Sonntag, 15. Oktober 2017

Zwei von der Tankstelle und ein DIY-Oldtimer

Zwei BP-Filme von James Hill
GIUSEPPINA
UK 1959
Regie: James Hill
Darsteller: Antonia Scalari (Giuseppina), Giulio Marchetti (Giuseppe Rossi)


In einem verschlafenen süditalienischen Dorf, Ende der 1950er Jahre. Es ist gerade Rummel, und Giuseppina, die kleine Tochter des Tankwarts Giuseppe Rossi, möchte da natürlich hin. Doch stattdessen verdonnert Papa sie dazu, ihm an diesem Tag bei der Arbeit zu helfen. Ihren Einwand, dass es an der Tankstelle nichts zu tun gäbe, kann er nur belächeln: es kämen viele Leute und da sei vieles zu tun. Giuseppina langweilt sich zunächst tierisch. Doch dann kommen die ersten Menschen vorbei. Zunächst die Lastwagenfahrer, die mit dem großen LKW das Benzin liefern – und sich gleich von Signora Rossi einen Kaffee für unterwegs servieren lassen. Zwei Priester auf einem Moped fahren vorbei. Einer verliert seinen Hut, den Giuseppina sogleich aufhebt und ihm zurückgibt. Dann kommt richtig Leben in die Bude: ein amerikanisches Touristenpaar aus Florida fährt vor. Er fotografiert gleich alles, was ihm vor die Linse fällt: Giuseppina, dann Signora Rossi mit Bambino, dann die ganze Familie. So schnell sie vorgefahren sind, fahren die Amerikaner wieder weg (nachdem sie ein nettes Trinkgeld für Signore Rossi zurückgelassen haben).
Wir entfernen uns dann von der Tankstelle: einige Hunderte Meter weiter wird geheiratet. Nach Speis, Trank und Foto-Session fährt das Paar mit dem Auto weg – und bleibt kurz vor der Tankstelle mit einem Platten stehen. Die Frischvermählten schieben das Auto die letzten paar Meter zur Tankstelle. Die Braut beschmutzt sich dabei, merkt dann auch noch, dass die am Kühlergrill befestigten Blumen weg sind. Kurz: ihre Laune ist im Keller. Giuseppina hilft aus, indem sie im heimischen Garten einige Blumen pflückt und ihr schenkt. Signore Rossi berechnet nichts für das Befestigen des Ersatzreifens. Wieder guter Laune und glücklich kann das Paar weiter fahren.
Die nächsten Kunden (ein Paar mit einem Teenager-Jungen) kommen von einer ganz komischen Insel: GB steht auf ihrem Wagen. Während Signore Rossi den Motor inspiziert, werden ein Tisch ausgepackt, Picknickstühle angerichtet, Tee gekocht und serviert. Giuseppina kriegt auch ein Biscuit in die Hand gedrückt. Nachdem sie wieder losfahren, blickt das italienische Mädchen zunächst besorgt hinterher – doch dann fährt der Engländer wieder auf die rechte Seite der Straße.
Ruhe kehrt ein. Zeit zum Rasieren für Signore Rossi. Die harmonische Stille wird von einem Bauernwagen unterbrochen, dessen linkes Rad quietscht, aber der flinke Tankwart sorgt schnell für Abhilfe. Anschließend fährt ein Auto aus Venezuela vor: der Fahrer hat zwar noch einen Anzug an, aber er trägt ihn auf sehr legere Weise; sein Mitfahrer trägt ein rotes Hemd, Sonnenbrille und Strohhut und spielt Gitarre – Bohémiens bzw. Proto-Hippies aus Lateinamerika in Süditalien! Der Anzugträger steigt aus, um sich die Beine zu vertreten, und zu den Klängen seines Mitfahrers fordert er Giuseppina, zur Erheiterung aller Anwesenden, zu einem kleinen Tänzchen auf. Danach ruft Signora Rossi zum Essen. Kurz, bevor es reingeht, kommt der kleine Beppo vorbei und bittet Signore Rossi um Benzin für sein selbstgebautes Spielzeugauto. Als guter Tankwart kommt dieser der Bitte natürlich nach. Warum er Zeit für Beppo verschwendet? Auf die Frage seiner Tochter antwortet Signore Rossi, dass jeder einzelne Kunde wichtig sei! Jetzt aber zum Essen...

