Mittwoch, 24. Dezember 2014

Keaton paranoid

Es gibt über Alfred Hitchcock die schöne Anekdote, wonach sein Vater ihn einmal als kleines Kind für eine Viertelstunde von einem befreundeten Polizisten in eine Häftlingszelle einsperren ließ – ein traumatisches Erlebnis, das Hitchcocks lebenslange Furcht vor der Polizei inspiriert haben soll und maßgeblich das Motiv des von der Ordnungsmacht unschuldig Verfolgten prägte. Doch vielleicht hat Hitch in seinen frühen Zwanzigern einfach nur Buster Keatons Kurzfilme THE GOAT und COPS im Kino gesehen?
In beiden Filmen geht es um einen unschuldigen Mann (gespielt von Keaton selbst), der von der Polizei für Verbrechen verfolgt wird, die er nicht, oder zumindest nicht bewusst begangen hat. Das ganze wird mit den Mitteln der Slapstick-Komödie verhandelt, und gerade dadurch nehmen diese Verfolgungen aberwitzige und groteske Züge an – und ähneln schließlich gar einer paranoiden Fantasie mit latent düsteren und morbiden Komponenten.


THE GOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Malcolm St. Clair
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (der Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Polizisten), Malcolm St. Clair (Dead Shot Dan)


Ein offenbar bedürftiger Mann (nennen wir ihn im Folgenden der Einfachheit halber Buster) steht in der Schlange einer Armenspeisung. Aufgrund von für den Zuschauer lustigen und für ihn eher betrüblichen Zufällen und Missgeschicken geht er leer aus. Er geht weiter seines Wegs und bleibt am vergitterten Fenster einer Polizeistation stehen, wo der Verbrecher Dead Shot Dan gerade zwecks polizeilicher Registrierung fotografiert wird. Dieser erblickt Buster hinter sich und reagiert blitzschnell: er bückt sich kurz, löst die Kamera aus und fotografiert damit Buster – wenige Augenblicke später flüchtet Dead Shot Dan aus dem Polizeigewahrsam. Buster geht derweilen nichts ahnend weiter und beobachtet einen Passanten, der ein Hufeisen findet, ihn wegwirft und kurz darauf eine Brieftasche voller Geld auf dem Gehweg entdeckt. Offenbar eine gute Idee: Buster will es dem Glücklichen gleich tun, hebt das Hufeisen auf, wirft es weg – und dieses landet mitten im Gesicht eines Streifenpolizisten. Dieser, offenbar mehr gedemütigt als wirklich verletzt, beginnt Buster zu verfolgen. Rasch gesellen sich andere Ordnungshüter zu der Jagd. Zwischendurch beschützt Buster tatkräftig eine junge Frau und ihren Hund vor einem Passanten, der über die Leine gestolpert ist und dann gegenüber der Dame grob wurde.

Schließlich gelingt Buster die Flucht in eine andere Stadt, wo mittlerweile das Foto des flüchtenden Dead Shot Dan in allen Zeitungen zu sehen ist – wohlgemerkt das falsche Bild, auf dem eben Buster in einem suggestiven Dekor zu sehen ist. Der Gesuchte sieht schließlich selbst ein gigantisches Fahndungsplakat mit seinem Konterfei, und wird sofort von schweren Gewissensbissen geplagt: er befürchtet, den Mann, der die junge Frau mit dem Hund belästigt hat, getötet zu haben (in Wirklichkeit war dieser nur für wenige Sekunden K.O.). Panisch rennt er vor dieser Vision davon und kracht in einen dicken Mann, der sich als Polizist entpuppt. Einige fiese Jungs planen genau in diesem Moment einen Anschlag auf den kräftigen Ordnungshüter, und am Ende sieht das ganze natürlich so aus, als hätte Buster versucht, den Polizisten zu töten. Nun wird er wegen leichter Verletzung eines Polizisten, Mord und versuchtem Polizistenmord gesucht – wobei er in letzteren beiden Punkten unschuldig ist. Durch Zufall trifft er auf die junge Frau mit dem Hund, die ihn freundlich zum Essen bei ihren Eltern einlädt. Die Mutter ist erfreut, der Vater kommt später hinzu – und entpuppt sich, natürlich, als der dicke und große Polizist von vorhin. Eine Verfolgungsjagd durch das Treppenhaus und die Aufzüge des Gebäudes folgt, die Buster für sich entscheiden kann, bevor er dann die junge Frau zur Hochzeit wegtragen kann.

Polizisten überall!
Die massive Verfolgung, die Buster Keatons Held durchzustehen hat, ist geradezu grotesk überzeichnet. Die Polizisten sind schier überall! Hinter jeder Straßenecke scheint sich ein Ordnungshüter zu verstecken, der nur auf Buster aufzulauern scheint – oder in den Buster einfach gleich mit voller Laufgeschwindigkeit reinkracht. Ein Fluchtmanöver, bei dem sich der Verfolgte an ein fahrendes Auto ranhängt (bei Keaton natürlich wortwörtlich), endet damit, dass er vor den Füßen eines Polizisten abgeladen wird. Eine Gruppe von Verfolgern wird der agile Mann dadurch los, dass er sie in einen Umzugstransporter lockt und einsperrt – nur, damit die Polizisten wenig später vor seinen Füßen abgeladen werden (erneut: wortwörtlich). Der einzige Schutzort, den Buster aufsuchen kann (die Wohnung der jungen Frau mit dem Hund), entpuppt sich als Höhle des Löwen. Und während der wilden Verfolgung durch das Treppenhaus sucht Buster Zuflucht in einer fremden Wohnung: dort wartet ein Polizist, der gerade seine Pistole reinigt (wohl, damit sie noch besser schussbereit ist), während die Zeitung mit Dead Shot Dans (also Busters) Fahndungsfoto auf einem Tisch neben ihm ausgebreitet ist. Kurz: Buster gerät in eine alptraumhafte Welt, die scheinbar fast nur von Polizisten bewohnt ist, die es auf ihn abgesehen haben. Dieses paranoide Universum wird noch bedrohlicher, als man ihn seiner Wahrnehmung nach sogar umzubringen gedenkt (Buster landet, mit einem weißen Tuch überdeckt, auf einer Krankenhausbahre in den Vorraum eines OP-Saals und ein Handwerker, der gerade irgendetwas an den Fensterläden repariert, lädt seine „bedrohlichen“ Gerätschaften kurz auf ihn ab). Dieser ganze Alptraum wird am Ende deus-ex-machina-artig aufgelöst, als Buster den Polizisten mit dem Aufzug durch die Decke des Gebäudes herausschießt – es hatte sich herausgestellt, dass nicht der Aufzug die Etagenanzeige kontrolliert, sondern umgekehrt der Zeiger der Etagenanzeige den Aufzug bewegt. Eine typische und sehr poetische Keaton-Idee.

Rasende Lokomotive, ruhiger Keaton
Das paranoide Verfolgungsszenario ist in eine erquickliche Anzahl dichter visueller Gags eingebaut, die mit ihrem Erfindungsreichtum, ihrem Gespür für Raum und Timing alle demonstrieren, dass Keaton schon 1921 auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft stand. THE GOAT dauert nur knapp 20 Minuten, und dennoch ist es kaum möglich, alle ausführlich zu nennen.
Die Faszination mit Autos und Zügen, also mit schnellen (und gefährlichen) Fortbewegungsmitteln, genießt Keaton in vollen Zügen. Das betrifft nicht nur die vorhin erwähnte Szene, in der er sich an ein Auto ranhängt und weggeschleift wird, sondern auch eine andere Autoflucht, die deutlich misslingt: Buster springt auf den Ersatzreifen am Heck eines Autos, das gerade wegfahren will – doch das Auto fährt ohne ihn weg, denn der vermeintliche Ersatzreifen ist in Wirklichkeit ein zum Werbeschild für eine nahegelegene Autowerkstatt umfunktionierter Reifen auf einem Ständer.
Auf einer richtig großen Kinoleinwand sicher sehr beeindruckend ist die Fahrt eines Zuges, der frontal in Richtung Kamera rast und kurz vor „Aufprall“ eine Vollbremsung macht, während Buster mit regloser Mine vorne auf der Lokomotive sitzt. An anderer Stelle lässt Keaton eine Lokomotive mit vielen Zügen auf Straßenbahnschienen durch eine belebte Innenstadt rasen, womit er seine Verfolger für kurze Zeit abschneidet.
Geradezu genial ist das Timing in der Wohnung der jungen Frau mit dem Hund: Buster wähnt sich in Sicherheit, setzt sich an ein Ende der Tafel und beginnt mit dem kleinen Hund zu spielen, während hinter seinem Rücken sein Verfolger erscheint, sich an das andere Ende der gedeckten Tafel setzt und beide erst nach dem Tischgebet merken, wem sie gegenüber sitzen. Wie Buster kurz darauf aus der Wohnung flüchtet, obwohl der Polizist die Wohnungstür abgeschlossen und sich davor aufgebaut hat, ist allerreinste Keaton-Akrobatik (und dürfte für beide Beteiligte nicht ganz ungefährlich gewesen sein).
Der Höhepunkt von THE GOAT ist dann die wilde Verfolgungsjagd durch das Gebäude, in dem Treppen, ein Aufzug, ein Aufzugschacht und eine Telefonkabine die Grundlage eines minutiös choreografierten Balletts bilden.



COPS
USA 1922
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (ein Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Bürgermeisters)


Die narrative Grundidee von THE GOAT (Unschuldiger wird von Polizisten verfolgt) wird in COPS, der nicht ganz ein Jahr später herauskam, in einer radikalisierten, zugespitzten und kompromissloseren Variante präsentiert.

Ein Mann (er ist ohne Namen, aber wir können ihn zwecks Anschaulichkeit gerne Buster nennen) erhält von seiner Verlobten ein Ultimatum: sie wird ihn erst heiraten, wenn er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist. Betrübt geht Buster auf die Straße und sieht, wie ein Passant seine Brieftasche verliert. Hilfsbereit hebt er sie auf, um sie zurückzugeben, doch der große und kräftige Mann reagiert grob und stößt den ehrlichen Finder zurück. Er ruft sich ein Taxi und stolpert beim Einsteigen. Buster will ihm schon wieder helfen, und erneut reagiert der griesgrämige Mann mit brachialer Grobheit. Als das Taxi weggefahren ist, sehen wir, dass Buster sich zwischenzeitlich doch anders entschieden hat und dem Mann das Geld nun doch geklaut hat (was wir ihm als Zuschauer nicht wirklich verübeln können). Durch ein geschicktes Manöver stiehlt ihm Buster dann auch noch das Taxi, und frustriert bleibt der Bestohlene zurück – sein Jackett rutscht etwas zur Seite und enthüllt eine Polizeiplakette.
Mit dem relativ dicken Bündel Geld zahlt Buster das Taxi. Dies sieht ein zwielichtiger Mann, stellt sich vor einem großen Haufen Hausrat auf dem Bürgersteig und weint Buster so lange etwas vor, bis er ihm den Hausrat abkauft. Der erpresste Verlobte möchte nun „seinen“ Hausrat wiederverkaufen, um zu zeigen, dass er ein guter Geschäftsmann ist. Doch der Hausrat gehört einer Familie, die umzieht, und ihm natürlich den Hausrat überlässt, als er mit einem eben frisch besorgten Pferd und einer Kutsche erscheint – weil sie ihm mit einem Umzugsarbeiter verwechselt. Nun trottet die Kutsche vor sich her. Buster hat zur Verkehrssicherheit eine Apparatur aufgebaut, die an den Seiten hinausschnellt, um den Richtungswechsel anzuzeigen. Beim nächsten Wendemanöver bekommt natürlich ein Verkehrspolizist eins auf die Nase.
Ein wenig später gerät Buster mit seiner beladenen Pferdekutsche in eine Polizistenparade. Etwas zerstreut merkt er das überhaupt nicht, und glaubt sogar, dass die Akklamationen der Tribünen am Straßenrand ihm gelten. Derweilen hat sich ein Anarchist auf einem nahegelegenen Dach postiert, zündet eine Bombe an und wirft sie in die Parade. Die Bombe landet neben Buster auf den Kutschensitz, der die brennende Lunte als Feuerzeug für eine Zigarette nutzt und gedankenabwesend danach die Bombe hinter sich wirft – direkt in die paradierenden Polizisten. Panik bricht aus. Alle Anwesenden haben nur gesehen, dass der Kutschenfahrer eine Bombe geworfen hat, und nun sind alle Polizisten der Stadt hinter Buster her. Zu Dutzenden, ja zu Hunderten verfolgen sie den vermeintlichen Terroristen. Der hemdsärmlige Mann, der eigentlich mit seiner Familie umzieht, macht sich derweilen auf die Suche nach dem Umzugsarbeiter – und zieht dafür seine Polizistenuniform wieder an. Über viele Umwege, unter anderem über eine auf einer Palisade balancierende Leiter, gelingt es Buster, der Polizei zu entkommen. Als Polizist getarnt begegnet er auf der Straße seiner Verlobten, die erkennt, dass er offenbar kein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, ihn mit Verachtung anschnaubt und dann pikiert wegläuft. Daraufhin ergibt sich Buster resigniert dem mittlerweile rasenden Polizistenmob und geht in den sicheren Tod.

Aberdutzende Polizisten!
COPS beginnt langsamer als THE GOAT, baut aber im letzten Drittel ein Showdown auf, das zumindest in der schieren Menge der Komparsen den Vorgängerfilm in den Schatten stellt. Doch man könnte es auch als langsames Crescendo sehen. Busters teils bewusste, teils unbewusste Gesetzüberschreitungen bauen sich nach und nach auf. Es fängt damit an, dass er einen Polizisten beklaut: allerdings ohne Wissen, dass es sich um einen Ordnungshüter handelt, sondern eher als eine kleine Rache gegen einen Mann, der ihn als „Dank“ für seine Hilfsbereitschaft grob herumschubst. Weiter geht es damit, dass er den Hausrat eines Polizisten „stiehlt“, allerdings völlig unbewusst: denn Buster ist auf einen Betrüger reingefallen (und dass der hemdsärmlige Mann ein Polizist ist, erfahren wir erst später). Schließlich schlägt Buster einen Polizisten zwei mal mit seinem improvisierten Kutschen-Blinker und wirft eine Bombe auf eine Polizistenparade – beides ebenfalls völlig unbewusst. Ihm passiert das selbe wie in THE GOAT: er ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort unter den falschen Umständen und gerät als Unschuldiger durch eine Verkettung scheinbar harmloser Situationen in einen Alptraum aus rasender Verfolgung.

