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Freitag, 25. April 2014

Kurzbesprechung: Die schönste Soiree meines Lebens

LA PIÙ BELLA SERATA DELLA MIA VITA
Italien/Frankreich 1972
Regie: Ettore Scola
Darsteller: Alberto Sordi (Alfredo Rossi), Pierre Brasseur (Graf De La Brunetière/Verteidiger), Michel Simon (Herr Zorn/Staatsanwalt), Charles Vanel (Herr Dutz/Richter), Claude Dauphin (Herr Bouisson/Schriftführer), Janet Agren (Simonetta), Giuseppe Maffioli (Kutscher/Henker)

"Dottore" Alfredo Rossi fährt von Mailand aus über die Grenze, um ein Köfferchen voll Schwarzgeld auf einer Schweizer Bank zu deponieren. Doch er trifft erst nach Schalterschluss ein, und so muss er einen Tag zuwarten und erst einmal die Zeit totschlagen. Da trifft es sich gut, dass ihn eine Motorradfahrerin, die auch mit aufgesetztem Helm einen attraktiven Eindruck macht, offenbar auffordert, ihr zu folgen. Da geht etwas, denkt sich der Dottore, und fährt ihr hinterher, auf zunehmend einsamen Straßen in die Tessiner Berge. Bis unversehens sein Maserati den Geist aufgibt und das Motorrad seinen Blicken entschwindet. Zum Glück kommt bald ein Pferdefuhrwerk vorbei und nimmt ihn mit zu einem abgelegenen Bergschlößchen, von wo telefonisch eine Autowerkstatt verständigt werden kann. Der Hausherr des Schlößchens, der letzte Graf De La Brunetière, begrüßt Rossi persönlich und lädt ihn zum Verweilen ein. Als bald darauf der Maserati wieder fahrtüchtig vorbeigebracht wird, will Rossi eigentlich gleich wieder aufbrechen, doch er ändert seine Meinung und nimmt die Einladung des Grafen an, als er durch eine halb geöffnete Tür einen Blick auf das wohlproportionierte Zimmermädchen Simonetta erhascht, das sich gerade umzieht - auch hier könnte ja etwas gehen ... Signor Rossi lernt drei alte Freunde des Grafen kennen, die Herren Zorn, Dutz und Bouisson. Wie es sich erweist, handelt es sich bei allen vieren um pensionierte Juristen, die ein eigenwilliges Hobby pflegen: Sie spielen im Schlößchen Prozesse nach, wobei sie ihre früheren Rollen vor Gericht wieder übernehmen. Weil man dafür auch Angeklagte braucht, wird der Gast gebeten, diesmal diese Rolle auszufüllen, und Rossi nimmt amüsiert an. Und wie lautet die Anklage? Irgendetwas wird sich schon finden, meint der "Staatsanwalt" ...

Bei einem üppigen Abendessen in mehreren Gängen wird aus der Unterhaltung schnell ein Verhör, bei dem der selbstbewusste und joviale Rossi bereitwillig Auskunft über sich gibt. Den Warnungen seines "Verteidigers" zum Trotz, vorsichtig mit seinen Äußerungen zu sein, gibt der aus einfachen Verhältnissen stammende Rossi unverhohlen preis, zu welchen Tricks er gegriffen hat, um beim sozialen Aufstieg nicht in der Mittelschicht hängenzubleiben. So hat er, um schneller voranzukommen, seinen Vorgesetzten in den Tod durch Herzinfarkt getrieben, indem er mit dessen Frau schlief und es ihn durch eine gezielte Indiskretion wissen ließ. Als später der "Verteidiger" in seinem Plädoyer versucht, Rossi als harmlosen Kleinbürger hinzustellen, der seine Geschichte maßlos übertreibt, protestiert Rossi, vom eigenen Geltungsdrang getrieben, heftig. Dagegen stimmt er dem "Staatsanwalt" ausdrücklich zu, der ihn als den maß- und skrupellosen Tatmenschen präsentiert, der er ja tatsächlich ist. Für den "Mord" am Vorgesetzten fordert der "Staatsanwalt" die Todesstrafe - im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten in der Schweiz verhängt dieses besondere Gericht auch die Höchststrafe. Und tatsächlich wird Rossi zum Tod verurteilt - und er amüsiert sich dabei prächtig, denn es ist ja alles nur ein Spiel. Oder etwa doch nicht? Von reichlich Speis' und Trank ermattet, und gleichzeitig aufgekratzt, weil er mit Simonetta noch ein Rendezvous vereinbart hat, sinkt Rossi spät abends ins "Napoleon-Bett", und er fällt in einen unruhigen Schlaf mit einem bizarren Albtraum. Und am nächsten Morgen erwartet ihn eine unliebsame Überraschung ...

DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS, eine Mischung aus Tragikomödie, Kammerspiel und Groteske, beruht auf Friedrich Dürrenmatts 1956 erschienener Erzählung "Die Panne". Neben oberflächlichen Änderungen wie bei Namen und Schauplätzen gibt es auch größere Abweichungen, vor allem beim Schluss. Aber auch bei Dürrenmatt selbst war der Schluss nicht in Stein gemeißelt: Eine ebenfalls 1956 entstandene Hörspielfassung und eine auch schon in den 50er Jahren geschriebene, aber erst 1979 veröffentlichte Bühnenversion verfügen jeweils über ein anderes Ende. Dürrenmatts schweizerischer Stoff wirkt in Ettore Scolas Anverwandlung wie maßgeschneidert für italienische Verhältnisse (das Drehbuch schrieb Scola gemeinsam mit Sergio Amidei) - der satirische Biss ergibt sich zwanglos wie von selbst. 1972 war Scola kein Unbekannter mehr - er war schon seit den 50er Jahren vor allem als Drehbuchautor aktiv, und er hatte 1970 mit EIFERSUCHT AUF ITALIENISCH einen Erfolg errungen -, aber er besaß noch nicht die Prominenz, die er sich mit Filmen wie DIE SCHMUTZIGEN, DIE HÄSSLICHEN UND DIE GEMEINEN, FLUCHT NACH VARENNES oder LE BAL - DER TANZPALAST erarbeiten sollte. DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS wird vor allem von seinem grandiosen Ensemble getragen. Alberto Sordi brilliert als berlusconiesker Geschäfts- und Lebemann, der wie selbstverständlich einen falschen Doktortitel führt, der sein Schwarzgeld in die Schweiz transferiert, und der mit seiner Frau telefoniert, während er gleichzeitig den Seitensprung mit dem Zimmermädchen plant. Zur Seite stehen Sordi die illustren französischen Altstars Pierre Brasseur, Michel Simon und Charles Vanel (sowie der etwas weniger charismatische Claude Dauphin) als juristische Altherrenrunde. Der blonden Schwedin Janet Agren wird in ihrer Rolle als doppelbödiges Zimmermädchen schauspielerisch nicht allzuviel abverlangt, aber optisch ist sie eine Augenweide. - DIE SCHÖNSTE SOIREE MEINES LEBENS läuft am 29.04. um 14:05 Uhr sowie am 08.05. um 2:10 Uhr auf arte. Es gibt auch eine italienische DVD, offenbar ohne Untertitel.