Giuseppe Rossi betreibt eine Tankstelle in einem kleinen italienischen Dörfchen.
Seine Tochter Giuseppina hilft bisweilen.
Die Kundschaft ist international: US-amerikanische und britische Touristen –
sowie venezolanische Bohémiens und natürlich Italiener aller Altersklassen.

Der knapp über 30 Minuten lange Kurzfilm GIUSEPPINA gewann 1960 den Oscar für den besten Kurzdokumentarfilm. Diese Einordnung ist einigermaßen befremdlich. Ganz offensichtlich ist der Film gespielt (von Profidarstellern wie auch von Laien), setzt sich zusammen aus kleinen Vignetten mit einer jeweils eigenen Dramaturgie, ist von A bis Z als leichter Unterhaltungsfilm gestaltet und verfügt über eine Poesie, die eher dem Fiktiven als dem Dokumentarischen zuzuordnen ist (ohne natürlich hiermit Dokumentarfilmen Poesie absprechen zu wollen).

Aus produktionstechnischer Sicht war GIUSEPPINA tatsächlich weder ein Dokumentarfilm, noch ein fiktiver Spielfilm – sondern Imagefilm für BP! Das britische Erdölunternehmen versuchte Ende der 1950er Jahre, in Italien Fuß zu fassen. Um Vertrauen zu säen, wollte sich BP nicht als multinationale, weit entfernte Korporation präsentieren, sondern als Unternehmen, das problemlos auch in das ländliche Italien passt. Freundlich und nahe an den Menschen: so sollte das Erdölunternehmen rüberkommen. GIUSEPPINA, produziert von BP, inszeniert von einem englischen Regisseur, aber komplett italienischsprachig, wurde tatsächlich in erster Linie für ein italienisches Publikum gedreht. Inwiefern die Besetzung des Tankwarts mit Giulio Marchetti dabei eine Rolle spielte, kann man nur mutmaßen: Marchetti, Sproß einer Künstlerfamilie von Operettensängern, Schauspielern und Theaterintendanten, war in den 1940er und 1950er Jahren (nebst einigen wenigen Kinorollen) ein beliebter Sänger und Darsteller in Variétés. Über die anderen Darsteller habe ich nichts gefunden. Antonia Scalari hat sowohl bei IMDb wie auch bei MUBI und auf der Website des BFI nur GIUSEPPINA als Credit: man kann also vermuten, dass sie Laiendarstellerin war.

„Funktioniert“ GIUSEPPINA als Imagekampagne für BP? In gewisser Weise absolut! Wer würde nach Sichtung dieses Films denn nicht gerne an einer BP-Tankstelle mit einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und einem netten, stets hilfsbereiten Mädel halten, um Benzin zu kaufen? Zugleich sprengt GIUSEPPINA eindeutig den Rahmen des Korporations-Werbefilmchens, denn man könnte umgekehrt auch fragen: bei so einem wunderbar liebenswürdigen Tankwart, seiner freundlichen, kaffeekredenzenden Ehefrau und diesem netten, stets hilfsbereiten Mädel – was spielt es da eigentlich für eine Rolle, dass es eine BP-Tankstelle ist?