Ein potenzierter Alptraum: um die Ecke lauert nicht mehr ein Polizist oder wenn es hochkommt zwei bis vier, sondern Aberdutzende, gar Hunderte – eine Massenchoreographie des Schreckens. Ja, des Terrors. COPS endet damit, dass ein im Grunde unschuldiger Mann von einem tobenden Mob (off screen) erschlagen wird. Gleichwohl Keaton in seinem Werk neben surrealistischen und poetischen auch immer wieder schwarzhumorige Elemente einbaute, findet sich hier die wohl morbideste und makaberste Filmwendung seiner Karriere. Auch sein COLLEGE von 1927 endete mit einem Grabsteinbild, dem allerdings kein gewaltsamer Tod vorausging. Die zugespitzte paranoide Welt voller Polizisten findet ihren Höhepunkt, als Buster selbst zum Polizisten wird (als Tarnung). Die Paranoia wendet sich gegen ihn, und es scheint hier auf bittere Weise folgerichtig, dass die Erlösung nur durch den Tod kommen kann.

Neben dem Motiv des unschuldig Verfolgten enthält COPS wie auch THE GOAT (aber auch andere Keaton-Filme wie z. B. CONVICT 13), in zugespitzter Weise das „proto-Hitchcock‘ianische“ Motiv des multiplen Identitätstausches (bzw. „proto-Lang‘ianisch“, wenn man bedenkt, dass Hitch von Fritz Lang beeinflusst wurde – und in diesem Sinne ist es wieder „post-Feuillade‘isch“). Es gibt wohl kaum eine Figur in COPS mit fester Identitätszuschreibung, denn alle Akteure fallen auf Identitätsverwechslungen ein. Der unglückliche Verlobte wird aus Rache zum Taschendieb, dann zum neureichen Herr und Betrugsopfer, später zum Umzugshelfer, schließlich zum Terroristen, um als Polizist und schließlich Opfer eines Mobs zu enden. Eine tödlich endende „große“ Eskalation der Identitätsverwechslungen, der sich in „kleinere“ Verwechslungseskalationen aufsplittet. Rein legal etwa „stiehlt“ Buster das Pferd und die Kutsche: er übersieht, dass das Verkaufsschild zum Pferd mit der Kutsche eigentlich ein Herrenjackett vor einem naheliegenden Bekleidungsgeschäft betraf, und drückt dem vermeintlichen Kutscher die fünf Dollar in die Hand – doch dieser war eigentlich nur ein zufällig dort sitzender Mann, der nun das unerwartete Geld nutzt, um gleich eben erwähntes Jackett zu kaufen (Buster wird ein „guter Geschäftsmann“ – von seinen „Geschäften“ profitieren aber eben nur andere).

Buster im Knast? Na... doch nicht!
Die schiere Dichte an visuellen Gags, die THE GOAT zwischendurch fast explodieren lassen, erreicht COPS zwar nicht, aber auch dieser Film enthält immer noch genug große Keaton-Momente. Das beginnt natürlich mit den ersten Bildern, die Buster in trübseliger Stimmung hinter Gittern zeigt, während eine junge Frau vor den Gittern auf ihn einredet. Das sieht aus, als erhielte ein Gefangener Knastbesuch. Doch ein Schnitt offenbart, dass dies kein Gefängnis ist, sondern das Gittereingangstor eines Hauses (womit gewissermaßen die darauf folgenden Verwechslungen, Wahrnehmungslücken und Identitätsstörungen schon vorweggenommen werden). Diesen Moment kann man sicher auch als kleine Insider-Anspielung auf THE GOAT sehen, in dem ebenfalls ein Bild Busters hinter Gittern zu sehen ist, das eigentlich „falsch“ ist.
Ein besonders bizarrer Gag, den man wohl in gallizistischem Amerikanisch wohl „risqué“ nennen würde und der ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft des Joseph Breen nicht mehr möglich gewesen wäre, arbeitet wieder mit einer Identitätsverwechslung. Das Kutschenpferd, das Buster „gekauft“ hat, fängt an zu bocken, und der „falsche Umzugshelfer“ erblickt in der Nähe ein Schild mit der Aufschrift „Dr. Smith, goat gland specialist“. Eine indirekte Anspielung auf THE GOAT? Buster hält auf jeden Fall den besagten Smith für einen Tierarzt (wenn der schon was mit Ziegendrüsen macht). In Wirklichkeit wütete in den 1920er ein Scharlatan namens John Brinkley, der mit der Transplantation von Ziegendrüsen männliche Schwäche (also Impotenz) heilen wollte. Das klingt alles witziger, als es in Wirklichkeit ist, denn nach diesen Operationen starben offenbar zahlreiche Patienten an Infektionen. Jedenfalls bringt Buster sein bockiges („schwaches“) Pferd zu besagtem Dr. Smith. Als er herauskommt, ist das Tier tatsächlich wesentlich belebter, ja sogar so quicklebendig, dass er schwer zu kontrollieren ist. Buster selbst hält kurz inne, scheint zu überlegen, kehrt dann zu Dr. Smith ohne das Pferd zurück – um seinen liegengebliebenen, charakteristischen pork-pie-Hut zu holen. Eine kleine zusätzliche Notiz zu den John Brinkley und seinen Ziegendrüsen, die sogar die Filmindustrie beeinflussten: „goat gland“ ist auch die Bezeichnung für Filme aus den Jahren 1927 bis 1929, die als Stummfilme gedreht wurden, und in denen nach Fertigstellung noch Tonpassagen eingefügt wurden (ein Beispiel wäre etwa Hitchcocks Tonversion von BLACKMAIL).
Ein wie ich finde sehr typischer, poetischer Keaton-Moment folgt in der Interaktion Busters mit „seinem“ Pferd. Das Tier verhält sich im Allgemeinen recht schwierig, und so kramt Buster ein Elektrogerät aus dem Hausrat hervor, setzt dem Pferd Kopfhörer auf, dreht die Kurbel des Fernsprechers und sagt seine Befehle in den mit den Kopfhörern verbundenen Sprachtrichter hinein: das Pferd reagiert darauf williger als auf „direkte“ Sprachbefehle.
Akrobatischer Höhepunkt von COPS ist natürlich die Leiter-Szene. Buster klettert eine lange Leiter hoch, die an einer Palisade angelehnt ist. Die Leiter ist etwa doppelt so hoch wie besagte Palisade, kippelt daher rasch von einer Seite auf die andere, bis sie irgendwann im Gleichgewicht balanciert, als sich ein Polizist gegenüber Buster an sie ranhängt. Von beiden Seiten eilen Polizisten heran, die mit der Leiter ein „Tau-Ziehen“ um Buster veranstalten, der nach Gleichgewicht suchend sogar Rückwärtsrollen machen muss. Schließlich wird er weggeschleudert – und landet natürlich auf direkt auf den von Joe Roberts dargestellten Polizisten.


Dies war nun die letzte Filmbesprechung bei „Whoknows Presents“ in diesem Jahr. Anfang Januar folgt mein persönlicher Rückblick auf das Filmjahr 2014. Und 2015 kommen dann neue Besprechungen von Manfred und mir.

Doch bis dahin wünsche ich all unseren Lesern frohe Weihnachten...


...und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Sonntag, 7. Dezember 2014

Ein verprügeltes Gesicht, Edgar Ulmers Geist und Steven Seagal


GUTSHOT STRAIGHT
USA 2014
Regie: Justin Steele
Darsteller: George Eads (Jack Daniel), Stephan Lang (Duffy), AnnaLynne McCord (May), Ted Levine (Lewis), Vinnie Jones (Carl), Steven Seagal (Paulie Trunks)



Auf dem Cover der deutschen DVD von GUTSHOT STRAIGHT sieht man Steven Seagal, der offensichtlich gerade frisch von einem Photoshop-Termin kommt und mit einer Pistole auf irgendetwas außerhalb des Bilds zielt. Unter ihm zielen auch drei weitere Gestalten (die übrigens im Film überhaupt nicht auftauchen) auf irgendwelche unbekannten Ziele. Alles klar, ein typischer Seagal-Actioner, denkt man sich: er spielt mal wieder einen Ex-CIA-Ex-Irgendetwas-Typen mit einem Hang zu ostasiatischer Mystik, der stinkesauer ist, weil Böswatze seiner Frau/seiner Tochter/seinem Buddy etwas schlimmes angetan haben und der jetzt noch schlimmere Sachen mit besagten Böswatzen anstellen wird.

Doch im Prolog wird zunächst ein Typ mit einem zerschlagenen Gesicht zu Seagal geführt, der in Patenmanier gemütlich hinter einem Büroschreibtisch sitzt. Er hantiert mit einer riesigen, phallischen Zigarre herum, spricht mit einer Stimme, die Batman wie eine zwölfjährige Sopranchoristin klingen lässt und auf dem Kopf trägt er etwas, das wie ein besonders aufwendiges Toupet aussieht (oder wie ein totes pelziges Tier). Nach einigen strengen Worten und der salbungsvoll vorgetragenen Frage, ob er denn sein Freund sei, bietet er dem Typen mit dem zerschlagenen Gesicht eine Pistole an. Vorspann. Und was für ein Vorspann: als würden wir uns in einem James-Bond-Film befinden. Popart-Credits der Extraklasse, die die schlechtesten unter den 007-Vorspännen qualitativ bei weitem übertrifft und mit einem tollen Song unterlegt ist. Dann folgt eine Szene in einem Casino in Las Vegas. Jack, der Typ, der im (chronologisch späteren) Prolog mit zerschlagenem Gesicht Trübsal geblasen hat, stolziert mit breitem Lächeln auf seinem makellosen Gesicht durch die Spielhalle, plaudert freundlich mit einem Croupier, setzt sich dann an einen Pokertisch und provoziert eine schwarze Spielerin so lange mit einem rassistischen Witz, bis er gewinnt...

Die ersten paar Minuten von GUTSHOT STRAIGHT sind eine ziemlich „schlechte“ Vorbereitung auf das, was schlussendlich folgt: kein Seagal-Actioner, kein Pseudo-Bond-Film, und auch kein Casino- & Zockerfilm, sondern eine Perle von einem fiesen kleinen neo noir. Ein neo noir, der sich nicht an der glamourösen Seite des klassischen noirs orientiert, mit ihren klassischen Schönheiten Lauren Bacall und Rita Hayworth sowie ihren kernigen Helden Humphrey Bogart und Robert Mitchum, die in luxuriösen Bars und Nachtclubs ihren Intrigen nachgingen, sondern am schäbigen poverty-row-noir mit seinen wirklich kaputten Randexistenzen und seinen schmierigen Cafés. GUTSHOT STRAIGHT erinnert aus mehreren Gründen bisweilen an Edgar Ulmers DETOUR. 

Aber der Reihe nach... Jack mag am Anfang die ganze Zeit lächeln, aber das ist nur ein Abwehrmechanismus. Im Casino wird er von einem mysteriösen Mann angesprochen, der ihm seine Visitenkarte gibt, ihm dann irgendetwas von Geld und Möglichkeiten erzählt und dem notorischen Spieler sogar anbietet, ihn bei einem Pokertisch mit großen Einsätzen auf Pump einzukaufen. Jack schickt den Mann zum Teufel – und als er zu Hause ankommt, wird er erst einmal von Typen verprügelt, denen er noch Geld schuldet. Die Schläger machen unwiderruflich klar, dass sie bald für den Restbetrag vorbeikommen werden (zumal einer von ihnen vom markanten Vinnie Jones gespielt wird). Das restliche Geld will Jack bei seiner Bank anpumpen, doch trotz Anflirtens der jungen Bänkerin wird er mit Nachdruck weggeschickt.

Jack in misslicher, Duffy in hedonistischer Position
Drinks im Stripclub, Anbahnung von Poolsex mit Voyeur
So ruft Jack den mysteriösen Fremden aus dem Casino doch noch an, um sich wegen der „Möglichkeiten“ zu erkundigen. Ein Termin in einem schummerigen Stripclub wird vereinbart, wo beide sich beschnuppern. Duffy, der Fremde, scheint ziemlich reich zu sein, spendiert sämtliche Drinks, und verliert zwei Wetten an Jack (er soll mit vier 50-Dollar-Scheinen eine Bierflasche öffnen und diese danach mit bloßen Händen zerschlagen). Nach Ladenschluss nimmt Duffy Jack in sein Haus mit und bietet ihm dort eine ganz große Wette an: 10.000 Dollar, wenn Jack mit seiner Ehefrau schläft – und 20.000, wenn er dabei zugucken darf. Für Jack ist das – so attraktiv er Duffys Ehefrau gleich beim ersten Anblick offenbar findet – etwas zu viel. Doch als er sich davon machen möchte, schlägt Duffy ihn K. O. Als Jack wieder aufwacht, ist nur noch seine Ehefrau im Haus, und dann bahnt sich zwischen den beiden doch etwas im Pool an. Plötzlich steht der reiche Exzentriker daneben, eine Tasche voll Geld in der Hand. Das nimmt Jack nun wieder alle Lust, aber als er wiederholt gehen möchte, kommt es zu einem Gerangel zwischen den beiden Männern. Duffy fällt unglücklich, bricht sich das Genick und ist tot.

