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Dienstag, 21. Dezember 2021

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Endlich wieder Terza! Das meisterwartete Kinoereignis 2021 fand vom 25. bis 29. August 2021 statt. Nach mehreren Ausgaben in Nürnberg und in Frankfurt am Main ging es dieses Jahr nach Karlsruhe: um der großen Zuschauerschaft in Pandemiezeiten genügend Abstand zu ermöglichen, brauchte es ein größeres Kino als im Frankfurter Filmmuseum, und dieses fand sich mit der Schauburg in Karlsruhe, Heimat der in Off-Festivalliebhaberkreisen geschätzten 70mm- und Technicolor-Festivals. Statt hybrid oder online oder remote oder was auch immer – mehr Kino! Ein Saal mit 350 Plätzen und einer riesigen Cinerama-Leinwand.

Wie immer beim Terza gilt: die Filme liefen auf 35mm-Kopien. Doch auch da gab es dieses Jahr Ausnahmen (nämlich: 70mm).



Mittwoch, 25. August 2021


ab 19.00 Uhr




ARRIVERDERCI ROMA

Regie: Roy Rowland

Italien/USA 1957

105 Minuten, dF

Der Schlagersänger Marc Revere (Mario Lanza) reist nach Rom, um dort seine nach einem Eifersuchtsstreit entschwundene Verlobte Carol (Peggie Castle) zu suchen. In der Ewigen Stadt kommt er bei seinem entfernten Cousin Beppo (Renato Rascel) unter und freundet sich mit der jungen Raffaela (Marisia Allasio) an, die sich in ihn verliebt.

Beschwingt und leicht startete das 7. Terza mit einem italienisch-US-amerikanischen Musical, das ganz auf den italienischstämmigen US-Startenor Mario Lanza zugeschnitten war. In ihrer schönen Einführung sprach Bilquis Castaño Manias unter anderem über die sehr schwierigen Produktionsumstände des Films: Lanza, zu diesem Zeitpunkt schon von schwerem Alkoholismus geprägt (er starb zwei Jahre später), erwies sich als sehr kapriziöser und schwieriger Star, der sich immer wieder über die billigeren Produktionsbedingungen in Italien (im Vergleich zu den USA) echauffierte und (alkoholbedingt) immer wieder Probleme mit seiner Stimme hatte. Am fertigen Film merkt man das kaum an: ARRIVERDERCI ROMA wirkt wie ein locker aus der Hüfte geschossener Film und keineswegs wie das Ergebnis einer Produktionshölle. Gleichwohl Lanza natürlich die tragende Säule des Films ist, bietet der Film auch viele andere Attraktionen.

Am großartigsten ist ARRIVERDERCI ROMA nämlich dann, wenn er Plot Plot sein lässt und sich vollkommen selbstvergessen in seinen Revuenummern verliert. "There's Gonna Be a Party Tonight" ist ein früher glorreicher Höhepunkt, bei dem Mario Lanza zusammen mit seinen Kumpanen zunächst mit Einkäufen aus einem Laden herauskommt, und anschließend singend, tanzend und akrobatierend durch das populäre Viertel spaziert und sämtliche Passanten zu einer großen Sause einlädt. Eine Explosion aus Musik, Bewegung, Gewusel, Lebensfreude, gefilmt in langen, eleganten und trotz ihrer scheinbaren Einfachheit völlig umwerfenden Kamerafahrten. Die Szene kulminiert an der menschengefüllten Außentreppe eines populären Wohngebäudes (ein Ausschnitt ist hier zu sehen).

Hier einige Worte zum besonderen Kinosaal in der Karlsruher Schauburg mit seiner 7 x 17 Meter großen, leicht gekrümmten Leinwand: es war ein absolutes Fest in Sachen Kino-Immersion. Bei ARRIVERDERCI ROMA fiel dann auch recht schnell auf, dass besonders seitliche Kamerafahrten (gerade natürlich in Cinemascope) wesentlich "swooshig'er" erlebbar waren als auf kleineren, "normalen" Leinwänden (geschweige denn auf einem Bildschirm). Der Detailreichtum von ARRIVERDERCI ROMA war teils absolut atemberaubend: die Feier, die nach "There's Gonna Be a Party Tonight" in Beppos Wohnung stattfindet, zeigte geradezu ein musikalisches Panoramagemälde der Lebensfreude (gleichwohl nebenbei hier der zentrale Konflikt des Films angedeutet wird: Raffaela liebt Marc, doch er beachtet sie nicht und tanzt einfach mit einer anderen Frau).

Mit dem "eigentlichen Superstar des Films" (Zitat aus Bilquis' Einführung), nämlich Rom, ist alles möglich. Nach eben beschriebener Sause lädt ein unbekannter, aber sehr dankbarer Partygast Marc, Raffaela und Beppo zu einer Hubschrauber-Spritztour ein (sic!). Alle vier steigen ein (Beppo nimmt seine Gitarre mit, man weiß ja nie, wann man sie braucht) und dann fliegen sie über Rom. Und dieser Flug hat es in sich: nicht nur Plot, sondern auch Musical-Nummern werden mehrere Minuten lang völlig links liegen gelassen für einen Entdeckungsflug durch die Lüfte der Ewigen Stadt: Ruinen in Vororten, moderne Neubauten, die Innenstadt mit dem Kolosseum, das Viktor-Emanuelsdenkmal – all dies wird aus der Luft besichtigt. Für mehrere Minuten stoppt der Film, um Rom dieses Kino-Tribut zu setzen.

Angesichts von so vielen, im positiven Sinne "selbstzweckhaften" Attraktionen ist es geradezu ein Schock, als Marc dann doch endlich wieder seine entflohene Verlobte zufällig trifft und dann wieder ein wenig Plot abgearbeitet werden muss, um schließlich in einem denkbar grausamen Happy-End zu münden: Marc und Raffaela finden doch zusammen, während Beppo, der sich während des Films in Raffaela verliebt hat und sich zunehmend als eigentlicher Sympathieträger von ARRIVERDERCI ROMA erwiesen hat (Marc entpuppt sich doch als recht egoistische, selbstgefällige – mit Verlaub – Arschgeige: die Einladung "There's Gonna Be a Party Tonight" beispielsweise spricht er aus für Delikatessen, die nicht mit seinem Geld gekauft wurden), ganz alleine und traurig zurückbleiben muss.

Ein kleines Lieblingsdetail: auf einem Geländer im Eingangsbereich von Beppos Wohnung befand sich der abgetrennte, behelmte Kopf eine antiken, weiblichen Statue. Sie war immer wieder in mehreren Einstellungen prominent zu sehen, allerdings meist etwas verrutscht und an anderer Stelle. Continuity-Fetischisten würden wohl "Goof" schreien: ich sage eher, das ist ein Kuleschow-Effekt ohne Montage. Der Kopf schien eher ein "griechischer" (römischer?) Chor zu sein, der die Handlung aus dem Hintergrund heraus kommentierte. War die Szene fröhlich, blickte der Kopf fröhlich. War die Szene gerade traurig, blickte auch der Kopf traurig – freilich, ohne natürlich sich irgendwie geändert zu haben, es war ja der gleiche Kopf. In einer Szene war er aber gefährlich nah an der Kante des Geländers und ich befürchtete etwas, dass er herunterfallen könnte...



ab 21.45 Uhr


Die 7. Ausgabe des Terza hielt für die Zuschauer eine besondere Cine-Delikatesse bereit: über die fünf Tage verteilt lief eine kleine Retrospektive mit fünf Kurzfilmen von Peter Tscherkassky. Nun, Peter Tscherkassky ist Österreicher und seine Filme sind auch österreichische Produktionen – in seinen bildgewaltigen Experimentalfilmen benutzt er allerdings immer wieder "found footage" aus fremden Filmen, darunter eben auch italienische Genrefilme! Für die beiden Festivalleiter Andreas Beilharz und Christoph Draxtra war diese kleine Verbindung Grund genug, das Festival hier etwas über den Tellerrand hinaus schauen zu lassen.

Nicht jedem hat dieses Sonderprogramm gefallen. Ich persönlich fand es absolut großartig und auf jeden Fall eine große Bereicherung für ein ohnehin schon überreiches Programm.


DREAM WORK

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2001

11 Minuten

Aus den Träumen einer jungen Frau...

Peter Tscherkasskys Filme sind wilde und spektakuläre Formexplosionen – und dabei absolut materialfetischistisch. Found Footage wird verfremdet, verdunkelt, erhellt, zerschnitten, in Negativ invertiert, übereinander gelegt, die Tonspur wird gleichermaßen attackiert und bearbeitet. Zu sehen sind Filme, bei denen ich nach ihrem Erleben auf 35mm auf einer riesigen Kinoleinwand Zweifel habe, ob sie in ihrer entfesselten Wildheit digital überhaupt "abbildbar" sind.

DREAM WORK, einer von Tscherkasskys Filmen aus einer Cinemascope-Serie, ist in der Erinnerung mittlerweile etwas verblasst im Vergleich zu einigen anderen, die im Laufe des Festivals noch gezeigt werden sollten. Das mindert nicht den überwältigenden Einschlag, den meine erste Begegnung mit Tscherkassky hatte.





IL GATTO A NOVE CODE ("Die neunschwänzige Katze")

Regie: Dario Argento

Italien/Frankreich/BRD 1971

112 Minuten, OmU

Ein Einbruch in einem Institut für Genetik zieht eine Reihe von Morden nach sich. Der Journalist Carlo Giordani (James Franciscus) und der erblindete Rentner und Ex-Journalist Franco Arno (Karl Malden) versuchen zusammen, das Rätsel zu lösen, werden aber rasch selbst zur Zielscheibe des Mörders. 

Die erste Begegnung mit dem Film beim 1. Jenaer Paradies-Festival war eher unbefriedigend: Dario Argentos zweite Regiearbeit hatte mich mehr oder minder gepflegt gelangweilt. Meine Hoffnung, ihm bei der zweiten Sichtung (jetzt in vollständiger italienischer Originalfassung im Vergleich zur deutschen, um etwa 22 Minuten geschnittenen Kinokopie) näher zu kommen, wurde leider enttäuscht. Ich werde mit ihm irgendwie nicht warm.

Dennoch gibt es doch das eine oder andere, was ein wenig hängen geblieben ist. Die minutiösen, teilweise experimentellen Montagen, die mit fast subliminalen Bildeinschüben arbeiten (immer wieder ist ganz kurz eine Extremnahaufnahme auf Augen zu sehen), sehen schon ziemlich toll aus auf der großen Leinwand. Die Szene, die mir schon bei der ersten Sichtung als eine Art visueller Höhepunkt des ganzen Films im Gedächtnis blieb, nämlich die rasante Autofahrt der Catherine Spaak mit James Franciscus, war auch diesmal ein Fest: ein neckisches Spiel der Verführung (Spaak baggert Franciscus mit ihrem halsbrecherischen Fahrstil an) mit leichten Screwball-Elementen, aufgelöst in einer atemberaubenden Actionszene.

Und Karl Malden hat aus meiner Sicht zwar in besseren Filmen mitgespielt, aber er hat doch eine sehr schöne Rolle. Gerade Maldens Figur und ihre Interaktion mit der Nichte (aber auch mit Franciscus' Reporter) ist wunderbar – und tatsächlich noch mal ein Beweis, dass Argento eben kein kalter Formalist ist, dem Figuren egal sind. Letzteres wird auch gegen Ende in einem kurzen Augenblick sichtbar: Giordani erhebt schwere Beschuldigungen gegen Anna (Spaak), die dann aber in wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus zusammenfallen. In einem kurzen Blickwechsel zwischen den beiden, die sich vorher eigentlich lieb hatten, wird klar, dass etwas unwiderruflich kaputt gegangen ist. Ein sehr starker, emotionaler Moment, inhaltich weit entfernt von den schaulustigen Attraktionen, mit denen Argento gemeinhin assoziiert wird.

Ein klein wenig enttäuscht hat mich auch Ennio Morricones Score, der mir insgesamt etwas beliebig, austauschbar erschien. Doch auch hier: das zärtlich-einfühlsame Thema, das Franco Arno und seine Nichte geschenkt bekommen, bringt dem Film eine sehr ergreifende Emotionalität (hier zu hören). Und die Musikbegleitung zum Showdown, die eine funky-bluesige Basslinie und ein dissonant-kakophone Klänge aufeinandertreffen lässt (hier zu hören), frass sich fast bis zum Einschlafen als Ohrwurm in meinen Kopf.



Donnerstag, 26. August 2021


ab 12.30 Uhr


INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2005

17 Minuten

IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO... neu montiert und verdichtet.

Vor INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE lief der Trailer zu "Zwei glorreiche Halunken", nun lief der Film in einer Art ultrakondensierten, verfremdeten, verdichteten, zugespitzten Kurzfassung. Tscherkasskys Filme sind wie bereits gesagt keine "normalen" (also narrativen) Filme, sondern überwältigende, berauschende und hypnotisierende Totalerlebnisse. In INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE kulminiert in einer wilden Schiesserei: rasenden, stark verfremdete Bilder des Films mit einer stakkatoartigen Abfolge ohrenbetäubender Schüsse.


Weniger experimentell, dafür heiterer ging der erste, dem Western gewidmete Filmblock des Tages weiter...




SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR ("Die sieben Pistolen des MacGregor")

Regie: Franco Giraldi

Italien/Spanien 1966

93 Minuten, dF

Die sieben Brüder MacGregor wollen ihr Vieh in einer weitab ihrer Farm entfernten Stadt verkaufen. Dort werden sie vom Viehbaron Crawford, der zugleich örtlicher Gangster-Pate ist, zunächst ins Gefängnis gebracht. Später legen sie sich mit Crawfords furchterregendem Handlanger Santillana an.

Ein Film, der mit einer zünftigen Schiesserei beginnt, das ist schon mal gar nicht schlecht... Richtig großartig war aber, dass hier eine Bande zäher, harter Banditen und Viehdiebe zwei älteren Ehepaaren und Viehzüchtern gegenüberstanden: letztere etwas silbrig im Haar, knautschig im Gesicht, dafür aber mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit ordentlich viel Energie zum Ärschetreten – bzw. zum Totschießen von rüpelhaften Banditen. Dabei standen die zwei älteren Damen ihren jeweiligen Gemahlen in Sachen Sprüche- und vor allem Schießlust keineswegs nach, auch wenn die beiden Herren doch nicht nur mit Pistolen und Gewehren, sondern auch mit einer Mini-Kanone hantieren durften (und sich vor dem Abschuss noch streiten, wer abfeuern darf). Durch die Übermacht der Banditen kommen sie doch etwas in Bedrängnis, doch dann helfen ihnen die sieben jungen MacGregors in letzter Minute aus der Patsche (die Verwandtschaftsverhältnisse blieben etwas obskur und unklar – aber auf jeden Fall war es ein Klan!).