Meiner Meinung nach überwiegen doch die Qualitäten als Spielfilm. GIUSEPPINA ist extrem schön fotografiert, in kräftigem, leuchtenden Technicolor, das wunderbar die Farben des sommerlichen Drehorts wiedergibt (gedreht wurde in der Nähe von Ravenna in der Emilia-Romagna). In seiner „Erzählung“ (wenn man es „Erzählung“ nennen will) ist er schlicht und dabei sehr effizient: abgesehen von einigen expositorischen Bildern des Rummels und wenigen erklärenden Dialogen am Anfang ist man gleich „mitten drin“. GIUSEPPINA ist zwar italienischsprachig, funktioniert aber aufgrund seines starken, visuellen Erzählstils über weite Strecken auch komplett ohne Dialoge. Wenige, präzise Bilder reichen aus, um ein kleines Universum an Gefühlen und Atmosphären zu schaffen. Man denke nur an den Moment, wo der englische Teenager (er dürfte wohl zwischen 16 und 18 Jahre alt sein) zwei etwa gleichaltrigen italienischen Mädchen, die die Straße entlang laufen, sehnsüchtig hinterher blickt, während die beiden sich über Teezeremonie etwas amüsieren – in wenigen Sekunden Stoff für einen ganzen eigenen Film. Sehr schön auch der Moment, wo das italienische Hochzeitspaar das Auto schiebt und ein kleiner Kameraschwenk zeigt, wie die Blumen des Kühlergrills sich Meter über Meter über die Straße verteilt haben – die Melancholie eines wirklich unglücklichen Augenblicks in nur einem Bild festgehalten. Wenn die Braut später auf den leeren Kühlergrill schaut und sich ärgert, kann man das umso besser nachvollziehen.

Verlorene Blumen – und wieder neu gewonnene Blumen
(oben links im Hintergrund: pazifistische Graffiti)

Dass GIUSEPPINA so „effizient“ fotografiert ist, soll nicht von dem ablenken, was er in erster Linie ist: ein unendlich entspannter und entspannender, sehr gemütlicher Film. Giuseppinas „Befürchtung“ am Anfang bewahrheitet sich: im Grunde „passiert“ tatsächlich nichts in diesem Film. Zumindest nichts Weltbewegendes. Ein Tankwart hat einen normalen Arbeitstag, seine Tochter hilft ein wenig dabei, ein paar Leute kommen vorbei, tanken, lassen ihr Auto reparieren. GIUSEPPINA spitzt die Situationen und die Figuren leicht zu, aber für Generisches reicht das nicht aus. Zunächst dachte ich: GIUSEPPINA ist ein bisschen wie italienischer Neorealismus mit britischen Augen. Ländliches Italien, einfache Leute, Alltagssituationen, teilweise Laiendarsteller... Die entspannte laissez-faire-Atmosphäre erinnert allerdings doch eher an Jean Renoir: im Speziellen an PARTIE DE CAMPAGNE wegen der sommerlich-ländlichen Atmosphäre (allerdings hier in Farbe und mit noch weniger Handlung), im Allgemeinen an Renoirs Bemühungen, seine Figuren zwischendurch komplett von Zwängen des Plots zu befreien. Das ist allerdings nur ein persönlicher Eindruck und der Versuch einer Annäherung.

Ein tiefenentspannter Film: mit Zeit zum Rasieren, zum Tanzen
und zum Rumsitzen – Signore Rossi ist trotzdem stets im Dienstmodus.