Lewis "erkennt" Jack
Femme fatale May
Während Jack in Panik auszubrechen droht, nimmt die Ehefrau die Gesamtsituation mit großer Gelassenheit und sogar einer gewissen Freude auf, warnt Jack jedoch davor, die Polizei zu benachrichtigen: er wisse ja nicht, was für ein Mensch Duffy wirklich gewesen sei. In einer Nacht- und Morgengrauen-Aktion wird die Leiche erst einmal beseitigt. Am nächsten Morgen fühlt sich für Jack alles wie ein entfernter Alptraum an, doch das Erwachen kommt jäh: er hat sein Portemonnaie in Duffys Villa vergessen und muss dieses wieder beschaffen. Als er vor dem Hauseingang rumschleicht, grüßt ihn plötzlich ein Mann, namens Lewis. Es ist Duffys Bruder, der sich rasch an Jack von einer vergangenen Pokernacht erinnert und ihn freundlich in Duffys Haus bittet. Mit einem Lächeln im Gesicht macht Lewis immer wieder versteckte Anspielungen darauf, dass er wohl ahne, dass irgendetwas komisches vorgefallen ist.
Das nächste Treffen zwischen Jack und Lewis in einem Casino verläuft noch unerfreulicher. Denn nun erklärt ihm Lewis, dass er sehr wohl wisse, dass Jack Duffy getötet hat. Er sei aber bereit, die Sache zu vergessen und Jack und seine Tochter (der Spieler hat eine Frau und eine Tochter, von denen er getrennt und entfremdet lebt) am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Jack soll Duffys Ehefrau ermorden. Einfacher gesagt als getan, denn nun fühlt sich Jack erst recht zu ihr, May, angezogen. Da es ihm aber auch um das Leben seiner Tochter geht, sucht er den großen Kredithai Paulie auf, um ihn um Ratschlag und eine Pistole zu bitten. Paulie gibt sie ihm mit dem Tipp, sie Lewis nutzen zu lassen. Beim Showdown schließlich prügelt Jack Duffys Bruder nieder. May nimmt Paulies Waffe und will damit Jack töten. Die präparierte Pistole explodiert aber und schießt nach hinten, direkt in Mays Gesicht. Und als Lewis wieder aufwacht und sich erneut auf Jack stürzt, taucht Paulie mit seinen Schlägern auf, erschießt Lewis und spricht das Urteil über Jack: er solle Duffys Geld nehmen und für immer aus Las Vegas verschwinden. Nachdem er die Geldtasche bei seiner Ex-Frau und seiner Tochter deponiert hat, macht Jack genau das: ohne Geld, mit nur einem klapprigen Auto und einem geschundenen Gesicht fährt er weg.

Ein glanzloser Antiheld, der in eine sexuell aufgeladene, gewalttätige Intrige voller wunderlicher und absurder Wendungen gerät. Zwielichtige Gestalten und eine femme fatale, deren Vertrauenswürdigkeit stets auf der Kippe steht, weil überall Verrat lauert. GUTSHOT STRAIGHT ist ein fast schon puristischer neo noir. Doch was hat es mit dem DETOUR-Vergleich auf sich?

Jack Daniel erscheint wie eine Wiedergeburt von Al Roberts, dem glücklosen Protagonisten von DETOUR und der wahrscheinlich miserabelsten Figur, die der klassische film noir hervorgebracht hat: ein Loser, der selbst im heruntergekommensten Café der ganzen Stadt noch seine Würde verliert und angepöbelt wird. Sicher: Jack ist kein gescheiterter Künstler wie Al, sondern nur ein gescheiterter Pokerspieler. Und im Gegensatz zu Al scheint er zumindest eine halbwegs bürgerliche Vergangenheit zu haben, mit Ehefrau, Tochter und bescheidenem, aber solidem Eigenheim. Der tiefe Masochismus jedoch, der Al kennzeichnete, fehlt ihm. Doch auch Jack kann seine Würde nur in Scherben mit sich herumtragen: Paulies Schläger lachen ihn aus, Paulie selbst behandelt ihn wie einen kleinen Lausbub, bei seiner Bank kriegt er quasi Hausverbot, und die Bartenders der schummerigsten Stripclubs behandeln ihn von oben herab.


Das zerschlagene Gesicht mit den ganzen Blutergüssen trägt Jack durch den ganzen Film (hinzu kommt über die meiste Laufzeit auch ein T-Shirt mit blutverschmiertem Kragen), und auch wenn man die Ursache dafür sieht, nämlich die Tracht Prügel zu Beginn, erscheinen diese Zeichen eher ein existentieller Bestandteil seiner Person zu sein als die Folge eines Ereignisses. Das erinnert ein wenig an den permanenten Schweißfilm auf Al Roberts Gesicht: kein Zeichen der Temperaturverhältnisse oder irgendeiner Anstrengung, sondern Ausdruck existentieller Verzweiflung. Blutergüsse und Schweiß – Jack Daniel und Al Roberts tragen die Essenz ihres Daseins sichtbar im Gesicht.

Mit DETOUR verbindet GUTSHOT STRAIGHT sicherlich auch einige Versatzstücke des Plots: ein Mann tötet aus Versehen einen anderen Mann und wird dann von jemandem erpresst, der genau das weiß (gleichwohl die blasse AnnaLynne McCord nicht annähernd an Ann Savage rankommt). Doch mehr als alles hat der Film von 2014 ein ähnliches „Feeling“ wie der Klassiker aus dem Jahre 1945: es ist das „Feeling“ eines B-Films, der er es schafft, zu etwas größerem zu werden, weil er seine eigenen Begrenzungen umarmt.

Trotzdem ist und bleibt GUTSHOT STRAIGHT ein Original. Seine narrative Struktur ist von einer erstaunlichen Klarheit: nach A folgt B, dann C... Doch er lässt die einzelnen Plotpoints als reine Zeichen stehen, gibt ihnen keine Erklärungen, reduziert alles auf das reine Skelett. Dabei nimmt er radikal Jack Daniels Perspektive ein und als Zuschauer verfügen wir nur über seinen Wissensstand (teils sogar noch weniger). So stolpern wir wie er durch diese einfache, aber doch bizarre Geschichte: warum Duffy ausgerechnet ihn für seine sexuelle Fantasien auswählt, warum Lewis May töten will, was nun das genaue Verhältnis zwischen Duffy, Lewis und May ist, warum ausgerechnet er ein Blutbad zu verantworten hat und dann hinter sich lassen muss – Jack wird es nie erfahren. Besonders unklar ist, warum offenbar jeder seinen Namen kennt: Duffy nennt ihn Jack, bevor er sich vorstellen kann, Lewis tut es genau so, ja gegen Ende spricht ihn gar irgendein Türsteher vor einem Pokerspielzimmer einfach so mit Jack an. Alle haben einen Informationsvorsprung vor Jack. Dies erklärt wohl auch die für einen film noir untypische Rauminszenierung (trotz der sehr expressiven Bildgestaltung). Die meisten Einstellungen sind Nah- und Halbnaheinstellungen mit extrem geringer Tiefenschärfe. Selbst einige der Establishing Shots scheinen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden zu sein: die meiste Zeit bewegt sich Jack durch eine Welt, die wie verschleiert wirkt und in der nichts auch nur annähernd deutlich zu erkennen ist. Die Schleier lüften sich auch am Ende nicht – und die zwei weiteren Toten erklären auch nichts weiteres. In Zeiten, in denen Mainstream-Sehgewohnheiten doch stark auf langwierige (Über)erklärungen ausgerichtet sind, wirkt GUTSHOT STRAIGHT erstaunlich frisch.

Was ist aber nun mit Steven Seagal und Vinnie Jones, die schließlich, zumindest auf dem Cover der deutschen DVD, die Credits anführen? Seagal tritt nur kurz im Prolog auf und wird in den Anfangs-Credits nicht erwähnt. Gegen Ende wird die Prologszene  mit leicht alternativen Einstellungen  wiederholt, und dann taucht Seagal ganz am Schluss während des Showdowns auf. Zusammengerechnet kommt wohl nicht einmal fünf Minuten Screentime zusammen. Ein reines Cameo also, der zudem wie ein absurder Fremdkörper wirkt. Denn Seagal teilt sich kein einziges Frame mit dem Hauptdarsteller George Eads: Ihr Dialog ist in Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst. Jacks Hinterkopf, wenn man Paulie frontal sieht, dürfte wahrscheinlich einem Double gehören. Auch im Showdown wird Eads wahrscheinlich von einem Stand-in gespielt, wenn Seagal im Bild zu sehen ist. Kurz: mit dem legendären Actionstar wurden wahrscheinlich irgendwelche halbwegs passenden Szenen gedreht, die dann in GUTSHOT STRAIGHT reingeschnitten wurden. Das würde in einem anderen Kontext lächerlich wirken (und irgendwie ist es ja auch lächerlich), fügt sich aber hier ganz gut in einen Zustand der permanenten Verwirrung und Dissoziation ein, den der Protagonist erlebt. Aber vielleicht hat es auch einen Sinn: Seagal ist am Ende der deus ex machina, der die ganze Geschichte abbricht und ihr einen Schlusspunkt setzt. Seine Paulie-Figur sowie ihre funktionierenden wie auch präparierten Pistolen sind gewissermaßen der materialisierte, wiederauferstandene Geist des schicksalhaften Telefonkabels von DETOUR.

Sehr unglücklich ist natürlich, dass dieser „Pseudo-Seagal-Film“ wie ein echter Seagal-Actioner vermarktet wird. Es gibt in GUTSHOT STRAIGHT keine Action, keine Actionfigur, keine Actionfilmgeschichte. Auch als „einfacher“ Thriller funktioniert der Film kaum, weil er eben vor allem von einer noir-Atmosphäre lebt, die sich nicht in erster Linie durch klassische Spannung auszeichnet. Leider dürfte der Film also einige Mühe haben, ein Publikum zu finden – zumal als direct-to-video-Produktion.


GUTSHOT STRAIGHT ist als DVD in Deutschland und in den USA erhältlich, ab März nächsten Jahres auch in Großbritannien. Außer mangelnden Untertiteln und einem etwas penetranten, chemischen Plastik-Geruch spricht allerdings nichts gegen die deutsche DVD.

Dienstag, 18. November 2014

Großstadt-Kammermusik

Großstadt-Kammermusik? Was ist das nun wieder? Dasselbe wie eine Großstadtsinfonie, nur in kleinerer Form. Das Genre der Großstadtsinfonie (oder, je nach Geschmack, Großstadtsymphonie, engl. city symphony) hat seinen Namen von Walther Ruttmanns BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), von dem auch ungefähr ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen existieren. Der Film zeichnet den Verlauf eines beliebigen Werktags in Berlin nach, ohne individuelle Charaktere - die Stadt selbst und ihre anonymen Bewohner sind die Hauptdarsteller, in fast vollständig dokumentarischen Aufnahmen, zu einem beträchtlichen Teil mit versteckter Kamera gedreht (zwei oder drei Szenen, darunter der Selbstmord einer Frau, wurden aber von Ruttmann inszeniert). Dazu die bewegungs- und schnittsynchrone Originalmusik von Edmund Meisel, die den Film erst zu einer "Sinfonie" machte. Das Prinzip, dem Lauf eines Tages vom Morgengrauen bis in die Abend- oder Nachtstunden hinein zu folgen, wurde auch von anderen Filmen dieses Genres verwendet, wobei Ruttmanns BERLIN nicht der erste Vertreter war. Schon 1921/22 entwickelte László Moholy-Nagy, damals in Berlin und wenig später für einige Jahre als Lehrer am Bauhaus, konkrete Pläne für einen solchen Film mit dem Titel DYNAMIK DER GROSS-STADT, unter Mitarbeit des mit ihm befreundeten Carl Koch (Ehemann und enger Mitarbeiter von Lotte Reiniger sowie Freund und Mitarbeiter von Jean Renoir, siehe dazu hier im letzten Absatz). Doch Moholy-Nagy und Koch bekamen das Geld dafür nicht zusammen. In seinem 1925 erschienenen Buch "MALEREI FOTOGRAFIE FILM" (das auch eine Art Storyboard des Films enthält) schreibt Moholy-Nagy:
Wir [er und Koch] sind leider bis heute nicht dazu gekommen; sein Film-Institut hatte kein Geld dafür. Größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Erscheinenden nicht; andere Filmleute haben "trotz der guten Idee die Handlung [Hervorhebung im Buch] darin nicht gefunden" und darum die Verfilmung abgelehnt. [...]

Der Film "Dynamik der Groß-Stadt" will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein. [...]

Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, - statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert. Die Verbindung der einzelnen, "logisch" nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um sie einander ähnlich zu machen ), durch Blende (indem man z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.
Zumindest auf dem Papier sind hier schon Elemente der Großstadtsinfonien vorweggenommen, und in der 1927 erschienenen zweiten Auflage des Buchs merkt Moholy-Nagy an, dass Ruttmanns soeben herausgekommener BERLIN "ähnliche Bestrebungen" wie sein eigenes Projekt verfolge. - Als erste tatsächlich gedrehte Großstadtsinfonie wird meist RIEN QUE LES HEURES bezeichnet, den der vorwiegend in Frankreich und England arbeitende Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. 1928 bekam Paris mit ÉTUDES SUR PARIS von André Sauvage einen weiteren Film aus diesem Bereich spendiert, und schon im Jahr zuvor, ungefähr zeitgleich mit Ruttmann, inszenierte der Kameramann Michail Kaufman (der Bruder von Dsiga Wertow und Boris Kaufman) gemeinsam mit einem Ilja Kopalin MOSKAU. Weitere Filme, die man zumindest ansatzweise als Großstadtsinfonien bezeichnen kann, entstanden etwa in Sao Paolo und anderswo. Als zweiter und letzter Höhepunkt des Genres nach BERLIN gilt DER MANN MIT DER KAMERA, den Dsiga Wertow (mit Michail Kaufman an der Kamera) 1929 inszenierte. Allerdings ist dieser Film keiner bestimmten Stadt gewidmet, sondern er wurde in mindestens drei verschiedenen Städten gedreht. - In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war New York City zweifellos die Metropole schlechthin, aber ausgerechnet dort entstand merkwürdigerweise keine echte Großstadtsinfonie. Was es aber gab, war eine ganze Reihe von kleineren Filmen, die das eine oder andere charakteristische Element aufwiesen, die nicht individuelle Charaktere (seien sie real oder fiktiv) in den Mittelpunkt rückten, sondern die Architektur, die Verkehrsmittel, die Bevölkerung als anonyme Masse - eben keine Großstadtsinfonien, sondern Großstadt-Kammermusik. Mal stand der dokumentarische Blick im Vordergrund (ohne dass es sich um Dokumentarfilme im engeren Sinn handelte), mal eine lyrische Stimmung oder formale Experimente. Was nun folgt, ist eine natürlich unvollständige und subjektive Auswahl. Die ersten vier Beispiele entstanden als Stummfilme und sind hier mit modernen Soundtracks versehen.



