Dienstag, 21. April 2020

Deutschland im Würgegriff des Virus ... oder?

DIE HAMBURGER KRANKHEIT
Deutschland (BRD)/Frankreich 1979
Regie: Peter Fleischmann
Darsteller: Helmut Griem (Sebastian), Carline Seiser (Ulrike), Ulrich Wildgruber (Heribert), Fernando Arrabal (Ottokar), Rainer Langhans (Alexander), Tilo Prückner (Fritz), Romy Haag (Carola), Peter von Zahn (Senator), Rosel Zech (Dr. Ursula Hamm), Leopold Hainisch (Prof. Placek), Evelyn Künneke (Wirtin), viele Laiendarsteller
"Um wieviele Todesfälle handelt es sich?"
"Vor drei Tagen waren es zwölf. Vorgestern 57. Und heute haben wir schon keinen Platz mehr."
Es beginnt alles scheinbar ganz harmlos. In einem Hamburger Kongresszentrum findet eine Tagung einer gerontologischen Vereinigung statt, in der es darum geht, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, also das menschliche Leben möglichst lange, womöglich unbegrenzt, zu verlängern. Das erweist sich als vorweggenommene bös-ironische Pointe, denn statt ewig zu leben, fallen zur selben Zeit auf Hamburgs Straßen gerade die Leute reihenweise tot um. Unter den Vortragenden auf dem Kongress befindet sich der Arzt und Gerontologe Professor Sebastian Ellerwein. Als ein älterer Kollege kollabiert und in einer Klinik stirbt, erfährt Sebastian von der mit ihm befreundeten Ärztin Dr. Hamm, was bisher der Öffentlichkeit verschwiegen wurde, um eine Panik zu vermeiden: Seit ein oder zwei Wochen kippen Leute regelrecht aus den Latschen und sterben innerhalb von Minuten oder nur Sekunden, und unmittelbar vor ihrem Tod nehmen sie eine verkrümmte Embryo-Haltung ein. Den genauen Beginn der Epidemie kennt man nicht, weil die ersten sporadischen Fälle nicht miteinander in Verbindung gebracht wurden, aber jetzt ist die Malaise unübersehbar geworden. Wenn man exponentielles Wachstum unterstellt, dann bedeuten die Zahlen aus dem obigen Zitat, dass es jetzt, nach Ablauf der drei Tage, schon fast 1300 Tote gibt.

Ulrike und Sebastian, Ottokar und Heribert
Professor Strasser vom Tropeninstitut, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, vermutet ein hochansteckendes Virus als Ursache, das vermutlich über den Hafen eingeschleppt wurde. Doch Razzien der Gesundheitspolizei im Hafenviertel, bei denen ausländische Seeleute reihenweise zwangsvorgeführt und medizinisch untersucht werden, bleiben ohne konkrete Ergebnisse. Sebastian steht der Virentheorie ohnehin skeptisch gegenüber. Er vermutet eher, dass ein sich selbst verstärkender Teufelskreis aus Stress, Lärm, allen möglichen Umweltgiften und Angst vor der Krankheit ebendiese Krankheit auslöst und zu den Todesfällen führt. Was ihn auch stutzig macht: Bei seinen eigenen früheren molekularbiologischen Forschungen im Labor seines Mentors Prof. Hammerschmidt sind als Versuchstiere verwendete Schimpansen reihenweise verendet - und haben dabei Embryo-Haltung angenommen. Doch Sebastian findet kein Gehör, und nachdem die Politik nun handeln muss, setzt sich Prof. Strasser mit seinen Vorschlägen durch, alle Kontaktpersonen der Verstorbenen zwangsweise in strenge Quarantäne zu nehmen, und der Bevölkerung flächendeckend Breitband-Virostatika zu verabreichen (was im weiteren Verlauf des Films und jetzt auch von mir vereinfachend als "Impfung" bezeichnet wird - wie wir alle wissen, lässt ein echter Impfstoff für eine neue Krankheit erst mal auf sich warten).

Prof. Strasser, rechts unten mit dem Senator
Parallel zur Etablierung der Epidemie und von Sebastian als (vermeintlicher) Hauptfigur lernen wir drei weitere Protagonisten kennen. Da ist der tatkräftige und etwas schmierige Heribert, der in seiner Imbissbude in St. Pauli Würstchen feilbietet. Er sieht die Epidemie darwinistisch - die Natur greift zur Selbsthilfe und sortiert die Schwachen aus, und am Ende wird es für die Übriggebliebenen besser sein als zuvor. Da ist der ihm in einer Art Hassliebe verbundene Rollstuhlfahrer Ottokar - ein zynischer Giftzwerg, der schnell ausfallend bis hysterisch wird, wenn es nicht nach seiner Pfeife geht. Und da ist die junge Ulrike, die unbedarft und seltsam distanziert durchs Leben geht, als würde sie die Seuche um sie herum nichts angehen. Sie übernimmt im Film die Rolle des "reinen Tors", Peter Fleischmann verglich sie in einem Interview mit einem Simplicissimus, der allen Gefahren entgeht. - Als Sebastian ein Opfer der Krankheit auf der Straße untersucht, ohne Handschuhe, Maske oder sonstige Schutzmaßnahmen, wird er prompt von der Polizei in eine der überfüllten Quarantänestationen verfrachtet und trifft dort auf Heribert und Ulrike. Doch der umtriebige Heribert gedenkt nicht, dort lange zu bleiben. Als unter den Insassen ein Tumult ausbricht, benutzt er die Gelegenheit zur Flucht, die er mit Ottokars Hilfe bereits vorbereitet hat, und in seinem Schlepptau entkommen auch Sebastian und Ulrike. Zusammen fliehen die vier in Heriberts Lieferwagen, und mit Glück und Chuzpe lavieren sie sich durch die inzwischen allgegenwärtigen Polizeikontrollen und verlassen die Stadt.

