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Montag, 26. August 2013

GLI ULTIMI - Spät-Neorealismus und Vogelscheuchen aus Friaul

GLI ULTIMI (DIE LETZTEN)
Italien 1962
Regie: Vito Pandolfi
Darsteller: Adelfo Galli (Checo), Lino Turoldo (Zuan), Margherita Tonino (Anute), Laura De Cecco (Josette), Vera Pescarolo (Lehrerin)


Ein Off-Sprecher stimmt auf Thema und Schauplatz ein: "In den 30er Jahren begann die Landflucht auch in Friaul. Diese scheinbar zufälligen Ereignisse erzählen die Geschichte eines Jungen, der fühlte, wie die Tragödie von vielen auch sein Heim bedrohte. War es richtig zu bleiben, oder besser zu gehen?" Friaul im Nordosten Italiens war damals, abgesehen von der Provinzhauptstadt Udine, eine agrarisch geprägte Gegend, doch der Landbevölkerung ging es schlecht. Die Weltwirtschaftskrise hatte auch in dieser randständigen Region Italiens zugeschlagen, und die mühsam beackerten Böden gaben oft nicht viel her. So kam es zur angesprochenen Landflucht: Einzelne Familienmitglieder oder ganze Familien verließen die Dörfer zeitweise oder dauerhaft, um sich anderswo Arbeit zu suchen. Um das mit Zahlen zu veranschaulichen: Die Gemeinde Sedegliano, zu der das Dorf Coderno di Sedegliano, der Hauptschauplatz des Films, gehört, rund 20 km von Udine entfernt, hatte 1931 5775 und 1936 5350 Einwohner.

Eine Vogelscheuche wird aufgestellt
Der Held des Films ist der zehnjährige Checo. Auch seine Familie ist von der Armut betroffen. Seine ältere Schwester Nerina arbeitet bereits als Dienstmädchen im fernen Novara in Piemont, sein Bruder Roberto, der älteste der Geschwister, hat sich sogar in einem Kohlebergwerk in Belgien verdingt, obwohl er noch keine 18 ist. So leben nur noch Checo und seine kleine Schwester Liana bei ihrem Vater Zuan und ihrer Mutter Anute. Die Landwirtschaft, die sie betreiben, besteht aus einer Kuh, drei Schafen, und etwas mühsamem Ackerbau. Weil das nicht ausreicht, muss Zuan gelegentlich auch als Tagelöhner arbeiten, z.B. beim Bau eines Bewässerungskanals mit Hacke und Schaufel. Checo hat es doppelt schwer: Unter den Kindern im Dorf ist er ein Außenseiter. Er ist kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden, und dabei der Klassenbeste - eine ungünstige Kombination. So wird er ständig gehänselt, als Schandfleck und Vogelscheuche bezeichnet, und auch körperlich malträtiert. Da er oft die drei Schafe hüten muss, ist er regelmäßig mit sich und den Schafen allein auf freiem Feld, wo eine echte Vogelscheuche zu einem Anlaufpunkt und einer Art von Freund für ihn wird, und er gibt sich dann seinen Tagträumereien hin. Seine einzige echte Freundin wird das kleine belgische Mädchen Josette. Ihr Vater, ein Bergmann, war an Tuberkulose gestorben, und einer seiner Kollegen, ein alter Freund von Zuan, hat sie adoptiert und in seine Heimat Friaul mitgenommen, wohin er wegen seiner Staublunge zurückkehrte.