MANHATTA (auch NEW YORK THE MAGNIFICENT)
USA 1921
Regie: Charles Sheeler und Paul Strand

Nein, da fehlt kein N - der Titel lautet wirklich so.



Charles Sheeler (1883-1965) war ein Maler (in einem "präzisionistischen" Stil) und Fotograf, Paul Strand (1890-1976) ein Fotograf und dokumentarischer Kameramann. Er arbeitete nicht nur für Wochenschauen, sondern er war auch Mitglied in den linken Filmkooperativen Nykino und Frontier Films, die aus der 1930 gegründeten Workers' Film and Photo League hervorgegangen waren. Für Sheeler dagegen war MANHATTA der einzige Ausflug zum Film. Die poetischen Texte der Zwischentitel stammen von Walt Whitman. MANHATTA wurde ungeachtet seiner Kürze gelegentlich als erste Großstadtsinfonie überhaupt bezeichnet. Egal wie man dazu steht - ein wichtiger Vorläufer war er in jedem Fall.



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND
USA 1927
Regie: Robert Flaherty



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND ist offensichtlich von MANHATTA beeinflusst - nicht nur einige Einstellungen, auch das ganze Konzept ist recht ähnlich. Robert J. Flaherty (1884-1951) wird oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet. Zwar gab es auch schon vor ihm Dokumentarfilme, auch in seinem Spezialgebiet, dem Ethno-Dokumentarfilm (etwa IN THE LAND OF THE HEAD HUNTERS aka IN THE LAND OF THE WAR CANOES von Edward Sheriff Curtis, 1914), aber mit seinem Erstling NANOOK OF THE NORTH (1922) trug er maßgeblich dazu bei, den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre zu etablieren. Obwohl er vor allem, wie gerade erwähnt, mit Ethno-Filmen assoziiert wird, filmte er auch die moderne industrielle Welt (nach TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND z.B. - in Zusammenarbeit mit John Grierson - INDUSTRIAL BRITAIN.



SKYSCRAPER SYMPHONY
USA 1929
Regie: Robert Florey



Hier also doch noch eine "Symphonie", zumindest dem Titel nach. Der Franzose Robert Florey (1900-1979) ging 1921 in die USA und landete bald in Hollywood. Nach Jahren als Regieassistent bei Studios wie Fox und MGM wurde er in den späten 20er Jahren zu einem Grenzgänger zwischen dem amerikanischen Independent- und Avantgardefilm einerseits und Hollywood andererseits. Auf der Independent-Seite inszenierte er - in Zusammenarbeit mit Leuten wie Slavko Vorkapich, Gregg Toland oder William Cameron Menzies - den grandiosen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, den komplett expressionistischen THE LOVE OF ZERO, den leider verschollenen JOHANN THE COFFINMAKER, und eben die SKYSCRAPER SYMPHONY. Auf der kommerziellem Seite drehte er (zusammen mit einem Joseph Santley) den Marx-Brothers-Film THE COCOANUTS. Danach war er an den Vorbereitungen zu FRANKENSTEIN beteiligt und sogar als Regisseur im Gespräch. Als James Whale den Zuschlag erhielt, durfte Florey zum Ausgleich mit Bela Lugosi die Poe-Verfilmung MURDERS IN THE RUE MORGUE machen. Dieser ebenfalls stark vom Expressionismus beeinflusste Film geriet im Gegensatz zu FRANKENSTEIN zu keinem überragenden Erfolg, und Florey blieb der große Durchbruch versagt. So schlug er schließlich eine Karriere als zuverlässiger B-Film-Regisseur und ab den 50er Jahren als Fernsehregisseur ein.



A BRONX MORNING
USA 1931
Regie: Jay Leyda



Hier nun ein "privaterer" Film, der sich auf ein Stadtviertel beschränkt und näher an den Menschen dran ist als die drei vorherigen Filme. Dass Leydas Blick auch vor dem Rinnstein und Mülltonnen nicht Halt macht, erinnert etwas an den 1930 entstandenen À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) von Jean Vigo (Regie) und Boris Kaufman (Kamera). Ob Leyda den kannte, weiß ich aber nicht. Jay Leyda (1910-1988) kam aus einem ähnlichen Umfeld wie Paul Strand: Er war ziemlich weit links und Mitglied der Workers' Film and Photo League und von Frontier Films. A BRONX MORNING war sein einziger Film in alleiniger Regie (1937 inszenierte er gemeinsam mit Elia Kazan, damals am Group Theatre, und zwei Kollegen von Frontier Films seinen zweiten und letzten Film). Nach A BRONX MORNING ging Leyda nach Moskau, um an der staatlichen Filmhochschule WGIK zu studieren, wo er sich mit Sergej Eisenstein befreundete. Leyda war an den Dreharbeiten zu Eisensteins DIE BESHIN-WIESE beteiligt, der aber von den stalinistischen Filmbürokraten abgebrochen wurde und unvollendet blieb. Leyda entwickelte sich zu einem profunden Kenner des sowjetischen und später auch des chinesischen Films und schrieb für den englischen Sprachraum bahnbrechende Bücher darüber. Nach längeren Aufenthalten in England, China und der DDR kehrte er um 1970 endgültig in die USA zurück, wo er als Dozent für Film an verschiedenen Hochschulen wirkte. Neben seinen filmhistorischen Aktivitäten publizierte er auch Bücher über Herman Melville, Emily Dickinson, Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninow.



3rd AVE. EL
USA 1955
Regie: Carson Davidson



Die Third Avenue El von Manhattan in die Bronx war eine der New Yorker Hochbahnen, die in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen zu sehen sind. 1955 stellte sie in Manhattan den Betrieb ein (in der Bronx erst 1973), und aus diesem Anlass wurde sie noch mehrfach im Film festgehalten - außer in 3rd AVE. EL beispielsweise auch in THE WONDER RING und GNIR REDNOW. Carson "Kit" Davidson ist ein vielfach ausgezeichneter, aber wenig bekannter Regisseur. Die Welt des Films hat er längst hinter sich gelassen, stattdessen arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Medizinpublizistik. Nachdem er sich in jungen Jahren als Neuankömmling in New York vom Tellerwäscher zum Mädchen für alles in einer Filmfirma gesteigert hatte (was man hier in seinen eigenen Worten nachlesen kann), drehte er 3rd AVE. EL mit einer geborgten Kamera in Eigeninitiative und versuchte zunächst vergeblich, einen Verleih dafür zu finden, bis ein "verrückter Russe", der ein Kino besaß, als letzter auf Davidsons Liste ein Einsehen hatte und den Film monatelang als Vorfilm zeigte. Es hat sich gelohnt, vor allem für Davidson, denn 3rd AVE. EL wurde für den Oscar nominiert und gewann diverse Preise. Die Musik stammt von Haydn, Solistin ist die polnisch-jüdische Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska, die 1941 von Frankreich in die USA geflüchtet war. Sie mochte eigentlich überhaupt keine Filme, aber mit 200 Dollar konnte sie überzeugt werden, Davidson die Rechte zu überlassen. Neben der Fahrt mit der Hochbahn bilden die Versuche, eine verlorene Münze zu bergen, eine Klammer des Films. Damit stellte sich Davidson (vermutlich unbewusst) auch in die Tradition des deutschen "Querschnittfilms" der 20er Jahre, etwa DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES von Berthold Viertel, wodurch auch ein Anknüpfungspunkt zu Ruttmanns BERLIN besteht. - Carson Davidson war zwar hauptsächlich auf dem Gebiet des Dokumentar- und Industriefilms tätig, aber mit HELP, MY SNOWMAN'S BURNING DOWN gelang ihm auch ein witziger Ausflug in den Surrealismus. Auch dieser Film war für den Oscar nominiert, und er gewann über ein Dutzend Preise, darunter einen in Cannes. Weitere Filme von Davidson findet man bei archive.org und YouTube. - Die Bilder aus 3rd AVE. EL wurden für mindestens zwei Musikvideos verwendet, siehe hier und hier.



Den nächsten Film sehen wir gleich zweimal, mit zwei verschiedenen Soundtracks.

BRIDGES-GO-ROUND
USA 1958
Regie: Shirley Clarke



Shirley Clarke (1919-1997) ist vor allem für ihre in einem dokumentarischen Stil inszenierten Spielfilme THE CONNECTION und THE COOL WORLD bekannt, die vom Geist des Direct Cinema beeinflusst sind (Clarke hatte zuvor auch mit Richard Leacock und D.A. Pennebaker gearbeitet), ohne wirklich dokumentarisch zu sein (es ist alles penibel durchinszeniert), sowie für den Portraitfilm PORTRAIT OF JASON über einen exaltierten schwulen schwarzen New Yorker. Doch schon mit BRIDGES-GO-ROUND hat sie eine markante Duftmarke hinterlassen. Clarke konnte und wollte sich nicht zwischen den beiden Soundtracks entscheiden und erklärte kurzerhand beide für offiziell, und schon beim Erscheinen des Films wurde er meist mit beiden Tonspuren hintereinander zweimal gespielt. Teo Macero, von dem die jazzige Musik stammt, war ein Saxophonist, Komponist, Arrangeur und Plattenproduzent (lange Jahre bei Columbia Records). Louis und Bebe Barron, die den elektronischen Soundtrack beisteuerten, gehörten in den USA zu den Pionieren elektronischer Musik- und Geräuschproduktion. Die bekannteste Hervorbringung des Ehepaars war der Soundtrack zum SciFi-Klassiker FORBIDDEN PLANET (1956) von Fred M. Wilcox. Wegen kleinlicher Regularien durften sie seinerzeit nicht als "Komponisten" dieses Films bezeichnet werden, weshalb ihnen auch die sonst mögliche Nominierung für einen Oscar versagt blieb.



GO! GO! GO!
USA 1962-64
Regie: Marie Menken



New York, der Schauplatz urbaner Beschleunigung, im Zeitraffer - eigentlich eine naheliegende Idee, aber man muss sie auch erst einmal so ansprechend umsetzen wie Marie Menken (1909-1970). Da ich in nächster Zeit auf Menken zurückkommen will, soll es das erst einmal gewesen sein.

(Übrigens hat schon 1901 Frederick S. Armitage den Abriss eines New Yorker Theaters im Zeitraffer gefilmt. Er klebte eine rückwärts laufende Kopie und den vorwärts laufenden Film aneinander, so dass das Gebäude scheinbar emporwuchs und dann wieder verschwand, oder andersrum - die Kinobesitzer konnten sich das aussuchen.)

UPDATE:

Ich vergaß zu erwähnen, dass alle Filme außer 3rd AVE. EL auch auf DVD erhältlich sind (zumindest ist mir für letzteren keine DVD bekannt). Die ersten vier Filme meiner Auswahl (und außerdem der kurze Film von Frederick S. Armitage) befinden sich alle im 7-DVD-Set "Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941", das ich hier schon mit drei Beispielen vorgestellt hatte. MANHATTA findet man auch im 2-DVD-Set "Avant-Garde - Experimental Cinema of the 1920s & '30s" (inzwischen out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich), SKYSCRAPER SYMPHONY und A BRONX MORNING auch in der Box "More Treasures from American Film Archives, 1894-1931". BRIDGES-GO-ROUND und GO! GO! GO! finden sich im 2-DVD-Set "Treasures IV: American Avant-Garde Film, 1947-1986".

Montag, 3. November 2014

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.

Freitag, 24. Oktober 2014

Wien noir mal zwei

ABENTEUER IN WIEN (Österreich) bzw. GEFÄHRLICHES ABENTEUER (Deutschland)
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (als Emile Edwin Reinert)
Darsteller: Gustav Fröhlich (Toni Sponer), Cornell Borchers (Karin Manelli), Francis Lederer (als Franz Lederer, Claude Manelli), Inge Konradi (Marie), Egon von Jordan (Krüger), Hermann Erhardt (Ferdl Haintl), Adrienne Gessner (Anna Fraser), Manfred Inger (Polizeikommissär), Michael Kehlmann (Passfälscher), Hans Hagen (Dirigent)

STOLEN IDENTITY
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (ungenannt), Gunther von Fritsch (als Gunther Fritsch)
Dialogregie: Elizabeth Montagu
Darsteller: Donald Buka (Toni Sponer), Joan Camden (Karin Manelli), ansonsten wie ABENTEUER IN WIEN

Zweimal Toni und Karin - links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY
An einem Silvestertag in Wien kreuzen sich die Wege von vier Menschen, von denen bald einer tot und ein anderer sein Mörder sein wird. Der Amerikaner John Milton (in ABENTEUER IN WIEN, während er in STOLEN IDENTITY wie im Roman Jack Mortimer heißt) gibt nachmittags am Salzburger Bahnhof ein Telegramm auf, das in Wien schon sehnlichst erwartet wird. In Empfang genommen wird es von Frau Fraser, Haushälterin in der Villa des international gefeierten Pianisten Claude Manelli, für die eigentliche Adressatin, Manellis Frau Karin. Manelli ist ein eifersüchtiger, fast psychopathischer Kontrollfreak, der Karin in einem goldenen Käfig einsperrt, aus dem sie ausbrechen will. Wie man später im Film erfährt, hat er Karin nach einem früheren Fluchtversuch sogar kurz in ein Sanatorium gesteckt und entmündigen lassen, so dass er nun auch ihr Vormund und sie komplett von ihm abhängig ist. Ihre einzige Verbündete in Wien ist Frau Fraser, und mit ihrer Hilfe unternimmt sie einen neuen Fluchtversuch. John Milton ist ein alter Freund von ihr aus Jugendtagen, den sie zuletzt bei ihrer Hochzeit mit Claude gesehen hat, wo er ihr Trauzeuge war. Nun hat sie ihn in einem Brief um Hilfe gebeten, und er kündigt im Telegramm seine Ankunft am selben Abend an. Karin soll in dem Hotel, das er gebucht hat, auf ihn warten, und dann werden beide noch in der selben Nacht um 2:00 Uhr über Frankfurt in die USA fliegen, wo sie endlich frei sein wird. Der Zeitpunkt scheint günstig, denn Manelli steckt gerade in den Abschlussproben für ein Silvesterkonzert mit den Wiener Symphonikern. Aber auch er hat einen Helfer im Haus, nämlich seinen aalglatten Manager Krüger, für den die Karriere seines Chefs alles ist, was zählt. Krüger wartet schon auf Frau Fraser, nimmt ihr das Telegramm ab und überbringt es Manelli, der jetzt über die Absichten von Karin und Milton Bescheid weiß. Er konfrontiert Karin auf demütigende Weise mit seinem Wissen, fühlt sich jetzt sicher und fährt zu den letzten Proben und der anschließenden Vorstellung ins Konzerthaus. Dabei kollidiert er wegen seiner rücksichtslosen Fahrweise fast mit einem Taxi.