Fritz (noch auf dem Dach) und Alexander; Heriberts Wagen geht in Flammen auf
Aber die Hoffnung, dass die Seuche auf Hamburg beschränkt ist, zerschlägt sich schnell. Bereits im ersten Bauerndorf, durch das die Flüchtlinge kommen, liegen die Toten auf der Straße und in den Höfen. Als Ottokar, Sebastian und Ulrike in einer gemeinsamen Anstrengung eine Leiche, die gerade von Schweinen angefressen wird, aus dem Stall bergen, ist Heribert über die daraus erwachsende Ansteckungsgefahr so verärgert und angewidert, dass er im Streit alleine weiterfährt. Für die anderen ist trotzdem für das Fortkommen gesorgt, denn im Dorf finden sich doch noch zwei Überlebende. Da ist der zappelige Fritz, der sich vor der im Dorf stattgefundenen Impfaktion auf das Dach eines Bauernhauses gerettet hat, und der meint, dass er nur deshalb überlebt hat, weil er eben nicht geimpft wurde. Nun legt er zunächst mal geradezu panisch Wert auf räumlichen Abstand zu seinen neuen Bekannten - social distancing im Jahr 1979. Der zweite Überlebende ist der leicht esoterisch angehauchte Alexander, der eine nicht so recht zu ihm passende Tätigkeit ausübt - er überführt Wohnwagen an die Käufer, und daran hält er auch jetzt fest, als würde um ihn herum nichts Besonderes geschehen. Seine Abgeklärtheit ist aber nicht naiv wie bei Ulrike, sondern entspringt sozusagen der höheren Warte fernöstlicher Weisheiten. Mit seinem Geländewagen und dem daran hängenden Wohnwagen setzen die nunmehr fünf Reisegenossen die Fahrt fort.

Ausnahmezustand in Hamburg und Lüneburg
Zunächst soll es nach Lüneburg gehen, wo Sebastian mit seinem früheren Chef Prof. Hammerschmidt die Lage erörtern will. Doch die Stadt ist bereits von der Polizei und einer regelrechten Zivilschutzmiliz abgeriegelt - die zahlreichen Flüchtlinge aus Hamburg werden nicht hineingelassen. Auch telefonisch gelingt es nicht, Kontakt mit Hammerschmidt aufzunehmen - diese Spur (wenn es überhaupt eine war) verläuft endgültig im Sand. Und dann kommt es zu einer dramatischen Wende. Sebastian und Ulrike, die von den anderen getrennt wurden, logieren in der von der Polizei versiegelten Wohnung von Sebastians Schwester (deren Schicksal im Dunkeln bleibt). Sebastian bekommt glasige Augen, fällt vom Sessel, rollt sich zur Embryo-Haltung zusammen und stirbt. Von den knapp zwei Stunden des Films ist gerade mal eine gute Stunde vergangen. Das ist für den unvorbereiteten Zuschauer ein Schlag in die Magengrube. Gewiss, Fleischmann war nicht der erste, der sowas gemacht hat. Erst wenige Monate vor der Premiere von DIE HAMBURGER KRANKHEIT hat in ALIEN gegen die üblichen Genre-Konventionen der Captain frühzeitig den Löffel abgegeben. Doch hier ist es noch eine Spur heftiger, denn eigentlich war von Anfang an klar, dass der Vernunftmensch und Wissenschaftler Sebastian die Ursache der Epidemie aufklären wird - und nun das. Wobei das mit dem "Vernunftmenschen" bei näherer Betrachtung allerdings Risse bekommt. Denn Sebastian hat bei seinem Umgang mit den Leichen auf jeden Schutz verzichtet und damit höchst fahrlässig, ja ausgesprochen dämlich gehandelt, während Heribert und Fritz in ihrem Bemühen um Distanz instinktiv alles richtig gemacht haben - eigentlich hat Heribert viel vernünftiger gehandelt als Sebastian. Diese Sichtweise ist aber sicher nicht die von Fleischmann intendierte - der Film ist redlich bemüht, Sebastian als den Rationalisten und Heribert als den impulsiven und teilweise skrupellosen Tatmenschen hinzustellen. Es liegt an uns, ob wir das mit unserem heutigen Wissen so schlucken wollen.