Montag, 17. Dezember 2012

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Dienstag, 18. September 2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet

Donnerstag, 13. Oktober 2011

L'ATALANTE - wie man einen Film versenkt

Dies ist die überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2005 im Usenet (ohne Screenshots) und 2006 als PDF in der Filmzentrale (mit wesentlich mehr Screenshots als hier) veröffentlichte.

ATALANTE (L'ATALANTE) Frankreich 1934 Regie: Jean Vigo Darsteller: Michel Simon (Père Jules), Dita Parlo (Juliette), Jean Dasté (Jean)

Wenn man einen Quotienten bildet aus filmgeschichtlicher Bedeutung und Anzahl an gedrehten Filmen, dann dürfte Jean Vigo auf dieser Skala ziemlich weit vorn liegen. Obwohl er aufgrund seines frühen Todes mit 29 Jahren nur vier Filme hinterlassen hat, davon nur einen in Spielfilmlänge, gehört er zu den Großen des französischen Films.


Frankreich, irgendwo auf dem platten Land, in den frühen 30er Jahren. In einem kleinen Ort hat gerade eine Hochzeit stattgefunden. Die Hochzeitsgesellschaft verlässt die Kirche und zieht nicht etwa in den Dorfgasthof, sondern zu einem Lastkahn, um das frischvermählte Paar zu verabschieden. Jean, der von auswärts stammende Bräutigam, ist der Kapitän des Schiffes mit dem klangvollen Namen "L'Atalante", das die Seine, ihre Nebenflüsse und Seitenkanäle befährt. (Atalante ist übrigens eine amazonenhafte Jägerin aus der griechischen Mythologie.) Juliette, die Braut, hat das Dorf noch nie verlassen und wird fortan mit Jean auf der L'Atalante leben. Ebenfalls an Bord sind der kauzige Maat Jules, genannt Père Jules (Papa Jules), ein halbwüchsiger Schiffsjunge, dessen Namen man nicht erfährt, sowie ungefähr ein Dutzend Katzen, um die sich Père Jules kümmert. Juliette bringt zunächst frischen Wind in das Leben an Bord, aber bald ist sie von der Eintönigkeit des Tagesablaufs und von den beengten Platzverhältnissen genervt. Einzige Abwechslung ist das Radio, und als sie zum ersten Mal den Sender Paris empfängt, kann Juliette es kaum abwarten, dort einzutreffen, um bei einem Landgang die Metropole kennenzulernen. Doch es kommt anders. Als sie endlich in Paris sind, macht sich Père Jules davon, um eine "Konsultation" einzuholen, wie er sich ausdrückt. Solange er weg ist, können Jean und Juliette das Schiff nicht allein lassen. Wie sich herausstellt, konsultiert Père Jules nicht etwa einen Arzt oder einen Anwalt, sondern eine Wahrsagerin. Nachdem sie ihm aus der Hand gelesen hat, bietet ihm die rustikale Dame die "volle Behandlung" - ein eindeutig erotisches Angebot, das Père Jules nicht ausschlägt. Anschließend sucht er eine Bar auf - wo er einen Schalltrichter für sein defektes Grammophon mitgehen lässt -, und als er schließlich mitten in der Nacht stockbesoffen und grölend zurückkommt, ist für Jean und Juliette an einen Landgang nicht mehr zu denken, und am nächsten Tag ist keine Zeit mehr, weil das Schiff weiter muss. Juliette ist jetzt langsam frustriert.


Nächster Halt ist ein Vorort von Paris, wo Jean und Juliette ein Tanzlokal aufsuchen. Ein fahrender Händler will Juliette ein Tuch aufschwatzen und macht ihr schöne Augen. Der Luftikus unterhält die Gäste des Lokals mit Taschenspielertricks und einer Gesangseinlage, und er erzählt Juliette von den Verlockungen von Paris. Jean wird eifersüchtig, und es kommt fast zur Schlägerei. Zwischen den Eheleuten herrscht jetzt dicke Luft. Juliette will es nun wissen: Sie schleicht sich davon und fährt mit der Straßenbahn allein nach Paris. Jean ist eingeschnappt und befiehlt, nicht auf ihre Rückkehr zu warten, sondern sofort abzulegen. Als Juliette nach einem ausgiebigen Schaufensterbummel zurückkehrt und die L'Atalante verschwunden ist, ist sie ratlos. Sie kennt niemanden, hat wenig Geld und keine Ortskenntnisse. Schnell lernt sie die Schattenseiten von Paris kennen. Ein schmächtiger, armselig und hungrig wirkender Taschendieb entreißt ihr ihre Handtasche, doch er wird von einer richtigen Meute Passanten gestellt und übel verprügelt, bevor die Polizei ihn abführt. Man bekommt regelrecht Mitleid mit dem armen Wicht. Auf den Straßen begegnet Juliette einem ganzen Heer von Arbeitssuchenden, die von der Polizei mißtrauisch beäugt werden, und sie wird von Männern mit eindeutigen Absichten angesprochen. Traurig und ratlos, nimmt sie am Ende eines zermürbenden Tages ein Zimmer in einer billigen Absteige. Die nächste Zeit verbringt sie damit, auf Brücken nach der L'Atalante Ausschau zu halten.