Krüger und Frau Fraser (alle Bilder aus ABENTEUER IN WIEN, wenn nicht anders angegeben)
Dessen Fahrer, Toni Sponer, ist der gebrochene Held des Films. Er ist ohne Papiere in Wien gestrandet und steht mit einem Bein im Gefängnis, weil er ohne Lizenz Taxi fährt. Der Wagen gehört dem älteren Ferdl Haintl, mit dem sich Toni die Schichten teilt. Bei dem sympathischen, aber etwas versoffenen Ferdl wohnt Toni auch inoffiziell zur Untermiete. Über seine Vorgeschichte erfährt man wenig. Er ist als Sohn eines Professors in einer Villa mit Park aufgewachsen und hat einen Teil seines Lebens in den USA verbracht, aber es bleibt offen, wie er in seine jetzige desolate Lage geraten ist. Man kann nur vermuten, dass es vielleicht irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt. Jedenfalls ist er jetzt ein Mann ohne Zukunft. Immerhin kümmert sich die im selben Haus wohnende Marie um ihn, so dass er nicht ganz verlottert. - Nach dem Beinahe-Unfall mit Manelli wäre Tonis Schicht eigentlich zu Ende, und er wollte mit Marie Silvester feiern. Aber Ferdl, der jetzt dran wäre, ist sturzbetrunken, so dass Toni noch eine Schicht dranhängt. Und an seinem Standplatz am Westbahnhof steigt John Milton in das Taxi.

Claude Manelli
Nach der Konfrontation mit Claude hat sich Karin zum Schein in ihr Schicksal ergeben, aber sobald er aus dem Haus ist, steckt sie ihre Papiere ein und verlässt die Villa, während Frau Fraser Krüger ablenkt. Doch der bemerkt ihre Abwesenheit schnell und verständigt telefonisch den inzwischen im Konzerthaus befindlichen Manelli. Dieser zieht sich unter einem Vorwand in seine Garderobe zurück, schleicht sich davon und fährt mit seiner Limousine zum Bahnhof, um Milton abzupassen. Nachdem dieser in Tonis Taxi gestiegen ist, folgt Manelli dem Taxi, um auf eine Gelegenheit zu warten. Die ergibt sich, als sich Toni im Büro der Fluggesellschaft um Miltons Gepäck kümmert. Manelli steigt aus und erschießt mit seiner Pistole den im Taxi sitzenden Milton durch die Rückscheibe. Straßenbauarbeiten mit Presslufthammer bewirken, dass niemand etwas hört, und Toni bemerkt erst nach einer Weile, dass er mit einem Toten durch die Stadt fährt. Er will zunächst den Vorfall einem Verkehrspolizisten melden, doch der fordert ihn im Verkehrstrubel nur hektisch zum Weiterfahren auf. Danach betritt Toni eine Bar, um in der dortigen Telefonzelle die Polizei anzurufen, doch als man ihn nach seinem Namen fragt, legt er wieder auf. Und dann betrachtet er die Brieftasche des Toten und gerät ins Grübeln. Es sind nicht die Dollarnoten, die ihn faszinieren, sondern der amerikanische Reisepass, der ein neues Leben mit neuer Identität in den USA verheißt. Toni fasst einen schwerwiegenden Entschluss. Er entsorgt die Leiche an einem Kanal unter einer Eisenbahnbrücke, lässt von einem Passfälscher sein Konterfei in den Pass montieren und macht sich nach einem Zwischenstopp bei Marie auf zu Miltons Hotel, um das dort von der Fluggesellschft hinterlegte Flugticket abzuholen. Doch das Ticket ist noch nicht eingetroffen, so dass er in Miltons Zimmer wartet. Und dort wird er von Karin, die ihrerseits bereits im Hotel auf Milton gewartet hatte, überrascht und zur Rede gestellt. Toni kann nur hilflose Ausflüchte vorbringen, und Karin glaubt, er sei ein Mörder, den ihr Mann beauftragt habe, um Milton aus dem Weg zu räumen. Sie verständigt die Polizei, und Toni, der von den ganzen Hintergründen keine Ahnung hat, wird festgenommen, als er das Hotel verlässt.

Marie
Doch sein Verhör nimmt einen unerwarteten Verlauf. Karin behauptet, es handle sich um einen falschen John Milton, aber der Pass hält dem kritischen Blick des Polizeikommissärs stand, und um Licht in die Angelegenheit zu bringen, ruft dieser im Konzerthaus an, und Manelli bittet den Kommissär, mitsamt dem Beschuldigten zu ihm zu kommen. Eigentlich gegen die Vorschriften, aber der Kommissär ist ein Freund und Kenner klassischer Musik und ein Verehrer von Manelli, und er lässt sich um den Finger wickeln. So macht man sich also auf den Weg, und dann erklärt Manelli zu Tonis Verblüffung, er müsse sich entschuldigen, weil seine Frau unzurechnungsfähig sei und manchmal abstruse und völlig haltlose Anschuldigungen erfinde. Manellis Beweggrund ist klar: Wenn ein John Milton nach Österreich eingereist ist und jetzt ein John Milton auch wieder ausreist, dann ist ja nichts passiert, und niemand wird irgendwelche Fragen stellen. So wird Toni also überraschend wieder auf freien Fuß gesetzt, während Karin, die ihre Felle davonschwimmen sah, sich bereits wieder weggeschlichen hat. Toni macht sich abermals auf zum Hotel, muss aber zu seiner Bestürzung erfahren, dass die inzwischen eingetroffenen Tickets - das für Milton und das für Karin - beide gerade eben von Karin mitgenommen wurden. Sie will Toni damit unter Druck setzen, damit er ihr endlich erzählt, was mit dem echten Milton geschehen ist. Durch den Hotelboy lässt sie ihm ausrichten, wo er sie treffen kann, nämlich im "Kaiserpanorama", eine Art von 3D-Guckkasten-Schau, auch damals schon ein völlig antiquiertes Vergnügen. (Das Wiener Kaiserpanorama war eines der letzten, die noch existierten, und es schloss im Januar 1955 seine Pforten.) Der wie ein Kino abgedunkelte Ort wird von zwei alten Damen beaufsichtigt, die wie nicht mehr ganz von dieser Welt wirken (die eine, die an der Kasse sitzt, hat auch eine Katze auf der Schulter), was der ganzen Szene einen leicht surrealen Touch verleiht. Toni erzählt nun Karin alles, was er weiß, und bei ihrer Unterredung fassen die beiden langsam Vertrauen zueinander. Gemeinsam kommen sie zum Schluss, dass Manelli der Mörder sein muss.

Toni und Ferdl in ihrer Behausung
Weil noch genug Zeit bis zum Flug ist, treffen sich die beiden mit Marie in Haintls Wohnung zu einer kurzen improvisierten Silvesterfeier. Dabei gibt Marie etwas von ihren Träumen preis. Während es Toni jetzt in die Ferne zieht, wäre sie schon glücklich, wenn sie neue Vorhänge und ein neues Sofa hätte, um mit dem richtigen Mann darauf zu sitzen. Es ist recht offensichtlich, dass sie mit dem richtigen Mann Toni meint, aber sie sagt es nicht. Die kleine Feier wird jäh unterbrochen. Inzwischen war Haintl mit dem Taxi unterwegs, und gleich bei seiner ersten Fuhre hat sich eine Dame im von Toni nur notdürftig gereinigten Fahrgastraum ihren Pelz mit Blut besudelt. Sie zeigt es bei der Polizei an, die setzt Haintl unter Druck, und bald steht ein Mannschaftswagen mit einem ganzen Trupp Polizisten vor der Wohnung. Toni und Karin gelingt nur knapp die Flucht über den Dachboden, doch die Polizisten sind ihnen auf den Fersen. Zu Fuß fliehen sie durch enge Durchgänge, über steile Stiegen, in Gassen mit feuchtglänzendem Kopfsteinpflaster, und mitten durch auf den Straßen Silvester feiernde Passanten. Schließlich können sie die Verfolger abschütteln, und bei einer Rast in einem Keller und einer (vermutlich kriegsbedingten) Ruine kommen sie sich noch näher und beschließen, ihre Flucht auch weiterhin gemeinsam fortzusetzen.

Manelli in seiner Garderobe im Konzertsaal
Schließlich fahren sie mit dem Bus zum Flughafen und sind nun schon fast in Sicherheit. Weil aber Karin eine für die Einreise in die USA nötige Impfung fehlt, wird sie mit Toni in den Sanitätsraum gebeten. Doch dort wartet kein medizinisches Personal, sondern Manelli und Krüger. Während Manelli sein Konzert absolvierte, hatte Krüger auf der Suche nach Karin erfolglos telefonisch alle möglichen Hotels abgeklappert. Nach Manellis Rückkehr in die Villa setzte dieser alles auf eine Karte, indem er richtig vermutete, dass sie gemeinsam mit dem falschen Milton, also per Flugzeug fliehen würde. Jetzt stellt er Toni vor die Wahl: Entweder er besteigt unverzüglich und allein das bereits wartende Flugzeug, oder er wird gleich vom Kommissär, den er gegen Krügers Rat auch hinzugerufen hat, als der Mörder des echten Milton verhaftet. Weil jetzt auch Karin keine Chance mehr für sich sieht und ihn zur Abreise auffordert, eilt Toni zum Flugzeug, aber als er schon an der Gangway steht, überlegt er es sich anders. Er gibt dem Kommissär seine wahre Identität preis und beschuldigt Manelli des Mordes an Milton. Manelli bleibt zunächst gelassen und beschuldigt seinerseits Toni, selbst der Mörder zu sein. Aber als Toni behauptet, er habe im Koffer ein Foto von Manellis und Karins Hochzeit mit dem echten Milton als Trauzeugen darauf, verliert Manelli die Nerven und flüchtet zu Fuß über das Rollfeld, wird aber schnell von der Polizei ergriffen. Während die Polizei noch mit Manelli beschäftigt ist, haben Karin und Toni ein paar Augenblicke für sich. Toni wird für seine diversen Vergehen ins Gefängnis müssen, aber vermutlich nicht allzu lange, und Karin verspricht, auf ihn zu warten. Das davonfliegende Flugzeug bildet das letzte Bild des Films.

Vor dem Mord
ABENTEUER IN WIEN und sein englischsprachiger Zwilling STOLEN IDENTITY sind dicht strukturierte und flüssig erzählte Vertreter des Film noir. (Im Folgenden werde ich mit "ABENTEUER IN WIEN" immer das ganze Projekt mit beiden Filmen meinen, wenn es nicht um den direkten Vergleich der beiden Versionen geht.) Auch wenn gelegentlich der Zufall eine Rolle spielt - ausgerechnet an Silvester sorgt ausgerechnet vor dem Büro der Fluggesellschaft ein Rohrbruch für Straßenarbeiten -, greifen im Großen und Ganzen die Handlungselemente auf logische Weise ineinander und werden in überschaubarer Zeit (86 bzw. 84 Minuten) kurzweilig erzählt. ABENTEUER IN WIEN wurde oft mit THE THIRD MAN verglichen, aber man sollte diesen Vergleich nicht überstrapazieren, weil man ersterem Film damit nicht wirklich gerecht wird. Nicht nur, weil er gegen Carol Reeds Geniestreich fast zwangsläufig den Kürzeren zieht, sondern auch, weil es von vornherein auch genug Unterschiede zwischen den Filmen gibt. So spielt die zeitgeschichtliche Situation in ABENTEUER IN WIEN keine Rolle. Weder der Vier-Mächte-Status von Wien, der nicht nur in THE THIRD MAN, sondern auch in Leopold Lindtbergs DIE VIER IM JEEP von 1951 eine zentrale Rolle spielt, wird in ABENTEUER IN WIEN thematisiert, noch die auf sich warten lassende Entlassung Österreichs in die Unabhängigkeit (die erst 1955 erfolgte, und die 1952 Wolfgang Liebeneiners 1. APRIL 2000 inspirierte). Besatzungsbeamte oder -soldaten kommen nicht vor, die neben Milton in Erscheinung tretenden Ausländer sind Touristen, und die Polizei im Film ist rein österreichisch. Im Grunde könnte ABENTEUER IN WIEN in einer beliebigen mitteleuropäischen Großstadt spielen, denn die bekannten Sehenswürdigkeiten wie Stephansdom, Schloss Schönbrunn oder Riesenrad (das bekanntlich in THE THIRD MAN eine prominente Rolle spielt) kommen auch nicht vor. Da der Film weit überwiegend bei Dunkelheit spielt, hätte man ohnehin nicht viel davon gesehen. Es ist kein Touristen-Wien, das hier präsentiert wird, sondern ganz im Gegenteil ein unwirtliches, abweisendes Wien. - In den drei Jahren seit THE THIRD MAN hatte sich auch in städtebaulicher Hinsicht einiges geändert. Die oben erwähnte Ruine ist die einzige, die es in ABENTEUER IN WIEN zu sehen gibt, während es in THE THIRD MAN noch reichlich davon gab, und während Holly Martins noch im alten, im Krieg schwer lädierten und 1950 abgerissenen Westbahnhof in Wien eintraf, war es bei John Milton der 1951 eröffnete Neubau mit seiner funktionalen, von Neon erleuchteten Fassade. Auch das Büro der Fluggesellschaft ist von klaren Linien und Neonlicht geprägt.