Im Dienst des Farbfernsehens – GIUSEPPINA als „trade test colour film“

Spielfilm, Dokumentarfilm, Werbefilm... GIUSEPPINA erlebte eine, wenn man so will, „vierte“ Karriere und wurde für eine Zeit lang tatsächlich zum „Gebrauchsfilm“ – nicht im Dienste von BP, sondern als „technischer Helfer“ des Farbfernsehens in Großbritannien! Die Einführung des Farbfernsehens war dort ein relativ langwieriger Prozess. Erste Versuche mit Farbsendungen begannen 1956, doch erst 1967 wurden im UK Farbfernsehgeräte verkauft: extrem teure Geräte, die zudem auch noch pannenanfällig waren und oft gewartet werden mussten. Die genaue Kalibrierung der Farben – heute ein paar Klicks – war damals schwierig. Um die Farbe an den Geräten richtig einzustellen, mussten Farbfilme bzw. Farbsendungen gezeigt werden, Farbkurzfilme, die Techniker als Grundlage bei der Arbeit nutzten konnten: sogenannte „trade test colour films“. Diese wurden auf BBC 2 über den ganzen Tag verteilt gezeigt und erfüllten zweierlei Zweck: erstens dienten sie als Testgrundlage für Techniker, zweitens waren sie das erste Anschauungsmaterial für Zuschauer mit Farbfernsehgeräten. Die BBC kaufte dafür das Senderecht für unzählige, meist dokumentarische Kurzfilme: von Filminstituten in Großbritannien, in Kanada und Neuseeland und von Industrieunternehmen. Das Filmarchiv der BP stellte der BBC ab 1967 etwas über 20 Titel zur Verfügung – darunter GIUSEPPINA, THE HOME-MADE CAR und (ebenfalls von James Hill) SKYHOOK. Die BBC sah die Ausstrahlung dieser Filme tatsächlich nur als Tests, doch es entwickelte sich um die „trade test colour films“ rasch ein regelrechter Kult. Besonders beliebt waren sie bei Kindern. Nach der Schule erst mal ein wenig fernsehen gehörte für Leute meiner Generation (die in den 1990er Jahren in die Schule gingen) dazu – da gab es aber schon „ausgewachsenes“ Fernsehen, mit vielen Sendern und einem vielfältigen Programm über den ganzen Tag verteilt. Britische Schulkinder der Jahrgänge frühe 1950er bis mittlere 1960er Jahre kamen hingegen nach Hause und sahen die „trade test colour films“. Damit war dann 1973 Schluss, weil in der Zwischenzeit die Technik in Sachen Farbfernsehen schon weiter fortgeschritten war und in diesem Jahr Testbilder eingeführt wurden, mit deren Hilfe Techniker (und möglicherweise schon die Nutzer selbst?) die Geräte einstellen konnten. Der Kult um die „trade test colour films“ war damit nicht vorbei: 1989 wurde der sogenannte Test Card Circle gegründet, der sich unter anderem dafür einsetzte, dass „trade test colour films“ im Fernsehen wiedergezeigt oder auf VHS (und später DVD und blu-ray) veröffentlicht werden.
GIUSEPPINA gehörte zu den am häufigsten gezeigten „trade test colour films“ und auch zu den beliebtesten. In knapp sechs Jahren wurde er fast 200 Mal im Fernsehen gezeigt, alleine 1969 50 Mal (also durchschnittlich etwa einmal die Woche). Am 24. August 1973, um 14.30 Uhr, wurde GIUSEPPINA das letzte Mal als Testfilm ausgestrahlt und war auch der letzte gesendete „trade test colour film“.