Neue Reisegenossen kommen und gehen
Mit Sebastians Abgang hat sich auch seine Theorie über die Seuche verflüchtigt. War überhaupt etwas daran, oder war er von Anfang an auf dem Holzweg? Wir erfahren es nicht mehr. Und mit seinem Abgang wechselt der Fokus des Films zu Ulrike als neuer Identifikationsfigur. Wir werden sie von jetzt an, also in der zweiten Hälfte des Films, permanent im Blick haben, während die anderen Protagonisten immer wieder mal für kurze Zeit verschwinden, um dann wieder aufzutauchen (oder auch nicht). - DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist zwar nicht komplett an einer realistischen Szenerie vorbei inszeniert, weist aber immer wieder Sequenzen mit einem leicht surrealen Touch auf. So gibt es Bilder von Landstraßen, die von endlosen Autokolonnen verstopft sind, und an denen sich bizarre Szenen abspielen. Schon in der Nähe von Lüneburg gibt es fliegende Händler, die am Straßenrand Gesichtsmasken verkaufen (was Sebastian als Geschäftemacherei mit wirkungslosem Firlefanz bezeichnet - auch das aus heutiger Sicht kein Ausweis seiner Kompetenz), und der Lieferwagen von Heribert, der jetzt seine Würstchen an die im Stau Gestrandeten verkauft, wird ohne ersichtlichen Grund abgefackelt. Noch bizarrer eine spätere Szene: Im Stau gab es einen leichten Auffahrunfall mit geringfügigem Blechschaden, über den sich die beiden Autobesitzer in die Wolle geraten, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres ("Mutti, hol die Polizei! Das lassen wir uns nicht bieten!"). Und während noch gestritten wird, bricht ein schwerer Kampfpanzer in voller Fahrt aus dem Unterholz hervor und macht eines der im Stau stehenden Autos platt. Nein, die Bundeswehr hat noch nicht die Kontrolle im Land übernommen. Es handelt sich nur um einen britischen Panzerführer, der angesichts der unklaren Bedrohungslage die Nerven verloren hat. Die Polizei kann den Panzer nur hilflos umkreisen, aber ein ebenfalls auftauchender Militärhubschrauber bringt ihn mit einem gezielten Schuss vor den Bug zum Stehen. (Dass es ein britischer Panzer ist, hat keine tiefere Bedeutung. Die zunächst angefragte Bundeswehr wollte von solchem Kram nichts wissen, weil ein deutscher Panzerfahrer nicht Amok läuft, wie Fleischmann in einem Interview erzählt. Die danach kontaktierten Briten waren dagegen begeistert von der Gelegenheit, sich mal richtig auszutoben.) Diese Sequenzen erinnern atmosphärisch etwas an Godards WEEKEND von 1967, in dem sich in einem Mega-Stau surreale und apokalyptische Szenen abspielen.

Kleiner Blechschaden ... und dann ein etwas größerer Blechschaden
Sozusagen das Gegenstück dazu ist eine andere Sequenz, in der die Flüchtigen eine Barriere durchbrechen und dann auf einer, abgesehen von einem Konvoi von Einsatzfahrzeugen, völlig leeren Autobahn dahinbrausen. Fleischmann hat hier Bilder nachgestellt, die man aus der Realität von den autofreien Sonntagen im Gefolge der Ölkrise von 1973 kannte (und die derzeit in abgeschwächter Form wieder aktuell sind). Bizarre Szenen gibt es auch, als Alexander den Wohnwagen bei den neuen Besitzern abliefert (einem Dialog nach in Gießen, aber gedreht wurde das in Fulda). Diese haben nichts Besseres zu tun, als leichte Bagatellschäden zu monieren und nachdrücklich nach dem Verbleib einer mitbestellten Decke zu fragen (mit der Fritz seine Blößen bedeckte, nachdem er nackt vom Dach des Bauernhauses in Niedersachsen herabstieg). Surreal gestaltet sich auch eine Szene in einem Landgasthaus, irgendwo auf dem Weg von Hessen nach Bayern (jetzt in Alexanders Geländewagen ohne Wohnwagen). Dort wird eine frenetische Party gefeiert. Das ist nicht das Gegenstück heutiger Corona-Parties, sondern sowas wie der Tanz auf dem Vulkan angesichts einer drohenden Katastrophe, die schon im nächsten Augenblick jeden der Teilnehmer ereilen kann. Einer der Feiernden ist als Gevatter Tod maskiert und erinnert damit frappant an eine Gestalt in Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU - wo ebenfalls auf dem Vulkan getanzt wird (dort freilich angesichts des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs). Die Party ist aber auch ein Stelldichein reicher Krisengewinnler, die sich angesichts der neu auftuenden Geschäftsfelder gegenseitig auf die Schulter klopfen und zynisch frohlocken, weil sie solchen Kokolores wie Umweltschutz und Arbeitnehmerrechte bald in die Tonne treten können. "Grenzenloses Wachstum! Wir gehen rosigen Zeiten entgegen!" Evelyn Künneke hat einen kurzen Gastauftritt in dieser Sequenz, und Deutschlands damals bekannteste Transsexuelle Romy Haag spielt die schöne Carola, die sich nach der Party den Flüchtlingen für eine Weile anschließt. (Man bekommt auch kurz ihr "bestes Stück" zu sehen, das erst Jahre später operativ entfernt wurde, aber im Vergleich zu den Derbheiten, die man in Fleischmanns DOROTHEAS RACHE zu sehen bekommt, ist das alles sehr dezent.)

In Fulda
Noch jemanden treffen wir und unsere Protagonisten auf dieser Party, nämlich völlig unerwartet Heribert. Er hat inzwischen das Geschäftsmodell gewechselt. Statt weiterhin Würstchen zu verkaufen, hat er sich darauf verlegt, mit einer Pistole bewaffnet und mit einer kleinen Bande von maskierten Helfern versehen, die Partygäste auszurauben. "Wenn man in ein Chaos schießt, stellt sich zwangsläufig eine Ordnung ein", sagt er treffend, nachdem er einen Warnschuss abgegeben hat. - Gegen Ende des Films ist man in Bayern am Fuß der Alpen angekommen - und wird von einer Standschützenkompanie im Trachtenanzug empfangen, die per Walkie-Talkie mit den Behörden kooperiert (laut Credits und Presseheft handelte es sich realiter um die Schützenkompanie Kochel). Unvermutet für den Zuschauer und die Protagonisten wird plötzlich über den Rundfunk das Ende der Epidemie verkündet. Aber stimmt das auch? Jedenfalls werden alle noch ungeimpften Personen weiterhin der zwangsweisen Immunisierung zugeführt, und zu denen gehört auch Ulrike. Vorsichtshalber flüchtet sie weiter, auf eine Alm zu ihrem Opa, aber ist sie da oben wirklich sicher?