Der neue Wiener Westbahnhof
Ein Film noir ist ABENTEUER IN WIEN nicht nur, weil es um Eifersucht, Freiheitsberaubung und Mord sowie - etwas abstrakter gesehen - um die Brüchigkeit der menschlichen Existenz geht, sondern er ist es vor allem in visueller Hinsicht. Das ist hauptsächlich das Verdienst von Kameramann Helmuth Ashley, der souverän mit Licht und Schatten umgeht. Vor allem bei den nächtlichen Außenaufnahmen erweist er sich amerikanischen Großmeistern des Film noir wie John Alton ebenbürtig, und bei diesen Aufnahmen - und hier wiederum vor allem bei Tonis und Karins Flucht vor der Polizei - gibt es auch am ehesten atmosphärische Anknüpfungspunkte an THE THIRD MAN. Der 1919 in Wien geborene Ashley absolvierte in den 30er Jahren in seiner Geburtsstadt eine Ausbildung zum Fotografen, und in den 50er Jahren wurde er in Österreich und Deutschland zum gefragten Kameramann mit Schwerpunkt auf Schwarzweiß-Filmen, wobei er von Komödien wie JETZT SCHLÄGT'S 13 und Melodramen wie EIN HERZ SPIELT FALSCH über Krimis wie ALIBI und BANKTRESOR 713 bis zum Arztfilm mit Horror-Einschlag (ARZT OHNE GEWISSEN) viele Genres bediente. Ab 1960 verlegte sich Ashley auf die Regie, nach einigen Spielfilmen dann vorwiegend für das Fernsehen, und da insbesondere für den Krimi im ZDF: Nach drei Folgen von DER KOMMISSAR zusammen über 100 Folgen DERRICK und DER ALTE. Heute lebt Ashley in München.

Atmosphärische Nachtaufnahmen prägen den Film
Die Entstehungsgeschichte von ABENTEUER IN WIEN beginnt damit, dass zwei befreundete Geschäftspartner eine größere Menge Geld übrig hatten und nach einer Investitionsmöglichkeit suchten: Der Chemiker und Industrielle Dr. Werner Kreidl und Friederike Selahettin. Zu ihren Unternehmungen gehörte neben Fabriken auch eine Kinokette mit Spielstätten in Wien und Oberösterreich. Selahettin war die Mutter von Turhan Gilbert Selahattin Şahultavi (nach anderen Quellen Turhan Gilbert Selahettin Schultavey), besser bekannt als Turhan Bey (1922-2012). Unter diesem Namen machte der gut und leicht exotisch aussehende junge Mann, der mit seiner Mutter und Großmutter ins amerikanische Exil gegangen war, in den 40er Jahren eine steile Karriere in Hollywood, meist in Filmen von Warner Brothers oder Universal, in Krimis und Agentenfilmen ebenso wie in vier der farbenprächtigen Abenteuerfilme mit María Montez und Jon Hall. Doch 1950 war seine Karriere weitgehend vorbei (wobei es 1953 mit PRISONERS OF THE CASBAH noch einen Nachzügler gab), und er ging mit Mutter und Großmutter zurück nach Österreich, wo er sich als Fotograf betätigte und ins Management der Kinos im Familienbesitz einstieg. In den 90er Jahren hatte Turhan Bey dann noch einige Auftritte in Fernsehserien wie SEAQUEST DSV und BABYLON 5. - Mutter und Sohn Selahettin und Werner Kreidl beschlossen nun 1951, mit dem verfügbaren Geld einen Film zu produzieren. Zu diesem Zweck gründeten sie als österreichisch-amerikanische Firma die Trans-Globe Films Inc., denn sie hatten die ehrgeizige Idee, den Film für den deutsch-österreichischen und den amerikanischen Markt gleich in zwei Sprachversionen zu drehen. Bekanntlich war das in den frühen Jahren des Tonfilms eine häufige Vorgehensweise, aber für die 50er Jahre (zumal in Österreich) war es ungewöhnlich.

Deponierung der Leiche unter der Nordbahnbrücke
Vierte in der Führungsriege bei Trans-Globe war die amerikanische Schauspieleragentin Elizabeth Dickinson (1885-1975). Eine große Nummer in ihrem Metier war sie nicht, denn sie war nicht selbständig, sondern Angestellte beim Groß-Agenten Paul Kohner. Der gebürtige Österreicher Kohner vertrat viele deutschsprachige Emigranten, wodurch sich auch für Dickinson die entsprechenden Kontakte ergaben, die schließlich zu ihrer Involvierung bei Trans-Globe führten. Wenn man Ernest Roberts glauben darf, dann brachte Dickinson überhaupt kein eigenes Geld in das Projekt ein, sondern nur ihr selbstsicheres Auftreten. Roberts (eigentlich Ernst Adolf Robert Blau) hatte sich im Exil in Hollywood erfolglos als Schauspieler versucht (unter den Filmen, in denen er ungenannt auftrat, befinden sich immerhin Fritz Langs HANGMEN ALSO DIE! und Jacques Tourneurs BERLIN EXPRESS), und 1950 kehrte auch er nach Europa zurück und wurde Journalist. 1951/52 war er im Stab der Trans-Globe, und als er 1996 seinen autobiografischen Roman "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" vorlegte, ging er darin auch auf die Entstehung von ABENTEUER IN WIEN ein. Über Elizabeth Dickinson hat er darin wenig Schmeichelhaftes zu sagen. Von Elizabeth Montagu (auf die ich weiter unten zurückkomme) wird Dickinson auch nicht sehr freundlich als "schamlos aufdringliche Lesbe" geschildert. - Als die Trans-Globe die österreichische Szene betrat, machte sie durch eine pompöse Ankündigungspolitik auf sich aufmerksam. Bei einem Empfang und in Mitteilungen an die Presse gab man sich als eine große amerikanische Firma aus, die nach dem ersten Film gleich mehrere weitere in internationalen Coproduktionen realisieren werde, u.a. mit keinen Geringeren als Douglas Sirk und William Dieterle als Regisseure. "Österreich - Sitz einer weltumfassenden amerikanischen Produktionsgesellschaft" lautete daraufhin die Schlagzeile eines Artikels in der Österreichischen Film und Kino Zeitung vom 1. Dezember 1951. Doch das war alles Schwindel. In Wirklichkeit hatte die Trans-Globe außer den beiden Versionen von ABENTEUER IN WIEN keine weiteren Filme in der Pipeline, und es sollte auch bei diesen bleiben.

Durchgang zu Tonis Wohnhaus
Weil die Trans-Globe als Neuankömmling im österreichischen Filmgeschäft dringend einen einheimischen Kooperationspartner brauchte, wurde (nach einem gescheiterten Versuch mit einer anderen Firma) eine Partnerschaft mit der Schönbrunn-Film von Ernest Müller eingegangen. Ernest (ursprünglich Ernst) Müller (1906-1962) war seit den frühen 30er Jahren in verschiedenen Funktionen bei Wiener Filmstudios tätig. Widersprüchliche Angaben habe ich darüber gefunden, was er während des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland gemacht hat. Nach Angaben von Armin Loacker im Buch vom Filmarchiv Austria (siehe unten) ging Müller als Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten Rex-Film, Bloemer & Co. nach Berlin. Die Tatsache, dass er (nach dieser Version) vorwiegend Juden und politisch Verfolgte einstellte und sie so in einem gewissen Ausmaß vor dem Zugriff der Gestapo schützte, soll ihm nach dem Krieg das besondere Wohlwollen der Alliierten eingebracht haben. Laut Wikipedia dagegen verbrachte Müller die Jahre von 1938 bis 1945 im Exil in der Schweiz. Wie dem auch sein mag - Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass Ernest Müller 1950 in Wien die Schönbrunn-Film gründete und innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten österreichischen Produzenten wurde. Dabei bewegte er sich vorwiegend in publikumsträchtigen seichten Gewässern - Heimatfilme, Komödien, Schmonzetten -, aber er produzierte auch so hochinteressante Filme wie WIENERINNEN und DER ROTE RAUSCH. Dabei war Müller alles andere als ein Mäzen, der künstlerisch ambitionierte Regisseure subventionierte - in einem Brief an Werner Kreidl umriss er seine Prinzipien einmal mit "größte Sparsamkeit und rationellstes Arbeiten". Aber man muss ihm zugute halten, dass er auch extravagante Projekte in Erwägung zog, und bei für ihn günstiger Gewinnprognose auch umsetzte. Als die Trans-Globe einige Personalentscheidungen ohne Rücksprache mit Müller traf und Honorare bewilligte, die (seiner Meinung nach) zu hoch waren, wollte er aus dem gemeinsamen Projekt wieder aussteigen. Er konnte zum Bleiben bewogen werden, ließ sich jedoch als Gegenleistung einen Passus in den Kooperationsvertrag schreiben, der seinen finanziellen Einsatz deckelte und ihn von Verlusten freistellte, so dass er im Fall eines Flops schlechtestenfalls mit plus/minus Null dastehen würde. Das war ein weiser Schachzug, wie sich noch zeigen sollte.

Toni als Milton in dessen Hotelzimmer
ABENTEUER IN WIEN basiert auf dem 1933 erschienenen Roman "Ich war Jack Mortimer" des österreichischen Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia (1897-1976). Wie bereits erwähnt, wurde der Name des Mordopfers in STOLEN IDENTITY beibehalten, in ABENTEUER IN WIEN dagegen in John Milton geändert. Bereits 1935 wurde der Roman von Carl Froelich als ICH WAR JACK MORTIMER verfilmt, mit Adolf Wohlbrück, Eugen Klöpfer und Sybille Schmitz in den Hauptrollen, und Michael Kehlmann (auf den ich gleich zurückkomme) legte 1961 mit JACK MORTIMER eine TV-Fassung für den WDR vor (in der von der 1952er Besetzung Manfred Inger wieder dabei war). Später entstanden in Österreich und Frankreich auch zwei Hörspiele nach dem Stoff. - Mehrere Versionen erlebte das Drehbuch zu ABENTEUER IN WIEN. Zunächst wurden als Autor für die amerikanische Fassung ein Robert Hill - der weder davor noch danach sonderlich in Erscheinung getreten ist - und für die deutschsprachige Fassung Johannes Mario Simmel engagiert, damals noch ein aufstrebender Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Simmel hatte seine ersten Romane bereits veröffentlicht, aber sein Durchbruch kam erst 1960 mit "Es muss nicht immer Kaviar sein". Doch Hill kam mit dem Stoff nicht so recht zu Rande, und sein Buch wurde verworfen. Simmel als Schnellschreiber dagegen legte nach wenigen Tagen ein Script vor, das sich laut Ernest Roberts "gut, spannend und flüssig" las, letztlich aber auch abgelehnt wurde.

Fahrt vom Polizeirevier ins Konzerthaus
Deshalb wurde Robert Thoeren (den Elizabeth Dickinson aus Hollywood kannte) als neuer Drehbuchautor engagiert. Thoeren (ursprünglich Robert Thorsch, 1903-1957), in Brünn (heute Brno) geboren, wurde zunächst Schauspieler in Deutschland, emigrierte 1933 nach Frankreich und 1938 weiter in die USA. Im Exil wurde er ein routinierter und durchaus erfolgreicher Drehbuchautor. Seinen größten Erfolg erlebte der 1951 nach Deutschland zurückgekehrte und 1957 tödlich verunglückte Thoeren nicht mehr: Das Drehbuch zu FANFARE D'AMOUR (1935), das er zusammen mit einem Michael Logan geschrieben hatte, wurde zur Vorlage für SOME LIKE IT HOT (natürlich mit einigen Änderungen und Ergänzungen durch Wilder und I.A.L. Diamond). Zuvor hatte schon Kurt Hoffmann mit FANFAREN DER LIEBE ein Remake vorgelegt. - Thoeren ist der Hauptautor des Drehbuchs von ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY (die beiden Bücher sind bis auf die Sprache praktisch identisch), ihm nachgeordnet als weisungsgebundene Zuarbeiter waren Franz (von) Tassié und Michael Kehlmann. Tassié (1903-1990) war ein angesehener Journalist (er war ab Herbst 1945 im Vorstand des Verbands demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs), der hin und wieder auch Drehbücher verfasste. Kehlmann (1927-2005) hingegen war damals Schauspieler und Kabarettist (er stand u.a. mit Helmut Qualtinger auf der Bühne). In ABENTEUER IN WIEN spielte er den Passfälscher, und seine Mitarbeit am Drehbuch war sein erster Versuch in diesem Metier. Er fand ab 1953 seine Berufung als in Deutschland ebenso wie in Österreich arbeitender Fernsehregisseur, daneben auch als Theaterregisseur. Zu seinen Spezialitäten zählten gediegene Literaturverfilmungen wie der Zweiteiler RADETZKYMARSCH (1965), aber auch Krimis. Wie schon erwähnt, drehte er 1961 auch eine TV-Fassung des Mortimer-Stoffs. Neben dem Trio Thoeren/Tassié/Kehlmann arbeitete auch noch Emil-Edwin Reinert am Drehbuch mit, nachdem er als Regisseur engagiert worden war. - Der Realität zum Trotz wird in STOLEN IDENTITY Robert Hill als alleiniger Autor des Drehbuchs genannt, obwohl er wenig oder nichts dazu beigetragen hatte, in ABENTEUER IN WIEN dagegen werden Tassié und Kehlmann gleichberechtigt aufgeführt. Robert Thoeren, der eigentliche Autor, wird in keiner der beiden Versionen in den Credits erwähnt.