British New Wave, BP sowie Kinder- und Tierfilme – zum Regisseur James Hill

James Hill (*1919), Sproß einer Wollindustrie-Familie, begann seine Filmkarriere Mitte der 1930er Jahre als junger Assistent in der GPO Film Unit. Die Filmabteilung der Britischen Post war ein Zentrum der Dokumentarfilmbewegung um deren Direktor John Grierson, wo auch Len Lye und Norman McLaren ihre Karriere anfingen. Hill arbeitete hingegen für Paul Rotha. Nebenbei tourte Hill auch als Pianist (komponieren konnte er auch – so unter anderem den Soundtrack zu seinem eigenen Film LUNCH HOUR). Mit Beginn des Kriegs wurde er in die Luftwaffe eingezogen. Seine Filmkarriere war nicht vollständig unterbrochen, da er eine Stelle in der RAF Film Unit fand und Luftschlachten fotografierte. 1943 wurde er über Deutschland abgeschossen. Seine darauffolgende Gefangennahme, Inhaftierung, Flucht, Wiedergefangennahme und Internierung im Stalag Luft III soll angeblich die biografische Grundlage für die Figur des Lieutenant Colin Blythe (gespielt von Donald Pleasance) in THE GREAT ESCAPE gewesen sein. Nach dem Krieg wurde Hill Regisseur von Industriefilmen: unter anderem inszenierte er einen Dokumentarfilm für eine Papiermanufaktur (PAPER CHAIN) und einen Rekrutierungsfilm für das Queen‘s Nursing Institute (FRIEND OF THE FAMILY). 1949 drehte er seinen ersten komplett fiktionalen Film und ersten von vielen Kinderfilmen JOURNEY FOR JEREMY. 1952 begann seine Jahrzehnte lange Zusammenarbeit mit der in diesem Jahr gegründeten Children‘s Film Foundation, die Kinderfilme in britischen Kinos vertrieb. Als ehemaliger Pilot, der zugleich Filmemacher war, arbeitete er auch als Second Unit Director für Flugsequenzen in Lewis Gilberts REACH FOR THE SKY.
1955 begann James Hills Zusammenarbeit mit BP, die unter anderem THE NEW EXPLORERS, SKYHOOK und eben GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR hervorbrachte. Den ersten BP-Film drehte Hill noch für die Produktionsgesellschaft World Wide Pictures – die folgenden BP-Filme (und nicht nur diese) produzierte er mit seiner eigenen Gesellschaft James Hill Productions. Im Laufe von knapp einem halben Jahrzehnt „entfernte“ er sich in den BP-Filmen zunehmend vom klassischen Unternehmensfilm und bewegte sich zu etwas Poetischerem.
THE KITCHEN (1961) war Hills erster Film für ein erwachsenes Publikum. Es folgten zwei Zusammenarbeiten mit dem Autor John Mortimer (der unter anderem die Bücher zu dem Horrorfilm THE INNOCENTS und Otto Premingers Thriller BUNNY LAKE IS MISSING verfasste): THE LUNCH HOUR, ein sehr erstaunlicher Film über die kurzweilige Affäre zwischen einem verheirateten Mann und seiner jüngeren Arbeitskollegin und THE DOCK BRIEF, mit Peter Sellers und Richard Attenborough. James Hill gehört nicht zu den ersten Namen, die man mit der British New Wave assoziiert und ist sowieso weniger berühmt als Lindsay Anderson und Tony Richardson. Durch sein LUNCH HOUR, mit seinem elliptischen Erzählstil, seinen verblüffenden Montagen, seinem fast postmodernen Spiel mit Figuren und Erzählebenen (es gibt eine sehr lange imaginäre „Rückblende“) weht aber auf jeden Fall der frische Wind einer neuen Welle.
Für das Kino drehte Hill in den 1960er Jahren noch weitere Kinderfilme, daneben diverse Genrefilme: ein Musical (EVERY DAY‘S A HOLIDAY), einen Sherlock-Holmes-Film, in dem der Detektiv Jack the Ripper jagt (A STUDY IN TERROR), den Abenteuerfilm CAPTAIN NEMO AND THE UNDERWATER CITY mit Robert Ryan als Captain Nemo sowie den französisch-italienisch-deutschen Agenten-Thriller HELL TO MACAO aka THE PEKING MEDALLION, der unter anderem von Artur Brauner produziert wurde. Brauner produzierte auch Hills Pferde-Kinderfilm BLACK BEAUTY. Ich kann mich düster daran erinnern, mal in meiner Kindheit einen tearjerker mit Pferd und einem Jungen gesehen zu haben – war es dieser?
Hill war dann auch für das Fernsehen tätig und inszenierte einige Episoden von THE SAINT mit Roger Moore, von THE AVENGERS (also „Mit Schirm, Charme und Melone“) sowie für mehrere Kinderserien. Mit James Hill Productions drehte Hill auch weiterhin gesponserte Dokumentarfilme: unter anderem über fleischfressende Pflanzen für Oxford Scientific Films oder einen Film für die WHO über Ursachen von und Maßnahmen zur Prävention von Blindheit. Mit 75 Jahren starb Hill 1994 in London.