Anute und Zuan
Wie der Satz von den "scheinbar zufälligen Ereignissen" schon andeutet, besteht GLI ULTIMI aus etlichen nur lose miteinander verbundenen Episoden. Der Tod eines noch relativ jungen Mannes, in dessen Haus Zuan mit anderen Dorfbewohnern Totenwache hält, versetzt Checo, der wohl zuvor noch nicht mit dem Tod konfrontiert wurde, in Schrecken. - Zwischen den Episoden gibt es immer wieder Szenen, die im Haus, vor allem in der Wohnstube, spielen, und die sowohl die Armut veranschaulichen als auch die Familie charakterisieren. Die Einrichtung ist karg, fast spartanisch, und zu essen gibt es meist nur Polenta mit irgendeinem Salat. Aber trotz zweier abwesender Kinder - die regelmäßig schreiben - ist die Familie intakt. Zuan liebt seine Kinder, und er zeigt es auch, auch wenn er gelegentlich streng zu Checo ist. Bezeichnend ist eine Szene beim Abendessen: Zuan gibt Checo und Liana je ein Stück Polenta, und sagt "das ist die Polenta". Dann gibt er ihnen noch ein Stück Polenta, und sagt "das ist der Käse". Die beiden nehmen es mit Humor, aber eigentlich schämt sich Zuan etwas, und er verspricht, dass es bald richtigen Käse gibt. Zuan ist auch kein Patriarch. Wenn Anute anderer Meinung ist als er, hört er auf sie, und wenn er böse auf Checo ist oder zuviel von ihm verlangt, gelingt es ihr schnell, ihn ohne große Worte zu besänftigen. - In der Schule hört Checo, der gut zeichnen kann, von der Lehrerin die legendenhafte Geschichte von Giotto di Bondone, dem Pionier der Renaissancemalerei, der Schäferjunge war, bevor er für die Kunst entdeckt wurde, und später identifiziert er sich in einem seiner Tagträume mit dem Genie, indem er mit Kreide einen Kreis auf einen Felsbrocken zeichnet - Giotto soll einmal als Talentprobe einen perfekten Kreis mit freier Hand gezeichnet haben. Doch Checo vernachlässigt dabei die Aufsicht über die Schafe, und eines frisst von mit Gift verseuchtem Boden und stirbt wenig später, was Checo gehörigen Ärger mit Zuan einhandelt.

In der Wohnstube
Im Dorfgasthaus unterhalten sich einige Männer über die gegenwärtige Lage, darunter auch ein faschistischer Funktionär. Es ist dies eine von nur zwei kurzen Stellen im Film, in denen "große Politik" und die Tatsache, dass Italien ein faschistisches Land ist, thematisiert wird. Wieder im Freien, wiederholt Zuan eine der Phrasen des Faschisten und macht dazu eine abschätzige Handbewegung - ein dezenter, aber doch eindeutiger Hinweis auf seine Position: Er ist kein Freund des Faschismus. Die zweite Stelle mit Politik folgt kurz danach: Ein Musterungsbefehl wird angeschlagen, weil, wie drei Männer meinen, "dieser Kerl in Österreich" ermordet wurde (ich nehme an, dass Engelbert Dollfuß gemeint ist), und einer der drei räsoniert über falsche Versprechungen des Staats. - Eine Nachbarsfamilie bricht, das ganze Hab und Gut auf einen Leiterwagen gepackt, nach Udine auf. - Checo geht in der Kirche dem Küster und dem Pfarrer zur Hand und wird zur Belohnung zur Hochzeit eines wohlhabenden Paars eingeladen. Doch dort nimmt niemand irgendeine Notiz von ihm, abgesehen vom Fotografen, der ihn aus dem Bild scheucht. Checo fühlt sich als der Fremdkörper, der er auch tatsächlich ist, und zieht bedrückt wieder ab, ohne etwas vom Festessen abbekommen zu haben. Es ist schlimmer, als wenn man ihn überhaupt nicht eingeladen hätte. Bei "seiner" Vogelscheuche, wo er in der Abenddämmerung einen wilden "Vogeltanz" aufführt, findet er Trost.

Totenwache für einen verstorbenen Dorfbewohner
Zuan muss die Kuh verkaufen, weil sie weniger einbringt, als der Unterhalt kostet. Wenigstens kann vom Erlös ein neues Schaf gekauft werden, um das tote zu ersetzen. - Mit einigen ihrer Nachbarn und Freunde beraten Zuan und Anute, ob man nicht auch das Land verlassen und in die Stadt ziehen sollte. Einige betrachten das als Option, aber Zuan ist strikt dagegen. Er fühlt sich an das Land gebunden und fürchtet anderswo die Entwurzelung. - Zwei junge Männer brechen mit dem Zug nach Belgien auf, um in den Kohlegruben zu arbeiten. Ihre jüngeren Brüder, etwas älter als Checo, kündigen an, so bald wie möglich nachfolgen zu wollen. - Checo vernachlässigt wieder einmal die Aufsicht über die Schafe, die in das Feld eines reichen Bauern eindringen. Dieser verjagt sie und beschimpft Zuan und seine Familie als "Sack Flöhe". Zuan ist stinksauer auf Checo und bezeichnet ihn jetzt selbst als "Vogelscheuche". - Checo erhält zuhause einen Klaps, fühlt sich ungerecht behandelt und haut ab. Aber er kommt nicht weit. Im Tal des Tagliamento läuft er einer kleinen Militäreinheit in die Arme, die mit aufgesetzten Gasmasken gerade eine Übung abhalten. Checo bekommt einen Riesenschreck und kehrt um. Zuhause gibt es wegen seiner Abwesenheit wieder Ärger. - Checo beobachtet eine Gruppe der Dorfjungen, die einen "Geheimbund" gegründet und irgendwo eine Flasche Wein abgestaubt haben. Checo gesellt sich zu ihnen und wird zum ersten Mal in ihrer Runde akzeptiert.