Unterdessen hat Jean seinen Entschluß längst bitter bereut. Er sehnt sich nach Juliette, aber er sitzt nur apathisch da und ist unfähig, etwas zu unternehmen. Es hat sich herumgesprochen, dass Jean seine Pflichten als Skipper vernachlässigt, und in Le Havre werden er und Père Jules ins Büro der Reederei zitiert. Père Jules kann die Sache noch mal geradebiegen, aber er beschließt, dass jetzt etwas geschehen muss. Und das kann nur heißen: Juliette muss wieder her. Da Jean weiterhin nur herumsitzt, macht sich Père Jules auf, um Juliette zu suchen. Das aussichtslos scheinende gelingt: In einem Laden, wo man für ein paar Münzen in einer Art Jukebox Musik nach Wahl abspielen kann, wählt Juliette ein Lied, das sie und Jean gemeinsam auf der L'Atalante gesungen hatten. Père Jules kommt zufällig an dem Laden vorbei, hört das Lied, geht hinein und findet Juliette. Nachdem der Schiffsjunge die Rückkehr von Père Jules und Juliette angekündigt hat, wirft sich Jean in Schale, und als Juliette endlich wieder an Bord ist, fallen sich die beiden wortlos in die Arme. Eine Luftaufnahme der auf dem Fluss dahinziehenden L'Atalante ist die letzte Einstellung des Films.


Wie man sieht, ist der Kern der Handlung schnell erzählt. Ein großer Teil der Szenen dient nicht dazu, die Handlung voranzutreiben, sondern mit vielen überraschenden Wendungen im Kleinen eine Atmosphäre der Frische und Spontaneität zu erschaffen. Und das gelingt Vigo und den Schauspielern in einer Weise, die auch heute noch überzeugen kann. Ich erwähne die Schauspieler bewusst, denn Vigo hat seine Darsteller geradezu zum Improvisieren aufgefordert. Das kam besonders Michel Simon entgegen. Simon ist ein Naturereignis. Wie er mit exzessiver Körpersprache, mit seiner rauen, krächzenden Stimme, und mit ausgelassener Spielfreude eine entfesselte, geradezu anarchische Performance hinlegt, das muss man gesehen haben! Michel Simon wurde 1895 in Genf als Sohn eines Metzgers geboren. 1914 wurde er zur Schweizer Armee eingezogen, aber wegen Aufsässigkeit und schlechter Gesundheit (er war an Tuberkulose erkrankt) bald wieder entlassen. Früh schon wollte er Schauspieler werden. Er versuchte sich als Artist in Varietés, als Boxer, Fotograf und in diversen anderen Gelegenheitsjobs. 1920 debütierte er auf Genfer Bühnen, bald darauf in Paris, gefördert von den französischen Theaterlegenden Louis Jouvet und Georges Pitoëff. Ab 1924 spielte er auch kleinere Rollen in Stummfilmen. Es wird gern behauptet, dass Simon eine Hauptrolle in Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC von 1928 spielte, aber das beruht auf einem Irrtum späterer Restauratoren von Dreyers seinerzeit verstümmeltem Film. In Wirklichkeit ist Simon in diesem Meisterwerk nur in zwei winzigen Einstellungen von zwei oder drei Sekunden Dauer zu sehen.


Sein tatsächlicher Durchbruch beim Film kam 1931 mit der Hauptrolle in Jean Renoirs LA CHIENNE (DIE HÜNDIN), gefolgt von weiteren Filmen Renoirs wie BOUDU SAUVÉ DES EAUX (BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET). Als er die Rolle in L'ATALANTE übernahm, war er bereits ein bekannter Mann, und im Verlauf der 30er Jahre wurde er zu einem der beliebtesten Stars des französischen Kinos, der in Dramen wie LA CHIENNE oder Marcel Carnés QUAI DES BRUMES (HAFEN IM NEBEL) ebenso überzeugen konnte wie in Komödien, etwa Carnés DRÔLE DE DRAME (EIN SONDERBARER FALL) an der Seite von Jouvet. Später wurde er zwar von anderen Stars, wie etwa Jean Gabin, an Popularität überflügelt, aber er blieb für Jahrzehnte ein gefragter Charakterdarsteller. Bemerkenswert sind etwa seine Rollen in René Clairs LA BEAUTÉ DU DIABLE (DER PAKT MIT DEM TEUFEL) oder Sacha Guitrys LA POISON (DAS SCHEUSAL). Dem deutschsprachigen Publikum dürfte er vor allem an der Seite von Heinz Rühmann in ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG in Erinnerung sein, wo er einen des Mordes verdächtigten Landstreicher spielt. Simon spielte nicht nur oft sonderbare Figuren, er war auch selbst ein ausgesprochen exzentrischer Charakter. In jungen Jahren entwickelte er anarchistische Ideen, teilweise vermengt mit rechtem Gedankengut. Sein Lebensstil entsprach seiner Persönlichkeit. In seinen wilden Jahren in Paris soll er einige Zeit in einem Bordell gelebt haben. Später entwickelte er sich zu einem Einzelgänger, aber er war ein ausgesprochener Tierfreund. Auf seinem Landsitz in der Nähe von Paris beherbergte er nicht nur viele Hunde, Katzen und Vögel, sondern auch mehrere Affen. Im besetzten Frankreich war er ins Visier der Gestapo geraten, weil man ihn für einen Juden hielt, aber nach dem Ende des 2. Weltkriegs beschuldigte man ihn, ein Kollaborateur gewesen zu sein, weil er in einigen Filmen mitgespielt hatte, die die Zustimmung der Nazis fanden. Zeitweilig soll er Leibwächter benötigt haben, um sich vor den Anfeindungen zu schützen. 1957 wurde Simons Karriere beinahe beendet. Bei den Dreharbeiten zu UN CERTAIN MONSIEUR JO benutzte er Schminke, die mit einer giftigen Chemikalie verunreinigt war. Er erlitt eine Gesichts- und Körperlähmung und benötigte fast zwei Jahre und viel Disziplin, um wieder drehen zu können, doch danach konnte er seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzen. Michel Simon starb 1975 in der Nähe von Paris.