In zeitgenössischen Kritiken von DIE HAMBURGER KRANKHEIT wird häufig auf Parallelen zum Hamburger Giftmüllskandal von 1979 hingewiesen. Da waren nicht nur "normale" Giftstoffe illegal und ohne jede Aufsicht notdürftig verbuddelt oder lagen einfach so herum, sondern auch chemische Kampfstoffe wie Phosgen, Lost und Tabun in größeren Mengen. Gerade mal etwas mehr als drei Jahre nach Seveso sorgte das nicht nur für bundesweites, sondern sogar internationales Aufsehen. Als dann zweieinhalb Monate später in DIE HAMBURGER KRANKHEIT Männer in Ganzkörper-Schutzanzügen zu sehen waren, sorgte das für ein Déjà-vu - sowas hatte man doch gerade erst neulich in den Fernsehnachrichten gesehen. Und unter den exotischeren Theorien, die zu den Ursachen der "Hamburger Krankheit" vorgebracht werden, finden sich auch kürzlich abhanden gekommene chemische Kampfmittel der Bundeswehr. Freilich war DIE HAMBURGER KRANKHEIT längst abgedreht, als der Skandal publik wurde, und heute, viele Giftskandale später, spielt dieser Aspekt zur Beurteilung des Films keine große Rolle mehr.

DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist auch ein Roadmovie
Was ist nun DIE HAMBURGER KRANKHEIT für ein Film? Man könnte ihn als dystopisches Endzeit- oder Katastrophendrama mit leichtem Science-Fiction-Einschlag bezeichnen. Wobei sich der SciFi-Einschlag weniger aus der Handlung ergibt - es gibt da eigentlich nichts, was aus damaliger Sicht erst in der Zukunft möglich gewesen wäre, wenn man mal von den Spekulationen der Gerontologen über die Verlängerung des Lebens absieht, aber die besitzen für die eigentliche Handlung keine Relevanz. Eher liegt es am Atmosphärischen, und dazu leistet die Musik von Jean-Michel Jarre einen wesentlichen Beitrag. Der französische Musiker und Elektronik-Tüftler, der mit seinem Hit Oxygène (Part IV) auch hierzulande bekannt wurde, hat für DIE HAMBURGER KRANKHEIT keine neue Musik komponiert, sondern in Absprache mit Fleischmann passende Stücke aus seinen Alben Oxygène und Equinoxe ausgewählt. Dabei hatte er ein gutes Händchen. Die damals futuristisch klingende Musik wirkt heute nicht veraltet, sondern zeitlos, und sie versieht viele Szenen mit einem leicht abstrakt wirkenden und latent bedrohlichen Touch. Noch etwas ist DIE HAMBURGER KRANKHEIT, nämlich ein Roadmovie. Zwar dauert es etwas, bis die Protagonisten Hamburg hinter sich lassen, aber dann sind sie fast ständig unterwegs, von Nord nach Süd durch die ganze Republik. Meistens per Auto, auch mal mit einer Fähre auf der Elbe und später auf einem rostigen Hausboot, und zwischendurch und ganz am Schluss zu Fuß. Von den verschiedenen Etappen sind jeweils nur kleine Ausschnitte durch große geografische Sprünge miteinander verbunden, aber wer mit älteren deutschen Roadmovies wie etwa Wim Wenders' Trilogie (ALICE IN DEN STÄDTEN, FALSCHE BEWEGUNG und IM LAUF DER ZEIT, 1974-76) etwas anfangen kann, der wird auch Fleischmanns Film in dieser Hinsicht etwas abgewinnen können.

Carola schließt sich an
Was die surrealen Elemente betrifft, so blieb Peter Fleischmann seiner bisherigen Linie treu. Sein erster Spielfilm, JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969) nach dem gleichnamigen Stück von Martin Sperr (der auch die Hauptrolle spielte), war noch dem Realismus verpflichtet, ein typischer (und vielleicht der bekannteste) Vertreter des "Neuen Heimatfilms" innerhalb des Neuen Deutschen Films. Aber in der wüsten Kleinstadt-Groteske DAS UNHEIL (1972) und in der grellen Sex-Farce DOROTHEAS RACHE (1974) ließ es Fleischmann schon richtig krachen (den darauffolgenden Film LA FAILLE von 1975 habe ich noch nicht gesehen). Der 1937 geborene Fleischmann besitzt eine frankophile Ader, er hat einen Teil seiner Ausbildung an der Pariser Filmhochschule IDHEC absolviert (den anderen Teil am Vorläufer-Institut der HFF in München). Für DOROTHEAS RACHE gewann Fleischmann Jean-Claude Carrière als Co-Autor des Drehbuchs. Carrière hat, neben vielen anderen Filmen, auch an sechs Spätwerken von Luis Buñuel mitgearbeitet, von TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE über BELLE DE JOUR und DER DISKRETE CHARME DER BOURGOISIE bis zu DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE, er besaß also ausgewiesene Expertise in Sachen Surrealismus. Während dieser Zusammenarbeit, also Mitte der 70er Jahre, entstanden bereits die ersten Ideen zu DIE HAMBURGER KRANKHEIT, und Carrière fertigte später eine Reihe von Konzeptzeichnungen dazu an, war dann aber an der Entstehung des Films nicht mehr beteiligt. Diese Rolle übernahm Roland Topor, der auf Fleischmanns Wunsch das offizielle Filmplakat für DOROTHEAS RACHE entworfen hatte. Der Pariser Zeichner und Schriftsteller Topor (er schrieb u.a. die Romanvorlage für Polanskis DER MIETER) hatte schon um 1960 herum Freundschaft mit dem Dichter, Dramatiker und späteren Regisseur Fernando Arrabal geschlossen, der aus Chile nach Paris zugewanderte Alejandro Jodorowsky gehörte ebenfalls zu dieser Gruppe. Fleischmann, der Arrabal von einer früheren Begegnung in Cannes kannte, engagierte nun diesen als Darsteller des Ottokar und Topor als Co-Autor des Drehbuchs. Auf Topors Vorschlag wurde der Schriftsteller Otto Jägersberg als weiterer Autor hinzugezogen. Weil auch eine französische Firma an der Finanzierung von DIE HAMBURGER KRANKHEIT beteiligt war, ist es offiziell eine deutsch-französische Coproduktion (französischer Titel LA MALADIE DE HAMBOURG).