Der actionreiche Prolog setzte den Ton für den ganzen Film: es passiert immer irgendetwas Unterhaltsames in SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR, es gibt immer irgendeine schöne Idee zum Würzen der Vorgänge, es bewegt sich immer etwas und trotz Toten bleibt die Stimmung stets heiter, weit entfernt von Melancholie, Zynismus, Nihilismus und Bitterkeit vieler Italowestern, mit Komödienelementen, ohne in Klamauk zu fallen. Es ist ein "naiver" und "gutmütiger" (im besten Sinne dieser Worte) Genrefilm, der mit unzähligen schönen Einfällen punktet: die Gebrüder, die in der Knastzelle mit ihren gesammelten Stiefelsporen und einer Schnur eine Do-It-Yourself-Fräsmaschine bauen, um zu entkommen (einer der Brüder spielt für den Sheriff unentwegt Mundharmonika, um das Geräusch zu überdecken); der MacGregor, der sich als Doppelagent in Santillanas Bande eingeschmuggelt hat, unterhält sich mit seinem Bruder bei einer fingierten Schießerei an einem sichtgeschützten Ort, doch beide schießen immer mal wieder in die Luft, um für die Böswatze den Schein zu bewahren; eine spektakuläre Rettungsaktion in allerletzten Minute, bei der die sekundengenaue Sprengung eines Wasserturms eine zentrale Rolle spielt; und ein Duell-Showdown, bei dem ein Messerkampf in einem Brunnen mit Mühlrad endet – und schließlich auf das Mühlrad, dann in das Innere des sich drehenden Mühlrads verlagert wird – und last but not least: Cowboys in Schottenröcken! Das ganze begleitet von einer schwungvollen Musik des Meisters Ennio Morricone, die selbst Tote zu einer zünftigen Saloon-Schlägerei animieren dürfte (höre hier).


Vor dem Western-Block versprach uns Christoph mit SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR einen heiteren Film, "bevor wir euch danach in die Hölle schicken"...



ab 15.30 Uhr


ADDIO ZIO TOM ("Addio, Onkel Tom!")

Regie: Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi

Italien 1971

120 Minuten, dF

Zwei Journalisten aus Italien reisen in die Südstaaten vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, um über die Sklaverei zu berichten. Sie werden auf ihrer Tour mit einem menschenverachtenden System voller abscheulicher Gewalt konfrontiert.

Nach SVEZIA INFERNO E PARADISO und ROLF beim 4. Terza 2017, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH und SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim 6. Terza 2019 nun ADDIO ZIO TOM als "transgressiver" Film beim 7. Terza. Und tatsächlich war Jacopettis und Prosperis Post-Mondo-Mockumentary vielleicht noch kontroverser und schwieriger als der ohnehin herausfordernde L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH: mehrere Zuschauer fanden den Film abscheulich, ekelhaft, nannten ihn gar eine Körperverletzung... Reaktionen, die ziemlich verständlich sind. Ich persönlich halte ihn für einen Höhepunkt des 7. Terzas, für den beeindruckendsten Film des Festivals – wenngleich ich Mühe habe, ihn als "normalen" Film zu bezeichnen. Er bildet zweifelsohne eine eigene Kategorie.

Der Film ist eine fast zweistündige Nachstellung von Gewalttaten, Erniedrigungen, Übergriffen, Folterungen, Vergewaltigungen, Morden und allgemeinen dehumanisierenden Handlungen aus der Zeit der Sklaverei in den USA, nachgestellt von Darstellern, trotz vieler kleiner, in sich abgeschlossenen Episoden weitestgehend frei von dramaturgischer, narrativer Kohärenz. Ein infernalischer Film wahrlich!

Ein möglicher Ankerpunkt zur Aufdröselung, Interpretation, vielleicht Annäherung an dieses Monstrum findet sich meiner Meinung nach in einem wunderbaren Text von Oliver Nöding zu MANDINGO: vieles, was Oliver zu Richard Fleischers Film geschrieben hat, kann man sehr passend auf ADDIO ZIO TOM übertragen – meiner Meinung nach vielleicht sogar noch passender. MANDINGO mag von der "Totalität des Systems Sklaverei" handeln, doch ich finde, dass dies in Fleischers Film höchstens in Ansätzen wirklich umgesetzt wurde, weil eben MANDINGO noch an die dramaturgischen Regeln des Melodrama gebunden war. Jacopetti und Prosperi haben diese "Totalität" in ADDIO ZIO TOM nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umgesetzt: im Gegensatz zu Fleischer sind sie von erzählerischer Dramaturgie, von klassischen Spannungsbögen, von individuellen Protagonisten, vom Zwang einer mundgerechten Darreichung völlig befreit. Das System Sklaverei ist der Protagonist von ADDIO ZIO TOM und beherrscht (um nicht zu sagen: durchherrscht) über weite Strecken den Film inhaltlich und formal.

In seiner Annäherung an ein unmenschliches System, an exzessive und barbarische Massenverbrechen ist der Vergleich mit L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH durchaus spannend: die Erklärung (oder besser: die Entlastung), dass die Täter einfach böse und schlechte Menschen sind und die Opfer einfach erbarmungswürdige und gute Menschen sind, verweigert der Film. Die meisten Sklavenhalter in diesem Film sind freundlich und höflich auftrende Menschen, die ihre zwei Gäste immer zuvorkommend begrüßen. Einige sind sogar äußerst kumpelhafte, blödend-witzige Typen (wobei aber auch gerne mal einem Konkurrenten in den Hinterkopf geschossen wird). Nur die Sklavenhalter des Prologs, die bei einem grotesken Festmahl besucht werden (schwarze Kinder kauern unter dem Tisch und werden zwischendurch wie Tiere mit Essensresten gefüttert), treten offen feindselig, explizit anti-europäisch und anti-katholisch. Dennoch: Nettigkeit und Niedertracht sind in ADDIO ZIO TOM stets zwei Seiten der gleichen Medaille.

Dass Sklaverei ein System ist, das nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer (wobei Täter und Opfer sehr vielschichtige Kategorien sind: was der Film auch durchaus zeigt) korrumpiert, zu Mittätern an ihrem eigenen Platz im System macht, zeigt der Film immer wieder auf verstörende Arten. Am harmlosesten ist ein befragter Sklave, der in seinem Interview seine eigene Stellung als Sklave als letztendlich gar nicht so unbequem rechtfertigt: als "freier" Arbeiter wäre er nicht viel besser dran, als Sklave wird er zumindest als teure Investition gut gepflegt. Wesentlich ruppiger geht es zu, wenn ein Sklave zur Kastration verurteilt, und eine größere Menschenmenge von Sklaven sich an dem Schauspiel ebenso wie eine weiße Passantin voller Schadenfreude delektiert.

ADDIO ZIO TOM spielt nicht nur auf "Onkel Toms Hütte" an (deren Autorin hat zu Beginn des Films beim grotesken Festmahl einen Auftritt, wo sie als durchaus selbstgerechte Person rüberkommt), sondern spielt mehrmals auch indirekt auf GONE WITH THE WIND an. Manche Szenen des Films wirken durch die Figuren-Konstellation ein wenig wie eine groteske "Hinter den Kulissen"-Reportage über den Wirtschaftsalltag in der Tara-Plantation. Da geht es drunter und drüber, in der Küche herrscht der blanke Irrsinn, es wuselt hin und her, kleine Kinder essen die Kirschen von den frisch dekorierten Kuchen herunter oder toben wild herum, währenddessen geht es im Schlafzimmer der weißen Töchter ebenso chaotisch zu, die große "Mammie" kommandiert auch ihre jungen Herrinnen gerne rum, während verzweifelt versucht wird, ein Kleidungsknäuel wieder in einzelne Bestandteile zu trennen, damit die jungen Damen fein gekleidet zum Bankett erscheinen können. Wenn dann das Bankett vorbei ist, lässt die "Mammie" Abends die jungen schwarzen Mädchen antreten, kontrolliert ihre genitale Sauberkeit und schickt sie dann als Sexobjekte in die Gästezimmer der männlichen Hausgäste (dieser Teil wurde in GONE WITH THE WIND übergangen).

Das Perfide an ADDIO ZIO TOM ist, dass er die Zuschauer durch seine Inszenierung während seiner Laufzeit zum aktiven Teil des Systems Sklaverei macht. Es gibt praktisch keine vierte Wand in diesem Film, die die Zuschauerschaft vor dem ganzen Schmutz und der extremen Gewalt schützt. Am unangenehmsten ist die Szene, in der die Kamera zum Point of View einer der beiden italienischen Journalisten (bzw. eigentlich des Kameramanns selbst) wird: eine sehr junge, vielleicht allenfalls 13-jährige Sklavin kommt in das Zimmer, bietet ihren Körper dem Mann an, reibt sich im Bett quasi an ihn, während sich der Mann eine Zeitlang dagegen wehrt. Der Zuschauer wird hier direkt zum Kinderschänder, zum Vergewaltiger gemacht. ADDIO ZIO TOM überrollt dich nicht nur und drückt dich flach auf den Boden (das ist ja erst mal gar nicht so schwer): er reisst dich dann auch wieder hoch und zwingt dich, mitzumachen.

Den Zuschauer zum Rädchen des Systems Sklaverei machen: das schafft auf unterschwellige Art auch die dramaturgisch völlig erratische Form und der Non-Stop-Modus in der Präsentation von Gewalttaten und Abscheulichkeiten. Es entsteht eine Art Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt: noch eine Gewalttat, noch eine Abscheulichkeit, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine... Das Präsentierte wird zur "Normalität" innerhalb des Universums, die der Film präsentiert. Die Totalität des Systems Sklaverei erreicht den Zuschauer allmählich fast schon unterbewusst.

In einigen wunderschönen, elegisch in Zeitlupe gefilmten Bildern tollen ein weißes Mädchen und ein schwarzer Junge zusammen über eine Wiese. Der sanfte Hügel, der die beiden verdeckt, verschwindet durch die Kamerafahrt allmählich und man sieht, dass das weiße Mädchen den schwarzen Jungen an einer Halskette führt. Ein kurzzeitig im Rahmen dieses Films utopisch erscheinendes Bild verwandelt sich mit einer kleinen Perspektivverschiebung in einen Alptraum – bzw. führt uns zurück in die "Normalität" der Sklaverei.

Diese elegischen Bilder sind auch ein integraler Bestandteil des Films: ADDIO ZIO TOM ist visuell absolut atemberaubend, formal wahnwitzig in seinen wilden Kamerafahrten, Zooms, Schwenks, seinen extremen Weitwinkel- und Fischaugen-Einstellungen, seinen minutiös elaborierten Bildkompositionen in Scope, teils gefilmt im Dämmerlicht zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Jacopetti und Prosperi hatten sich schon in AFRICA ADDIO als große visuelle Stilisten erwiesen und das gleiche Team macht auch bei ADDIO ZIO TOM ganze Arbeit. Das ganze auf einer Cinerama-Leinwand zu sehen dürfte den Effekt noch einmal potenziert haben.

Es sind auch diese Brüche, die ADDIO ZIO TOM so faszinierend machen: grauenerregende Abscheulichkeiten und zum Weinen schöne Bilder. Inhaltliche Brüche werden auch immer wieder deutlich sichtbar gemacht, der Film macht seine eigene Inszeniertheit, seine eigene Konstruktion transparent. Zu Beginn fliegt ein Helikopter über die Baumwollplantagen, über die Herrenhäuser der Sklavenhalter: der Rotorenwind fegt mit ordentlicher Zugkraft über die Baumwollarbeiter und die schick gekleideten Damen, die alle dem Kamerateam zuwinken. Beim Abschluss einer Versicherung für einen neu gekauften Sklaven wird die Vertragsunterzeichnung verzögert, weil der Füllfederhalter streikt – aus dem Off hält der Kameramann bzw. der italienische Journalist den Vertragspartnern einen modernen Kugelschreiber hin. Söldner, die entflohene Sklaven gejagt und getötet haben, arrangieren ihre "Beute" zu einem makabren Leichenberg, posieren damit vor einem Fotografen – und nach dem Schnappschuss werden die Toten lebendig, stehen auf und laufen aus dem Bildausschnitt raus. Und gegen Ende des Films gibt es einige "Vorblenden" mit einer neuen Rahmenhandlung: ein schwarzer Mann, der Anfang der 1970er an einem Strand einen Bericht über einen Sklavenaufstand liest und sich die geschilderten Morde in die Jetzt-Zeit imaginiert.

Die Krönung des Films ist, wie so oft im italienischen Kino, die Musik. Es gibt ein schwungvolles Thema (hier zu hören), das mich melodisch ein klein wenig an "Summer Vine" erinnert, mit Marschmusikelementen aber einem Drive, der zu einer Komödie ganz gut passen würde (vielleicht zu einer Militärkomödie? – passenderweise und natürlich völlig unpassenderweise ist er wohl als Teil einer Score-Kompilation italienischer Komödien aus den 1970ern erschienen). Das emotionale Herzstück ist allerdings das das melancholische, elegische, fast operatische Liebesthema (hier zu hören), das Ortolani wieder einmal als größten potentiellen Disney-Songkomponisten der Welt zeigt (und das Nicolas Winding Refn für sein DRIVE verwendet hat – wen es interessiert: hier ein kurzes Video mit einer Q-and-A-Einführung von Refn zu einem Screening von ADDIO ZIO TOM).

Ich schrieb vorhin von Brüchen: ADDIO ZIO TOM zeigt seine Abscheulichkeiten größtenteils ungerührt, ohne sichtbare moralische Positionierung (letzteres macht den Film wohl auch so schwierig: er bietet den Zuschauern keine Möglichkeit zur einfachen Distanzierung oder zur Selbstbestätigung). Es gibt jedoch einen sehr auffallenden Moment, in dem er einem der Opfer offensichtlich die Hand reicht und Mitgefühl bezeugt: auf einer Sklavenzuchtfarm, bei der junge Frauen zum Sex mit "Deckern" gezwungen werden, wird die Prozedur vom jovialen, freundlichen Unternehmenschef den italienischen Besuchern demonstriert. Eine junge Frau wird zu ihrem "Decker" geleitet. Der Film zeigt ihren Weg als lange, elegische Kamerafahrt in Zeitlupe, Ortolanis melancholisches Thema schwillt an, wer genau hinsieht, erblickt eine Träne, die ihr über das Gesicht läuft...


Ich könnte wahrscheinlich noch weitere 10.000 Zeichen zu ADDIO ZIO TOM schreiben. Und dann noch mal 10.000 mehr. Belassen wir es mal hier. Nach Ende des Films ging ein sehr kleiner Teil der Zuschauerschaft nicht auswärtig essen, sondern verblieb im Innenhof des Kinos und nahm das einmalige Cateringangebot der Kinoküche an. Bei Tomatensuppe und Quiche wurde weiter über das Erlebnis ADDIO ZIO TOM diskutiert. Mit dabei war auch Alexander Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn, der auch die Einführung zum Film gehalten hat. Er erläuterte noch einige Details zur gezeigten Kopie (diese war gekürzt um einige Passagen gegen Ende, als Schwarze in der Jetztzeit in einer Sklavenaufstandnachstellung einen weißen Haushalt attackieren und nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder ermorden; ebenso war der Abspann geschnitten, mit der Erklärung der Macher, dass dies ein Dokumentarfilm sei und die dargestellten Personen existiert haben und mit der Danksagung an die haitianische Regierung und besonders Präsident François Duvalier für die Hilfe beim Dreh) und zu verschiedenen Schnittfassungen des Films.