Checo schließt Freundschaft mit Josette
Checo unternimmt mit Josette einen Sonntagsausflug zu einer Mühle, die ihnen als Abenteuerspielplatz dient. Am Ende bekommt er von Josette einen Kuss. - Ein tragisches Ereignis verändert Checos Situation grundlegend: Sein Bruder Roberto stirbt bei einem Grubenunglück in Belgien. Neben dem Schock und der Trauer gibt es auch materielle Auswirkungen: Es fehlt das wenige Geld, das Roberto regelmäßig überwiesen hat, und Checo muss einspringen. Obwohl er der beste Schüler im Dorf ist und irgendwann studieren wollte, muss er die Schule verlassen, um demnächst irgendwas zu arbeiten. - Beim Münzenwerfen gewinnt Checo etwas Kleingeld von den anderen Dorfjungen und kauft Zuan davon eine Zigarre. Dieser ermahnt ihn, das Geld lieber Anute zu geben, aber insgeheim freut er sich über die Zigarre. - Checo wird von einer wohlhabenden Bäuerin wieder einmal "Vogelscheuche" genannt. In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen rennt er zu seiner Vogelscheuche, schreit "Ich bin keine Vogelscheuche! Ich bin keine Vogelscheuche!", bewirft sie mit Steinen, reisst sie um und trampelt darauf herum. - Letzte Szene: Checo, allein unterwegs und mit sichtlich gestiegenem Selbstbewusstsein, sucht und findet eine Arbeit beim Abschlagen von Ästen auf hohen Bäumen. Als guter Kletterer ist er dafür prädestiniert. Wie am Anfang werden die letzten Bilder von einem Off-Sprecher begleitet: "Als diese Ereignisse stattfanden, war Checo 10 Jahre alt. Heute ist er ein erwachsener Mann. Aber wo ist er? Würden wir ihn immer noch finden, wenn wir in sein Friaul gehen würden?"

Die Dorfschule
GLI ULTIMI wurde von Vito Pandolfi inszeniert, aber der Film ist ebensosehr das Werk von David Maria Turoldo. Turoldo (1916-1992) war ein progressiver katholischer Priester und Pater des Servitenordens, und er war ein in Italien bekannter Poet und Schriftsteller. Turoldo wurde 1916 als neuntes von zehn Kindern einer Bauernfamilie in Coderno di Sedegliano geboren, also im Milieu und am Handlungsort von GLI ULTIMI. Nach dem Theologie- und Philosophiestudium war er, gefördert vom dortigen Erzbischof, in den 40er Jahren in Mailand tätig, wo er 1943-45 auch mit dem antifaschistischen Widerstand verbunden war und die Untergrundzeitschrift L'Uomo herausgab. 1948 gründete der linke katholische Priester Don Zeno Saltini aus einem Vorgängerprojekt heraus das Kinderheim Nomadelfia, das damals vor allem Kriegswaisen beherbergte, und das in Form einer selbstverwalteten katholischen Kommune organisiert war und die Kinder auf Adoptivfamilien verteilte, ähnlich wie etwas später die SOS-Kinderdörfer (Saltini hatte seinerzeit erhebliche Probleme mit den Kirchenbehörden und war sogar jahrelang vom Priesteramt entbunden, ist aber inzwischen auf dem Weg zur Seligsprechung). Turoldo war von Anfang an ein begeisterter Förderer von Nomadelfia. Um 1950 herum trat er auch erstmals mit Gedichtbänden hervor.