Ein Passfälscher - nur in STOLEN IDENTITY mit Hut
Die Filmmusik zu ABENTEUER IN WIEN schrieb der gebürtige Niederländer Richard Hageman (1882-1966). Der Pianist, Dirigent und Komponist Hageman emigrierte 1906 in die USA, wo er mit renommierten Orchestern arbeitete. Seit 1938 war er auch für Hollywood tätig. Bekannt wurde Hageman vor allem durch seine Zusammenarbeit mit John Ford, für den er einige seiner bekanntesten Western vertonte. Der Niederösterreicher Hans Hagen, der Hagemans Musik für den Film instrumentierte, spielt auch den Dirigenten der Wiener Symphoniker, der das Konzert mit Manelli einstudiert. - Wenn in den 30er Jahren ein Film in mehreren Sprachversionen gedreht wurde, dann wurde das oft so organisiert, dass ein Hauptregisseur engagiert wurde, der die primäre Version des Films komplett inszenierte, aber auch bei den Alternativversionen für die Mise en Scène zuständig war, und ihm untergeordnet gab es für jede der alternativen Sprachen einen eigenen Dialogregisseur (auch bei Filmen mit nur einer Version, aber verschiedensprachigen Darstellern gibt es gelegentlich zusätzliche Dialogregisseure). Bei ABENTEUER IN WIEN sollte das auch so gehandhabt werden. Als Regisseur für beide Fassungen wurde zunächst Gunther von Fritsch und als zusätzliche Dialogregisseurin für STOLEN IDENTITY Elizabeth Montagu engagiert. Die aus altem englischem Adel stammende Elizabeth Montagu (nach ihrer Heirat 1962 Elizabeth Varley, 1909-2002, nicht zu verwechseln mit einer anderen Elizabeth Montagu) führte ein äußerst abwechslungsreiches Leben. In einer Online-Notiz über ihre 2003 posthum erschienenen Memoiren "Honourable Rebel" heißt es: "Actress, fashion model, musician, journalist, war-time ambulance driver, spy, film writer, dialogue director and librettist, this is the long-awaited memoir of Beaulieu's reluctant debutante who exchanged a life of privilege for a colourful career in war-torn Europe." Das "spy" bezieht sich auf ihre Tätigkeit für den britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs, und zwar in der Schweiz als Mitarbeiterin von Elizabeth Wiskemann. In der Schweiz lernte sie auch Lazar Wechsler kennen, einen der wichtigsten Schweizer Filmproduzenten. Durch ihn bekam sie 1945 eine Chance als Co-Autorin und Regieassistentin bei Leopoldt Lindtbergs DIE LETZTE CHANCE, darauf folgten Engagements als Dialogregisseurin in Filmen von Julien Duvivier, Alexander Korda und anderen Regisseuren, und sogar als Co-Regisseurin bei Lindtbergs DIE VIER IM JEEP (der wie DIE LETZTE CHANCE von Wechsler produziert wurde). Als 1951 DIE VIER IM JEEP gedreht wurde, kannte sie Wien schon: 1948 hatte sie Graham Greene beraten, als der vor Ort für sein Drehbuch zu THE THIRD MAN recherchierte, und bei den Dreharbeiten war sie auch Carol Reeds Beraterin. Nach ABENTEUER IN WIEN war Montagu noch bei drei weiteren Filmen Dialogregisseurin, darunter ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG, der auch wieder von Wechsler (zusammen mit Atze Brauner) produziert wurde. Montagus oben zitierte Bemerkung über Elizabeth Dickinson steht in ihren Memoiren.

Der Polizeikommissär (links), Krüger
Gunther (ursprünglich Günther) von Fritsch (1906-1988), in Pula im damals österreichisch-ungarischen (heute kroatischen) Istrien als Sohn eines Marineoffiziers geboren, besuchte nach seiner Matura in Wien die École Technique de Photographie et Cinématographie in Paris, und zwar gemeinsam mit Fred Zinnemann, mit dem er befreundet blieb. Beide gingen dann in die USA, und weil von Fritsch in seinem eigentlichen Metier als Kameramann wegen der Gewerkschaftsbestimmungen in Hollywood nicht arbeiten konnte, wurde er zunächst Regieassistent (gemeinsam mit Zinnemann 1930/31 bei zwei Filmen von Berthold Viertel) und Cutter (z.B. bei Zinnemanns erster amerikanischer Regie, dem in Mexiko gedrehten REDES). Als Regisseur drehte von Fritsch seit 1936 kurze Dokumentar- und Reisefilme. Seine Versuche, als Spielfilmregisseur Fuß zu fassen, waren dagegen von wenig Erfolg gekrönt. 1944 wurde er als Regisseur von THE CURSE OF THE CAT PEOPLE verpflichtet, einem Sequel zu Jacques Tourneurs Klassiker CAT PEOPLE, aber nach 18 Drehtagen wurde er durch Robert Wise ersetzt. So blieb das Musical CIGARETTE GIRL von 1947 seine einzige Spielfilmregie in alleiniger Verantwortung. Nach seinem glücklosen Ausflug nach Wien realisierte von Fritsch, wieder in den USA, etliche Folgen von Fernsehserien wie FLASH GORDON und angeblich 77 SUNSET STRIP (letzteres wird von der IMDb aber nicht bestätigt). - Gunther von Fritsch war mit Elizabeth Dickinson befreundet, und er wurde also zunächst als Regisseur für beide Versionen von ABENTEUER IN WIEN verpflichtet. Aber bald kamen Zweifel auf, ob er der komplexen Aufgabe, zwei Filme parallel zu inszenieren, gewachsen sein würde. So lehnte er einige frühe Drehbuchentwürfe ab, konnte das aber weder begründen noch Verbesserungsvorschläge machen. Deshalb wurde noch im November 1951 Emil-Edwin Reinert als weiterer Regisseur engagiert. Reinert sollte für die deutschsprachige Version zuständig sein, von Fritsch nur noch für die englischsprachige.

Die Flucht zu Fuß beginnt
Emil-Edwin Reinert (1903-1953) wurde in der Kleinstadt Rawa-Ruska in einer damals östereichisch-ungarischen und heute ukrainischen Ecke von Galizien geboren. Durch die politische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg wurde er polnischer Staatsbürger. 1926 ging Reinert nach Frankreich, studierte in Grenoble und wurde Elektro- und Toningenieur, wodurch er schließlich zum Film kam - Regisseure wie Alexander Korda und Louis Mercanton engagierten ihn als Tontechniker (eine Victoria Mercanton war in den 40er Jahren Cutterin bei fünf von Reinerts Filmen - vielleicht eine Verwandte von Louis Mercanton). Ab 1932 drehte Reinert in Frankreich Kurzfilme, 1936 inszenierte er in England seinen ersten Spielfilm TREACHERY ON THE HIGH SEAS. Wieder zurück in Frankreich, drehte er LE DANUBE BLEU mit verschiedener Besetzung gleich zweimal hintereinander, weil die erste Version bei einem Brand im Entwicklungslabor zerstört wurde. Als der Film erschien, war Frankreich schon im Krieg und Reinert Soldat, und zwar, weil er noch polnischer Bürger war, in der polnischen Exil-Armee in Frankreich. 1940 wurde er verwundet und geriet in Gefangenschaft, konnte aber mit anderen Gefangenen fliehen und sich in die Schweiz durchschlagen, wo er interniert wurde. Die Internierung dauerte bis Kriegsende im Mai 1945, scheint aber nicht besonders streng gewesen zu sein, denn 1941 wirkte er als eine Art Supervisor bei DER DOPPELTE MATTHIAS UND SEINE TÖCHTER, der vom eher als Schauspieler bekannten Sigfrit Steiner inszeniert wurde.

Emil-Edwin Reinert, links 1948, rechts 1950 bei Dreharbeiten in Paris
(Fotos: aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)
Nach seiner Hochzeit mit einer Schweizer Violinistin kehrte Reinert nach Frankreich zurück, wurde französischer Staatsbürger, und seine produktivste Zeit begann: Von 1946 bis zu seinem Tod drehte er 12 Spielfilme - oder 14, wenn man ABENTEUER IN WIEN/STOLEN IDENTITY und den ebenfalls in zwei Sprachversionen entstandenen L'AIGUILLE ROUGE/VERTRÄUMTE TAGE (1951) jeweils als zwei Filme zählt. Außerdem war Reinert an dem als internationale Coproduktion realisierten Episodenfilm A TALE OF FIVE CITIES beteiligt. Darin reist ein unter Gedächtnisverlust leidender Brite, den es in die USA verschlagen hat, in fünf europäische Metropolen, um seiner eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Reinert inszenierte das Pariser Segment, während Wolfgang Staudte für Berlin und Géza von Cziffra für Wien zustandig waren (sowie die mir unbekannten Romolo Marcellini für Rom und Tully Montgomery für London). ABENTEUER IN WIEN war nicht Reinerts erste Arbeit in Wien - hier hatte er 1951 schon hintereinander WIENER WALZER (mit Marte Harell und Adolf Wohlbrück in den Hauptrollen) und MARIA THERESIA (mit Paula Wessely in der Titelrolle) gedreht. Zu Reinerts mehrfachen Mitarbeitern in der Phase ab 1946 zählten neben der schon erwähnten Victoria Mercanton der russisch-jüdische Emigrant Jacques Companéez als Drehbuchautor (auch an Jean Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) und Jacques Beckers CASQUE D'OR (GOLDHELM) beteiligt) sowie der aus Ungarn stammende Filmkomponist Joe Hajos. Hajos war auch als Komponist für ABENTEUER IN WIEN im Gespräch und wurde bereits von der Trans-Globe kontaktiert, aber dann erhielt doch Richard Hageman den Zuschlag.

Die Flucht geht weiter
Es arbeiteten nun also Reinert und Gunther von Fritsch parallel im Grunde am selben Film, und das ging nicht lange gut. Es kam zu Konflikten, und von Fritsch zog dabei den Kürzeren - vielleicht, weil Reinert künstlerisch überzeugender, auf jeden Fall aber, weil er durchsetzungsfähiger war. Nach weniger als der Hälfte der Drehzeit wurde daraus die Konsequenz gezogen, und von Fritsch wurde mehr oder weniger abgesetzt. Reinert war jetzt auch für die Regie von STOLEN IDENTITY zuständig, und von Fritsch war zwar noch bei den Dreharbeiten anwesend, hatte aber nichts mehr zu sagen. Die Credits für STOLEN IDENTITY bekam dennoch von Fritsch allein, Reinert blieb ungenannt. Trotzdem muss das für von Fritsch eine ziemlich frustrierende Erfahrung gewesen sein. Er hatte sich wohl von dem ambitionierten Projekt seinen Durchbruch als Spielfilmregisseur erhofft, aber unter den gegebenen Bedingungen konnte das nicht gelingen. Obendrein erhielt er auch noch viel weniger Honorar als Reinert: Von Fritsch bekam 45.000 Schilling plus wöchentliche Spesen von 1.500 Schilling, Reinert dagegen 25.000 Schweizer Franken plus 60.000 Schilling, was zusammen über 180.000 Schilling entsprach. Für Reinert brachte ABENTEUER IN WIEN aber auch kein uneingeschränktes Glück. Es war sein letztes Werk, und es wurde sogar behauptet, es habe ihn das Leben gekostet. Im Buch zum Film ist nämlich zu lesen, er sei bei den Dreharbeiten von einer Kameraplattform gestürzt und habe sich schwer verletzt, er habe den Film zwar noch vollenden können, sei aber im Jahr darauf an den Spätfolgen der Verletzung gestorben. In Wirklichkeit starb Reinert aber an Nierenkrebs, wie sein Sohn Jean-Michel Reinert auf Nachfrage bestätigt hat. Den Unfall gab es zwar, er war aber wohl doch nicht so dramatisch. Möglicherweise erfuhr Reinert erst durch die Untersuchungen nach dem Unfall von seiner Erkrankung. Auf jeden Fall kehrte er nach seinen drei Wiener Filmprojekten nach Frankreich zurück, wo er im Oktober 1953 starb.

Das einfache, langsam denkende Publikum


Die Drehbücher der beiden Fassungen waren, wie schon erwähnt, praktisch identisch, und das gilt weitgehend auch für die Szenenfolgen der beiden fertigen Filme. Mal ist in der einen und mal in der anderen Fassung eine Einstellung etwas länger, aber die grundsätzliche Abfolge ist gleich. Die wenigen nennenswerten Unterschiede beruhen nicht auf dem Buch oder der Inszenierung, sondern auf dem Schnitt. Das betrifft vor allem eine Szene, die sich nur in STOLEN IDENTITY findet: Nachdem Toni seinen Anruf bei der Polizei abgebrochen hat, verlässt er die Bar, doch auf der Straße patrouilliert gerade ein Streifenpolizist, der ihn ins Auge fasst. Deshalb geht Toni noch einmal in die Bar, um Zeit zu gewinnen. Dort wird er von einem betrunkenen amerikanischen Touristen angesprochen, der ihm ungefragt erklärt, man müsse in jedem Land die einheimischen Spezialitäten goutieren: In Frankreich etwa Cognac, Champagner und Mädchen, in Italien Spaghetti, Chianti und Mädchen, in Amerika Steaks, Waschmaschinen (sein Geschäft) und Mädchen, und in Österreich Wiener Schnitzel, Gebäck und ... nein, nicht Mädchen, wie man jetzt als Zuschauer erwartet, sondern Walzer. Und dann wird Toni zu einem Walzer mit der Freundin des Amerikaners genötigt. Diese schöne Szene wurde in ABENTEUER IN WIEN auf "Anregung" (das heißt auf Befehl) des deutschen Verleihs, der Herzog-Film GmbH in München, herausgeschnitten. Nach Ansicht einer Rohfassung fasste die Herzog-Film ihre "Anregungen" in einem Brief an die Schönbrunn-Film im Mai 1952 in 16 Punkten zusammen, die, soweit ersichtlich, auch alle umgesetzt wurden. Als Beispiel sei der Absatz zitiert, der die Bar-Szene betrifft:
[...]
Im einzelnen möchten wir u.a. Folgendes (leider nur unter dem Eindruck einer einmaligen Besichtigung stehend) zur Diskussion stellen:
[...]
7.) Die Szene mit den Amerikanern in der Bar kann wegfallen, zumal dadurch ein Tempogewinn entsteht. Toni Sponer kann gleich im Anschluß an das Telefongespräch das Lokal verlassen und draussen an seinem Wagen den betrunkenen Fahrgast finden und abfahren.
[...]
Wir bitten Sie um Beachtung unserer Anregungen, die auf diesem Wege übermitteln zu müssen, wir sehr bedauern. Wir sind überzeugt, daß durch sorgfältige Arbeit in Schnitt und Synchronisation die Wirkung des Filmes noch sehr gesteigert werden wird.

