte. Doch wie bei ihren beiden Vorgängerinnen als Lloyd-Partnerin endete auch ihre Karriere recht früh: nach SPEEDY bekam sie keine namhaften Rollen mehr und hing 1932 das Schauspielen an den Nagel.

SPEEDY findet sich auf der siebenten Scheibe der „10-Disc-Harold-Lloyd-Collection“, die selbstverständlich in jeden gut sortierten Haushalt gehört. Die Box war auf gängigen Plattformen 2010 für nur 16 Euro verfügbar. Heute kostet sie mindestens das Vierfache – aber die Investition lohnt sich. Die einzelnen Discs der Collection (bei THE FRESHMAN, Disc 5, und SAFETY LAST, Disc 3, weiß ich es bestimmt) sind wohl auch einzeln erhältlich. SPEEDY ist auch als DVD und als blu-ray bei der Criterion Collection in den USA erschienen. Eine blu-ray-Lizenz-Ausgabe davon gibt es in Großbritannien.
Auf allen genannten Edition findet sich der schlichtweg fantastische Score von Carl Davis. Die Scores der Komponisten und Arrangeure Carl Davis und Robert Israel begleiten praktisch alle Filme der Lloyd-Collection und sind fast allesamt gut bis sehr gut. Doch bei SPEEDY hat sich Carl Davis selbst übertroffen. Sein jazziger Score gehört zu dem Besten, was ich bislang im Bereich der Stummfilmmusik erlebt habe. Er wirkt nicht wie eine Begleitung, wie etwas von außerhalb, sondern wie ein unzertrennlicher Bestandteil des Films.

Freitag, 3. April 2015

Keaton aquaphob


Buster Keaton – der Name steht für spektakuläre Action und Stunts in urbanen Umgebungen, im Inneren von Häusern oder auf modernen Fortbewegungsmitteln wie Autos, Motorrädern, Bussen oder Eisenbahnen. Doch Keaton konnte auch auf hoher See und auf einem so traditionellen Fortbewegungsmittel wie einem Schiff oder einem Boot sein komisches Potential entfalten...



THE BOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der Mann), Sybil Seely (die Frau), Edward F. Cline (der Mann von der Küstenwache)


Ein Mann (stellen wir uns im Folgenden vor, er würde Buster heißen) baut eigenhändig ein Segelboot. Prompt will er seine Frau und seine beiden Kinder auf eine kleine Spritztour mitnehmen. Doch davor muss das Boot noch aus der Garage geholt werden, wo es gebaut wurde – eine Operation, die eine mittelgroße Ruine hinterlässt. Dann wird das Gefährt namens „Damfino“ eingeweiht (mit Cola). Vor dem Seegang gibt es noch Schwierigkeiten: das Boot sinkt nämlich zunächst. Nach fixer Reparation geht es los! Da Buster ein echter Tüftler ist, hat er an alles gedacht: mit einem Hebel kann er Mast und Segel herunterklappen, wenn das kleine Schiff unter eine Brücke passieren muss. Technische Raffinesse bringt bei menschlichem Versagen natürlich nichts, und so beginnt die Fahrt etwas holprig. Das ganze macht richtig hungrig, und im Bootsinneren genießen Buster und die zwei kleinen Buster-Junioren die Steaks, die Ehefrau und Mutter zubereitet hat – nun, nicht wirklich, denn das Fleisch ist so hart geworden, dass es an die Wand genagelt werden kann (und später auch wird!). Nach dem Abendessen ist vor dem Schlafen: die Familie legt sich zur Nachtruhe hin. Eine feuchte Nachtruhe, wenn man das Bullauge offen lässt. Es dann zu schließen bringt auch nichts, denn ein gefährlicher Sturm ist mittlerweile aufgezogen. Das Boot wird durcheinander geworfen, Buster kämpft gegen Lecks und muss schließlich seine Familie auf dem Rettungsboot in Sicherheit bringen. Die vier Menschen, die nur einen Ausflug machen wollten, stehen kurz vor dem Ertrinken, nachdem der kleine Junior den Stöpsel des Rettungsboots herausgezogen hat (!). Doch die vier Schiffbrüchigen sinken einfach nicht, sondern bleiben stehen. Einige Schritte weiter entdecken sie, dass sie am Rande eines rettenden Strands gesunken waren.