Schützenkompanie
Ein weiteres Charakteristikum zieht sich durch Fleischmanns Spielfilme von JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN bis (mindestens) DIE HAMBURGER KRANKHEIT (aber wiederum weiß ich in dieser Hinsicht nichts über LA FAILLE), nämlich seine Vorliebe, professionelle Theater- und Filmschauspieler mit vielen Laiendarstellern zu mischen und Letztere oft auch mit tragenden Rollen zu betrauen. Vielen der Laiendarsteller in DIE HAMBURGER KRANKHEIT sieht man ihren Status an, denn solche Charakterfressen bekommt man in den Katalogen der Schauspieleragenturen überhaupt nicht zu sehen, und alle sprechen ihren jeweiligen lokalen Dialekt, von einer Hamburger Hafenkneipe über das Hessische in Fulda bis zum Bairisch der Schützenkompanie. Was die Profis betrifft, so meistert Helmut Griem, der spätestens seit seinen Auftritten in CABARET und Viscontis LUDWIG auch international gefragt war, seinen Part souverän. Carline Seiser hatte zuvor nur zwei Filmauftritte vorzuweisen und hätte vielleicht Karriere gemacht, aber 1980 heiratete sie Konstantin Wecker (die Ehe hielt bis 1988) und beendete ihre Filmlaufbahn, auch wenn sie 1991 nochmals in einem TV-Film auftauchte. Sie wurde dann Malerin und Bildhauerin und entwarf gelegentlich auch Bühnenbilder und Kostüme. Das schauspielerische Highlight in DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist für mich aber Ulrich Wildgruber, der eine faszinierend dynamische Performance hinlegt. Damals schon ein arrivierter Theaterstar, der vor allem mit dem Namen Zadek verbunden war, hatte er zwar schon 1975 auch in einem Film von Peter Zadek mitgespielt, aber erst mit DIE HAMBURGER KRANKHEIT begann seine Zweitkarriere als Film- und Fernsehdarsteller so richtig. Sie währte 20 Jahre lang, bis er sich 1999 das Leben nahm.

In Bayern hat Heribert abermals die Profession gewechselt - er verkauft jetzt Schutzanzüge
DIE HAMBURGER KRANKHEIT ist 2018 auf einer DVD der Zweitausendeins Edition erschienen. Als Bonus gibt es u.a. das damalige Presseheft (als PDF im ROM-Bereich), die Zeichnungen von Carrière, das oben schon erwähnte Interview mit Fleischmann, und als Höhepunkt seinen grandiosen Dokumentarfilm HERBST DER GAMMLER von 1967. Eine ältere DVD von 2010 gibt es auch, aber die ist offenbar vergriffen. 2019 wurde DIE HAMBURGER KRANKHEIT digital restauriert, dabei aber leider auch gekürzt (auch Romy Haags Schniedel wurde weggeschnibbelt). Diese Version gibt es gegen Bezahlung bei Vimeo als Stream (dort auch ein Trailer in guter Bildqualität).

Montag, 6. April 2020

Doctor Death auf der Suche nach Seelen

DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS
USA 1973
Regie: Eddie Saeta
Darsteller: John Considine (Dr. Death), Barry Coe (Fred Saunders), Cheryl Miller (Sandy), Stewart Moss (Greg Vaughn), Leon Askin (Thor), Florence Marly (Tana), Sivi Aberg (Venus), Jo Morrow (Laura Saunders), Jim Boles (Franz), Moe Howard (Freiwilliger im Publikum), Athena Lorde (Spiritistin)


Fred Saunders muss einen herben Schicksalsschlag hinnehmen: Seine geliebte Frau Laura stirbt nach einem Autounfall. Doch bevor sie das Leben aushaucht, flüstert sie ihm noch ins Ohr, dass sie zu ihm zurückkommen werde. Ohne genau zu wissen, wie Laura das gemeint hat, entwickelt Fred eine Obsession daraus. Vorsorglich lässt er Laura schon mal nicht begraben, sondern nur im Sarg in einer Gruft im Friedhof verwahren, und er schärft dem Friedhofswärter Franz ein, die Gruft unter keinen Umständen zu verschließen. Dann macht sich Fred daran, die Rückholung seiner Frau aus dem Reich der Toten in die Wege zu leiten. Zuerst besucht er eine Séance bei einer Spiritistin, die einen Akzent wie Bela Lugosi an den Tag legt. Tatsächlich scheint die Dame Kontakt mit Laura aufnehmen zu können, doch leider merkt Fred schnell, dass es sich nur um fadenscheinigen Mummenschanz handelt. Als nächstes besucht er eine Society of the Dead, deren Mitglieder in Mönchskutten gekleidet sind, aber das erweist sich ebenfalls als ein Fiasko. Doch Fred gibt nicht auf, obwohl ihm sein Freund Greg und seine flotte Sekretärin Sandy die ungesunde Obsession ausreden wollen.