Gestärkt und bereit für einen wieder etwas "normaleren" Film...



ab 20.00 Uhr


UN KILLER PER SUA MAESTÀ ("Zucker für den Mörder")

Regie: Maurice Cloche, Federico Chentrens

Italien/Frankreich/BRD 1968

93 Minuten, dF

Ein mysteriöser Killer mit Hang zu Süßigkeiten (Bruno Cremer) versucht einen Potentaten aus dem Mittleren Osten (Lukas Amann), der in Rom weilt, zu ermorden. CIA-Agent Mark Stone (Kerwin Mathews) und sein Assistent Costa (Venantino Venantini) versuchen, den König zu beschützen und gleichzeitig dem Killer auf die Spur zu kommen.

Gemäß Howard Hawks besteht ein guter Film aus mindestens drei guten Szenen und keiner schlechten. UN KILLER PER SUA MAESTÀ hat gleich vier ganz tolle Szenen und nichts, was wirklich negativ auffällt – ein guter Film also, wenn auch für mich persönlich kein großer Höhepunkt des Terza.

Richtig Laune kommt schon mal auf, als Stone und Costa die Gemächer des Königs zwecks Absicherung begutachten müssen, und dabei quasi in dessen Harem hineinstolpern. Im Laufe des Films folgen dann auch drei großartige Actionszenen: ein Kampf zwischen Stone und einer größeren Schlägerbande in einer Tiefgarage, bei der schließlich auch ein halbes Dutzend leere Ölfässer zum spektakulären Einsatz kommen; eine Verfolgungsjagd durch einen Park mit überdimensionalen Skulpturen, die dann auch zum Verstecken und zum Runterspringen aktiv genutzt werden (der Höhepunkt des Films!); ein ausgedehnter Kampf im Lager eines Schlachthofs.

Der Protagonist Mark Stone ist, sagen wir mal... bodenständig (wer mäkeln möchte, würde ihn wohl als "farblos" bezeichnen), wird aber dafür von einer ganzen Menge toller Nebendarsteller flankiert. Natürlich zuallererst der Assistent Costa, gespielt vom wunderbaren Venantino Venantini, ein etwas einfältiger Typ, der ständig nur an Frauen denkt, seinen Körper mithilfe von Workout-Gurten stählt, die er auch mal an Hoteldeko anbringt (totale Zerstörung des Hotelzimmers erfolgt dann sogleich). Bruno Cremer geht natürlich immer, besonders wenn er einen süßigkeitensüchtigen Profikiller spielt. Und Gordon Mitchell als brutaler Schläger ist dann auch das Sahnehäubchen.



ab 22.30 Uhr



LA CASA 4 ("Witchcraft – Das Böse lebt")

Regie: Fabrizio Laurenti

Italien/USA 1988

95 Minuten, dF

Leslie (Leslie Cumming) und Gary (David Hasselhoff) untersuchen ein Haus auf einer neuenglischen Insel, in dem einmal eine Hexe gewohnt haben soll. Die Familie Brooks, unter anderem die schwangere Jane (Linda Blair), besucht zusammen mit einem Hausmakler das Gebäude, um es vielleicht aufzukaufen. Ein Sturm kommt auf und in dem einsamen Haus festgesetzt werden die Besucher von der Hexe in Schwarz (Hildegard Knef) heimgesucht.

David Hasselhoff, Linda Blair und Hildegard Knef in einem Film! Das liest sich zu merkwürdig und irgendwie auch großartig, um wahr zu sein. Am Ende war der Film leider zu wahr, um großartig zu sein – oder so ähnlich... Produziert von Joe D'Amatos "Filmirage" wabert der Film somnambul vor sich hin: eine durchaus D'Amato'eske Atmosphäre, ohne jedoch die Meisterschaft von Onkel Joe zu erreichen und ohne wirklich die für dessen Filme typische, hypnotische Wirkung zu entfalten (zumindest nicht bei mir – der Film fand durchaus sehr begeisterte Anhänger).

LA CASA 4 ist ebenso wenig der vierte Teil einer Filmreihe wie ZOMBI 2 das Sequel eines anderen Films: "La casa" war in Italien der Verleihtitel von Sam Raimis THE EVIL DEAD (1981) und "La casa 2" der Titel von Raimis Sequel EVIL DEAD II (1987). Im Jahr 1988 sprang dann Umberto Lenzis Puppenhorrorfilm LA CASA 3 auf den Erfolgszug von Raimis Filmen, und kurz darauf folgte dann eben LA CASA 4 (der jedoch inhaltlich nicht mit LA CASA 3 zusammenhing). Nun... Filme, die irgendwie gleich aussehen im Titel, das passt ein bisschen zu Darstellerinnen, die in der Spätabendmüdigkeit und in dem etwas schlafwandlerischen Rhythmus des Films auch ein wenig ähnlich aussehen. So habe ich tatsächlich für fast zwei Drittel des Films Leslie Cumming und Linda Blair verwechselt, was den Film für mich zwischendurch noch viel rätselhafter gemacht hat, weil Leslies Figur, die Freundin von David Hasselhoffs Gary, ihm gegenüber immer betont, dass sie ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren will (die Hasselhoff'schen Cockblocking-Momente sind immer ein kleines Fest), aber andererseits auch schwanger ist – war da unbefleckte Empfängnis im Spiel? Ein anderer leicht übernächtigter Co-Zuschauer, der wie ich auch Teile des Films verschlief, hatte auch das gleiche Verwechslungsproblem.

Wie dem auch sei... LA CASA 4 zog etwas an mir vorbei, ließ mich gedanklich zwischendurch immer wieder aussteigen und schaukelte mich gegen Ende dann auch in eine fiese Sekundenschlaf-Attacke, die alptraumartiger war als das, was im Film selbst alptraumartig sein sollte: ein Sheriff und sein Assistent fliegen mit einem Helikopter zur Insel, um die verschollenen Protagonisten zu suchen; ich selbst nickte ein, schreckte wieder auf und sah, dass die beiden immer noch im Helikopter flogen und nach den verschwundenen Personen suchten – das passierte etwa drei, vier, fünf Mal. Jedes Mal, wenn ich wieder erwachte, war der suchende Helikopter noch da...



Freitag, 27. August 2021


ab 12.30 Uhr


HANNO CAMBIATO FACCIA ("Wettlauf gegen den Tod")

Regie: Corrado Farina

Italien 1971

92 Minuten, OmU

Der kleine Angestellte eines Autokonzerns Alberto Valle (Giuliano Esperati) wird vom Konzernchef Giovanni Nosferatu (Adolfo Celi) nicht nur befördert, sondern auch zu einem Wochenende auf dessen Landsitz eingeladen. Die luxuriöse Villa wirkt ebenso bedrohlich wie der Gastgeber.

Zweite Sichtung des Films. Auch diese leider wieder sehr unterwältigend.

Der Dracula-Stoff als antikapitalistische Allegorie: was sich auf dem Papier sehr verlockend liest, wirkte für mich extrem bleiern, träge, grobklotzig, thesenfilmig. Seine Themen (Konsum- und Überwachungsgesellschaft, Warenfetischismus, die totalitären Ansprüche des Kapitalismus, der Ausverkauf des 68er-Aufbruchs) trägt HANNO CAMBIATO FACCIA schon sehr an der Oberfläche, und zwar so, dass es auch der dümmste anzunehmende Zuschauer versteht. Der Film hat durchaus einen Fuß im Bereich des Paranoiafilms: eine große Korporation hält sämtliche Fäden über alle Bereiche des Lebens in der Hand, kontrolliert nicht nur die "systemrelevanten" Institutionen (Wirtschaft, Politik, Presse, Kirche), sondern auch sämtliche "oppositionellen" Stimmen, um den Schein zu wahren. Aus heutiger Sicht wirkt der Film so auch weniger "gesellschaftskritisch" und scharf analytisch als vielmehr wie eine grobklötzige, aus einem dumpfen Bauchgefühl heraus geborene Verschwörungserzählung.

Die Themendichte des Films passt auch überhaupt nicht zu dem, was man über weite Strecken sieht: ein Kammerspiel in einer Gruselvilla. Dieses bekommt auch keine Chance zur Entfaltung, wenn die allumfassende Totalität des Kapitalismus immer wieder in geschwätzigen Dialogszenen auf den Punkt gebracht werden muss. Hinzu kommt, dass der Valle-Darsteller Giuliano Esperati für mich besonders uncharismatisch, fad, farblos, uninspiriert wirkte: das passt einerseits zur thematischen Konzeption des Films, der eine unbedeutende Figur in die Rädchen einer kapitalistischen Maschinerie hineinwirft, machte den Film für mich auf die Dauer leider besonders anstrengend und träge.

Schade... Die Grundidee des Films ist eigentlich charmant, mit dem großartigen Adolfo Celi kann man eigentlich nichts verkehrt machen. Und die Farbdramaturgie des Films ist absolut beeindruckend in ihrer gnadenlosen Konsequenz: HANNO CAMBIATO FACCIA präsentiert sich fast ausschließlich in monochromatischen Braun-, Orange- und Grautönen, ohne jegliches Blau und Grün, ohne knalliges Rot (mit Ausnahme einer Ampel zu Beginn des Films, ein Hinweis auf die Farbechtheit der Agfa-Kopie). Die monochrome Farbpalette passt meiner Meinung nach irgendwie auch nicht zu den Themen des Films (dass Kapitalismus auch sexy, also entsprechend auch quietschbunt aussehen kann an der Oberfläche, fällt dem Film nicht ein), schafft aber eine durchaus ganz eigensinnige visuelle Atmosphäre.



ab 15.00 Uhr


SKY OVER HOLLAND

Regie: John Fernhout

Niederlande 1967

22 Minuten, 70mm

Ein Dokumentarfilm über die Niederlande in fliegenden, rasenden 70mm-Bildern.

Dieses Jahr gab es beim Terza eine kleine Premiere, möglich dank der technischen Ausstattung des Schauburg-Kinos: nämlich eine 70mm-Projektion! Doch leider hat die Kopie des Hauptfilms ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE große Teile ihrer Farbpracht eingebüsst und war nur noch monochromatisch rötlich angehaucht zu sehen. SKY OVER HOLLAND lief als nicht-italienischer Vorfilm dann auch, um wenigstens in einem Kurzfilm 70mm nicht nur in seiner ganzen Schärfe, sondern auch in seiner Farbpracht zu erleben.

"Guck doch mal, was für coole Sachen wir mit 70mm alles anstellen können!" dürfte das Leitmotto von SKY OVER HOLLAND gewesen sein. Rasende Sturzflüge aus dem wolkigen Himmel auf Wiesenlandschaften, wahnwitzige Verfolgungsjagden in den Amsterdamer Grachten, wuselige, extrem tiefenschafte, an Bosch-Gemälde erinnernde Impressionen von Viehmärkten – und wieder zurück in den Himmel mit einem Blick auf geometrisch angeordnete Felder verschiedenfarbiger Tulpen (gewissermaßen die Mondrian-Tableaus des Films).

Ein Sensationsfilm wahrlich, ideal für eine überdimensionierte Leinwand wie jene in der Karlsruher Schauburg.




ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE ("Herkules erobert Atlantis")

Regie: Vittorio Cottafavi

Italien/Frankreich 1961

103 Minuten, 70mm, dF

Androkles, der König von Theben zieht mit Herkules, dessen Sohn und deren Helfer Timoteus auf eine Schifffahrt, um den Drohungen gegen Theben aus der Ferne auf den Grund zu gehen. Ihr Schiff kentert, Androkles verschwindet, Herkules und seine beiden Begleiter müssen ihren König in Atlantis suchen. Dort erwarten eine intrigante Herrscherin und viele kaputtgezüchtete Zombie-Krieger. 

"Die Anfangskeilerei der Herkuleskumpane ist so hinreißend inszeniert und mit so wendiger Kamera aufgenommen, daß ich sie dem steifen Pathos in Eisensteins vielgerühmter Schlacht auf dem Peipussee ohne Bedenken vorziehe." So ist es in einer zeitgenössischen Rezension in der Filmkritik zu lesen. Tatsächlich kann ein Film, der mit so einer beschwingten Tavernenschlägerei anfängt, gar nicht schlecht sein. In einem Western wäre das eine schöne Saloonschlägerei und der running gag der ganzen Szene besteht darin, dass Herkules zwar anwesend ist, sich aber aktiv darum bemüht, uninvolviert zu bleiben, weil er gerade isst und trinkt. Sein Eingreifen, während um ihn herum sich alle prügeln, besteht nur darin, das Verschütten seines Weines und eine Schädigung seiner Hammelkeule zu verhindern.

Der britische Bodybuilder Reg Park war als Herkules schon einmal beim Terza 2018 zu sehen, nämlich in Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA. Als Präsenz ist er mir in Cottafavis Film nun besser in Erinnerung geblieben, zum einen, weil ich bei letzterem nicht zwischendurch eingeschlafen bin, zum anderen, weil seine Darstellung des Herkules doch wesentlich sympathischerer als im Bava-Film. So trägt Park den Film auch mühelos auf seinen monumentalen Schultern – natürlich auch nicht zuletzt, weil ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE einfach auch ein toller, im positiven Sinne "naiver" Genrefilm voller schöner Attraktionen ist. Da gibt es nicht nur Parks ölige Muskeln zu bewundern, sondern auch eine Gummi-Einhorn-Eidechse (na ja, eine Monster-Eidechse mit einem Horn), verstrahlt aussehende Mutantenkämpfer, ausladende Palastinnenräume voller Prachtsäle und dunkler, geheimnisvoller Verliese – und am Ende wird Atlantis in einer geradezu rauschhaften Zerstörungsorgie dem Boden gleichgemacht, dass es nur so explodierte und donnerte.

Trotz der wunderbar knackigen Schärfe der Kopie wurde das Sichtungsvergnügen durch den Rotstich doch etwas gezügelt: lediglich ein leichter, sepiafarbener Hauch war an blaßer, monochromer Restfarbe übrig geblieben. Vielleicht hätte mich der Film mehr umgehauen in voller Farbpracht: so bleibt "nur" ein sehr kurzweiliges, flottes Abenteuer-Vergnügen in Erinnerung.


Machen wir hier kurz vor Hälfte des Programms eine kleine Pause. Im zweiten Teil werden uns dann unter anderem hungrige Kannibalen und vereinsamte deutsche Soldaten, rebellische Knastinsassinnen und verliebte Kreuzritterinnen begegnen.

Samstag, 12. August 2017

Melodramen in verschiedenen Härtestufen: Eindrücke vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms, 27.-30.07.2017


Hinweis: Terza Visione ist zu 100 % ein 35mm-Festival. Alle gezeigten Filme liefen also auf richtigem Film. Die Mehrheit im italienischen oder englischen Original (außer da, wo angegeben), teilweise mit Untertiteln, die von den fleißigen Organisatoren in mühe- und liebevoller Arbeit selbst erstellt wurden. Zu danken sind hierfür und für die Konzeption des Festivals zuallererst Christoph Draxtra sowie Andreas Beilharz, in der Filmblogosphäre von den Eskalierenden Träumen bekannt.