THE BOAT gehört definitiv nicht zu meinen Keaton-Favoriten. Er ist bestenfalls die Summe seiner Teile, die für sich genommen nicht alle rundum überzeugen. Dennoch zeugt dieser Kurzfilm von Keatons inszenatorischem Können, etwa in der Szene, in der das Boot im Sturm mehrmals um die eigene Achse geschleudert wird, mit Buster im Inneren. Weniger akrobatisch, aber nicht weniger spektakulär ist der Schluss: Buster watet mit seiner Frau und seinen zwei Kindern durch ein dunkles, schwarzes Meer, und plötzlich taucht der Strand auf – ein schöner und sehr effizienter Beleuchtungseffekt. Der kreative Höhepunkt des Films ist jedoch keineswegs akrobatisch, sondern ein wunderbarer Moment purer Keaton-Poesie. Buster befindet sich im Inneren seines selbstgebauten Bootes, will das ganze gemütlicher gestalten und nagelt deshalb ein Bild mit Seemotiv an die Wand. Natürlich dringt Wasser durch und beginnt – zur Verwunderung Busters – „aus dem Bild“ herauszufließen.

Ein recht subtiler und stiller Gag findet sich bei der Entsorgung der ungenießbaren Steaks. Der Mann und die beiden Jungs wollen auf Ehefrau und Mutter Rücksicht nehmen und drücken deshalb keinen Unwillen gegen die Steaks aus, sondern verstecken sie – in Busters charakteristischem Hut (das selbst nach einer Fleischzubereitung benannt ist: pork pie hat). Andere Gags funktionieren hingegen nicht so richtig. Einen strahlenden Wasserleck will Buster mit einem Trichter auffangen, den er zunächst in den Boden des Bootes bohren möchte und wenig später schöpft er mit einer kleinen Teetasse das Wasser aus dem Bullauge – etwas bemüht und hölzern.
Recht interessant ist der Familienstand der Hauptfigur: Keaton spielt einen im wesentlichen glücklich verheirateten Mann mit zwei Kindern. Eine ungewohnte Konstellation, da das Grundgerüst in vielen anderen Keaton-Filmen darin besteht, dass der ledige Protagonist das Herz seiner Angebeteten zu erobern versucht oder sich auf der Suche nach der großen Liebe begibt.
THE BOAT ist ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, bis James Mason 1952 Buster Keatons Haus kaufte, im Keller diverse Filmrollen fand und diese restaurieren ließ.



THE LOVE NEST
USA 1923
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verlassene Verlobte), Joe Roberts (der Kapitän), Virginia Fox (die Ex-Verlobte)


Eine Verlobte macht mit ihrem Verlobten (den wir unter uns sicherlich Buster nennen dürfen) Schluss. Seine Traurigkeit will der junge Mann mit einer einsamen Bootsreise auf hoher See dämpfen, doch rasch ist er verloren. In letzter Minute wird er von einem Schiff gerettet. Oder eher: „gerettet“. Denn der Kapitän führt seine Mannschaft mit eiserner Hand und schmeißt seine Seemänner schon bei kleinsten Vergehen gnadenlos über Bord. Auch Buster wird irgendwann dran glauben müssen. Nachdem er aus Versehen einen Eimer Wasser auf den Kapitän verschüttet, ihn – aus Versehen – mit einem Gewehr bedroht und sein Kaffeeservice (jawohl: aus Versehen) zertrümmert hat, ist es soweit. Doch dann wird ein Wal gesichtet, und die Hinrichtung verschoben. Als bei der Jagd der Kapitän über Bord fällt und scheinbar ertrinkt, erklärt sich Buster kurzerhand zum neuen Kapitän, doch wenig später taucht der „alte“ wieder auf. Die Amtsanmassung bringt diesen endgültig zum Platzen (und dies wiederum den kleinen Rest der Seemannschaft außer Buster zum spontanen Kollektivselbstmord). Eine wilde Verfolgungsjagd entscheidet Buster für sich, als er den kompletten Dampfer zum Sinken bringt, weil er das Rettungsboot nicht auf andere Weise zum Wasser bringen konnte. Am nächsten Morgen fängt Buster einen Fisch, und erledigt diesen mit einem glatten Gewehrschuss – was wiederum das Rettungsboot zum Sinken verurteilt. Zum Glück war unser Protagonist gerade in der Nähe einer merkwürdigen, schwimmenden Holzkonstruktion. Er erkennt nicht, dass es sich um eine Zielscheibe für Marineschießübungen handelt und wird wenig später in die Luft gesprengt. Tot begibt er sich in Richtung Himmel... Und fällt dann in Richtung Hölle... Und wacht schließlich aus seinem delirierendem Traum auf. Nur wenige Sekunden später merkt Buster zudem, dass er sich auch nicht verloren auf hoher See befand: sein Boot war die ganze Zeit noch am Ufer angebunden.