Kinderfilme, Dokumentarfilme, Industriefilme, Filme am Rand der British New Wave, diverse Genrefilme, Serienepisoden – eine vielseitige Karriere also, die keinen wirklichen roten Faden erkennen lässt. Aber das muss ja nichts schlechtes sein.


THE HOME-MADE CAR
UK 1963
Regie: James Hill
Darsteller: Ronald Chudley (der junge Mann), Alice Bowes (seine Tante), Sandra Leo (das Nachbarsmädchen), Caroline Mortimer (die junge Frau), Anthony James (der junge Mann mit dem Sportwagen), Frank Siemann (der Garagenbesitzer)


Ein junger Mann sucht auf einem Schrottplatz und bei einer Garage verschiedene Teile zusammen, die erst einmal nur wie Gerümpel aussehen. Bald stellt sich heraus, dass er ein Auto, einen schönen Oldtimer, aus Einzelteilen selbst zusammenbauen möchte. Das tut er im Hinterhof seiner Tante, die ihm ihre Garage, Tee zur Stärkung und (ohne ihr Wissen) ihre Nähmaschine zur Verfügung stellt. Ein kleines Mädchen, das im Nachbarhaus wohnt, versucht den jungen Mann zunächst mit allen möglichen Mitteln zu stören: sie schießt mit ihrer Spielzeugpistole auf ihn, lässt, als er gerade kurz weg ist, einen vorbeiziehenden Altwarenhändler die Bauteile einsammeln. Mit einem kleinen Lächeln bricht der Mann schließlich ihren Widerstand, und sie beginnt ihm zu helfen. Neben der Tante und dem kleinen Mädchen gibt es noch eine weitere Frau: eine gleichaltrige Nachbarin (vielleicht die ältere Schwester der Kleinen?), in die der junge DIY-Autobauer wohl ein wenig verliebt ist. Sie selbst scheint nicht ganz uninteressiert zu sein, steigt aber lieber bei einem Nebenbuhler ins Auto, der über einen funktionierenden, luxuriösen Sportwagen verfügt. Egal... nach vielen Tagen Arbeit und tatkräftiger Unterstützung des kleinen Nachbarmädchens, eines gutmütigen Tankwarts der örtlichen Tankstelle (der Marke BP natürlich), der Tante (und, na ja, moralisch auch des Bernhardiners) ist das Auto zusammengebaut. Die Jungfernfahrt kann beginnen. Der junge Mann und der Bernhardiner fahren zuerst zur Tankstelle. Dort fährt auch der Sportwagenfahrer mit der jungen Frau vorbei, doch er guckt so lange ungläubig auf das selbstgebaute Auto, dass er einen Unfall baut – nichts Schlimmes, keine Verletzten, aber die junge Frau ist offensichtlich davon entnervt, auch von der Selbstgefälligkeit des Sportwagenfahrers. Kurzerhand steigt sie in den DIY-Oldtimer. Schnell wird noch das kleine Nachbarmädchen abgeholt und in den Kofferraum-Sitz gehoben – und alle vier fahren in dem selbstgebauten Auto auf‘s Land hinaus...

Aus Einzelteilen entsteht nach und nach ein richtiges Auto.
Unterstützung bekommt der junge Mann von seiner Tante, von einem freundlich gesinnten Tankwart,
nach einigen Scharmützeln auch von dem Nachbarsmädchen und von seinem Bernhardiner (na ja, moralische Unterstützung zumindest)

Der junge Autobauer hat Augen für die hübsche Nachbarin,
doch die steigt lieber beim arroganten Sportwagenfahrer ins Auto – vorerst...