Der Titelschurke
Über eine kryptische Kleinanzeige, in der von Reinkarnation die Rede ist, trifft Fred schließlich die mysteriöse schöne, wenn auch nicht mehr ganz junge, Tana. Sie ist die Assistentin eines gewissen Dr. Death, dem sie erstaunliche Fähigkeiten nachsagt, und sie lädt Fred ein, einer Demonstration ihres Meisters vor kleinem geladenen Publikum beizuwohnen. Das lässt sich Fred nicht nehmen, und er erlebt Unerhörtes: In einem abgedunkelten Raum ist die Leiche einer schönen jungen Frau aufgebahrt - ein Freiwilliger aus dem Publikum bestätigt nach kurzer Untersuchung, dass sie wirklich tot ist. Daneben steckt in einem Kasten, wie er von Bühnenzauberern für den Trick mit der zersägten Jungfrau verwendet wird, eine andere junge Frau. Nur der Kopf schaut heraus, doch das Gesicht ist durch einen Chemieunfall schrecklich entstellt, wie das Publikum der Vorstellung erfährt. Der flamboyant gekleidete Dr. Death, der in seinem Outfit und seinem Gehabe wie ein Illusionist wirkt, erklärt den faszinierten Zusehern, dass die zweite junge Frau nun auf eigenen Wunsch sterben wird, damit ihre Seele mit Hilfe seiner Fähigkeiten in den unversehrten schönen Körper der anderen Frau fährt und davon Besitz ergreift. Und dann beginnt der Doktor doch tatsächlich, mit seinem einäugigen und stummen Faktotum Thor die Frau auf offener Bühne zu zersägen - und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten im Varieté handelt es sich um keinen Trick, sondern die Frau wird tatsächlich in zwei Teile zersägt. Nachdem das blutige Werk vollbracht ist, entsteigt die Seele der Frau (die man als Filmpublikum mit Hilfe simpler Doppelbelichtung zu sehen bekommt) dem Torso und schlüpft in die andere Leiche, die dadurch flugs zum Leben erweckt wird. Dr. Death ist von seinem Erfolg selbst so begeistert, dass er die neu zum Leben Erwachte "Venus" nennt und gleich zu seiner neuen Gespielin erwählt.

Sandy kümmert sich um Fred
Fred dagegen ist erst mal schockiert und spricht von Mord, aber er wird von Tana belehrt, dass es die Zersägte ja selbst so gewollt habe. Fred braucht noch eine gewisse Schamfrist, aber dann arrangiert er sich mit dem bizarren Vorgang. Er wird mit Dr. Death handelseinig - gegen Zahlung von 50.000 Dollar in bar wird der Doktor seine Fähigkeiten auf Laura anwenden. Er macht unverblümt klar, dass Fred Lauras Seele nicht wiederbekommen wird - die ist längst in höhere Sphären entschwunden, wo selbst er keinen Zugriff mehr hat. Doch mit Hilfe eine anderen Seele wird er Lauras Körper wieder zum Leben erwecken. Dass dafür eine andere Frau das Leben lassen muss, verdrängt Fred geflissentlich. Bei den Verhandlungen erfährt Fred auch vom vor Eitelkeit fast platzenden Dr. Death, wie der zu seinen Fähigkeiten kam: Vor 1000 Jahren war er ein alter Magier, der in seiner Burg durch Studium noch älterer Schriften und durch seine Experimente dem Geheimnis des Lebens und der Seelenwanderung auf die Schliche kam. Kurz bevor er das Zeitliche segnete, brachte er seinen Assistenten, einen naiven Bauernburschen, um die Ecke und transferierte seine eigene Seele in dessen Körper. Und so ging es dann jahrhundertelang weiter - immer wenn ein Körper das Ablaufdatum erreicht hatte, schlüpfte der Doktor rechtzeitig in einen neuen. Das konnte auch mal eine Frau sein, ein Chinese, ein Schwarzer. Und nun eben der aktuelle Dr. Death in den USA.

Fred bei einer spiritistischen Sitzung und bei der Society of the Dead
Freds Bedenken gegen das fragwürdige Experiment erwachen erst aufs Neue, als es schon im Gang ist. Tana, die Assistentin und nun abgelegte Geliebte des Doktors, hat ihrer neuen Konkurrentin Venus aus Eifersucht Säure ins Gesicht geschüttet, so dass sie jetzt auch wieder entstellt ist wie zuvor der andere Körper. Doch das hätte sie besser bleiben lassen, denn wie Fred jetzt entsetzt feststellt, hat sie der Doktor zur Strafe als "Spenderin" der Seele für Laura ausersehen. Erfolglos und letztlich auch nur halbherzig protestiert Fred gegen ihre Ermordung. Und wieder geht es nicht ohne Showeffekt: Auf Geheiß des Doktors wird die gefesselte Tana von Thor als Messerwerfer wie im Zirkus gemeuchelt. Doch der finale Schritt des Experiments misslingt: In der Friedhofsgruft will Tanas Seele nicht in Lauras Körper fahren. "Enter that body! I command you, enter that body!" befiehlt der Doktor etwas ungehalten, aber es hilft nichts - die Seele will nicht rein. Um genau zu sein, sie wird nicht reingelassen. Es ist zwar nicht ganz klar, wie ein toter Körper, dessen Seele längst in andere Dimensionen entfleucht ist, etwas "wollen" kann, aber der Doktor hat keinen Zweifel daran, dass Laura das Hindernis ist. Doch Fred hat jetzt die Schnauze voll. Entnervt befiehlt er dem Doktor, das Experiment zu beenden. Das bereits bezahlte Geld überlässt er ihm freiwillig, und er macht klar, dass er den schrägen Doktor nie mehr wiedersehen will.