Keatons Filme sind teils auch Filme über gestörte Wahrnehmungen, und nirgendwo sind die Sinne offener für Verzerrungen als im Traum. Hier sind besonders wilde Kapriolen möglich, und die Möglichkeiten eines Traums entwickelte Keaton in SHERLOCK JR. als Film-im-Traum-im-Film-Konzept weiter. Der Traum von THE LOVE NEST, diese surrealistisch verzerrte Welt, entwickelt auch eine unterschwellige Gewalt, eine latent fatalistische Atmosphäre, einen morbiden Unterton, den Keaton auch schon in COPS (und etwas weniger pointiert THE GOAT) genutzt hatte.
Schon als der erste Seemann einen Fehler macht und der Kapitän ihn dann stellt, über Bord schmeißt und einen Kranz aus einer extra dafür vorbereiteten Kranzkollektion greift und hinterherwirft, ist klar, dass Buster auch einen Fehler machen und den tödlichen Zorn des Kapitäns spüren wird – und Buster selbst weiß es auch (gleichwohl er schließlich nicht vom Kapitän des Walschoners, sondern von der Marine „gerichtet“ wird). Grausamkeit, Witz und Poesie halten sich hier die Balance. Nirgends wird dies deutlicher als im angedeuteten Selbstmord Busters: er hat mit einem Gewehr rumgespielt, den er in der Kapitänskoje fand und damit aus Versehen auf den Kapitän gezielt; er nimmt in Konsequenz davon das Gewehr mit, geht auf das Deck, läuft eine Treppenleiter am Rande des Schiffs in das Wasser hinunter, geht komplett in das Wasser, bis er versinkt – und schießt dann unter Wasser... Doch dann taucht er wieder auf, und läuft mit dem Gewehr in der einen Hand und einem erlegten Fisch in der anderen wieder hoch. Das ist ein schwarzer Humor, der sehr perfide die Erwartungen der Zuschauer manipuliert und sie in die Falle lockt (dabei gilt gemeinhin Chaplin als der Subversive unter den Slapstick-Komikern der 1920er Jahre). Die Logik des Traums sieht vor, dass Fische mit Gewehren gefangen werden und deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Buster später im Film dabei sein Boot zerschießt und so auf eine der todbringenden Holzkonstruktionen gedrängt wird.
Wesentlich einfacher und harmloser wirken die Gags, wenn Buster Befehle des Kapitäns wie etwa „all hands on deck“ oder „to the port“ allzu wörtlich nimmt und seine Hände auf‘s Deck legt oder dem Kapitän eine Flasche Portwein holt.
Der surrealistische THE LOVE NEST war Buster Keatons letzter kurzer Stummfilm.