Donnerstag, 27. Juli


kurz vor 20.00 Uhr

Mindestens zwei Zuschauer im Saal tragen ein passendes DIABOLIK-T-Shirt. Später im Verlauf des Festivals sehe ich zahlreiche weitere interessante T-Shirts: mit Ingrid Bergmann in STROMBOLI, ein textiles Plakat von SEI DONNE PER L‘ASSASSINO. Ohne direkten Italienbezug fügt sich auch ein T-Shirt mit ROLLS-ROYCE BABY sehr schick ins Gesamtbild.
Übrigens: so voll wie bei DIABOLIK wurde keine Vorstellung mehr. Wesentlich „leerer“ wurde es nur an den frühen Nachmittagsvorstellungen und bei den ganz späten Vorstellungen. Das Terza Visione war tatsächlich kein „Spezialisten“-Festival für Eingeweihte mit dreiviertel-leeren Vorstellungen, sondern erfreulicherweise rundum gut besucht.



ab 20.00 Uhr

DIABOLIK (Gefahr: Diabolik)
Regie: Mario Bava
Italien / Frankreich 1968, 105 Minuten
Der Meisterverbrecher Diabolik (John Phillip Law) und seine Gefährtin Eva (Marisa Mell) erbeuten bei gewagten Coups Millionen vom autoritären Staat und von den Reichen. Der Kommissar Ginko (Michel Piccoli) verbündet sich mit dem Mafioso Valmont (Adolfo Celi), um den Dieb zu fangen.
Pop-Art-Kino hat Mario Bava eigentlich schon immer gemacht, doch in der Comicverfilmung DIABOLIK findet sich zu der Form nun auch der passgenaue Inhalt. Heutzutage, wo bei dem Wort „Comicverfilmung“ wahrscheinlich nicht nur mir ein genervtes Stöhnen entweicht, weil man damit Tentpole-Sommerblockbuster im Se-Prequel-Reboot-Modus der Marke kindisch-selbstironisch (DEADPOOL) oder selbstbeweihräuchernd-bierernst-semifaschistisch (Nolans Fledermaus-Filme) verbindet, ist DIABOLIK von einer großen Frische und angenehmen Frechheit. Hier weht ein völlig unverstellter, fast schon kindlich-naiver Spaß an Genre durch den Film: Superhelden und Superschurken, die fantastische Dinger mit Super-Hightech-Geräten drehen, flankiert von wunderschönen Frauen, akustisch von fetzigen Klängen begleitet, die einem deutlich machen, dass wir gerade im italienischen Kino unterwegs sind.
Dabei ist das ganze auch frech, subversiv, anarchisch, radikal antiautoritär. Der Geist des Films wird schön in einer Vignette zusammengefasst: Diabolik, verkleidet als Journalist, „sprengt“ die bierernste Pressekonferenz des Innenministers, der bedeutungsschwanger etwas von harter Hand gegen „die kranken Elemente unserer Gesellschaft [Pause] – also ich meine damit: die Verbrecher“ schwafelt, indem er mit seinem Blitzlicht unbemerkt Lachgas im ganzen Raum verteilt. Aus der ganzen Veranstaltung wird eine Farce, weil unterschiedslos alle lachen müssen. Lachen... die wirkungsmächtigste Waffe gegen autoritäre Pappnasen!
Eine echte Meisterleistung ist die Besetzung von Michel Piccoli als Kommissar Ginko, denn ich kann mir nur wenige Schauspieler vorstellen, die weniger in eine Comicverfilmung passen als er – und deshalb passt es dann doch so perfekt. Ginko ist möglicherweise der einzige „echte“ Charakter in einem Ensemble aus Comic-Stereotypen (nicht im negativen Sinne gemeint): ein Charakter, der dem delirierenden Film eine angenehme Erdung gibt. Ein Mann auf der Seite des autoritären Staates, der nicht aus persönlichem Sadismus, sondern tatsächlich aus Pflichtbewusstsein handelt (und dadurch dem wahren Charakter des Autoritären wohl näher kommt als die karikaturhaften Innenminister-Figuren). Der sich zum Mittagessen in seinem Büro ein herzhaftes Sandwich und ein Bier genehmigt – so etwas Banales könnten sich Diabolik und Eva niemals erlauben! Der sich nur widerwillig mit dem schmierigen Valmont verbündet. Der fast ein wenig traurig wird, wenn er Diabolik dann endlich (natürlich nur scheinbar) gefangen hat, weil er vor der Geschicklichkeit und dem intellektuellen Organisationstalent des Meisterverbrechers fasziniert ist.
DIABOLIK sieht nicht nur fantastisch aus, sondern hört sich auch großartig an. Dafür sorgt Ennio Morricone mit seinem tollen Score, der funkigen Jazz, Lounge‘iges und Rockiges mit orientalisch-indischen Klängen verbindet (man höre z. B. hier mal rein).
Andreas Beilharz erklärte in der Einführung, dass der als Blockbuster konzipierte DIABOLIK für etwa ein Siebentel des geplanten Budgets gedreht wurde. Der extrem ökonomisch arbeitende Mario Bava konnte sich zwar eigentlich über das größere Budget freuen, doch die Mühe, über komplizierte bürokratische Wege einzelne Geldtranchen für einzelne Szenen bei der Produktionsfirma Dino de Laurentiis‘ zu beantragen, frustrierte den Meisterregisseur schnell. So endete das damit, dass Bava viele Szenen mit den ökonomischen Mitteln und Tricks drehte, die er aus seinen kostengünstigeren Produktionen kannte. Das Resultat lässt sich sehen: von einigen Rückprojektionen abgesehen (jene im Auto unterstreichen auf expressionistische Weise die Comic-Atmosphäre des Films) sieht der Film extrem wertig aus, ganz besonders die Szenen in Diaboliks Untergrundbasis. Im „wahren“ Leben wie im Film: Ein Sieg des Subversiven und Künstlerischen über das Autoritäre und Bürokratische.



ab 22.30 Uhr

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Eine Eidechse in der Haut einer Frau)
Regie: Lucio Fulci
Italien / Spanien / Frankreich 1971, 106 Minuten
Eine gutbürgerlich-spießige Ehefrau (Florinda Bolkan) träumt davon, dass sie ihre sexuell freizügige Nachbarin (Anita Strindberg) ermordet. Dann geschieht der geträumte Mord auch in der Wirklichkeit...
Im gerne beschworenen Fulci-Argento-Gegensatz verorte ich mich selbst als Argento‘ianer. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA hat mir bewiesen: es liegt möglicherweise daran, dass ich verhältnismäßig noch zu wenige Fulcis kenne (dessen Werk wesentlich vielfältiger als das Argentos ist). Denn UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA sieht absolut fantastisch aus! Fulci und sein Kameramann Luigi Kuveiller veredeln eine eher statische Krimigeschichte mit rasanten Fahrten, verblüffenden Schwenks, irren Zooms, einer manischen Handkamera sowie mit Splitscreens und Split-Diopters, die Brian De Palma mal etwas besser hätte studieren können. Das gepflegte Abendessen im Kreise der spießigen Familie wird hier wahlweise zur Farce, wenn in Splitscreens das gediegene Dinner mit dem hedonistischen Treiben in der Wohnung der Nachbarin kontrastiert wird – oder zu einer Hölle, wenn die Handkamera nervös die Essenden umfährt. Luigi Kuveiller fotografierte später nicht nur Fulcis LO SQUATTORE DI NEW YORK (der mich eher wenig begeistert hat), sondern auch Dario Argentos PROFONDO ROSSO. Während letzterer in hyperstilisierten Tableaus und extrem kontrollierten (Proto-?)Steadicam-Fahrten schwelgt, ist UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA durch und durch „dreckig“ inszeniert und geschnitten.
Mit den späteren Fulcis teilt UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA den gewaltsamen Einbruch des Irrationalen in den „normalen“ Alltag. Untote tauchen hier als mit LSD vollgepumpte Hippies auf (die wie die Untoten in L‘ALDILÀ komplett weiße Augen haben) – und hinter unverdächtigen Krankenhaustüren können auch grausame Vivisektionsexperimente mit Hunden lauern. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist zweifelsohne auch Vorbild für Fulcis späteren SETTE NOTE IN NERO (1977), in dem eine Frau mit hellseherischen Fähigkeit die Vision eines Mordes hat (und dabei die Chronologie durcheinander bringt). In beiden Filmen gibt es in der zweiten Hälfte eine sehr lange und ultraspannende Verfolgungsjagd zwischen zwei Personen, die sich bei weit über 10 Minuten ohne jegliche Worte rein visuell entwickelt. Die Auflösung in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist noch gänzlich „trivial“ und Allerwelts-mäßig, während in SETTE NOTE IN NERO letzteren die übernatürlichen Elemente tatsächlich so stehen bleiben.
Ich muss mich mehr mit Fulci beschäftigen!


Freitag, 28. Juli



ab 12.30 Uhr

LA RIVOLTA DEI SETTE (Blutgericht)
Regie: Alberto De Martino
Italien 1964, 88 Minuten (deutsche Fassung)
Im antiken Griechenland rebellieren einige gefallene Herrscher zusammen mit einer fahrenden Schauspieltruppe gegen die korrupte Elite Spartas und suchen nach einer Statuette mit einem darin verborgenen, verschwörerischen Geheimvertrag...
Der Muskelmannheld macht Muskelmannheld-Sachen und schmeichelt dabei das Auge der geneigten Zuschauer, sein Sidekick unterstützt ihn dabei, der Chef der Schauspieler sorgt mit seinem kleinen Alkoholproblem für einige Lacher, seine Tochter schmeichelt das Auge der geneigten Zuschauer, die Schurken (es sind zwei, vielleicht sogar drei, die sich irgendwie ähnlich sehen) sind ultraschurkisch, die Schurkin ist ultraschurkisch und dabei auch ultraerotisch. Dazwischen gibt es nette Prügeleien sowie lange Dialoge zur Planung der Intrigen.
So weit, so gut, so erwartbar. LA RIVOLTA DEI SETTE ist routiniert, aber eben auch nicht besonders engagiert inszeniert. Das einzige, was für mich hervorstach, war eine längere Montage der Schauspiel-Acts, die die fahrenden Profischauspieler gemeinsam mit den Rebellen auf der Flucht aufführen – sie war viel zu lange, um als reine Exposition herzuhalten und wirkte daher irgendwann fesselnd. Wie so ein kleiner Erholungsspaziergang von dem Einerlei des Rests. Trotzdem: gepflegte Langeweile, mit der man gut den Tag einleiten kann, um sich später etwas in Qualität und Härte hochzuarbeiten. Für mich der schlechteste Film des Festivals. Dass er trotzdem noch so halbwegs okay ist, zeugt von dem hohen Niveau, mit dem Terza Visione kuratiert wird.


ab 15.45 Uhr

CHI È SENZA PECCATO... (Wer ohne Sünde ist...)
Regie: Raffaello Matarazzo
Italien 1952, 101 Minuen
Der italienische Emigrant Stefano (Amedeo Nazzari) heiratet in Kanada mittels einer Fernhochzeit seine Verlobte Maria (Yvonne Sanson), die in Italien geblieben ist. Mit der ungewollten Schwangerschaft von Marias kleiner Schwester beginnt eine Reihe von zunehmend eskalierenden Unglücksfällen.
Raffaello Matarazzo wird bisweilen als italienischer Douglas Sirk bezeichnet: ein Regisseur, der in den 1950er Jahren kommerziell erfolgreiche Melodramen inszenierte, die von der Kritik verrissen wurden, und später als großes Kino mit einem überaus scharfen Blick für soziale und existentielle Probleme wiederentdeckt wurden. Statt Rock Hudson gab es Amedeo Nazzari – zusammen mit Yvonne Sanson entstand ein Zyklus von sieben Nazzari-Sanson-Melodramen.
Ein italienischer Sirk? – das weckt natürlich erst einmal mein Interesse, doch CHI È SENZA PECCATO... an sich und Matarazzos Inszenierung im Speziellen haben mich nicht zu Begeisterungsstürmen verführt. Wie die ganze Geschichte immer mehr und immer mehr in einer Reihe unfassbarer Unglücksfälle eskaliert, ist schon beeindruckend – ebenso, wie am Ende das ganze doch noch in ein Happyend umgebogen wird. Weitere Sichtungen, vielleicht auch anderer Matarazzos, werden womöglich weiter helfen, aber dem Neorealismus ist Matarazzo doch näher als Sirks wahnwitzigem Expressionismus.
Ganz ohne Begeisterung bin ich nicht aus dem Film gegangen: die gebürtige griechisch-französisch-russische Schauspielerin Yvonne Sanson hat mich als Melodrama-Queen schlichtweg verzaubert und ließ ihren Partner Nazzari dabei etwas plump aussehen. Sollte es bislang niemand gemacht haben, mache ich es jetzt: Yvonne Sanson ist wie eine italienische Joan Crawford.


ab 20.00 Uhr

ARCANA
Regie: Giulio Questi
Italien 1972, 112 Minuten
In einem Vorort von Mailand hypnotisiert eine Betrügerin (Lucia Bosè) wohlhabende Kunden und verkauft ihnen das ganze als spiritistische Sitzungen. Ihr Sohn (Maurizio Degli Esposti), mit dem sie eine konflikthafte und zugleich latent inzestuöse Beziehung hat, entwickelt tatsächlich spiritistische und magische Begabungen.
Giulio Questi war ein cinéaste maudit des italienischen Kinos. ARCANA war sein dritter, letzter und radikalster abendfüllender Spielfilm, bevor er sich der Lyrik, Regiearbeiten für das Fernsehen und gegen Ende seines Lebens dem experimentellen Digitalvideofilm widmete. Sein erster Film, SE SEI VIVO SPARA von 1967 (in Deutschland bekannt als „Töte, Django“), war ein Western, der immer wieder ins Surreale abdriftete und mit seiner grafischen Gewalt Zuschauer und Zensoren schockierte, aber auch als perfide Kapitalismus- und Faschismuskritik faszinierte (mich ließ der Film eher kalt – eine Neusichtung wäre bestimmt vonnöten). Questis zweiter Film LA MORTE HA FATTO L‘UOVO (1968) verband den Giallo mit Kapitalismus-Groteske (da werden wohl Hühner gezüchtet, die rechteckig sind, damit sie effizienter verarbeitet werden können). ARCANA, ein urbaner Hexen-und-Magier-Film und vor allem ein mysteriös-surrealistisches Werk, floppte ebenso fulminant wie Questis erste Filme und beendete damit seine Kinokarriere.
Christoph Huber erklärte in einer einführenden Videobotschaft (er konnte wegen Krankheit nicht persönlich anreisen) ARCANA zu einem der besten Filme aller Zeiten. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber für mich steht fest: wegen solcher Unglaublichkeiten wie ARCANA nehme ich gerne die Mühe auf mich, Filmfestivals zu besuchen.
In den ersten 20, vielleicht 30 Minuten, die mehr Geduldsprobe als Filmvergnügen sind, hätte ich das niemals gedacht. Im Grunde sieht man nur eine Frau, die esoterisches Geschwafel von sich gibt, während in einem Stuhlkreis Leute schlafen und dabei murmeln. Enden tut der Film unter anderem mit (symbolischen) Leichenbergen des Zweiten Weltkriegs und möglicherweise einer Art Apokalypse. Was dazwischen passiert ist, damit aus leicht irritierter Öde eine mysteriös-hypnotische Faszination erwächst, ist schwierig zu sagen. Ich vermute, dass der Spiritismus, die Magie, der Schamanismus, das Paranormale – wie man es auch immer nennen will – die der Sohn sich langsam wahrhaftig aneignet, auch den Film ARCANA ergreifen und „infizieren“. Von da an gibt es kein Zurück mehr. Schlaf, Traum, Realität, Illusion, Wirklichkeit – diese Kategorien ergeben keinen Sinn mehr. Abgebrochene Eselszähne werden zu bösartigen Talismanen verarbeitet. Der Sohn sucht in den Schächten der städtischen Metro nach den abgetrennten Gliedmaßen verunglückter Metroarbeiter bzw. seines Vaters. Kleinwüchsige Frauen bringen Hochzeitskleider zu spiritistischen Massen-Sitzungen. Der Sohn foltert seine Mutter mit einem Küchenmesser, um an Informationen zur Herstellung eines Talismans zu kommen und bearbeitet später mit dem selben Messer Erhebungen im Boden des U-Bahn-Schachts, die wie die Brüste seiner Mutter aussehen. Die Mutter „spuckt“ die Information aus – und spuckt später Frösche. U-Bahn-Arbeiter klopfen an die Fenster eines Zugs, die Passagiere im Inneren um Hilfe anflehend. U-Bahn-Passagiere klopfen an die Fenster ihres Zugs, um die U-Bahn-Arbeiter draußen um Hilfe anzuflehen... (hier ein fünf-minütiger Ausschnitt aus dem Film, der dem Wahnsinn einer Kinovorführung natürlich nur bis zum Rockzipfel reicht)
Bevor ich mich völlig in Inkohärentem verliere: Die gezeigte Kopie aus dem Centro Sperimentale di Cinematografie der Cineteca Nazionale wurde zur Vorführung in Venedig in den 2000er Jahren gezogen. Gemäß den einführenden Worten war das verwendete Filmmaterial ein anderes als beim Original, wodurch die Farben möglicherweise nicht ganz originalgetreu zu sehen waren. Dessen bewusst muss ich dennoch (um jetzt mal etwas kohärentes zu sagen) dies erwähnen: ich habe selten eine derartige Inszenierung der Farbe / Nicht-Farbe Schwarz gesehen. Ein Großteil des Films spielt in einer abgedunkelten Wohnung. Die Figuren agieren meist vor einem gähnenden, dunklen, dunklen, dunklen, ultradunklen Schwarz – oder tauchen plötzlich aus diesem Schwarz heraus. Das war bereits in den ersten paar Minuten des Films sehr hervorstechend. Die Magie kam später hinzu. Der Rest ist nicht weniger als ein grandioser Höhepunkt des Festivals.