Simon liebte es, zu improvisieren, und er hasste es, lange zu proben und eine Szene mehrmals zu wiederholen. "Das zweite Mal ist bereits eine Lüge", sagte er in einem Interview. Es liegt auf der Hand, dass er mit dieser Einstellung oft auf wenig Gegenliebe stieß. Nur wenige Regisseure ließen ihm freien Lauf, und im erwähnten Interview nennt er als Beispiele Renoir, Guitry, und eben Vigo. (Was Renoir betrifft, so empfehle ich den schon genannten BOUDU SAUVÉ DES EAUX von 1932. Es handelt sich um das Original zum Hollywood-Remake DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) mit Nick Nolte, Richard Dreyfuss und Bette Midler und zum erneuten Remake mit Gérard Depardieu. In dieser Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen liefert Simon als Boudu eine ebenso unberechenbare, anarchische Vorstellung wie in L'ATALANTE.) Nicht nur Vigos lockerer Inszenierungsstil, sondern auch das Drehbuch ließ Simon viel Raum zur Entfaltung. Dieser Père Jules ist schon ein Original der besonderen Art. Er überrascht seine Freunde, insbesondere Juliette (und damit den Zuseher), immer wieder aufs neue. Mit seinem tätowierten Oberkörper (in einer Szene steckt er sich vor Juliette eine Zigarette in den Bauchnabel, der den Mund eines tätowierten Gesichts bildet), mit einer improvisierten Ringer-Trockenübung ohne Partner (im griechisch-römischen Stil, wie er anmerkt) auf dem Deck der L'Atalante, mit brachialen Gesangseinlagen, mit frivolen Bemerkungen und immer wieder mit unerwarteten Aktionen und Dialogen sorgt er für ein permanentes Moment der Unberechenbarkeit. Seine Kajüte auf der L'Atalante ist ein Mikrokosmos für sich, vollgestopft mit Krempel und Souvenirs aller Art. Höhepunkt des Sammelsuriums ist ein Einmachglas mit zwei abgetrennten menschlichen Händen (die übrigens echte Präparate waren). Sie gehörten einst einem verstorbenen Freund von ihm - "sie sind alles, was mir von ihm geblieben ist", erklärt er der konsternierten Juliette.


Juliettes Darstellerin Dita Parlo wurde 1906 als Grethe Gerda Kornstädt in Stettin geboren. Nach einer Ausbildung als Balletttänzerin besuchte sie die Filmschule in Babelsberg. 1928 gab sie ihr Filmdebüt, und sie war bald erfolgreich. Zunächst spielte sie in deutschen Filmen, 1930 erstmals auch in einem französischen. Im selben Jahr versuchte sie ihr Glück in Hollywood. Sie spielte zwei Rollen in unbedeutenden Originalfilmen, außerdem einige Rollen in deutschsprachigen Alternativversionen englischsprachiger Produktionen. Als der Erfolg ausblieb, gab sie 1933 die Hollywoodpläne auf und kehrte nach Europa zurück. Sie heiratete einen Franzosen und lebte und drehte fortan in Frankreich. Zweiter Höhepunkt ihrer Karriere nach L'Atalante war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION (DIE GROSSE ILLUSION) von 1937. Darin spielt sie die deutsche Witwe Elsa, die den von Jean Gabin und Marcel Dalio gespielten französischen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt und ihnen zur endgültigen Flucht verhilft. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs wurde Parlo von den Franzosen zwangsweise nach Deutschland zurückgeschickt, was ihre Laufbahn abrupt beendete. Nach dem Krieg arbeitete sie als Schriftstellerin, nur 1950 und 1965 kehrte sie noch zweimal auf die Leinwand zurück. Dita Parlo starb 1971 in Paris. Jean Dasté schließlich, 1904 in Paris geboren, war Schüler und Schwiegersohn des Theaterdirektors Jacques Copeau. Er gab sein Filmdebüt mit einer Nebenrolle in Renoirs BOUDU, und sein zweiter Film ZÉRO DE CONDUITE war zugleich der dritte von Vigo, mit dem sich Dasté befreundete. L'ATALANTE war bereits der Höhepunkt seiner Filmkarriere. Bis 1945 spielte er in zwölf weiteren Filmen, darunter drei von Renoir, aber fast nur noch Nebenrollen. Sein Schwerpunkt lag ohnehin bei der Arbeit am Theater, wo er auch Regie führte und ab 1947 ein eigenes Haus in Saint-Étienne führte. Bis 1963 zog er sich völlig vom Filmgeschäft zurück, dann holte ihn Alain Resnais auf die Leinwand zurück. Dastés zweite Film- und Fernseh-Karriere dauerte bis ins hohe Alter von 85 Jahren und erbrachte rund 30 weitere Filme, darunter insgesamt vier von Resnais, drei von François Truffaut (der Vigo sehr schätzte), und Z von Costa-Gavras, aber wiederum nur Nebenrollen. Sein Hauptbetätigungsfeld blieb die Bühne, und als er 1994 in Saint-Étienne starb, wurde dort ein Theater nach ihm benannt.


Neben dem Element des Unberechenbaren wird L'Atalante noch von einem ganz anderen Stilmittel geprägt, nämlich dem für das französische Kino der 30er Jahre typischen Poetischen Realismus. Die Flusslandschaft, die Hafen- und Industrieanlagen, die L'Atalante selbst sind realistisch in Szene gesetzt und doch immer mit einem Hauch Poesie versehen. Nie wirkt ein Schauplatz trostlos oder menschenfeindlich, manche Bilder erzeugen gar den Eindruck einer leicht surreal angehauchten Traumlandschaft. Das ist vor allem das Verdienst des Haupt-Kameramannes Boris Kaufman. Kaufman wurde 1897 als Sohn einer russisch-jüdischen Familie in Bialystok geboren, das damals zum Zarenreich gehörte und heute zu Polen. Er war der jüngere Bruder des russischen Avantgarde-Regisseurs Dsiga Wertow (bürgerlich Denis Kaufman), und von Michail Kaufman, der als Kameramann bis 1930 eng mit Wertow zusammenarbeitete, bis sie sich verkrachten. Boris wurde ebenfalls Kameramann, aber er ging früh eigene Wege. Schon 1917 schickten ihn seine Eltern nach Frankreich, um ihn den Unwägbarkeiten der Revolutionswirren zu entziehen. Nach einem Studium an der Sorbonne und Reisen durch Deutschland und Belgien ließ er sich 1927 endgültig in Frankreich nieder. Nachdem er 1927/28 bei vier kurzen Dokumentar- und Experimentalfilmen, darunter einen in eigener Regie, die Kamera führte, traf er 1929 Jean Vigo. Die beiden verstanden sich prächtig, und Kaufman filmte alle vier Filme Vigos, die ersten drei alleine, L'ATALANTE mit Louis Berger und Jean-Paul Alphen als Verstärkung, die ihm aber eindeutig untergeordnet waren.