GIUSEPPINA war ein bereits ein Film, der sehr visuell war, doch THE HOME-MADE CAR ist noch radikaler: er enthält während seiner ganzen 30 Minuten nämlich kein einziges gesprochenes Wort. Die ganze Geschichte wird ausschließlich audiovisuell erzählt, mit ausdrucksstarken Bildern, mit der Gestik und Mimik der Darsteller, mit der Montage und mit Musik und Toneffekten. Das wirklich Großartige ist, dass THE HOME-MADE CAR dabei keineswegs wie ein strenges formalistisches Experiment wirkt, sondern ebenso federleicht wie GIUSEPPINA dahinfließt.
Sicherlich mag der Einfluss des Stummfilms, also der rein visuellen Erzählung, eine gewisse Rolle gespielt haben, aber THE HOME-MADE CAR ist doch auch mehr. Der Film ist zwar komplett dialogfrei, doch Sound und Musik werden sehr minutiös eingesetzt. Der junge DIY-Autobauer wird von einem langsamen, gemütlichen und doch hartnäckigen Gitarrenmotiv begleitet, das perfekt die Eigenschaften des Protagonisten widerspiegelt. Der arrogante Sportwagenfahrer wird immer mit einem hektischen, unangenehm lauten und leicht kakophonischen Schlagzeugsolo eingeführt. Der Altwarenhändler, der mit einem Pferdekarren unterwegs ist, hat ein alternatives Motiv – sehr gemütlich wie das des jungen Autobauers, aber von einem mir unbekannten Perkussionsinstrument mit kleinen Schlägen punktiert (womit wohl das Pferd imitiert wird). Die Musik wurde von dem Australier Ron Grainer komponiert, der in Großbritannien vor allem für das Fernsehen tätig war und unter anderem für DOCTOR WHO das Thema komponiert hatte. Das musikalische Motiv des Altwarenhändlers ist eine Variation der Titelmusik von STEPTOE AND SON, einer 1962 gestarteten Sitcom.
Die pure visuelle, dialogfreie Erzählung in Kombination mit dem minutiösen Einsatz von Musik und Soundeffekten – das erinnert ein wenig an Jacques Tatis Filme. Aufgrund der kompletten Anwesenheit von Dialogen war THE HOME-MADE CAR gewissermaßen ein Joker für die BP, da absolut universell ohne Sprachbarrieren einsetzbar.

Das weitere „Schicksal“ von THE HOME-MADE CAR ist dem von GIUSEPPINA ähnlich. Er wurde für den Academy Award (in der Kategorie „Best Live Action Short Film“) nominiert, gewann ihn allerdings nicht. Ende der 1960er Jahre wurde er als „trade test colour film“ eingesetzt und fand so im Fernsehen zahlreiche Zuschauer und Fans.

... doch schließlich gewinnt der junge DIY-Oldtimer-Fan die Sympathie seiner Herzensdame
mit guten Manieren und altmodischem Charme.
GIUSEPPINA und THE HOME-MADE CAR sind beide als Extras auf der BFI-Edition des James-Hill-Films LUNCH HOUR erschienen – und zwar sowohl auf der Single-Disc-DVD-Edition wie auch auf der Dual-Format-Edition der „BFI-Flipside“-Reihe. Die „BFI-Flipside“-Edition hat ein Booklet mit jeweils einem Text zu LUNCH HOUR, zu James Hill im Allgemeinen, zu seinen BP-Filmen sowie einem Beitrag eines Mitglieds des Test Card Circles zum Thema „trade test colour films“ – diesen verdanke ich einige Informationen für diese Besprechung.
Mit auf der Disc befindet sich auch der BP-Dokumentarfilm SKYHOOK. Dieser 17-minütige Film hätte thematisch zwar in die Besprechung gepasst, aber ich finde ihn ehrlich gesagt nicht besonders spannend: es geht um den Bau eines Ölbohrturms auf Papua-Neuguinea – und wenngleich nicht undynamisch gefilmt und durchaus offen für ideologiekritische Betrachtungen, ist der Film doch eben recht trocken.

Wesentlich spannender ist der Hauptfilm LUNCH HOUR: ein übersehenes Kleinod der British New Wave, ein Film, den ich gerne hier bald besprechen würde.