ab 23.00 Uhr

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Schweden – Hölle oder Paradies?)
Regie: Luigi Scattini
Italien 1968, 87 Minuten (deutsche Fassung, gekürzt)
Die Schweden, wie sie leiben, leben, ficken, rudelbumsen, Drogen nehmen, sich zu Tode saufen, Selbstmord begehen, inzestuös verkehren, lesbische Clubs besuchen, Autos klauen, nackt saunieren und dank Atombunker irgendwann als überlegene Rasse die Welt wieder bevölkern werden.
Hinweis: gezeigt wurde im Grunde nicht SVEZIA INFERNO E PARADISO, sondern dessen deutsche Interpretation SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? Bei Einzelgesprächen mit Personen, die sich besser mit dem Genre des Mondo-Films auskennen, wurde bestätigt, dass deutsche Fassungen italienischer Mondo-Filme ein komplett eigenes Genre bilden, weil der deutsche Kommentar etwaige Niederträchtigkeiten des Originalkommentars um ein Vielfaches potenziert und dann noch zusätzlich eine ganze Schippe an eigenen Ungeheuerlichkeiten „hinzudichtet“ – so viel, dass man schon sehr naiv sein muss, um an einen durchschlagenden Erfolg der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu glauben. Ich bespreche also SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?
Sich empören und sich aufgeilen!
Irgendwann bei einem Drittel oder der Hälfte dieses infamen Films dachte ich, dass er bei einem AfD-Stammtisch der absolute Knüller wäre. Was hier zu sehen ist, ist ein mustergültiges Prototyp von dem, was heutzutage unter dem modischen Begriff „fake news“ verniedlicht wird: manipulative Medienproduktion mit dem Ziel, zu hetzen und Hass zu säen. Tatsächlich ist SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? aber noch wesentlich perfider als das, weil er seine Zuschauer nicht nur dazu einlädt, über alles, was nicht männlich, weiß, heteronormativ und gut- bzw. spießbürgerlich mit autoritär-konservativem Einschlag ist, offenen Hass zu säen, sondern sich dabei auch regelrecht aufgeilend zu delektieren.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das geht ungefähr so: Schweden wird gezeichnet als „echt sozialistisches“ Land, das von Hippie-Weicheiern regiert wird. Ein Land, das Inzest staatlich toleriert, Sexualunterricht für Teenager organisiert (mit Diskussionen darüber, welches Verhütungsmittel das beste sei – so ein Ding aber auch!), in dem schamlose Mädchen jede Nacht mit mindestens drei oder vier Jungs Sex haben, in dem Politessen nach Feierabend ins Porno-Fotostudio stacksen, in dem Motorradgangs, die die verweichlichte Polizei selbstverständlich nicht unter Kontrolle hat, Teenager-Mädchen gruppenvergewaltigen, was selbstverständlich zu verurteilen ist, weil Motorradgangs eklig sind und die vergewaltigten Mädchen dadurch lesbisch werden und sich später in abartigen lesbischen Tanzclubs rumtreiben, während im danebenliegenden Lokal sich die Jugendlichen mit Marihuana, LSD und Heroin die Birne zu- oder totknallen (war Kokain schon 1968 eine upper-class-Droge, die deshalb hier unerwähnt bleibt?) und in Bretterbuden am Rand der Stadt der „Abschaum“ (O-Ton) und das „Strandgut“ (O-Ton) der Gesellschaft (im nüchterneren Sprachgebrauch: Obdachlose) Entfrostungsmittel schluckt und Schuhcreme-Sandwiches isst, wohingegen der gesetzestreue Bürger, der in seinem gerechten Volkszorn einen Autodieb verprügelt, von jenen Polizisten verhaftet wird, die sich gerade nicht in Sexshops oder Pornostudios rumtreiben, der Dieb hingegen das Auto einfach in den nächstgelegenen Fluss kutschiert, aus dem es dann am nächsten Tag von blinden Tauchern geborgen wird, die gefälligst froh darüber sein sollen, dass sie das tun dürfen, weil Blinde bekanntermaßen völlig nutzlos für eine Gesellschaft sind, und wenn es irgendwann einmal zum Atomkrieg kommt, werden die Schweden dank guter Atombunker überleben und zur „herrschenden Rasse“ (O-Ton im Film – kein Witz!) der Welt werden – vorausgesetzt, die schwedische Jugend begeht nicht aus lauter Langeweile Selbstmord, wozu sie offenbar einen besonderen Hang hat und woran uns der Sprecher etwa alle zehn Minuten schadenfroh erinnern möchte... Ach ja: und viele nackte Brüste gibt es auch zu sehen!
Sich empören und sich aufgeilen!
SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist eine herzliche Einladung an den Zuschauer, voll und ganz in Häme, Hass und Hetze zu schwelgen und vor allem aber auch, sich an den Bildern nackter Frauen, gestellter Gruppenvergewaltigungen und dreckigen Drogen- und Alkoholkonsums zu delektieren und aufzugeilen. Diese Janusköpfigkeit kennt man bereits aus dem frühen Kino, nämlich von Griffith: doch Griffith hat seine antihumanistischen Obsessionen in die Form klassischen Erzählkinos (den er ja mitbegründet hat) eingebettet. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist da eine ganz andere Nummer, weil das abgespulte Programm von den Fesseln des Erzählkinos befreit ist und damit viel mehr Platz für Assoziationen bietet, ohne sich an einzelnen Figuren und Plots aufhalten zu müssen. Wer sieht, dass schwedische Ordnungshüter in ihrer Freizeit in Pornostudios gehen, kann sich eben „seinen Teil“ denken, wenn später Polizisten Autodiebe wieder freilassen. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist roh und unverstellt, und dabei trotzdem von unfassbarer Heuchelei. Sich empören? Nur zu: dafür die sind die Lesben, die Blinden, die Schwarzen, die Obdachlosen, die Motorradgangs da. Sich dabei aufgeilen? Nur zu: dafür sind die nackten Brüste da! Schuldgefühle? Nicht doch. Schuld sind die nackten Lesben und die heruntergekommenen Obdachlosen doch selbst.
Sich empören und sich aufgeilen!
Wer noch Hemmungen hat, sich prächtig zu unterhalten, der kann sich auch einfach von dem absolut fantastischen Score Piero Umilianis treiben lassen, der die ganzen infamen Niederträchtigkeiten mit locker-fluffigen Lounge-Klängen voller Strandbar-Atmosphäre untermalt. Ein Traum. Und die gute Nachricht: es gibt tatsächlich eine Soundtrack-CD bzw. Vinyl-Platte. Der etwas erhöhte Preis hat mich davon abgehalten, ihn gleich zu kaufen. Unabhängig davon dürfte ein Stück des Scores von mehreren Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt bekannt sein: auf dem veröffentlichten Soundtrack heisst das Lied „Samba mah nà“, berühmter ist es heute als „Mah nà mah nà“, das zunächst als Singleauskopplung des Film-Soundtracks in Nordamerika Erfolge feierte und später durch die Nutzung in der „Sesamstraße“ und bei den „Muppets“ weltberühmt wurde. Hier reinhören.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das autoritäre Weltbild, das SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? transportiert, ist meiner Meinung wenig lustig. Zusätzlich zum Grauen des eigentlichen Films kam bei der Sichtung dazu, dass ein großer Teil des Saals über weite Strecken der Vorführung lachte. Sicher, es handelte sich – ich hoffe es zumindest! – um größtenteils ironisches Gelächter, vielleicht auch um einen Versuch, mit diesem unfassbaren Knüppel fertig zu werden. Aber ob Ironie wirklich das richtige Mittel ist, um sich mit diesem Film auseinanderzusetzen, wage ich zu bezweifeln. Für mich gibt es keinen Zweifel: SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist ein schrecklicher, scheußlicher, niederträchtiger, hundsgemeiner Film. Ein Film, der Ideologiekritik an Rape-and-Revenge-Exploitern, Vigilanten-Reißern und Kannibalenfilmen wie die reinste Farce aussehen lässt. Ein infames Meisterstück des antihumanistischen Kinos.


Samstag, 29. Juli


ab 13.00 Uhr

UN UOMO DA RISPETTARE (Ein achtbarer Mann)
Regie: Michele Lupo
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1972, 112 Minuten (deutsche Fassung)
Der Meistereinbrecher Steve (Kirk Douglas) kommt aus dem Gefängnis und möchte zu seiner Ehefrau Anna (Florinda Bolkan) zurück. Doch seine ehemaligen Auftraggeber wollen ihn zu einem neuen Coup zwingen. Zusammen mit dem flüchtigen Zirkusakrobaten Marco (Giuliano Gemma) bereitet er sich vor.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Auf dem 4. Terza Visione wurde mehrmals diskutiert, wie viel Melodrama eigentlich in anderen Filmen außerhalb des als „das Melodrama des Festivals“ programmierten Films (Matarazzos CHI È SENZA PECCATO...) zu finden sei: etwa in dem Söldner-Rache-Actioner ROLF, oder naheliegend in INGRID SULLA STRADA, oder auch im Western LA NOTTE DEI SERPENTI. Ich denke, dass auch UN UOMO DA RISPETTARE in vielerlei Hinsicht ein Melodrama ist – ein Melodrama im Gewand eines Heist-Thrillers. Es ist die Geschichte eines Mannes, der aufgrund seiner persönlichen Obsession, den besten Coup zu drehen (die nur bedingt etwas mit den äußeren Zwängen seiner ehemaligen Arbeitgeber zu tun hat), seine Frau zutiefst enttäuscht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Trotz einiger Action-Einlagen dürften die ersten zwei Drittel des Films für Zuschauer, die einen reinen Heist-Film erwarten, etwas enttäuschend sein. Mehr als die Vorbereitung des Heists erzählt UN UOMO DA RISPETTARE hauptsächlich von seinen drei Hauptfiguren. Das geschieht in vielen kleinen, unscheinbaren Momenten (die wahrscheinlich in angloamerikanischen Fassungen, die knapp über 90 Minuten dauern, rausgekürzt wurden): ein kurzer Moment des Eheglücks auf der Bowlingbahn, in dem Steve und Anna als harmonisches Paar gezeigt werden, wenn sie sich über Bowlingregeln unterhalten – kurz, bevor der geplante Coup ein Schatten auf das Glück wirft. Anna und Steve, die früh morgens in das Esszimmer kommen und überrascht sehen, dass Marco das Frühstück schon fertig zubereitet hat. Die heimlichen Unterhaltungen zwischen Anna und Marco: er möchte sie am liebsten anflirten, traut sich aber nicht richtig (aus Anstand oder aus Loyalität zu Steve), und sie weiß ganz genau, dass er das möchte – und so reden die beiden in Floskeln um die etwas unangenehme Situation herum.
Hier, in den Figuren, baut sich eine melancholische, leicht fatalistische Atmosphäre auf, und die wird nur noch verstärkt von der Tatsache, dass wir uns in Hamburg im Spätherbst befinden: eine graue, monochrome Stadt, über die sich ein hartnäckiger grauer Nebelschleier von der Alster gelegt hat. Dazu kommt der brüterische, leicht dissonante Score Ennio Morricones (hier ein Ausschnitt). In den ersten zwei Dritteln scheint UN UOMO DA RISPETTARE statisch – dabei ist der Film nur zutiefst melancholisch. Von den letzten, hochintensiven zehn Minuten abgesehen ist diese Melancholie aber ätherisch, irgendwie da, aber doch nicht unmittelbar zu greifen – keine bleierne Schwere wie bei den späten Melvilles. Das ist auch der Grund, warum die Actioneinlagen (vor dem großen Heist) nicht deplatziert wirken, sondern wie eine wohltuende Ruhepause. Und was für Actionszenen das sind! Eine wüste Keilerei in einer Nebenstraße, bei der beide Prügelnden ihr Treiben schließlich nach Durchbruch einer Windschutzscheibe im Inneren eines Autos einfach fortsetzen. Eine noch wüstere Prügelei, bei der ein kompletter Weinladen zu Bruch geht. Und schließlich diese Autoverfolgungsjagd der Extraklasse, bei der gar das Auto eines unbeteiligten Autotransporters mit den vier Rädern nach oben auf dem Dach eines der Verfolgungsautos landet.
UN UOMO DA RISPETTARE erzählt auch vom Triumph des Menschlichen – im Guten wie im Schlechten. Das akustische Sicherheitssystem der Hochsicherheitsbank wird überlistet, weil es ein Computer ist und dieser ist auf die Geräusche hin programmiert, die ein Einbrecher typischerweise macht – nicht auf die Klänge von Mozarts 40. Sinfonie. Der Coup selbst glückt, aber der Gesamtplan scheitert natürlich ebenso wegen des menschlichen Faktors – das wird in einer absolut verblüffenden und schmerzhaften Ellipse vorbereitet, die (wenn es bis dahin nicht ohnehin schon vollkommen offensichtlich war) deutlich macht, wie unglaublich gut und wie dramaturgisch und emotional präzise dieser Film inszeniert ist.
Am Ende bleibt nur bittere Erkenntnis, Verlust, Schmerz – und der wahrscheinlich bittersüß-traurigste Film des Festivals.