Nach Vigos Tod 1934 drehte Kaufman mit Regisseuren wie Christian-Jaque, Marc Allégret und Abel Gance, sowie vier Filme mit dem heute eher vergessenen Léo Joannon. Beim Ausbruch des 2. Weltkriegs diente er in der französischen Armee; nach der Niederlage und Besetzung Frankreichs emigrierte er in die USA. Kaufman hätte gern in Hollywood gearbeitet, aber die dortigen Gewerkschaftsbestimmungen verhinderten das zunächst. So blieb er in New York, wo er die Bekanntschaft mit Avantgardisten wie Maya Deren und Jonas Mekas pflegte. Er lebte einige Jahre von Dokumentarfilmen, etwa einer Folge der vom amerikanischen Office of War Information (OWI) produzierten Propaganda-Serie WHY WE FIGHT, dem ebenfalls vom OWI produzierten HYMN OF THE NATIONS über Arturo Toscanini, sowie einigen Arbeiten im Auftrag des National Film Board of Canada, das unter der Leitung des emigrierten britischen Dokumentar-Pioniers John Grierson stand. Einige dieser Filme hatten den in Linz geborenen Alexander Hammid als Regisseur, damals Ehemann von Maya Deren. Ebenfalls mit Hammid drehte Kaufman 1951 THE GENTLEMAN IN ROOM 6, einen kurzen Experimentalfilm mit subjektiver Kamera. Letztlich zog es Kaufman aber doch noch nach Hollywood, wo er endlich eine Arbeitserlaubnis bekam. Er bewarb sich bei Elia Kazan für ON THE WATERFRONT (DIE FAUST IM NACKEN) und wurde prompt engagiert. Der Film geriet zum Klassiker, und unter den acht Oscars dafür ging einer auch an Kaufman für die beste Schwarzweiß-Kamera, und als Zugabe gab es auch noch einen Golden Globe. Nach diesem perfekten Einstand war Kaufman ein gefragter Mann für hochwertige Scharzweiß-Fotografie. Er drehte u.a. nochmals mit Kazan (Oscar-Nominierung für Kaufman für BABY DOLL), mit Martin Ritt, Jules Dassin und Otto Preminger. Insbesondere aber wurde Kaufman der Leib- und Magen-Kameramann von Sidney Lumet, für den er siebenmal filmte, u.a. Lumets Einstand 12 ANGRY MEN, THE FUGITIVE KIND und den brillanten THE PAWNBROKER. Kaufman zog sich 1970 zurück und starb 1980 in New York.


In L'ATALANTE gelingen Kaufman Einstellungen von magischer Schönheit. Etwa eine Szene, in der Juliette in der Abenddämmerung in ihrem weißen Brautkleid über das Deck der L'Atalante schreitet. Das Kleid hebt sich so hell leuchtend vom dunklen Hintergrund ab, dass Juliette fast ätherisch wie eine Fee wirkt. In einer Szene hat Juliette Jean weisgemacht, dass man den Geliebten sieht, wenn man den Kopf unter Wasser hält und dabei die Augen öffnet, was Jean gleich an einem Eimer Wasser ausprobiert. Als nun Juliette weg ist und sich Jean hilflos nach ihr sehnt, erinnert er sich daran - und macht einer spontanen Eingebung folgend in voller Kleidung einen Kopfsprung in die Seine. Und tatsächlich glaubt er unter Wasser, sie zu sehen. Juliette, wieder im Brautkleid, wirkt in dieser surrealen Szene wie ein im Wasser schwebendes überirdisches Wesen. (Es erforderte übrigens viel Mut von Jean Dasté, sich bei den winterlichen Dreharbeiten in die eiskalte Seine zu stürzen.) Ein besonderes Kunststück vollbringen Vigo und Kaufman mit einer Szene, in der gleichzeitig Juliette im Bett in ihrem Hotelzimmer und Jean in seiner Koje auf der L'Atalante liegen. Beide sind einsam, beide sehnen sich nach dem jeweils anderen, und beide werden offensichtlich gleichzeitig von erotischen Anwandlungen überfallen und wälzen sich entsprechend hin und her. Durch eine mehrfache Überblendung der beiden wird der erstaunliche Eindruck einer Liebesszene auf Entfernung erweckt.


Neben Kaufmans Kameraführung ist auch die schlichte, aber stimmungs- und wirkungsvolle Musik von Maurice Jaubert für den poetischen Eindruck mit verantwortlich. Manchmal erinnert sie mich an Stücke, die Nino Rota für Filme von Fellini geschrieben hat. Jaubert, der schon für Vigos ZÉRO DE CONDUITE die Musik geschrieben hatte und später vor allem für Carné arbeitete, fiel 1940 40-jährig an der Front in Frankreich. In späteren Jahren hat Truffaut die Erinnerung an ihn hochgehalten, indem er von Jaubert geschriebene Stücke (darunter auch aus L'ATALANTE) in vier seiner Filme verwendete. Und in Truffauts LA CHAMBRE VERTE (DAS GRÜNE ZIMMER) von 1978 gibt es einen Raum, in dem Fotos und Memorabilien Verstorbener aufbewahrt werden. In Wirklichkeit zeigen die Fotos Personen, die in Truffauts Leben oder Werk eine Rolle spielten, und eines davon ist ein Porträt von Jaubert. Truffaut hielt nicht nur Jaubert, sondern vor allem auch Vigo in Ehren, und da war er nicht der einzige seiner und späterer Generationen von französischen Regisseuren. Gerade die Vertreter der Nouvelle Vague betrachteten Vigo neben der großen Lichtgestalt Jean Renoir als einen der Helden der Vergangenheit, denen sie nacheiferten. Vigos geistige Unabhängigkeit, sein spontaner Inszenierungsstil, das Drehen an Originalschauplätzen und die seinerzeit wie heute überzeugende Frische des Ergebnisses lagen voll auf ihrer Wellenlänge.