Wir begrüssen Sie und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung!
HERZOG-FILM GMBH.
(Unterschrift)
In diesem Brief findet sich übrigens auch der folgende schöne Satz: "Es muß dafür Sorge getragen werden, daß das einfache, langsam denkende Publikum die Handlung vollständig versteht und nicht Fehlschlüsse zieht und auf diese Weise verärgert ist und unbefriedigt bleibt."

Feuchtes Kopfsteinpflaster
Ein augenfälliger Unterschied zwischen ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY gründet nicht im Schnitt oder der Inszenierung: Donald Buka war 18 Jahre jünger als Gustav Fröhlich, und das sieht man auch. So wirkt Bukas Toni Sponer dynamischer als der von Fröhlich, aber Fröhlich ist viel glaubwürdiger als jemand, der seine letzte Chance ergreifen will - Buka traut man eigentlich noch viele Chancen zu. In der Handlung wurde der Altersunterschied übrigens reduziert: Der eine Toni ist 40, der andere 32. Joan Camden und Cornell Borchers dagegen waren im Alter nur vier Jahre auseinander, und sie sahen sich hier auch recht ähnlich. Camden hatte ein schmaleres Gesicht, aber die Statur war ähnlich und Frisur und Haarfarbe praktisch identisch. - Joan Camden (1929-2000) hatte vor STOLEN IDENTITY nur einen Filmauftritt, nämlich die weibliche Hauptrolle im semidokumentarischen Mafia-Krimi THE CAPTIVE CITY (STADT IM WÜRGEGRIFF) von Robert Wise. Nach ihrem Ausflug nach Wien folgten nur noch Nebenrollen in vier weiteren Spielfilmen, daneben hatte sie ungefähr 40 Auftritte in Fernsehserien. Donald Buka (1920-2009) kam in seiner immerhin deutlich länger dauernden Karriere seit 1943 auch nur auf neun Spielfilme, fast immer Nebenrollen, und zwar vor STOLEN IDENTITY mehrere Gangsterrollen hintereinander, so dass er nun froh war, auch einmal einen positiven Charakter darstellen zu dürfen. Daneben spielte auch er in Fernsehserien sowie am Theater. Camden und Buka waren also keine Stars - ganz im Gegenteil, auch in den USA waren sie 1952 ziemlich unbekannt. Es war Elizabeth Dickinsons Entscheidung, für diese Rollen keine klangvollen Namen zu verpflichten. - Cornell Borchers' (1925-2014) Karriere war ähnlich kurz wie die von Camden - sie dauerte von 1949 bis 1959 -, aber ungleich erfolgreicher. Nachdem sie von Arthur Maria Rabenalt zum Film geholt worden war, spielte sie nicht nur in deutschen und österreichischen, sondern durchaus erfolgreich auch in einem englischen (sie gewann dafür einen BAFTA Award) und mehreren Hollywoodfilmen, neben Stars wie Montgomery Clift (THE BIG LIFT, 1950), Rock Hudson (NEVER SAY GOODBYE, 1956) und Errol Flynn (ISTANBUL, 1957). Nach ABENTEUER IN WIEN spielte Borchers gleich nochmal mit Gustav Fröhlich, nämlich in HAUS DES LEBENS, und Fröhlich war ihr Regisseur in DIE LÜGE von 1950 (beide Filme gelten aber als ziemlich schlecht). Borchers' letzter Film war ARZT OHNE GEWISSEN (mit Helmuth Ashley an der Kamera), dann zog sie sich freiwillig ins Privatleben zurück.

Identische Einstellungen (links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY)
Gustav Fröhlich und Francis Lederer wurden noch im deutschen Stummfilm groß. Fröhlich (1902-1987) war seit 1922 beim Film, seine bekannteste Rolle war natürlich die in METROPOLIS. In den 30er Jahren blieb Fröhlich gefragt als jugendlicher Held und Liebhaber, aber nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit seiner Karriere etwas bergab. Doch 1951 spielte er neben Hildegard Knef die Hauptrolle in DIE SÜNDERIN, und der Skandal, der um diesen Film entfacht wurde, brachte auch Fröhlich wieder in die Schlagzeilen (wobei etwas unterging, dass er darin eine durchaus ansehnliche Leistung bot). Übrigens wurde auch DIE SÜNDERIN von der Herzog-Film verliehen, und man muss der Firma hoch anrechnen, dass sie sich von kirchlichen und politischen Kreisen nicht einschüchtern ließ, sondern den Film offensiv durchsetzte. Fröhlich drehte seinen letzten Kinofilm 1960, danach folgten noch einige Fernsehrollen. Parallel zu seiner Filmkarriere, und auch nach deren Ende, spielte er regelmäßig Theater. - Franz oder František Lederer (1899-2000) wuchs zweisprachig bei Prag auf. Nach Jahren am Theater kam er 1928 zum Film. Seine größte Stummfilmrolle war die an der Seite von Louise Brooks in DIE BÜCHSE DER PANDORA von G.W. Pabst. Über den Umweg von Bühnenengagements in London und (ab 1932) am Broadway gelang ihm der Sprung nach Hollywood, wo er sich (nun als Francis Lederer) fest etablieren konnte. 1939 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Der Durchbruch zum ganz großen Star (den Irving Thalberg mit ihm vorhatte) gelang zwar nicht, aber Lederer spielte von 1934 bis 1959 in ungefähr 25 Hollywoodfilmen, ab 1948 auch in Fernsehfilmen, und daneben auch weiterhin am Theater. Lederer, der eine große und luxuriöse Ranch nordwestlich von Los Angeles bewohnte, betätigte sich auch erfolgreich als Immobilienmakler, übte verschiedene ehrenamtliche Positionen aus und wirkte bis ins hohe Alter als Schauspiellehrer.

Durchgänge und Stiegen
Die Grundstimmung von ABENTEUER IN WIEN ist zwar gedrückt, für eine kleine humoristische Einlage sorgt aber der Kabarettist Karl Farkas als gestresster Ober in der Bar, in der Toni telefoniert. Farkas' regelmäßiger Bühnenpartner Ernst Waldbrunn steht zwar auf einer internen Besetzungsliste, taucht aber im Film nicht auf. Fritz Eckhardt, damals auch noch eher als Bühnendarsteller und Kabarettist bekannt, spielt den Nachtportier in John Miltons Hotel. Hier konnte er sich schon mal auf seine spätere Serienhauptrolle in HALLO - HOTEL SACHER ... PORTIER! einstimmen und auch schon eine Spur Schmäh einbringen. An ungewohnter Stelle in den Credits scheint Nadja Tiller auf: Die zweifache Miss Austria hatte 1952 ihre Bühnen- und Filmlaufbahn bereits begonnen, aber in ABENTEUER IN WIEN spielt sie nicht mit, sondern sie war (gemeinsam mit einem Dr. Leo Bei) für die Kostüme verantwortlich.

Karl Farkas als Ober
Nicht wenige der Beteiligten an ABENTEUER IN WIEN stammten aus Österreich (bzw. aus dem Gebiet des seinerzeitigen Österreich-Ungarn), waren während der Zeit des Nationalsozialismus (oder auch schon vorher) emigriert, und nun wieder vorübergehend oder dauerhaft in Österreich versammelt: Vielleicht (oder vielleicht auch nicht) Ernest Müller, auf jeden Fall aber Turhan Bey und Friederike Selahettin, Reinert, von Fritsch, Robert Thoeren, Ernest Roberts; von den Darstellern Adrienne Gessner (die spätere Burgtheater-Doyenne war mit ihrem Mann Ernst Lothar in die USA emigriert; am Broadway spielte sie u.a. mit Marlon Brando), Francis Lederer, Manfred Inger, Karl Farkas und Franz Marischka (er spielt einen Passkontrolleur am Flughafen) - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts dieser Häufung ist ABENTEUER IN WIEN schon als "Remigrantenfilm" bezeichnet worden. Im Buch vom Filmarchiv Austria wird die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs aber bestritten, und Turhan Bey konnte im Interview 2005 nichts damit anfangen. Fest steht, dass es kein gezieltes Programm gab, vorwiegend Remigranten zu beschäftigen. Die österreichischen Darsteller mit Sprechrollen wurden nicht nur nach ihrer Eignung für die Rolle ausgesucht, sondern sie mussten auch ausreichende Englischkenntnisse vorweisen, um in beiden Versionen auftreten zu können. Dazu war es aber nicht nötig, im englischen oder amerikanischen Exil gewesen zu sein - in mittlerweile fast sieben Jahren Besatzungszeit konnte man auch in Österreich Englisch gelernt haben. Die frühere politische Einstellung der Betreffenden spielte auch keine Rolle. Neben Gegnern und Verfolgten des Nazi-Regimes konnten auch ehemals stramme Nazis wie Trude Marlen (sie spielt die Frau, die ihren Pelz mit Blut beschmutzt) bei ABENTEUER IN WIEN unterkommen. Gustav Fröhlich konnte man auch keine Regime-Ferne nachsagen. Trotzdem: In Anbetracht der Häufung entsprechender Lebensläufe, mag sie auch eher zufällig zustande gekommen sein, scheint mir die Bezeichnung "Remigrantenfilm" für ABENTEUER IN WIEN nicht ganz abwegig zu sein.

Eine Ruine - die einzige im Film
ABENTEUER IN WIEN lief (unter dem deutschen Verleihtitel GEFÄHRLICHES ABENTEUER) im August 1952 in der BRD an, in Österreich einen Monat später. STOLEN IDENTITY kam in den USA erst 1953 heraus. Die Reaktionen der österreichischen und deutschen Filmfachpresse waren weitgehend positiv, die in der allgemeinen Presse dagegen durchwachsen - neben Zustimmung gab es auch viel Ablehnung. Die im oben verlinkten Artikel über den "Remigrantenfilm" erhobene Behauptung, der Film sei komplett durchgefallen, hält aber der Realität nicht stand. Allgemein wurde Ashleys Kameraarbeit gelobt, oft auch die Leistungen der Schauspieler. In vielen Kritiken wurde - zuungunsten von ABENTEUER IN WIEN - der Vergleich zu THE THIRD MAN gezogen, aber wie oben schon ausgeführt, konnte das kein geeigneter Vergleichsmaßstab sein. STOLEN IDENTITY wurde von der amerikanischen Kritik offenbar kaum beachtet, aber immerhin ist eine verhalten wohlwollende Kritik in Variety überliefert.

Rast auf der Flucht
Aufgrund der mehrfachen Anläufe mit dem Drehbuch und eines schlampig erstellten Drehplans (was vor allem die Außenaufnahmen betraf) war es immer wieder zu Vezögerungen und dadurch zu starken Kostenüberschreitungen gekommen. Friederike Selahettin und Werner Kreidl verkauften sogar eines ihrer Kinos, um die gestiegenen Kosten zu decken. Für den schlechten Drehplan war Friedrich Erban verantwortlich, der offizielle Produktionsleiter, der diese Funktion aber kaum ausfüllte. Stattdessen nahm Carl Szokoll diese Pflichten wahr, der am Ende auch die Credits dafür erhielt. Die genauen Besucherzahlen von ABENTEUER IN WIEN sind nicht bekannt, aber übermäßig hoch waren sie wohl nicht - vielleicht auch, weil für eine ordentliche Werbekampagne kein Geld mehr da war. Jedenfalls konnten die Herstellungskosten nicht hereingespielt werden. Auch STOLEN IDENTITY war wohl kein Erfolg beim Publikum beschieden. Elizabeth Dickinson machte aber trotzdem einen guten Schnitt - jedenfalls, wenn man Ernest Roberts glauben darf. Da sich Ernest Müller, wie oben erwähnt, vertraglich abgesichert hatte, blieb der Verlust an Turhan Bey und seiner Mutter und an Werner Kreidl hängen. Ernest Roberts schreibt dazu in "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" nicht ohne eine gewisse Häme: "Mit sicherem Instinkt rochen sämtliche alten Filmhasen Wiens, dass an dem Ding was zu kassieren war. Ganz Film-Wien stieß sich gesund daran, ausgenommen die beiden Produzenten, die allerdings niemand bedauerte. [...] Die Präsidentin [Dickinson] von ›Outer Space‹ veranstaltete noch eine illustre Abschiedsparty im ›Sacher‹ auf Kosten der Wiener, an der Hunderte teilnahmen, nahm das Negativ der englischen Version unter ihren rechten Arm, die Krokodilledertasche - inzwischen prall gefüllt - unter den linken und flog, hochzufrieden mit sich und ihren bewundernswerten Manipulationen gen ›Outer Space‹. [...] Ihre Mäzene dagegen gingen leer aus, sie sahen keinen Profit, weder die deutsche noch die englische Version reüssierte."

Am Flughafen Schwechat
ABENTEUER IN WIEN geriet schnell in weitgehende Vergessenheit. In Büchern zur österreichischen Filmgeschichte kam er höchstens als Randnotiz vor. Das änderte sich erst in den 90er Jahren. 1993 wurde ABENTEUER IN WIEN im Rahmen einer Retrospektive mit dem Titel "Aufbruch ins Ungewisse - österreichische Filmschaffende in der Emigration" bei der Viennale (in Anwesenheit von Lederer) gezeigt. 2005 erschienen beim Filmarchiv Austria beide Versionen des Films zusammen auf einer DVD (STOLEN IDENTITY ohne Untertitel). Beigelegt ist das schon mehrfach erwähnte Buch mit dem Titel "Austrian Noir". Auf ca. 180 Seiten beleuchten sechs österreichische und deutsche Autoren in acht Beiträgen verschiedene Aspekte des Films. Für den Teil, der sich mit der Produktionsgeschichte beschäftigt, wurden Turhan Bey, Helmuth Ashley und Wolfgang Glück (der eine kleine Rolle spielt und als Regie-Volontär hospitierte) interviewt, und es wurden Verträge, Korrespondenz und sonstige Unterlagen aus dem Nachlass der Schönbrunn-Film ausgewertet. In Deutschland wird dieses schöne Set in der Edition Filmmuseum vertrieben. ABENTEUER IN WIEN allein ist auch auf einer DVD der "Edition Der Standard" erhältlich.

Francis Lederer, Joan Camden und Emil-Edwin Reinert bei den Dreharbeiten
(Foto aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)