ab 15.30 Uhr

LA SPOSINA (Kleine Braut, was nun?)
Regie: Sergio Bergonzelli
Italien 1976, 92 Minuten
Die sexuell freizügige Chiara heiratet den erfolglosen Schriftsteller Massimo. Dieser bestand während der Verlobung darauf, vor der Ehe keinen Sex zu haben, und nach der Eheschließung wird klar, warum: er ist impotent. Chiara setzt alle Hebel in Bewegung, um Massimo zu heilen.
Wir müssen uns diesen Film als einen Film vor der Ära des Viagra vorstellen. Aber wir leben ja heute. Und wie gerne hätte ich den Film gesehen, der von Gary Vanisian angekündigt wurde: einen Film über eine absolute und bedingungslose Liebe, die sich über alle Hindernisse hinweg behauptet. Ich glaube, LA SPOSINA hätte mir in diesem Fall richtig gut gefallen.
Doch so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen. Das Spiel der beiden Hauptdarsteller Antinesca Nemour und Carlo De Mejo wirkte für mich eher zweckmäßig als wirklich inspiriert – ich sah keine Funken zwischen den beiden sprühen. So entwickelte sich LA SPOSINA als eine Aneinanderreihung mehr oder minder komischer Vignetten. Zum Beispiel soll eine Prostituierte Massimo wieder „richten“. Das geht zunächst schief, weil Massimo sich aus Versehen einen Transvestiten nach Hause holt. Die weibliche Prostituierte, die Chiara schließlich höchstpersönlich aussucht, landet nach mehreren Manövern und Verwechslungen mit Massimos schrulligem Bruder im Bett (was sie aufgrund ihrer starken Kurzsichtigkeit nicht merkt) – an und für sich eine witzige Szene mit einem extrem guten Timing, aber eben auch etwas mechanisch ausgeführt. Genau so wirkte für mich auch LA SPOSINA insgesamt: wie eine nette „commedia sexy e slapstick“, witzig und mit einem stets perfekten Timing, aber eben nicht der angekündigte ultimative und existentielle Film über bedingungslose Liebe. 
Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, eine der wichtigsten Nebendarstellerinnen des italienischen Genrefilms, die in Aberdutzenden von Filmen an prominenten Stellen zu sehen war, tauchte (ausgerechnet bei diesem Festival!) erst hier, bei LA SPOSINA, zum ersten Mal auf (oder habe ich sie bei UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA übersehen?). Die Rede ist von der obligaten Flasche J&B-Whisky.



ab 20.00 Uhr

INGRID SULLA STRADA (Ingrid auf der Straße)
Regie: Brunello Rondi
Italien 1973, 96 Minuten
Die Finnin Ingrid flieht von zu Hause und reist quer durch Europa nach Süden, um in Rom als Prostituierte zu arbeiten. Sie freundet sich rasch mit der Arbeitskollegin Claudia an, die ihr die Eigenheiten des römischen Rotlichtmilieus erklärt – und von ultrabrutalen Neonazis „protegiert“ wird, die Ingrid von Anfang an nicht mögen.
Das 4. Terza Visione probierte sich durch verschiedene Härtestufen des Melodramas – und INGRID SULLA STRADA gehört definitiv zur ziemlich harten Stufe.
Die Titelfigur, wild entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, beginnt gleich in dem Zug, der sie nach Süden fährt, damit, sich zu prostituieren und bevor der Kontrolleur überhaupt zu ihr kommt, hat sie schon ein so erkleckliches Sümmchen verdient, dass ihr der Fahrtkartenpreis herzlich egal ist. In Rom angekommen gibt es erst einmal eine lange, lange, lange Fahrt durch die Stadt in der Pferdekutsche, zusammen mit ihren künftigen Arbeitskolleginnen (und hier lernt Ingrid Claudia kennen). Die Prostituierten unterhalten sich, reißen Witze, lachen, erzählen vom Leben. Einige potentielle Kunden oder einfach nur Schaulustige fahren auf dem Moped nebenher, plaudern mit, bekommen wüste Sprüche oder Witze an den Kopf geworfen, lachen darüber oder hauen beleidigt ab. Und der alte Pferdekutscher lenkt das Pferd mit leicht amüsierter Mine weiter, aber ohne einzugreifen. Eine tolle Szene.
Danach verschwimmt das ganze für mich. Möglicherweise bin ich kurz weggenickt. Zweifelsohne war ich gedanklich viele Minuten auf Durchzug und nahm kaum etwas vom Film richtig wahr. „Aufgewacht“ bin ich schließlich dann, als der Anführer der Neonazi-Zuhälter (gespielt von Pasolini-Stammdarsteller Franco Citti) vor versammelter Mannschaft einen der ihren, der öffentlich ein bisschen zu viel geplaudert hat, foltert und schließlich die Zunge herausschneidet. Anschließend wird Ingrid von der Bande verschleppt, mit Heroin betäubt und gruppenvergewaltigt. Dann verschwimmt der Film wieder – bevor Ingrid sich auf einem Steinbruch von herunterprasselndem Gestein erschlagen lässt.
Da mich bei INGRID SULLA STRADA meine Sinne etwas im Stich ließen, mag ich nicht wirklich etwas abschließendes zu diesem Film sagen. Daher vielleicht einige Worte zu Brunello Rondi. Der gebürtige Lombarde wirkte bei zehn Fellini-Filmen zwischen 1954 (LA STRADA) und 1980 (LA CITTÀ DELLE DONNE) zunächst als Produktionsdesigner, später als Autor und „künstlerischer Berater“ mit. Bei drei Rossellini-Filmen (FRANCESCO GIULLARE DI DIO, EUROPA ’51 und ERA NOTTE A ROMA) arbeitete er in ähnlichen Funktionen mit. In seiner politischen und künstlerischen Ausrichtung stand Rondi jedoch Pier Paolo Pasolini am nächsten: sein erster Film als Regisseur 1962 war eine Verfilmung des Pasolini-Romans „Una vita violenta“ – mit Franco Citti (damals noch künftiger Pasolini-Stammdarsteller) in der Hauptrolle. Rondis Regiearbeiten waren wohl ein Balanceakt zwischen sozialkritischem Melodrama und derber Exploitation. Darunter gibt es PIÙ TARDI, CLAIRE, PIÙ TARDI (1968), dessen Inhaltszusammenfassung wie eine VERTIGO-Variation klingt oder PRIGIONE DI DONNE (1974), der wie der Titel verspricht ein Women-in-Prison-Reißer ist.



ab 22.30 Uhr

ROLF (Der Tag des Söldners)
Regie: Mario Siciliano
Italien 1984, 93 Minuten
Der Ex-Söldner Rolf lebt zurückgezogen an einem tunesischen Badeort mit seiner Freundin Joanna. Die trügerische Idylle des traumatisierten Soldaten wird gestört, als seine Ex-Kumpanen auftauchen und ihn zu einer neuen Arbeit als Drogenschmuggler überreden wollen. Als Rolf ablehnt, prügeln sie ihn halb tot, vergewaltigen und ermorden später Joanna. Dann beginnt Rolfs Rachefeldzug.
In seiner wunderbaren Filmeinführung bezeichnete Sano Cestnik ROLF als das eigentliche Melodrama des Festivals, als „die harte Stufe des Melodramas“, als „Macho-Melodrama“, in dem nicht eine Frau ihren Schmerz ausweint, sondern ein Mann seinem Schmerz mit Kugeln Ausdruck verleiht. Ja, ROLF ist ein düster-pessimistischer Söldner-Film, ein knüppelharter Rape-and-Revenge-Exploiter, ein schlafwandlerisch-zarter Liebesfilm, eine ultra-abgeranzte Sleaze-Bombe, eine provokante filmische Aufarbeitung italienischer Kolonialverbrechen, eine christlich-mystisch-esoterische Passions- und Erlösungsgeschichte – kurz: ein hartes Melodrama in der Tat! Nicht umsonst wählte Mario Siciliano für diesen, seinen letzten Film (und was für ein letzter Film!) als englisches Pseudonym „Marlon Sirko“.
In den ersten 20 bis 30 Minuten war der Reichtum dieses merkwürdigen Films noch nicht für mich erkennbar, ja ROLF wirkte sogar wie ein etwas dahin geschluderter, stümperhafter B-Actioner. Augenscheinlich war nur, wie unfassbar antiklimaktisch und aufreizend langsam dieser Film inszeniert ist. Sano bezeichnete das später in einem privaten Gespräch als Bresson-artig und tatsächlich: ROLF ist womöglich der Söldner-Rache-Actioner, den Robert Bresson nie gedreht hat.
Denn dann kamen die Blutegel! Oder besser gesagt: zunächst wird Rolf von seinen ehemaligen Söldner-Kumpanen übel zugerichtet, nachdem er sich wiederholt weigert, an deren Drogengeschäften teilzunehmen. Die Prügelei dauert unangenehm lange. In einem Moment schlägt einer der Truppe Rolf drei, vier, fünf, vielleicht sechs Mal auf die gleiche Weise ins Gesicht. Schließlich bleibt Rolf halbtot liegen, nachdem seine Kumpanen weitergezogen sind. Langsam, sehr langsam robbt der Verletzte auf sein Auto zu. Langsam, sehr langsam bereitet er sich darauf vor, sein ausgerenktes Knie wieder einzurenken, indem er sein verletztes Bein auf den Vorderreifen seines Geländewagens hievt. Das Einrenken geht schnell vonstatten, doch Rolf wird ohnmächtig und fällt ins nahe liegende Gebüsch. Dort fangen Blutegel an, auf ihn herumzukriechen. Das dauert ziemlich lange. Sehr lange. So lange, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und anfängt, zu irritieren. Und dann dauert es noch einmal einen Tick länger.
Nun... In PSYCHO mag Alfred Hitchcock seine (scheinbare) Protagonistin nach 40 Minuten von einem Irren in Frauenkleidung abstechen lassen. Aber in welchem Film sieht man schon, dass der Held nach knapp einem Drittel von Blutegeln aufgefressen wird? Diese Bresson‘ianische (?) Szene ist zweifelsohne sehr mysteriös und regt zu vielseitigen Deutungen an (wie ich in einem Gespräch später – siehe unten – eruieren konnte). Ist das vielleicht ein Reinigungsprozess: die Blutegel saugen die Schuld aus Rolf? Oder wird Rolfs Körper in dem Moment zu einem Sinnbild einer kaputten Welt, auf der sich viele Figuren kriechend tummeln – nur um später von einem aufgewachten und wütenden Rolf brutal zerquetscht, weggerissen und weggeworfen zu werden? Ich selbst neige dazu, das ganze als symbolische Todesszene zu sehen: Rolf stirbt – und wacht dann wieder auf, als Wiedergeborener oder vielleicht als Untoter? Als er sich im Dunkeln (ohnmächtig ist er bei hellem Tageslicht geworden) wieder aufrichtet, scheint das Mondlicht direkt in seine Augen, und seine Pupillen wirken, als wären sie komplett weiß – als wäre Rolf ein Untoter, ein Jenseitiger aus Fulcis L‘ALDILÀ. Das passt vielleicht auch besser als die Vorstellung, dass Rolf im engeren christlichen Sinne wiederauferstanden ist: denn die großen Leiden des Titelprotagonisten, die verschiedenen Etappen seiner Passionsgeschichte, fangen erst dann richtig an!
Vielleicht ist auch nur die Chronologie aus Passion, Tod, Wiederauferstehung und Erlösung durcheinander gebracht. Die Leiden einer Actionfigur mit christlich angehauchter Ikonographie zu überhöhen, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches im Actionkino. Aber das derartig explizit zu tun, ist schon sehr speziell. Rolf erledigt dann zwar seine Ex-Kumpanen, bekommt dabei aber so einige Kratzer ab. Grund genug für ihn, um sich mehrfach in dramatische Kreuzigungsposen zu werfen. Um erschöpft und vor Schmerzen der Ohmacht nahe liegend von einem mitfühlenden Freund gehalten zu werden – für eine schaurig-schöne Pietà-Pose. Um von einem seiner Ex-Kumpanen Wundmale in die Hände geschossen zu bekommen – aus denen er später in dramatischen Momenten auch üppig blutet.
Rolf verschwindet gleich zwei mal für etwas längere Zeit aus dem Film: das erste Mal, nachdem er niedergeprügelt und von Blutegeln aufgefressen wurde. Da bleibt er erst mal eine ganze Weile liegen, während die kaputte Welt um ihn herum auch ohne ihn weiterhin kaputt sein kann. Später begleiten wir für längere Zeit seinen Antagonisten, also den „Chef“ seiner ehemaligen Söldner-Kameraden, der ein wenig aussieht wie ein unbekannter, älterer und schwer derangierter Halbbruder Uwe Ochsenknechts. Er trinkt in der lokalen, abgeranzten Bar, wo früher Joanna arbeitete, spricht dann auf der Straße eine Prostituierte an. Dabei wird er von allen als das angesehen, als das auch wir als Zuschauer ihn sehen: als völlig rohen, vertierten Rüpel, der jederzeit durch die Decke gehen kann. In einem späteren Gespräch meinte Sano, dass der Antagonist nichts anderes sei als ein Spiegelbild Rolfs. Das Spiegelbild Protagonist-Antagonist ist im Genrekino ja nichts außergewöhnliches, aber in ROLF führt das zu besonders bitteren Erkenntnissen. Im Prolog des Films sehen wir, wie weiße Militärs in einem afrikanischen Dorf ein Massaker anrichten. Später erinnert der Antagonist Rolf mehrmals daran, dass er, Rolf, „der Allerbeste von uns“ war. In einem späteren Flashback sehen wir, wie Rolfs Antagonist bei einem Massaker in einem Dorf von seinen Kameraden kleine Kinder in die Luft werfen lässt, um sie dann in der Luft abzuschießen. Das ist sicher der Gipfel oder der Tiefpunkt, den die Welt in ROLF erreicht. Rolf will da nicht mehr mitmachen, rettet im Vorbeigehen ein paar Dorfbewohner und möchte aussteigen. Eine Affekthandlung des „Besten von uns“? Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene ist selbstverständlich infam, völlig geschmacklos, unerträglich – vielleicht die perfekte Darstellungsform für infame, geschmacklose und unerträgliche Gewalttaten, auch wenn viele Filmzensurbehörden dieser Welt (ich denke naheliegender Weise an eine bestimmte Institution mit Sitz in Wiesbaden) Gewalt lieber in „geschmackvoller“ und „nicht grausamer“ Weise dargestellt mögen.
In dieser Szene könnte man die Frage stellen, ob Exploitationfilme alles dürfen? Sicher ist, dass ROLF ein Film ist, der keinen Spaß macht. Er ist kein Unterhaltungsfilm. Er ist schroff, absichtlich hässlich, will abstossen. Als möglicher Vergleich fiele mir James Glickenhaus‘ THE EXTERMINATOR ein: ein ähnlich monströser, hässlicher, qualvoll langsamer, dezidiert „anti-unterhaltsamer“ und absolut merkwürdiger Abgrund von einem Film. Wer sich an den Gewalttätigkeiten in ROLF ergötzt, stellt nicht so sehr das Funktionieren der Filmzensurbehörden als das Funktionieren von Wertevermittlung in Schule, auf Arbeit, in der Familie, in der Gesellschaft (bzw. seine eigene geistige Gesundheit)in Frage. ROLF ist ein kranker Film über die kranke Seite der Menschheit, und er macht das, was kranke Organismen bisweilen tun: alles auskotzen. Dominik Grafs und Hans Schmids These, wonach der italienische Genrefilm die Niederträchtigkeiten des Zweiten Weltkriegs auskotzte, scheint mir bei ROLF noch mehr zuzutreffen als beispielsweise bei Sergio Martinos Gialli. Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene wirkt im Lichte italienischer Kolonialverbrechen noch mal doppelt so bitter.
Ich könnte noch vieles über ROLF schreiben. Über unvergessliche Szenen. Über einen Held, der in einem prolligen Sakko mit zurückgezogenen Ärmeln zusammen mit seiner Freundin durch eine arabische Marktgasse spaziert, um seinen Dämonen zu entkommen. Über derangierte Ex-Kämpfer, die zum Kampfeinsatz im Wald als einzigen Proviant eine Feldflasche voll Kokain mitnehmen. Über diese Bildkompositionen, die Rolf und Joanna miteinander in einem Bild vereinen, aber dabei dennoch schmerzhaft trennen. Über gruselige, unvergessliche Weitwinkelbilder der verschwitzt-lüsternen Vergewaltigergesichter. Über unfassbare, pathetisch-schmalzige Disco-Scores. Über erfrischende Duschen unter einem Wasserfall, die die Schuld doch niemals wegwaschen werden.
ROLF ist, vielleicht dicht gefolgt von ARCANA, zweifelsohne der schwierigste Film des Festivals.