Vogelscheuchen
Nach zwei Jahren in ausländischen Niederlassungen seines Ordens, darunter auch in Österreich und Bayern, und dann einigen Jahren in Florenz wurde Turoldo 1961 in ein Konvent in Udine versetzt. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder in seiner Heimat, die sich inzwischen stark verändert hatte. Italien hatte in den 50er-Jahren eine Turbo-Industrialisierung erlebt, und eine zweite Welle der Landflucht dauerte immer noch an (hier kann man einige der Zahlen für Sedegliano nachlesen). Die Probleme der verbliebenen Landbevölkerung waren teilweise noch die selben wie vor 30 Jahren. Da hatte Turoldo die Idee, über die im Schwinden begriffene Welt seiner Kindheit einen Film zu machen. Zugleich sollte der Film zeigen, wie man auch in der Armut seine Würde bewahren konnte. Turoldo hatte sogar weitergehende Pläne zu einer Trilogie, die Checos Leben weiter verfolgen sollte, aber da GLI ULTIMI ein kommerzieller Fehlschlag wurde, zerschlug sich das. Unter Vermittlung von Pier Paolo Pasolini, der auch teilweise in Friaul aufgewachsen war, und mit dem Turoldo befreundet war (er hielt 1975 auch seine Grabrede), versammelte er ein Häuflein von Mitstreitern, die für die Produktion die Firma "Le Grazie Film" gründeten. Den Verleih von GLI ULTIMI übernahm Henry Lombroso, der mit seiner Firma "Globe Films International" auch Werke von Dreyer, Bergman und Tarkowskij nach Italien brachte. Als Regisseur gewann Turoldo den mit ihm befreundeten Vito Pandolfi, und Pandolfi und Turoldo schrieben gemeinsam das Drehbuch (unter Mitarbeit eines Mario Casamassima), basierend auf Turoldos bis dahin unveröffentlichtem autobiographischen Text "Io non ero un fanciullo", was wohl ungefähr "Ich hatte keine Kindheit" heißt. Checo ist also in einem gewissen Ausmaß das alter ego von Turoldo als Kind.

Eine Familie bricht nach Udine auf
Vito Pandolfi (1917-1974) war ein linksintellektueller Theaterautor, -regisseur und -kritiker. Ein Theaterwissenschaftler, der an der Universität Genua lehrte und mehrere Bücher schrieb, war er auch. Als Jean Renoir 1952 in Italien DIE GOLDENE KAROSSE drehte, engagierte er Pandolfi als Berater für die Commedia dell'arte. Im Gegensatz zu Turoldo, der von großer körperlicher Statur und kräftiger Stimme sowie von unkompliziertem und impulsivem Charakter war, wird Pandolfi als sehr zurückhaltend geschildert. Ebenso wie Turoldo war Pandolfi, ein Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, in den 40er Jahren im Mailänder Raum Mitglied der Widerstandsbewegung gegen die Nazis, und seitdem waren die beiden miteinander befreundet. 1966 sagte Pandolfi in einem Interview, dass er schon immer Filme liebte, und zwar insbesondere Dokumentarfilme (hier nennt er als Beispiel den Namen Flaherty) und den italienischen Neorealismus, und nur durch Zufall beim Theater gelandet sei. Beides - Neorealismus und eine Spur Flaherty - findet sich auch in GLI ULTIMI wieder. Der Film wurde in klassischer neorealistischer Manier gedreht: Ausschließlich an den Originalschauplätzen in Friaul, und komplett mit Laiendarstellern. Wie Pandolfis Aussage im Interview belegt, war das in erster Linie künstlerisch begründet, auch wenn es natürlich den Anforderungen eines knappen Budgets entgegenkam. Checos Darsteller Adelfo Galli kam aus Nomadelfia, dem Kinderheim, für das Turoldo unermüdlich Spenden einwarb. Die Einnahmen von GLI ULTIMI sollten nach Deckung der Herstellungkosten komplett an Nomadelfia fließen, aber nach dem kommerziellen Misserfolg konnte kein oder allenfalls sehr wenig Geld an das Heim überwiesen werden. Zwar fielen die Laiendarsteller finanziell nicht ins Gewicht, aber die Techniker bekamen die üblichen Löhne einer kommerziellen Filmproduktion. Neben Galli, der als "der kleine Adelfo aus Nomadelfia" als einziger Darsteller namentlich in den Credits genannt wird, war Vera Pescarolo, die die Dorfschullehrerin spielt, die einzige Darstellerin, die nicht aus Friaul stammte. Sie war die Schwester von Pandolfis Regieassistenten Leo Pescarolo, der später ein erfolgreicher Film- und Fernsehproduzent wurde. Die meisten anderen Laiendarsteller kamen aus Coderno di Sedegliano oder der engeren Umgebung. "Zuan" Lino Turoldo war ein Bruder von David Maria Turoldo, und "Anute" Margherita Tonino (in der IMDb wird sie mit der spanischen Schauspielerin Margarita Torino verwechselt) wurde zufällig von Pater Turoldo entdeckt, als er eigentlich ihren Sohn als Kandidaten für Checo testen wollte. Die Laiendarsteller verleihen dem Film in vielen Szenen dokumentarische Glaubwürdigkeit. Wenn etwa Zuan mit vollkommener Beiläufigkeit die Polenta mit einer Schnur teilt, dann glaubt man ihm jede Sekunde, dass er selbst mit Polenta aufgewachsen ist und nicht mit Saltimbocca alla romana, und ähnlich verhält es sich mit den landwirtschaftlichen Handgriffen. Und in solchen Szenen wandelt GLI ULTIMI auch in den Spuren von Robert Flahertys ethno-dokumentarischen Filmen, insbesondere in denen von MAN OF ARAN (1934), den Flaherty auf einer kleinen sturmumtosten Insel vor der irischen Westküste gedreht hat, wo ähnlich karge Lebensbedingungen wie in GLI ULTIMI herrschen, und in dem sich die Inselbewohner - im Rahmen einer von Flaherty zusammengestellten fiktiven Familie - selbst spielten.