Vigo wurde 1905 in einer Dachkammer, die ebenso von Katzen bevölkert war wie die L'Atalante, in Paris geboren. Sein Vater war ein seinerzeit prominenter Anarchist und Journalist, der eigentlich Eugène Bonaventure de Vigo hieß, aber unter dem Pseudonym Miguel Almereyda bekannt war. Als Herausgeber der militanten Zeitschrift Le Bonnet Rouge besaß er großen Einfluss auf linke Gruppierungen und Gewerkschaften. 1917, als Almereyda sich für Friedensverhandlungen mit Deutschland einsetzte und deshalb nationalistischen Kreisen ein Dorn im Auge war, wurde er unter dem Vorwand, ein deutscher Spion zu sein, inhaftiert. Wenig später starb er unter dubiosen Umständen im Gefängnis: Man fand ihn mit einem Schnürsenkel stranguliert am Bettgestell hängend. Wahrscheinlich wurde er ermordet, auch wenn Selbstmord nicht ganz ausgeschlossen werden kann. Der Tod seines Vaters traf den 12-jährigen Vigo natürlich tief. Es wird allgemein angenommen, dass Vigos ausgeprägte Freiheitsliebe und seine Abneigung gegen Autoritäten auf den direkten Einfluss seiner anarchistischen Eltern zurückgehen. Nach Almereydas Tod konnte Vigos Mutter nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen, außerdem war er in Paris als "Sohn des Spions" heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Deshalb lebte er mehrere Jahre unter falschem Namen bei Verwandten und in verschiedenen Internaten. Insbesondere verbrachte er vier Jahre in einem Internat in Millau in Südfrankreich. Vigo hasste das Leben im Internat mit seinen strengen Regeln und Ritualen. Ab 1922 lebte er wieder bei seiner Mutter und besuchte, wieder unter seinem richtigen Namen, die Sorbonne. Vigo litt schon als Kind unter einer schlechten Gesundheit, und als junger Mann erkrankte er an Tuberkulose. 1926 lernte er in einem Sanatorium Elisabeth Lozinska kennen, die Tochter eines polnischen Industriellen, die ebenfalls an einer angegriffenen Gesundheit litt. 1929 heiratete er Elisabeth, die er "Lydou" nannte. Vigos Schwiegervater überschüttete das Paar nicht gerade mit Geld, aber er spendierte doch einen gewissen Betrag, den Vigo nutzte, um sich eine Kameraausrüstung zu kaufen. In Nizza, wo das Paar wohnte, arbeitete er 1929 als Kameraassistent, z.B. bei VÉNUS von Louis Mercanton. Nebenbei machte er mit seiner eigenen Kamera Aufnahmen in Nizza für einen geplanten Dokumentarfilm über die Stadt.


Zu dieser Zeit lernte er Boris Kaufman kennen, und wie bereits erwähnt, verstanden sie sich auf Anhieb. Sie beschlossen, das Nizza-Projekt mit Kaufman an der Kamera ernsthaft in Angriff zu nehmen. Das Ergebnis mit dem Titel À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) ist ein satirischer Angriff auf die feine Gesellschaft von Nizza. Der ca. 25-minütige Stummfilm steht formal in der Tradition der Großstadt-Symphonien der 20er Jahre wie Alberto Cavalcantis RIEN QUE LES HEURES (NICHTS ALS STUNDEN) oder Walter Ruttmanns BERLIN: DIE SINFONIE DER GROSSTADT. Auch Kaufmans Brüder hatten mit MOSKAU und DER MANN MIT DER KAMERA zu diesem Genre beigetragen. Wie die Vorgänger bedienen sich Vigo und Kaufman origineller Bildmotive, ausgefallener Kamerapositionen und -winkel sowie einer dynamischen Montage. Die Schnitte sind allerdings nicht ganz so schnell wie bei den eigentlichen Großstadt-Symphonien. Die längeren Einstellungen geben aber Vigo die Gelegenheit, genauer hinzusehen, und davon macht er reichlich Gebrauch. In einer Abfolge von Gegenüberstellungen werden die mondänen Vergnügungen und der Müßiggang der High Society mit dem Leben der einfachen Leute kontrastiert, wobei er einerseits auch in die Hinterhöfe und Kloaken blickt und andererseits die Reichen durch eine Reihe von überraschenden Bildeinfällen deftig karikiert. Vigo macht also keinen Hehl daraus, dass seine Sympathie den kleinen Leuten gehört.


Als nächstes drehten Vigo und Kaufman als Auftragsarbeit einen zehnminütigen Dokumentarfilm (diesmal mit Ton) mit dem länglichen Titel NATATION PAR JEAN TARIS, CHAMPION DE FRANCE, auch als TARIS, ROI DE L'EAU bekannt. Der Inhalt ist schnell erzählt: Der seinerzeit sehr bekannte und erfolgreiche Schwimmer Jean Taris demonstriert in einem Sportbecken verschiedene Schwimmstile und spricht selbst einen Kommentar dazu. Das Thema war wohl schon damals nicht besonders aufregend und kann heute erst recht niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken, doch der Schwerpunkt des Films liegt ohnehin in der visuellen Gestaltung. Vor allem durch die geschickte Ausleuchtung werden sehr harte Kontraste erzeugt; grelle Lichtreflexionen auf der Wasseroberfläche, Spritzer und Luftblasen im aufgewühlten Wasser und damals innovative Unterwasseraufnahmen erzeugen einen eigentümlichen optischen Reiz, der dafür sorgt, dass man den Film auch heute noch ansehen kann, ohne sich zu langweilen. Vigo selbst verlor schnell das Interesse daran, nachdem er erst einmal fertiggestellt war. Das war beim nächsten Projekt ganz anders. ZÉRO DE CONDUITE (BETRAGEN UNGENÜGEND) von 1933 war ihm eine Herzensangelegenheit, denn darin verarbeitete er seine Internatserfahrungen zu einem surrealen Angriff auf die Autorität der Lehrer und sonstiger Honoratioren.