ab etwa 00.30/1.00 Uhr – im Hotel

Es gab einmal eine Zeit, da war Samstag Abend bzw. Nacht die Zeit, wo auf RTL oder RTL2 oder SAT1 oder ProSieben irgendwelche B-Actionfilme mit wenig Ansehen, aber manchmal recht hohem Interesse liefen. Auf VOX liefen um die Zeit dann meist Soft-Erotikfilme – manchmal sogar italienische. Wie gut hätte das als Tagesabschluss gepasst, um von ROLF wieder ein wenig herunterzukommen. Aber nein: heutzutage laufen auf besagten Kanälen um die Zeit diese fürchterlichen „Qualitätsserien“. Das einzige leicht genre-ig bzw. exploitig angehauchte, was ich fand, war der Showdown von DR. NO (den ich unter den James-Bond-Filmen eh nicht so mag) auf ARD. Doch die HD-Auflösung war dermaßen absurd totgefiltert, dass das aussah, als würden Sean Connery und Ursula Andress durch eine vorabendliche Telenovella hopsen. Nach einigem erfolglosen Herumprobieren an der Bildeinstellung habe ich es dann aufgegeben. Selbst das Fernsehen ist gentrifiziert. Deprimierend...


Sonntag, 30. Juli

ab etwa 11.00/11.30 Uhr

Ich fühle mich hundeelend. Ein bisschen wie Rolf gegen Ende des Films, bloß ohne das erhabene Gefühl, ein christlicher Märtyrer zu sein. Die Halsschmerzen, die sich gestern Nachmittag angekündigt haben und gegen Abend fest eingenistet haben, sind noch stärker geworden – zusammen mit Kopfschmerzen und einem allgemein fiebrigen Gefühl. Und dann kommt auch noch diese fürchterliche Sommerhitze hinzu (die gefühlt jeder Mensch auf der Welt außer ich unglaublich großartig findet)...
Frühstücken... In einer Bäckerei bestelle ich einen Milchkaffee zum Mitnehmen, dazu ein Schoko-Croissant. Von der Verkäuferin folgt das obligate „Kommt noch etwas dazu?“. Hhm... ja, warum denn nicht: „Ein Milchbrötchen mit Schokolade?“. Die Verkäuferin bricht in ein kurzes, herzliches Lachen aus. Freut sie sich, dass ich nach den basischen Komponenten eines Frühstücks noch eine Schlemmerei dazu nehme? Egal, ich fühle mich ein bisschen besser. Das war eben wie in kurzer Moment in einem Film, wo die Zeit einfach mal kurz stehen bleibt.
Auf der Straße begegnet mir später eine Gruppe von Co-Zuschauern (darunter einer der Ankündiger/Filmeinführer), und sie alle grüßen mich. Haben die schüchterne Figur wieder erkannt, die sich immer etwas geduckt am Rand aufhält, aber bei jedem Film da war. Ja, jetzt ist die Welt wieder ein bisschen in Ordnung.


ab 13.00 Uhr

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO (Mit Faust und Degen)
Regie: Riccardo Freda
Italien / Frankreich / Spanien 1963, 92 MInuten (deutsche Fassung)
Der Künstler Benvenuto Cellini (Brett Halsey) treibt sich durch die italienische Renaissance und malt, erschafft Skulpturen, beklaut Konkurrenten, macht schönen Frauen (Claudia Mori, Françoise Fabian) schöne Augen, prügelt sich, kämpft wacker im Namen des Papstes (Bernard Blier), fälscht Münzen und erlebt überhaupt viele Abenteuer.
So ein Schlingel aber auch, dieser Cellini! Alles, was bei dem ähnlich gelagerten, nämlich „familienfreundlichen“ und „leichten“ Abenteuerfilm LA RIVOLTA DEI SETTE formelhaft wirkte, ist es bei IL MAGNIFICO AVVENTURIERO im Grunde genommen genau so. Doch hier kommt dann dieses Quäntchen Inspiration hinzu, das aus schmalzig frisierten Beaus richtige Helden, aus gestelltem Gerangel mitreissende Kampfszenen, aus gestelzten Dialogen zwischen männlichen und weiblichen Figuren witzige kleine Screwball-Vignetten, aus augenscheinlichen Pappmaché-Kulissen prunkvolle Fürstenhallen oder urige Wirtsstuben, aus Witzen auf Schulbub-Niveau krachende Schenkelklopfer und aus einem total fadenscheinigen (Nicht-)Drehbuch einen fetzigen audiovisuellen Flow macht. IL MAGNIFICO AVVENTURIERO macht zumindest in der ersten Stunde auch alles richtig, damit man als Zuschauer wirklich einen Riesengaudi hat. In der letzten halben Stunde hing der Film etwas durch – vielleicht hing ich persönlich auch etwas durch. Aber wenn Cellini am Schluss seinen „Perseus“ in eine Tonform gießt und schließlich abklopft, fühlt sich das wie eine kleine persönliche Renaissance an: man fühlt sich so erfrischt wie wiedergeboren.



ab 16.15 Uhr

LA FINE DELL‘INNOCENZA (Das Ende der Unschuld / Annie Belle – Zur Liebe geboren)
Regie: Massimo Dallamano
Italien / UK 1976, 86 Minuten (deutsche Fassung)
Die Internatsschülerin Annie Belle reist mit ihrem Vater Michael nach Hongkong. Dort merkt der Zuschauer, dass Michael nicht ihr biologischer Vater, sondern ihr „Sugar Daddy“ ist. Während der ältere Herr wegen eines Devisenbetrugs in den Knast landet, vergnügt sich Annie Belle mit verschiedenen europäischen Bekanntschaften beiderlei Geschlechts, dann mit dem Stuntman Chen, begegnet einer Mönchin und sucht nach sich selbst.
Eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit ganz viel Coming und, da Daddy Michael recht schnell aus dem Film verschwindet, wenig Age. Die Geschichte einer jungen Frau, die nach und nach entdeckt, dass die Welt wesentlich komplexer ist, als sie den Anschein hat. Zumindest am Anfang weiß sie, dass „Daddy“ nicht wirklich „Daddy“, sondern eben „Sugar Daddy“ ist. Dann muss sie auf die harte Weise lernen, dass Angelo und Linda, das wohlhabende Traumpaar, das sie empfängt, keineswegs so traumhaft ist. Hinter der gutbürgerlichen Fassade steckt in Angelo ein manipulativer Vergewaltiger, während Linda schließlich so besitzergreifend wird, wie es Michael nie war. Der idealistische Künstler Philip täuscht ihr die Liebe seines Lebens vor, und verkauft sie dann nach einigen Tagen idyllischer Liebe innerhalb von 30 Sekunden für ein bisschen Geld an Angelo. Der Stuntman Chen mag mit seinem Motorrad wie ein Draufgänger wirken, doch wenn es in der Spielhölle brenzlig wird, rennt er auch schnell davon und ist ansonsten ein Muttersöhnchen, der sich auf dem Hausboot von seinen Eltern bekochen lässt. Die mysteriöse, erotische Mönchin wirkt aus der Ferne sehr mysteriös und erotisch – aber letztendlich hat sie für Annie auch nur Glückskeksweisheiten parat. Die wahrscheinlich größte Wandlung macht wohl tatsächlich Michael durch, wenn er am Schluss erkennt, dass er Annie verloren hat, dass sie das Recht auf ihr eigenes Leben hat, dass sie alleine weiterziehen muss.
Trotz einiger Ruppigkeiten ist LA FINE DELL‘INNOCENZA ein Film, der ein bisschen wie seine Heldin voller Neugier und einer gewissen Naivität die Welt entdeckt. So, wie Annie von einer Etappe zur nächsten läuft und positive wie negative Erfahrungen sammelt, sammelt Dallamanos Emmanuelle-ploitation-Film unvergessliche Momente. Die zwei älteren Damen, die in der Kunstgallerie im Angesicht einer phallisch geformten Plastik Philips staunen. Annie und die Mönchin, die nackt durch das Wasser waten, ihre Kleidung schützend über den Kopf haltend – und später (freilich ganz sexlos) zusammen in einer Hütte übernachten, die so dermaßen offensichtlich als Käfig inszeniert wird (warum, ist mir allerdings bis heute unklar – würden die italienischen Dialoge hier einen Bezug herstellen?). Und natürlich die (das behaupte ich jetzt mal so) wahnwitzigste Montage aus wildem Sex im Pferdestall und Eisschlecken, das im italienischen Kino der 1970er Jahre zu sehen war – und wenn es die tatsächlich anderswo gibt: dort sieht man danach bestimmt keine drei, vier, fünf ausgeleckte Eiswaffeln in einem Aschenbecher liegen.
Wie so viele Filme bei diesem Festival ist LA FINE DELL‘INNOCENZA nicht nur toll fotografiert, sondern hört sich auch großartig an. Das Trio aus Fabio Frizzi, Franco Bixio und Vince Tempera hat ganze Arbeit geleistet: der Score ist nicht nur eine tolle musikalische Untermalung der Bilder, sondern wird auch immer wieder dramaturgisch genutzt, um etwa die Mönchin (ob sie jetzt auf der Leinwand zu sehen oder nur in Annies Gedanken zu spüren ist) mit einem eigenen Motiv einzuführen. Wer reinhören möchte: hier gibt es den Titel-Song, und hier das Titel-Motiv in instrumentaler Version.

ab ca. 18.00 Uhr

Essenszeit! Nach dieser fernöstlich angehauchten Delikatesse war es eigentlich klar, was es nun geben musste: etwas Asiatisches. Deshalb ging ich auch schnurstracks zu dem ersten asiatischen Imbiss, der in der Schweizer Straße beim Filmmuseum zu finden war. Meine Bestellung ist schon aufgegeben, ist sitze draußen an einem Tisch am Rand des Bürgersteigs – und da kommen schon die nächsten Co-Zuschauer, denen LA FINE DELL‘INNOCENZA Lust auf asiatische Köstlichkeiten gemacht hat. Der Platz war begrenzt und deshalb setzten sich drei von ihnen zu mir an den Tisch (einige andere Co-Zuschauer des Festivals fanden drinnen Platz und bekamen hoffentlich auch ein gutes Essen). Nachdem ich mich vorstelle („Hallo, ich heiße David, ich komme aus Jena und ich bin filmsüchtig“) lerne ich also Sano Cestnik, Sven Safarow und dessen Freundin (die ich hier nicht namentlich nenne, weil sie sich als „nicht filmsüchtig“ outete und vielleicht im Rahmen der deutschsprachigen Film-Blogosphäre lieber anonym bleiben möchte?) auch persönlich kennen. Als ich mich dann auch als permanenter Gastautor von „Whoknows Presents“ vorstellte, gab es bei Sano und Sven wohl den gleichen „Aha, das ist diese Person also in live“-Effekt wie bei mir in den letzten Festivaltagen. Bei rotem Thai-Curry, Hähnchenspießen in Erdnuss-Sauce, Frühlingsröllchen und einer Suppe sprachen wir über LA FINE DELL‘INNOCENZA (über die Entwicklung der Figur Michaels), ROLF (über die Bedeutung der Blutegel), LA SPOSINA (über das dem Film zugrunde liegende Gesellschafts- und Weltbild), INGRID SULLA STRADA (über die Bedeutung der satirischen oder/und der vielleicht unfreiwillig komischen Momente), über Lucio Fulcis vielfältiges Schaffen, über Mario Siciliano, über Massenverbrechen, Verdrängung und das Weiterleben mit und unter Tätern. Sowohl Sano (der ROLF einführte) wie auch Sven (der UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA einführte) meinten, dass die vierte die bislang „härteste“ Terza-Visione-Ausgabe sei: weniger „unschuldige“ Filme, mehr „harte Autorenfilme“.
Irgendwann zwischendurch merkte ich, dass die Halsschmerzen und Kopfschmerzen, die mich zur Mittagszeit fast in den Wahnsinn trieben, vorbei waren. Merke: Filme und Filmgespräche sind also gut für die Gesundheit!