Einige kleinere Rollen wurden von friaulischen Freunden von Turoldo übernommen, so spielte der Schriftsteller Riedo Puppo den Küster und der Fotograf Elio Ciol den unfreundlichen Fotografen bei der Hochzeit. Ciol war auch der Standfotograf bei den Dreharbeiten und machte fast 2000 Aufnahmen, von denen eine Auswahl 2002 in einem 200-seitigen Bildband erschien. Ein 1998 erschienenes 52-seitiges Büchlein über GLI ULTIMI mit dreisprachigem Text wird ebenfalls von Ciols Bildern illustriert. Eine Ausstellung von Ciols Bildern vom Set im Jahr 1990 war auch der wichtigste Auslöser dafür, sich ernsthaft um die Erhaltung und Wiederbelebung des Films zu kümmern. - Adelfo Galli spielt seine Rolle sehr natürlich und ausdrucksstark, und Michelangelo Antonioni hat ihn seinerzeit als den besten Kinderdarsteller im italienischen Film bezeichnet (weitere Filmrollen hatte er aber nicht mehr). Freilich benutzte Pandolfi auch fragwürdig anmutende Mittel, die damals aber als normal galten. Im schon erwähnten Interview von 1966 bekannte er: "Ich musste ein System für ihn [Adelfo Galli] erfinden. Um eine bestimmte Emotion zu produzieren, musste ich eine entsprechende Reaktion auslösen. Wenn ich zum Beispiel wollte, dass er weinte, gab ich ihm ein paar Schläge. Er weinte. Wenn er lächeln sollte, zog einfach jemand hinter der Kamera Grimassen." GLI ULTIMI hat einige sehr emotionale Momente, aber er ist nie auch nur annähernd sentimental. Im Gegenteil - die strenge Inszenierung des Films hat ihm Vergleiche mit Dreyer, Bergman und Bresson eingetragen. Zugleich erweist sich GLI ULTIMI auch als thematischer Vorläufer von Filmen wie DER HOLZSCHUHBAUM und PADRE PADRONE, die rund 15 Jahre später entstanden. Einen wichtigen Anteil an der Wirkung des Films hat Kameramann Armando Nannuzzi, dem sehr klare und schöne Aufnahmen der bäuerlichen Lebenswelt und der friaulischen Landschaft gelingen, ohne je in die Nähe von Postkartenklischees zu geraten. Später drehte Nannuzzi so unterschiedliche Filme wie Bernhard Wickis DER BESUCH (der alten Dame), GENOSSE DON CAMILLO, A. Pietrangelis ICH HABE SIE GUT GEKANNT, Viscontis LUDWIG, EIN KÄFIG VOLLER NARREN, FLUCHT NACH VARENNES und Stephen Kings MAXIMUM OVERDRIVE. David Maria Turoldo war ständig am Filmset und nahm aktiv an den Dreharbeiten teil. Die eigentliche Regie überließ er Pandolfi, aber sonst kümmerte er sich um alles. Man kann ihn ohne weiteres als Produzenten von GLI ULTIMI bezeichnen, auch wenn in den Credits kein Produzent genannt wird. Dagegen war Henry Lombroso, dem verschiedentlich diese Funktion zuerkannt wird, nur für den Verleih zuständig.