THE NAVIGATOR
USA 1924
Regie: Buster Keaton
Darsteller: Buster Keaton (Rollo Treadway), Kathryn McGuire (Betsy O‘Brien)


Rollo Treadway ist ein verträumter und tollpatschiger Millionär, der für das Leben „draußen“ kaum tauglich ist. Aus einer Laune heraus möchte er heiraten: Betsy O‘Brien, eine Millionärstochter und praktischerweise seine Nachbarin. Alles ist vorbereitet, die Schifftickets für die Flitterwochen schon gebucht – nur Betsy weiß von ihrem Eheglück nichts und lehnt den Antrag aus heiterem Himmel dann auch folgerichtig ab. Durch eine Verkettung von Umständen (es geht um eine recht wilde und wirre Industrie- und Armeespionage-Intrige) geraten die beiden jungen Millionäre auf ein Schiff, das kapitänslos durch die See gleitet. Da es sehr groß ist, viele Treppen und Etagen hat, finden sie sich zunächst nicht. Als sie das tun, lehnt Betsy Rollos wiederholten Heiratsantrag erneut ab, aber dennoch raufen sie sich zusammen, um das Überleben auf dem verlassenen Schiff zu sichern. In der Küche merken die beiden, dass Kaffeezubereitung mit Meerwasser nicht so das wahre ist, und dass Spargeldosen schwierig zu öffnen sein können. Plötzlich erblicken beide ein Schiff, das sie retten könnte. Mit einer Flagge möchten sie auf sich aufmerksam machen, doch dummerweise erwischen sie das Zeichen für Quarantäne (was das andere Schiff regelrecht flüchten lässt). Nach der ganzen Aufregung möchten sich die beiden Millionäre zur Nachtruhe begeben: gar nicht einfach, wenn Geisterbilder durch Bullaugen schweben, Türen klappern, ein Feuerwerk aus Versehen (in Keaton-Filmen passiert immer so vieles aus Versehen!) losgeht oder ein Open-Air-Camping aufgrund von Regen unterbrochen wird. Sei‘s drum: nach einigen Tagen haben sich Rollo und Betsy eingelebt, die Kesselräume zu bequemen Nachtlagern umgebaut, die Küche mit allen möglichen Hilfsapparaturen ausgestattet. Dann ist endlich Land in Sicht. Freilich ein Land, das von angriffslustigen Kannibalen bevölkert wird und nicht zum Andocken einlädt. Nun bekommt Rollo allerhand zu tun: ein Leck muss unter Wasser repariert, Betsy vor den Kannibalen gerettet, schließlich letztere in einem rasanten Showdown vom Leibe gehalten werden. Als die beiden Protagonisten schon kurz vor dem Ertrinken sind, taucht ein U-Boot auf, das die beiden rettet. Betsy küsst Rollo in Dankbarkeit (der nächste Heiratsantrag könnte also klappen), doch dieser bringt schon in wenigen Sekunden das U-Boot (im wörtlichen Sinne) durcheinander...

Als ich THE NAVIGATOR im Jahr 2012 zum ersten Mal sah, speicherte ich ihn in der Kategorie „okay-ish“ ab. Eine Sichtung im Kino letztes Jahr öffnete mir dann die Augen für die grandiose Keaton‘sche Komik, die tolle inszenatorische Gestaltung und die Poetik des Films. Die erneute Sichtung für diese Besprechung ließ mich noch weitere Feinheiten entdecken, die ich vorher nicht gesehen oder bemerkt hatte.

THE NAVIGATOR mag vielleicht nicht Keatons bester Film sein und er ist auch nicht mein Lieblings-Keaton (da bin ich recht „traditionell“ und würde wohl THE GENERAL wählen). Wer mich jedoch – als erklärter Keaton-Fan und ambivalenter Chaplin-Skeptiker – fragen würde, warum ich den „Mann mit dem Steingesicht“ für den allergrößten unter den Stummfilm-Komikern der 1920er Jahre halte, dann würde ich wohl auf die „Verfolgungsjagd“ im ersten Drittel von THE NAVIGATOR hinweisen. In knapp drei Minuten und (je nach dem, wo man das Ende setzen möchte) 31 Einstellungen erschafft Keaton ein Gag, der wie ein eigener Ultrakurzfilm funktioniert, mit einer eigenen minutiösen Dramaturgie und der fast zu 100 % nur mittels der Montage und der Rauminszenierung abgewickelt wird (zum Nachverfolgen siehe hier).