ab 20.00 Uhr

LA NOTTE DEI SERPENTI (Die Nacht der Schlangen)
Regie: Giulio Petroni
Italien 1969, 107 Minuten
In einem mexikanischen Dorf planen einige Notabeln unter der Führung des korrupten Sheriffs Hernandez (Luigi Pistilli) einen Mord, um eine Erbschaft zu erschleichen. Der heruntergekommene, versoffene und verlachte Gringo Luke (Luke Askew) wird damit beauftragt – mit dem Hintergedanken, ihn hinterher wieder loszuwerden. Als Luke sein Mordopfer erblickt, macht er einen Rückzieher, wird wieder nüchtern und wendet sich gegen die Intriganten.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Der Regisseur Till Kleinert (DER SAMURAI) führte LA NOTTE DEI SERPENTI in einem überaus schönen, stellenweise fast poetischen Beitrag ein, und wies darauf hin, auf einige Details genau zu achten: so unter anderem etwa darauf, dass viele Menschen in diesem Film „aus Versehen“ getötet werden, weil offenbar der menschliche Körper zu zart für diese harte Wüstenlandschaft sei; darauf, dass der Held (Luke) eine eigene Melodie hat, die seine Zerbrechlichkeit, seine Verletztheit und Verletzlichkeit, seine Trauer ausdrückt; darauf, wie sich die Beziehung zwischen der Bordellbetreiberin Dolores und dem Sakristan Jesus-Maria als quasi unabhängiger kleiner Nebenplot entwickelt (beide Cousins – und Teilnehmer der Intrige). Kleinert wies von sich, ein Spezialist des Italowestern zu sein, aber auf seine überaus wertvollen Beobachtungen muss ich noch zu sprechen kommen.
Zunächst ist da das Nichts! Die erste Hälfte von LA NOTTE DEI SERPENTI ist Stillstand, Gelähmtheit, endloser Fatalismus und viel, viel, viel Melancholie. Tatsächlich ist der Film extrem gut und ökonomisch erzählt, weil er kleine Informationsfetzen zur gesponnenen Intrige nach und nach enthüllt. Aber passieren tut erst einmal wenig. Natürlich: Hernandez tut sich mit einem Banditen am Rande der Stadt zusammen und fordert von den Teilnehmern der Intrige, die er eigentlich zunächst nur aufdeckt, Schutzgeld. Ja, der Held wird herumgeschubst und landet bei einer alleinerziehenden Schamanin. Ja, Dolores und Jesus-Maria zanken sich rum. Aber alles schwelgt zunächst in dieser lähmenden Melancholie, die dieses halbtote Kaff am scheinbaren Ende einer verdammt trostlosen Welt im Würgegriff festhält. So konsequent antiklimaktisch dürfte kaum ein Film sein, der in den 1960er Jahren als Western vermarktet wurde. 
Das widerspiegelt nicht zuletzt den Helden. Luke ist der Al Roberts des Italowesterns (Al Roberts: der Protagonist des ultra-fatalistischen film-noir-Schmuckstücks DETOUR) – bloß noch wesentlich betrunkener, viel schweigsamer, lethargischer und mit schlimmeren Verbrechen auf dem Kerbholz. Hier wird Luke nicht in einem heruntergekommenen Café angeschnauzt, sondern aus einer Hängematte geworfen und dazu gezwungen, für ein bisschen Tequila die Stiefel des örtlichen Schlägers zu putzen – um schließlich eine Trinkflasche voller Pisse zu bekommen und dann verprügelt zu werden, als er ausspuckt. Luke, der uns mit einer sanften, Gitarrenballade als großer Verletzter präsentiert wird, bewegt sich in der ersten Filmhälfte nur, wenn er von anderen geschubst wird oder Alkohol in Aussicht ist. Ansonsten liegt, döst, lümmelt er sturzbetrunken oder schwerverkatert herum. Der Film tut es ihm im Grunde gleich. Es ist in der ersten Hälfte sehr schwer, in LA NOTTE DEI SERPENTI einen Western zu erkennen – es ist eher ein Melodrama im Snooze-Modus.
Ein gewaltiger Ruck geht durch Luke, als er merkt, dass er Manuel, den etwa zehnjährigen Sohn (bzw. Adoptivsohn) der Schamanin töten soll, die ihm Unterkunft gewährt hat. Den Auftrag hat er nicht für Geld, nicht mal für Alkohol, sondern deshalb akzeptiert, damit er selbst nicht getötet wird (und wurde diesbezüglich selbst reingelegt). Luke wacht auf: er schwört Nüchternheit, zieht seine alte Revolverheld-Pistole wieder an, tauscht seinen zerlöcherten Sombrero gegen seinen alten Revolverheld-Hut ein (die stark lädierten Sandalen, die er anfangs trägt, trägt er bis zum Schluss – wahrscheinlich hat er seine Revolverheld-Stiefel irgendwann einmal gegen Tequila eingetauscht). Mit ihm wacht der ganze Film auf: Lukes sanft gezupftes, leise melancholisches Motiv ertönt nun mit einer lauten, Italowestern-typischen Elektrogitarre voller Pathos (der Credit für den wunderbaren Score geht hier an Riz Ortolani). Die Szene, in der Luke sein altes Revolverheld-Kit zu dieser Musik anzieht, ausprobiert, schließlich Manuel die Fuselflasche rausbringen lässt, um sie dann zielsicher (betrunken konnte er vorher kaum gerade schießen) abzuknallen, war ohne Zweifel der ganz große emotionale Höhepunkt des Festivals. Die geradezu plumpe Symbolhaftigkeit des ganzen war fast zu viel des Guten, aber wie heißt es so schön: „too much of a good thing can be wonderful“. Ein Teil des Publikums brach in spontanen Applaus aus, als Luke die Flasche kaputt schoss. Die Szene gibt es hier zu sehen (und immer wieder zu sehen).
Mit Luke „erwacht“ auch der komplette Film und verwandelt sich in einen echten Italowestern mit Shootouts, Explosionen, Duells. Nach der bittersüßen Melancholie ist das fast schon ein bisschen schade, aber es ist auch höchst konsequent. Nationsgründung und -werdung, Frontier-Mythen, Zivilisierung des Westens – all das spielt keine Rolle in LA NOTTE DEI SERPENTI. Giulio Petroni erschafft, ja „erfindet“ quasi das Genre „neu“ aus einer Atmosphäre existentieller Melancholie heraus, die mit typischen Westernmotiven erst einmal nicht viel zu tun hat.
Der Punkt mit dem versehentlichen Töten, den Till Kleinert angesprochen hat, ist noch mal eine Erwähnung wert. In LA NOTTE DEI SERPENTI werden tatsächlich mindestens vier Personen „aus Versehen“ getötet. Ein Postkutscher wird gleich in der ersten Minute des Films so geohrfeigt, dass er mit seinem Kopf unglücklich an seine Nachtkommode stößt. Luke schlägt einen der Intriganten, offensichtlich ohne Absicht, ihn zu töten, aber einer der Schläge tötet ihn schließlich. Jesus-Maria schließlich erschlägt oder erwürgt Dolores offenbar im Affekt (man sieht aber die Todesursache nicht). Und schließlich hat Luke auch in seiner Vergangenheit einen Menschen „aus Versehen“ getötet. Hitchcocks Postulat aus TORN CURTAIN, nämlich dass es unfassbar schwer ist, mit bloßen Händen einen Menschen zu ermorden, wird hier in sein Gegenteil verkehrt: Menschen sterben wie die Fliegen, obwohl oftmals nicht mal eine Tötungsabsicht vorhanden ist. Hier wäre neben der existentiellen Verzweiflung der Hauptfigur wieder ein Bezug zu DETOUR, wo der Protagonist Al Roberts – wohlgemerkt in seiner eigenen, subjektiven Erzählung – „aus Versehen“ zwei Menschen tötet. Vielleicht hat LA NOTTE DEI SERPENTI hier ein ganz anderes Verhältnis zu Gewalt als andere Italowesterns. Zumindest aus den Leone-Westerns fällt einem dieses Bild ein: jemand wird verprügelt, gefoltert oder kaltblütig ermordet und irgendeine Figur (nicht unbedingt der Täter, sondern vielleicht ein Zuschauer aus der Täterbande) quittiert das mit einem sadistischen Lachen. In Petronis Film hat niemand Spaß an Gewalt. Nachdem Luke sich geweigert hat, den jungen Erben Manuel zu ermorden, wird der Tavernenbesitzer von Hernandez mit der Aufgabe betraut. Dem wird bei dem Gedanken, seinen jungen Helfer (Manuel hilft bei ihm Saubermachen in der Taverne) zu töten, ganz mulmig. Er zögert lange, schiebt das ganze auf, schließlich lockt er den Jungen unter fadenscheinigen Argumenten zur Pferdetränke und versucht ihn darin zu ertränken. Dabei weint der Wirt bittere Tränen. Als Luke ihn erwischt und erschiesst, um Manuel zu retten, könnte man fast Erleichterung in seinem Gesicht sehen. Ein Gewalttäter mit sadistischem Lachen oder mit melancholischem Weinen – letzteres ist vielleicht noch wesentlich unerträglicher anzusehen.
Ich habe jetzt schon eine ganze Menge zu LA NOTTE DEI SERPENTI, dem besten Film des diesjährigen Terza Visione geschrieben, aber wir müssen auch mal bald weitermachen mit dem telepathischen Insektenmädchen. Nur so viel: nach einer extrem ernüchternden Wiedersichtung von Leones PER UN PUGNO DI DOLLARI im Mai dieses Jahres hatte ich Italowesterns in der Liste meiner Sichtungsinteressen etwas heruntergestuft. Jetzt weiß ich: man muss jenseits der drei großen Sergios (Leone, Corbucci, Sollima) nur das Richtige finden. Und genau das hat das Orga-Team des Terza Visione auch getan. Dafür ein großes Dankeschön!
P.S.: Habe ich schon erwähnt, wie großartig Luke Askew als Luke eigentlich ist?



ab 22.30 Uhr

PHENOMENA
Regie: Dario Argento
Italien 1985, 107 Minuten
Irgendwo in den Schweizer Bergen bringt ein irrer Serienmörder junge Teenager-Mädchen um. Die junge Amerikanerin Jennifer (Jennifer Connelly) wird in ein Internat in Tatortnähe untergebracht. Sie ist Schlafwandlerin und kann telepathisch mit Insekten kommunizieren. Von dem Entomologen McGregor (Donald Pleasance) ermutigt bricht das Mädchen zusammen mit einer Leichenfliege auf, um den Mörder zu finden.
Mein erster Argento auf großer Leinwand. Vielleicht hatte ich zu große Erwartungen, aber die ultimative Epiphanie war das nicht. PHENOMENA ist nicht PROFONDO ROSSO, oder SUSPIRIA, oder OPERA. Aber vielleicht hatte Terza Visione bis zu diesem Zeitpunkt schon im positiven Sinne zu sehr auf mich abgefärbt. Die Vergleichsebene war ja nicht „mittelmäßiger Allerlei-Film digital auf Leinwand/DVD-Sichtung VS. Argento auf großer Leinwand“, sondern „tolle Filmauswahl in 35mm auf großer Leinwand UND zusätzlich Argento auf großer Leinwand“. Als Kino-Erlebnis haben mich der Bava und der Fulci und der Questi und der Petroni mehr beeindruckt.
Was aber für Terza Visione insgesamt gilt, trifft auch auf PHENOMENA zu: wenn ich jammere, dann ausschließlich auf hohem Niveau. Da ich gerade beim Jammern bin: PHENOMENA gilt bisweilen als Argentos Insektentelepathiequatsch-Film und deshalb für manche als der Beginn vom Ende in Argentos Filmografie. Ich hätte mir im Gegenteil noch mehr Insektentelepathiequatsch in diesem Film gewünscht. Weniger Mördersuche und mehr Szenen der Liebe und der Zärtlichkeit zwischen Jennifer und den Insekten. Aber das ist wie gesagt Jammern auf hohem Niveau.
Anderswo wird PHENOMENA als emotionaler und zärtlicher als die bekannteren Argento-Filme bezeichnet (hier etwa in der tollen Besprechung von Oliver Nöding) bzw. als Film, in dem Argento schon rein sozialgeografisch seine Komfortzone verlässt (hier in der Besprechung von André Malberg, der wahrscheinlich auch bei der Vorführung anwesend war, bei Eskalierende Träume). Dazu vielleicht eins von mir: PHENOMENA enthält die wahrscheinlich gewalttätigste Szene in Argentos mir bislang bekanntem Werk. Es ist der Moment, wo Jennifer merkt, dass in ihrem Zimmer geschnuppert wird, ihre Briefe durchgelesen werden, alle „Indizien“ willkürlich gegen sie verwendet werden, die autoritäre Obrigkeit des Internats und ihre verständnislosen, gemeinen Mitschülerinnen eine unheilvolle Allianz gegen sie gebildet haben. Als sie wegläuft, rennen ihr Mitschülerinnen nach und werfen ihr (verbal und gar auch physisch) Sachen an den Kopf. Nun, hier werden nicht in ultra-stilisierter, hyper-ästhetisierter und formalistischer Weise Körper mit spitzen Gegenständen zerstört, sondern auf vergleichsweise nüchterne, triviale Weise eine Seele angegriffen. Das ist qualvoller anzusehen. In nur wenigen Minuten und einfachen, unvergesslichen Bildern hält der von einigen gerne als weltfremder und gefühlloser Formalist geschmähte Argento die Essenz von Schüler-Mobbing emotional ergreifender und lebensnaher fest als ich es bislang je anderswo in künstlerischer Form erlebt habe – ohne das ganze dabei im eigentlichen Sinne überhaupt zu „thematisieren“. Wie präzise er dabei auch zeigt, dass diese verfluchten Lehrer selbstverständlich auf Seiten der Mehrheit sind, und das Gefühl der Erniedrigung und Isolation, die die Opfer haben, perverserweise zu deren Ungunsten instrumentalisieren, weil das so verdammt bequem ist. Nur eine kurze Nebenszene (zugegeben: mit kleinem Vorlauf)! In einem Argento-Giallo mit Insektentelepathiequatsch! Vielleicht zeigt dieser Moment mehr als alles, wie großartig Argento ist.
Als ob das schon nicht genug wäre, findet das ganze noch einen Ausgang in der großen, wunderbaren Insektenbeschwörung. Jennifer, sichtlich wieder vollkommen souverän, hell erleuchtet, mit einem frischen Wind, der ihr die Haare aus dem Gesicht weht, sagt „I love you!“. Sie sagt es zu den Insekten, aber natürlich wirkt es nach den Niederträchtigkeiten, die sie eben erlebt hat, auch wie die Manifestation eines fast übermenschlichen Vergebungswillens. Toll! (hier der letzte Teil dieser Szene)


Mit dem Dritten sieht man besser

Einer der Filmvorführer des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt soll die Organisatoren nach einem Test im Angesicht von ROLF gefragt haben, ob sie denn überhaupt keine „Untergrenze“ hätten. Oh, doch! Die Qualitäts-„Untergrenze“ war ziemlich hoch. Ich glaube, dass viele viele viele Dutzende Menschen das gleiche sagen können wie ich: das 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms war eine richtig schöne Veranstaltung mit einem extrem gut zusammengestellten Programm.

Gefehlt hat vielleicht ein Piratenfilm... Es war das erste Terza-Visione-Festival, das nicht im Nürnberger Komm-Kino, der Heimbasis der Eskalierenden Träumer und Freunde, stattfand, sondern im Deutschen Filmmuseum – und irgendwie werde ich das Bild nicht los, dass Abenteurer der abseitigen Filmkultur einen Panzerkreuzer der offiziösen deutschen Filmmarine gekapert haben. Ein Marsch durch die Institutionen, bei dem nicht die Eskalierenden Träumer sich institutionalisierten, sondern die Institutionen zum Eskalieren und Träumen gebracht wurden. Vielleicht sehe ich das alles zu sehr aus der Perspektive der cinematographisch desertifizierten Region Thüringen, aber wenn Eskalierende Träumer für ein komplettes Wochenende entscheiden können, was in einem offiziell-offiziösen Deutschen Filmmuseum im Programm lief und damit auch noch so durchschlagenden Erfolg hatten, dann gibt es doch Hoffnung für die Filmkultur in Deutschland. Weiter so!


Persönliches Ranking

Ganz ganz groß

LA NOTTE DEI SERPENTI

ROLF

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA

ARCANA


Herausragend

UN UOMO DA RISPETTARE

PHENOMENA

DIABOLIK

LA FINE DELL‘INNOCENZA


Sehr gut

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO


Ganz okay

INGRID SULLA STRADA

CHI È SENZA PECCATO...

LA SPOSINA


Geht so

LA RIVOLTA DEI SETTE


Nicht klassifizierbar – mit großer Vorsicht zu behandeln

SVEZIA INFERNO E PARADISO/SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?