Tana
Doch da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der in seiner Ehre (oder Eitelkeit) gepackte Seelenverschieber ermordet nun mit Thors Hilfe eine ganze Reihe junger Frauen, darunter die für ihn reizlos gewordene Venus, und wiederholt das Experiment mehrfach (mit Hilfe des ihm ergebenen Franz kommt er jederzeit in die Gruft). "Enter that body! I command you, enter that body!" vernehmen wir jedes Mal, aber es will einfach nicht gelingen. Da vertieft sich der frustrierte Magier erneut in seine alten Schriften, und jetzt glaubt er, den richtigen Dreh gefunden zu haben: Er brauche erstens eine Seele, die genauso willensstark wie Laura ist, und zweitens dürfe diese nicht allzu gewaltsam, sondern möglichst sanft vom Leben zum Tode befördert werden. Und schon findet er das passende Opfer, nämlich Sandy. Freds schöne blonde Sekretärin hat schon länger ein Auge auf ihn geworfen, was er aber zunächst nicht bemerkt oder absichtlich ignoriert hatte. Aber nachdem er mit Lauras Rückholung abgeschlossen hat, ist er nicht mehr abgeneigt. Dr. Death entführt nun also Sandy, und als sanfte Mordmethode hat er langsames Ausbluten ausgesucht. Zum Glück riecht Fred den Braten noch rechtzeitig, und mit Greg und der alarmierten Polizei versucht er, Sandy noch vor der unfreiwilligen Seelenwanderung zu retten. Aber Dr. Death, der bei einer seiner vorherigen Mordaktionen durch einen Messerstich im Bauch schwer verletzt wurde, hat noch einen letzten perfiden Schachzug in petto ...

Makabre Bühnenshow - ohne Tricks und doppelten Boden
DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS besitzt genug schräge bis offen komische Szenen, dass man ihn als Horrorkomödie verbuchen kann, er hat für einen Film von 1973 aber auch durchaus deftige und derbe Szenen, auch wenn die heute keinen mehr erschrecken können. Dr. Death zeigt so viel Flamboyanz und Theatralik, dass man ihm fast nicht ernsthaft böse sein kann, auch wenn man hofft, dass sein unseliges Treiben gestoppt wird. Er erinnert darin an diverse Rollen von Vincent Price, und vielleicht ist THE ABOMINABLE DR. PHIBES der Film, der einem als erstes als Vergleich oder gar als direktes Vorbild in den Sinn kommt, auch wenn DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS in der Gegenwart von 1973 und in den USA spielt. Dazu kommt die eine oder andere Poe-Verfilmung, vor allem die von Roger Corman, eine Spur LES YEUX SANS VISAGE, und dies und das. Wirklich neu ist an DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wohl nur wenig, aber das alles wird mit viel Enthusiasmus dargeboten. Der Enthusiasmus war auch nötig, denn DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS ist eine Billigproduktion. Die gesamte Produktionszeit währte ungefähr einen Monat, die reine Drehzeit zwölf Tage. Hauptgeldgeber war Berry Gordy Jr., der Gründer und Chef des Motown-Labels. Gordy und Regisseur Eddie Saeta gehörten zu den Produzenten der Billie-Holiday-Biografie LADY SINGS THE BLUES (1972) mit Diana Ross in der Hauptrolle. Für DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS spendierte Gordy sicher sehr viel weniger Geld als für das vorangegangene Prestigeprojekt, das für mehrere Oscars nominiert war, aber dafür soll er laut IMDb-Trivia eine kurze Sequenz selbst inszeniert haben.

Zwischen Tana und dem Doktor kriselt es; später geht ihre Seele auf Wanderschaft
Treibende Kraft bei DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS war aber nicht Gordy, sondern Produzent und Regisseur Eddie Saeta (1914-2005). Saeta ist sozusagen mitten in Hollywood aufgewachsen: Schon sein Vater war Chefelektriker bei Columbia Pictures, und Eddie wurde Anfang der 30er Jahre mit 18 Botenjunge für den diktatorischen Columbia-Chef Harry Cohn. Von dieser Position aus diente er sich bei Columbia, später auch bei anderen Studios, hoch vom dritten über den zweiten bis zum ersten Regieassistenten. In der IMDb hat er nicht viele Einträge in den prestigeträchtigen Hauptkategorien, aber 80 als Regieassistent oder 2nd Unit Director bei Film und TV. Dazu kamen später noch 16 Einträge als Produktionsmanager, u.a. in einigen Filmen von Robert Aldrich, noch später sieben Credits als Coproduzent, von LADY SINGS THE BLUES bis zu einer TV-Version von DER SEEWOLF von 1993 mit Charles Bronson und Christopher Reeve. Nachdem er zwei oder drei Episoden von Fernsehserien inszeniert hatte, wurde DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS seine erste und einzige Regie für das Kino. Saeta hatte zuvor eine Unzahl an Horrorfilmen gesehen, wie sich sein Sohn Steve im Bonusmaterial der Blu-ray erinnert, und diese Liebe zum Genre merkt man dem Film an. Dabei nahm Saeta das Inszenieren durchaus locker. Jeder Take, der nicht komplett verhagelt war, wurde nur ein- oder höchstens zweimal gedreht, einmal wandte sich Saeta wegen eines Telefonanrufs vom laufenden Dreh ab und fragte hinterher den Kameramann, ob die Szene etwas geworden ist, und wie erwähnt durfte Berry Gordy auch mal ran.