Exposition: ein Mann und eine Frau – verloren auf dem Schiff
1 Panorama auf das verlassene Schiff
2 Rollo tritt nach der Nachtruhe gutgelaunt aus seiner Kabine aufs Deck hinaus, doch ein Windstoß bläst sein Hut weg. Er tritt wieder an seine Kabine, nimmt einen Reservehut und geht weiter (die Grundlage für eine spätere und erstaunlich nonchalante Wiederholung des Witzes)
3 Betsy läuft auch auf dem Deck, ist sichtlich verunsichert und sucht nach Ko-Passagieren
4 Rollo betritt das Schiffsrestaurant, das sichtlich menschenleer ist
5 Halbnahaufnahme: Rollo ist etwas irritiert und
6 tritt aus dem Schiffsrestaurant hinaus...
7 aufs Deck, wo ihm ein Windstoß wieder den Hut wegbläst – im Gehen greift er gleich in seine Kabine und setzt den nächsten Hut auf (diesmal einen Zylinder, also einen Hut, den man als Bräutigam tendenziell eher auf einer Hochzeit tragen würde als einen pork pie hat!)
8 er kommt an das Steuer, findet dort niemanden vor, dreht ein wenig an der Lenkung und blickt neugierig auf das, was sich gleich als Kompass herausstellt
9 Kompassnahaufnahme
10 Er blickt auf seine Uhr, erstaunt auf den Kompass, dann wieder auf seine Uhr

Mittelteil: ein Mann und eine Frau – Möglichkeit einer Begegnung
11 Sie kommt auf das Deck an, wo sich seine Kabine befindet, und steigt die Treppen herunter und kehrt ihm den Rücken zu, während er von weiter oben hinuntersteigt: die Möglichkeit einer Begegnung ist also gegeben
12 Beide bleiben erst einmal auf ihrer jeweiligen Etage stehen
13 Er wirft eine aufgerauchte Zigarette herunter
14 Er entfernt sich langsam aus dem Bild, während sie stehen bleibt.
15 Nahaufnahme brennende Zigarette
16 Sie hebt die Zigarette auf...
17 ...und ruft

Showdown: ein Mann und eine Frau – verpasste Begegnung
18 ...er hört, dreht sich um, beginnt zu rennen
19 sie steigt auf seine Etage, ruft, beginnt zu rennen
20 er rennt
21 sie rennt, biegt ab – er kommt am anderen Ende um die Ecke und rennt
22 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
23 sie biegt ab, rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
24 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt, biegt ab
25 sie tritt in einen Raum und geht dort eine Treppe runter – er kommt am anderen Ende des Raums (das zwei Türen hat) rein, ignoriert die Treppe, und springt an der anderen Seite aus der Tür raus
26 Nun rennen beide durchgehend im gleichen Bild vereint durch drei verschiedene Etagen des Schiffs, und verpassen sich trotzdem. Dieses Bild ist gewissermaßen die radikale Zuspitzung der Grundsituation eines Mannes und einer Frau, die sich verpassen – und vielleicht der visuelle Höhepunkt des Films.

Auflösung: ein Mann und eine Frau – Zufallsbegegnung
27 Sie steigt schließlich in das Schiffsinnere hinab und setzt sich auf eine Bank
28 Aus Versehen (schon wieder!) fällt Rollo durch ein Lüftungsrohr (oder wie man die Dinger nennt – Marinejargon beherrsche ich nicht gerade fließend)
29 Sie sitzt auf der Bank, er fällt runter, dabei zerbricht die Bank
30 Beide ahnen schlimmes, richten sich auf, sehen sich an, erkennen sich, schrecken auf. Er entspannt sich sogleich, nimmt eine coole Charmeurpose ein, setzt ein verführerisches Gesicht auf (Stoneface hin oder her: Keaton ist ein grandioser Mime) und spricht:
31 Zwischentitel: „Will you marry me“