Abenteuer am Tagliamento
GLI ULTIMI war der erste Spielfilm, der in Friaul gedreht wurde, und Turoldo und die anderen Macher hofften auf entsprechende Resonanz, wurden aber enttäuscht. 1962 lief GLI ULTIMI in seiner ursprünglichen Länge von 96 Minuten bei den Filmfestspielen von Venedig, allerdings nicht im Wettbewerb, sondern in einer Nebenreihe in einem kleinen Saal, wo er wenig Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Januar 1963 kam eine von Pandolfi um sieben Minuten gekürzte Fassung in die friaulischen Kinos, die Premiere war in Udine. Aber die von Turoldo und seinen Mitstreitern erhoffte Begeisterung blieb aus, und viele im Publikum und unter den Kritikern fühlten sich und ihre Region sogar als rückständig verunglimpft und protestierten dagegen. Außerhalb Friauls lief GLI ULTIMI in größeren Städten, aber nicht flächendeckend, ebenfalls mit sehr bescheidenem Erfolg. Unter den Wenigen, die uneingeschränkt positive Kritiken verfassten, waren Pasolini und der Schriftsteller Giuseppe Ungaretti. Die Sprache des Films ist übrigens - auf Turoldos ausdrücklichen Wunsch - allgemeinverständliches Italienisch, mit nur wenigen lokalen Ausdrücken wie dem Grußwort "mandi" aus dem Friaulischen (Furlan), das eine eigene Sprache darstellt. - Vito Pandolfi drehte 1965 PROVINCIA DI LATINA, eine Dokumentation in Spielfilmlänge, die die Entwicklung der Arbeitswelt einer bestimmten Region aus soziologischer Sicht beleuchtet, von der bäuerlichen Lebensweise über Handwerk und Industrie bis zur Arbeit in einem Kernkraftwerk. Im erwähnten Interview von 1966 sagte Pandolfi, dass er viel lieber Filme dreht, als Theater zu inszenieren, weil letzteres körperlich viel anstrengender ist und ihm an die Nerven und auf den Magen schlägt. Aber weitere Filme von ihm gibt es nicht. Die Leitung eines von ihm gegründeten Theaters in Rom und seine universitären Verpflichtungen ließen ihm wohl keine Zeit mehr dafür.


GLI ULTIMI erfüllte also alle Voraussetzungen, um komplett in der Versenkung zu verschwinden, doch dazu kam es nicht. Schon 1982, zum 20-jährigen Jubiläum, sendete die RAI vier kurze Gesprächsrunden mit Turoldo und je einem oder zwei Gästen, in denen an den Film erinnert wurde. Und friaulische Lokalpatrioten, Filmliebhaber und Filmhistoriker bemühten sich, diese Rarität zu erhalten und ihre Entstehungsgeschichte zu dokumentieren. Koordiniert wurden diese Anstrengungen in den letzten gut 20 Jahren von der Cineteca del Friuli in Gemona in Zusammenarbeit mit dem Centro Espressioni Cinematografice in Udine und weiteren Institutionen. 2002 wurde die Verleihfassung des Films in restaurierter Form wiederveröffentlicht und auch auf VHS herausgebracht. Diese Fassung von 2002 wurde gelegentlich auch im deutschsprachigen Raum gezeigt, so 2006 im Italienischen Kulturinstitut Köln und 2009 im Österreichischen Filmmuseum in Wien sowie im Verein Lichtspiel/Kinemathek Bern. 2012 schließlich, pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum, wurden sowohl die Verleih- als auch die originale Venedig-Fassung mit allen Finessen digital restauriert präsentiert, und es erschien ein 2-DVD-Set, das beide Versionen des Films enthält, regionalcodefrei und mit englischen und spanischen Untertiteln. Damit war ein außerhalb seiner engeren Heimat weitgehend vergessenes Meisterwerk endgültig wiederauferstanden. Leider kam man bei der Cineteca nicht auf die Idee, auch das reichhaltige Bonusmaterial mit Untertiteln zu versehen, und die sicher sehr informativen Texte im 43-seitigen Booklet wurden auch nicht übersetzt. Obwohl diese Ausgabe also nur halbherzig für den internationalen Markt tauglich gemacht wurde, gewann sie beim diesjährigen Festival Cinema Ritrovato in Bologna den Preis für die beste DVD. - Für hilfreiche Informationen danke ich Luca Giuliani von der Cineteca del Friuli.