Thor
John Considine ist eine Schau, er nutzte die ihm gebotene Chance mit sichtlicher Spielfreude, aber auch Professionalität. Er kaspert keineswegs herum, sondern geht konzentriert zu Werk - seine teilweise recht langen Dialoge lieferte er immer auf Anhieb punktgenau ab, wie sich Steve Saeta im erwähnten Interview erinnert. Neben Considine wirkt Barry Coe als Fred doch etwas blass - er liefert eine Leistung ohne Glanzpunkte, aber auch ohne Aussetzer. Beim Namen Cheryl Miller (Sandy) bekam ich einen leichten Anfall von Nostalgie, ist sie doch eine Heldin meiner Kindheit. Nachdem sie sich 1964/65 schon mal in vier Folgen von FLIPPER warmlief, spielte sie dann in DAKTARI Paula, die Tochter des braven Buschdoktors Marsh Tracy (beide Serien wurden von Ivan Tors produziert). In DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS erinnert sie mit längeren Haaren und einigen Jahren mehr auf dem Buckel aber kaum noch an diese Rolle. Der Österreicher Leon Askin wird in seiner Rolle als monströser Thor nicht sehr gefordert (wir erinnern uns, er ist stumm und hat somit keine Dialoge), aber er bringt die nötige körperliche Präsenz auf, um schön bedrohlich zu wirken, und der Maskenbildner tat ein Übriges. Eddie Saeta hat in seiner langen Laufbahn Bekanntschaften und Freundschaften mit vielen berühmten Filmleuten geschlossen, darunter auch mit der Komikertruppe The Three Stooges. Deren Mitglied Moe Howard spielt den Freiwilligen im Publikum von Dr. Deaths Seelenwanderungsdemonstration, der sein Ohr an den Busen der wiederzubelebenden Frau hält, um zu bestätigen, dass sie (noch) tot ist. Es war dies Howards letzter Filmauftritt, er starb 1975. Auch Athena Lorde, die betrügerische Spiritistin, hatte in DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS ihre letzte Rolle - sie starb noch im Mai 1973 und erlebte die Premiere des Films nicht mehr. Für sie gestalteten sich die Dreharbeiten als Familienausflug - ihr Mann Jim Boles spielt den Friedhofswärter Franz, und beider Kinder Barbara Boles und Eric Boles sind in kleineren Rollen auch mit von der Partie.

Das Ende von Venus - für 1973 schon etwas heftig
Neben John Considine ist Florence Marly als Tana meine Favoritin im Cast. Die gebürtige Tschechin, der wir hier schon bei KRAKATIT begegnet sind, hatte eine wechselvolle Laufbahn. Als Frau des französischen Regisseurs Pierre Chenal drehte sie in den 30er Jahren etliche Filme in Frankreich, dann emigrierte das Paar aufgrund Chenals jüdischer Herkunft nach Argentinien, wo Marly auch einige Rollen spielte. Nach einem Film von René Clément und KRAKATIT als Zwischenstation bahnte sich eine Hollywoodkarriere an, die aber abrupt beendet wurde, als man sie in der McCarthy-Zeit fälschlich als Kommunistin verdächtigte (angeblich wurde sie mit der aus Russland stammenden Anna Marly verwechselt). Zwar wurde das Missverständnis ausgeräumt, aber ihre Karriere kam nicht wieder in Fahrt, und Marly hielt sich mit Fernsehrollen über Wasser. 1966 bekam sie die zweite oder dritte Luft als Darstellerin in einem Exploitationfilm, Curtis Harringtons QUEEN OF BLOOD, wo sie die titelgebende blutsaugende Alien-Dame mit grüner Haut spielt. Für diesen Film nahm sie auch das Lied Space Boy auf, bei dem angeblich Frank Zappa Schlagzeug spielt. Der Song wurde dann aber doch nicht für den Film verwendet, dafür drehte 1973 die aus Österreich stammende Malerin Renate Druks zusammen mit Marly einen kurzen Experimentalfilm unter dem nämlichen Titel SPACE BOY (Druks gehörte ebenso wie Curtis Harrington auch zum Dunstkreis von Kenneth Anger). DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wiederum setzte die mit QUEEN OF BLOOD begonnene Schiene fort. Es ist schade, dass Marly 1978 mit 59 starb und uns nicht noch mehr schöne Alterswerke hinterlassen hat.

Für Sandy wird es eng - bei 2500 ml ist zappenduster
Kein großes Studio wollte DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS unter seine Fittiche nehmen - das hatte Saeta auch nicht unbedingt erwartet. Es enttäuschte ihn aber, dass auch das einschlägige Studio American International Pictures der Herren Arkoff und Nicholson nichts von dem Film wissen wollte. So übernahm schließlich die Cinerama Releasing Corporation den Vertrieb, ließ es aber am nötigen Einsatz für Werbung etc. fehlen, und DOCTOR DEATH: SEEKER OF SOULS wurde zu einem finanziellen Fehlschlag und verschwand vorerst in der Versenkung, bis er für diverse Heimmedien (zuletzt die oben schon erwähnte Blu-ray aus den USA) wieder hervorgeholt wurde. Der Schluss des Films ließe Raum für ein Sequel, und laut IMDb hatte Eddie Saeta genau das auch im Sinn, aber der Misserfolg an der Kasse machte diese Pläne zunichte. Umso erfreulicher ist es, dass man diesen durchweg unterhaltsamen Film heute in guter Qualität auf DVD und Blu-ray genießen kann.