Jetzt, wo ich die „Verfolgungsjagd“ in einzelne Einstellungen aufgesplittet habe, fällt mir auf, dass sie gleichermaßen auch eine Art kondensierte Zusammenfassung einer Mann-Frau-Annäherung ist (Existenz untereinander unbekannt, Begegnung möglich, Begegnung angebahnt, Begegnung findet statt) – und damit gewissermaßen auch das Thema des gesamten Films (ein Mann möchte eine Frau heiraten) zusammenfasst.
Sie ist formell großartig, weil sie den Gag aus Montage und Rauminszenierung heraus entwickelt. Das Lachen wird so im Raum verortet, und nicht mehr im Körper der Darsteller oder in den Accessoires (außer im Sub-Gag mit dem Hut). Buster Keaton war durch seine Stunts eigentlich immer körperlicher als Chaplin, aber zugleich auch abstrakter und formalistischer (einen solchen Formalismus erreicht Chaplin meiner Meinung nach nur in seinem unterschätztesten und gewissermaßen Keaton‘schesten Stummfilm, THE CIRCUS).

Einen ähnlich formalistischen Gag bringt Keaton schon früher im Film. Rollo hat gerade entschieden, zu heiraten. Also geht er zu seiner Nachbarin, um sie über ihre glückliche Zukunft zu unterrichten. Er setzt sich in das Auto, der Chauffeur fährt los. Normalerweise eine expositorische Einstellung, die mit einem Schnitt oder einer Abblende abgebrochen wird, damit die Person in der Einstellung danach ankommt. Stattdessen folgt ein kleiner Kameraschwenk, und wir sehen, dass das Auto kurz nach Anfahrt umbiegt, um auf der anderen Straßenseite, also knapp zehn Meter weiter, zu parken. In nur wenigen Sekunden entwickelt sich nicht nur ein subtiler, aber sehr witziger Gag, sondern zugleich auch eine Charakterisierung der Rollo-Figur, deren Untauglichkeit für den Lebensalltag (von einer extremen Survival-Situation mal ganz abgesehen) in einer einzigen Einstellung demonstriert wird. Mit einer einzigen Einstellung (geschenkt: dass Rollo ein etwas tollpatschiger Träumer ist, wissen wir schon aus vorherigen Szenen) wird eine Fallhöhe für das darauffolgende Survival-Szenario geschaffen, und obwohl wir über die Figur lachen, fühlen wir mit ihr und ihrem klassenbedingt beschränkten Lebenshorizont. Diese Einstellung ist sozusagen die eigentliche, richtige Exposition des Films. Die vordergründige Exposition um die wirre Spionagegeschichte wird vergleichsweise recht verkrampft und überkompliziert abgewickelt und dient nur dazu, die beiden Protagonisten halbwegs glaubwürdig auf das leere Schiff zu bringen.

Auch in kleinen, scheinbar unwichtigen Momenten beweist Keaton einen großen visuellen Einfallsreichtum und einen feinen Sinn für Poesie. Als sich Rollo und Betsy sich zur Nachtruhe verabschieden, tun sie es auf eine relativ formelle und distanzierte Weise. Rollo zündet für Betsy nur noch kurz eine Kerze an und dann geht jeder aufs Zimmer. Doch eben jenes Kerzenlicht wirft einen Schatten der beiden in den Hintergrund, der leicht verzerrt ist – sodass sich Rollo und Betsy in ihrer Schattenvariante küssen! Das kann man leicht übersehen, weil abrupt von einem Zwischentitel in die Szene geschnitten wird und die „realen“ Figuren, die im Bildvordergrund die Kerzen anzünden, eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die deep-focus-photography, die Keaton nicht nur in diesem Film sehr gewinnbringend einsetzt, ermöglicht aber auch in diesem Fall einen Blick auf die vermeintliche Nebenhandlung.