In einem Knabeninternat beginnt ein neues Schuljahr. Die Lehrer sind strenge und verknöcherte alte Herren, abgesehen vom neuen Lehrer Huguet (Jean Dasté), der mit den Kindern schon mal auf dem Schulhof Rugby spielt oder sie mit einer Chaplin-Einlage unterhält. Einmal macht er im Klassenzimmer einen Handstand und zeichnet dabei noch eine Comicfigur - die plötzlich für einige Sekunden wie in einem Zeichentrickfilm animiert wird. Ein weiteres Beispiel für Vigos unerwartete Einfälle. Ansonsten ist der Alltag der Schüler eher trist. Sie werden im Schlafsaal von einem unsympathischen Hausaufseher überwacht und bei Gelegenheit auch bestohlen; ein dicker Chemielehrer betatscht einen der Schüler; es gibt aus Kostengründen ständig nur Bohnen zu essen (auch in Vigos Internat in Millau gab es zwar nicht immer, aber doch ziemlich oft Bohnen, wie sich ein Schulfreund von ihm erinnerte). Die lächerlichste Figur im Internat ist der Direktor: Ein rauschebärtiger Zwerg, dem Disziplin und Ordnung über alles gehen. Und so braut sich etwas zusammen: Die Schüler planen eine Rebellion. An einem Gedenktag, zu dem sich der Direktor mit dem Gouverneur und weiteren Ehrengästen im Schulhof versammelt, verschanzen sich die Kinder auf dem Dachboden der Schule und bewerfen die ehrenwerte Versammlung unter Gejohle mit Büchern, Dosen, alten Schuhen und weiterem Gerümpel. Zuletzt erklimmen sie triumphierend den Dachfirst, wie um hinter dem Horizont in die Freiheit zu entschwinden.


Produzent von ZÉRO DE CONDUITE war ein Pferdezüchter namens Jacques-Louis Nounez. Er war mit der zeitgenössischen französischen Filmproduktion unzufrieden und beschloss, Geld in einen hoffnungsvollen Nachwuchsregisseur zu investieren, und so stieß er auf Vigo. Es wurde ein Vertrag über einen Film von rund 45 Minuten Dauer geschlossen, aber Vigos erste Fassung war deutlich länger und musste gekürzt werden. So kommt es, dass die Handlung nicht besonders stringent ist und einige Sprünge aufweist. Vigo und Kaufman legten viel mehr Gewicht auf eine Darstellung kindlicher Fantasiewelt durch teilweise surreale Bildgestaltung. Bestes Beispiel dafür ist eine Kissenschlacht. Sie beginnt zunächst in einem realistisch-dynamischen Stil, aber dann wirbeln Federn wie Flocken bei einem Schneesturm durch den Schlafsaal und es wird Zeitlupe eingesetzt, wodurch die Darstellung ins Unwirkliche kippt. ZÉRO DE CONDUITE war ein anarchischer Frontalangriff auf die Autoritäten und Stützen der Gesellschaft, und die reagierten heftig: Der Film wurde von der Zensur komplett verboten. Das Verbot wurde erst 1945 aufgehoben. Das wirft zwar kein gutes Licht auf die französische liberté, aber es hatte immerhin ein Gutes: Der Film wurde von den Scheren der Verleiher verschont. L'ATALANTE sollte es da ganz anders ergehen.


Produzent Nounez erlitt durch das Verbot einen hohen finanziellen Verlust, aber er hielt an Vigo fest. Doch erstens ging er zur Sicherheit eine Kooperation mit der Produktionsgesellschaft Gaumont-Franco Film-Aubert ein, und zweitens sollte es diesmal ein Stoff sein, der Vigo keine Gelegenheit zur Subversion und damit der Zensur keinen Anlass zum Einschreiten bieten sollte. Das Buch zu L'ATALANTE stammte ursprünglich von einem Jean Guinée, wurde aber von Vigo und Albert Riéra noch stark überarbeitet. Riéra, der auch einer der beiden Regieassistenten bei L'ATALANTE war, war ein Freund von Vigo, ebenso wie der zweite Regieassistent Pierre Merle. Überhaupt wirkten bei ZÉRO DE CONDUITE und L'ATALANTE neben professionellen Schauspielern und Technikern auch viele Freunde, Verwandte und Bekannte Vigos sowie Laiendarsteller mit. Die Jungen in ZÉRO DE CONDUITE wurden alle in der Nachbarschaft des Drehorts zusammengesucht und verbrachten für einige Wochen sozusagen einen Abenteuerurlaub bei den Dreharbeiten. Der mit Vigo befreundete belgische Dokumentarfilm-Regisseur Henri Storck ist in einer Nebenrolle als Priester zu sehen. In L'ATALANTE spielen neben Riéra auch das Brüderpaar Pierre und Jacques Prévert sowie Charles Goldblatt, der auch die Liedtexte schrieb. Alle gehörten zu Vigos Freundeskreis. Als für die Taschendieb-Szene Komparsen gebraucht wurden, war kein Geld für die Bezahlung übrig. Also sprangen Mitglieder eines linksgerichteten Theaterkollektivs unentgeltlich ein. Die Katzen auf der L'ATALANTE stammten übrigens auch nicht vom Tiertrainer, sondern wurden mit Zustimmung der Besitzer in der Umgebung zusammengefangen.


Die Dreharbeiten zu L'ATALANTE fanden im Winter 1933/34 statt und zehrten an den Kräften der Beteiligten, insbesondere aber an denen von Vigo. Es wurde fast nur vor Ort an Originalschauplätzen gedreht, und das Wetter war meist schlecht. Vigo empfand das aber nicht als Behinderung, sondern ließ sich von den jeweiligen Gegebenheiten zu spontanen Regieeinfällen inspirieren. Schon bei den Dreharbeiten mussten wegen Vigos Tuberkulose mehrere Pausen eingelegt werden. Nach Drehschluss reiste Vigo zur Erholung für etwa einen Monat in die Berge, doch als er wiederkam, war er nicht etwa genesen, sondern sein Zustand hatte sich deutlich verschlechtert. Unterdessen hatte Louis Chavance, der ein geschickter Cutter war, nach Vigos Anweisungen, aber ohne seine direkte Aufsicht, den Schnitt besorgt. Chavance verlegte sich später auf das Verfassen von Drehbüchern. Er schrieb unter anderem gemeinsam mit Henri-Georges Clouzot das Buch zu Clouzots heftig umstrittenen Skandalfilm LE CORBEAU (DER RABE). Vigo sah sich nach seiner Rückkehr aus den Bergen Chavances Schnittfassung an und war ziemlich zufrieden. Nach einer Probevorführung vor Kinobesitzern und Verleihern sollten nur noch einige kleinere Schnitte durchgeführt werden. Es war dies das erste und letzte mal, dass der bereits bettlägerige Vigo den kompletten Film sah. Die Probevorführung geriet zur Katastrophe. Die Verleiher und Kinobesitzer befürchteten einen finanziellen Reinfall, sie hassten den Film regelrecht. Sie verlangten drastische Schnitte, und Gaumont-Franco-Aubert schlug sich auf ihre Seite. Produzent Nounez war gegen die Eingriffe, aber Gaumont saß finanziell am längeren Hebel, und so musste Nounez nachgeben. L'ATALANTE wurde um über zwanzig Minuten drastisch gekürzt. Außerdem wurde Jauberts Musik komplett durch einen damals populären Schlager mit dem Titel "Le Chaland qui passe" ersetzt, gesungen von einer Lys Gauthy. Obendrein wurde der Titel des Film nach dem Lied in LE CHALAND QUI PASSE umgeändert. Vigo wusste von den Eingriffen zunächst nichts. Als er es erfuhr, war er schon zu geschwächt, um irgendetwas unternehmen zu können, und er resignierte.