Einen sehr schönen Moment würde ich als „Poesie des Trotzes“ bezeichnen. Rollo und Betsy haben versucht, draußen zu übernachten, wurden jedoch vom Regen überrascht, sind durchnässt in das Schiffsinnere geflüchtet und können nicht mehr auf guten Schlaf hoffen. Rollo entdeckt an einem Tisch ein Kartendeck, das jedoch eine kleine Wasserfontäne aus Betsys Hut nass gemacht hat. Er nimmt es auf, und beginnt zu mischen. Oder versucht es. Gleich zwei Karten bleiben kleben (Herzbube und Herzdame!). Dann mischt er weiter. Was natürlich überhaupt nicht klappt, weil die durchweichten Karten sich verbiegen, aneinander kleben bleiben. Doch Rollo stört das nicht wirklich und er macht unbeirrt einfach weiter, bis am Schluss nur noch matschige Papierpampe übrig ist. Erst beim Austeilen der Karten hat Rollo Einsehen, dass das nichts wird.

Ein kleiner Höhepunkt der Akrobatik ist natürlich die Tauchssequenz, als Rollo mit einem schweren Taucheranzug unter Wasser geht, um ein Leck am Schiff zu reparieren. Als er ins Wasser taucht, scheint er zugleich in eine Art Unterbewusstsein, oder in einen Traum einzutauchen: die Gags werden surrealer. Ein Baustellenwarnschild für die Straße findet sich zufällig unter Wasser, und Rollo stellt es dann auch gewissenhaft und gut lesbar hin, bevor er ans Werk geht. Nach Ende der Reparatur wäscht er sich auch ganz gründlich die Hände und trocknet sie ab – also unter Wasser!

Sowie COPS oder eben THE LOVE NEST zu den düstersten Keaton-Filmen gehören, gehört THE NAVIGATOR zu den fröhlichsten und optimistischsten. Wenn ich vorher schrieb „der nächste Heiratsantrag könnte also klappen“, dann ist damit gemeint: der wird klappen! Der unbewusst aufgesetzte Zylinderhut (bräutigamtauglich) während der „Verfolgungsjagd“, der nächtliche Schattenkuss, das Zeichen der Karten: Immer wieder weist der Film mit mehr oder minder subtilen visuellen Mitteln daraufhin, dass Rollo und Betsy eigentlich ein gutes Paar sind bzw. heiraten sollten. Und warum nicht auch gleich noch Sex haben sollten! Als Rollo mit seinem Taucheranzug die Kannibalen verscheucht, wollen er und Betsy zum Schiff zurückkehren. Sie wählen dabei eine unorthodoxe Variante: Rollo legt sich im Wasser auf den Rücken, während sich Betsy rittlings auf ihn draufsetzt und dann in Richtung Schiff paddelt. Sex in Reiterstellung bei einem unverheirateten Paar kennt man in Hollywood gewöhnlich nur aus „Post-Code“-Zeiten (also über vier Jahrzehnte nach Erscheinen von THE NAVIGATOR). Nun: 1924 war Will H. Hays schon Präsident der Motion Picture Producers and Distributors of America, aber bis zu seinem „Code“ sollte es noch ein bisschen dauern (die gleiche Szene ist nach 1930/34 schwer vorstellbar).

Interessant und etwas verstörend ist der autoaggressive Akt, der folgt, als die beiden am Schiff ankommen. Wasser ist in den Taucheranzug gelangt. So greift Rollo zu einem Messer und schlitzt sich den Bauch auf. Natürlich: nur der Bauch des Anzugs. Das ganze wirkt dennoch recht drastisch. Thanatos folgt wenige Sekunden nach dem Eros. Eine selbst auferlegte Bestrafung für die vorangehende Ungezügeltheit?

THE NAVIGATOR endet jedenfalls mit einer kleinen Anspielung auf THE BOAT: das U-Boot dreht sich um die eigene Achse wie das kleine Schiff im Kurzfilm. In den ganzen Apparaturen, die sich Rollo und Betsy in der Küche zusammenzimmern, kann man durchaus ein kleines Zitat aus dem Kurzfilm THE SCARECROW sehen, in dem sich Buster Keaton und Joe Roberts eine WG mit allerlei technisch raffinierten Apparaturen eingerichtet haben – ein kleiner Triumph des Geistes über die Materie. THE NAVIGATOR wiederum übt mit seiner Trias aus Mann-Frau-Maschine Themen ein, die später in THE GENERAL noch beschleunigt wurden.