Diese verstümmelte Fassung von L'ATALANTE kam im September 1934 in die Kinos. Es kam, wie es kommen musste: Die verhunzte Version fiel nun erst recht durch, und wurde bald wieder aus den Kinos genommen. Wenig später war Vigo tot. Im Oktober 1934 erlag er einer Blutvergiftung als Folge seiner Tuberkulose. Seine Frau Lydou überlebte ihn nur um viereinhalb Jahre. 1940 brachte ein neuer Verleiher L'ATALANTE unter dem originalen Titel, und wieder mit der Musik von Jaubert, erneut in die Kinos, aber immer noch verstümmelt. Auch diesmal wollte das Publikum den Film nicht sehen. Im Lauf der Jahre existierten dann mehrere verschiedene Schnittfassungen, unter beiden Titeln, alle unvollständig und meist mit schlechter Bild- und Tonqualität. Allerdings bildete sich langsam das Bewusstsein heraus, dass da ein Meisterwerk im Dornröschenschlaf liegt. Als 1945 das Verbot von ZÉRO DE CONDUITE aufgehoben wurde, holte man den unversehrten Film aus dem Giftschrank, und Vigos bereits guter Ruf festigte sich enorm. Henri Beauvais, ein früher bei Gaumont beschäftigter und jetzt unabhängiger Produzent, besaß rund 30 Stunden an Rohmaterial und Schnittabfällen von L'ATALANTE. Dieses und weiteres Material wurde 1949 von Henri Langlois, einem der Gründer der Cinématheque Française, zusammengetragen und zu einem Rekonstruktionsversuch benutzt. Der war allerdings von einer gewissen Konzeptlosigkeit geprägt, so dass den diversen kursierenden Versionen des Films nur eine weitere ohne Anspruch auf Authentizität hinzugefügt wurde. Trotzdem war der gute Ruf von L'ATALANTE jetzt gesichert. Die eine oder andere Version wurde auf Festivals gezeigt, und 1962 schaffte es L'ATALANTE bei den alle zehn Jahre stattfindenden Umfragen der Zeitschrift Sight and Sound nach den besten Filmen aller Zeiten unter die Top Ten. Bei aller Fragwürdigkeit solcher Listen zeigt das die Wertschätzung, die Vigo inzwischen erfuhr.


1985 kaufte Gaumont die Firma von Henri Beauvais und damit sein Material von L'ATALANTE samt den Rechten. Das war der Auftakt zu einem erneuten Rekonstruktionsversuch. In den Filmarchiven der Welt wurde nach weiterem Material gesucht, und man wurde fündig. Hervorzuheben ist ein Fund im Archiv des British Film Institute: Eine vermutlich nie gezeigte Version von 1934, von der man glaubt, dass sie der von Vigo mit Abstrichen abgesegneten ersten Schnittfassung von Chavance so nahe kommt wie keine andere noch existierende Fassung. Außerdem zeigt diese Version eine vergleichsweise sehr gute Bild- und Tonqualität. Aus diesem Material wurde eine Fassung angefertigt, die Vigos Intentionen so nahe kommen sollte wie möglich. Sie wurde 1990 beim Filmfestival in Cannes erstmals präsentiert. Wie schon nach dem ersten Rekonstruktionsversuch, schaffte es L'ATALANTE 1992 wieder unter die Top Ten bei Sight and Sound. Die Version von 1990 wurde 2001 einer kritischen Revision unter Leitung des Filmhistorikers Bernard Eisenschitz unterzogen. Man kam zu dem Schluss, dass die Restauratoren von 1990 etwas zu forsch vorgegangen waren und Szenen hinzugefügt hatten, die Vigo weggelassen hätte. So wurden also einige wenige Szenen wieder gekürzt oder weggelassen (was die Restauratoren von 1990 zu einer heftigen Polemik veranlasste). Diese hoffentlich nun wirklich endgültige Version wurde auch einer digitalen Bild- und Tonrestauration unterzogen und dient als Grundlage diverser DVD-Ausgaben von L'ATALANTE. Ohne die Credits der Restauratoren dauert sie 87 Minuten.


Vigos Spätwirkung zeigt sich nicht nur in Umfragen wie denen von Sight and Sound, sondern auch daran, dass ihm immer wieder mal Regisseure ihre Referenz erweisen, sei es verbal, sei es in ihren Filmen. Truffaut erwähnte ich bereits; Lindsay Anderson war ein großer Bewunderer von Vigo, und sein IF.... steht ganz in der Tradition von ZÉRO DE CONDUITE; ein weiteres Beispiel ist Bernardo Bertolucci, der in DER LETZTE TANGO IN PARIS und in einem weiteren Film L'ATALANTE referenziert. Am Ende von Leos Carax' LES AMANTS DU PONT-NEUF (DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF) werden die Titelhelden von einem alten Paar auf einem Frachtkahn, in dem man zwanglos Jean und Juliette erkennen kann, aus der Seine gefischt. Und in einem Buch über den Regisseur Philippe Garrel steuert Carax quasi als Vorwort ein Foto (ohne Begleittext) von Vigo und Lydou bei. In Jean-Luc Godards ÉLOGE DE L'AMOUR (AUF DIE LIEBE) schließlich gibt es ein Paar, das sich am Ufer der Seine unterhält, und dazu erklingt Maurice Jauberts Hauptthema aus L'ATALANTE.

L'ATALANTE ist in Deutschland bei Arthaus auf DVD erschienen. In England und den USA ist jeweils eine Box mit allen vier Filmen Vigos auf DVD erschienen, letztere auch auf Blu-ray.