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Montag, 18. Juni 2018

JE T'ATTENDRAI - Poetischer Realismus aus der dritten Reihe

Der französische Film der 30er Jahre, und insbesondere die Strömung des Poetischen Realismus, gehört bekanntlich zu den glorreichen Epochen der Filmgeschichte. Namen wie Jean Renoir, Marcel Carné und Julien Duvivier haben sich in die Bücher für die Ewigkeit eingetragen. Doch bei soviel Glanz musste es eigentlich auch einen Unterbau geben - Regisseure aus der zweiten und dritten Reihe, die heute fast keiner mehr kennt. Es gab sie, und der gebürtige Russe (oder vielleicht Ukrainer) Léonide Moguy war einer von ihnen. Bei dem Namen wird mancher aufmerken: Da war doch was mit Quentin Tarantino? Ja, einer der Charaktere in DJANGO UNCHAINED heißt Leonide Moguy. Tarantino stieß während der Arbeit an INGLOURIOUS BASTERDS auf Moguys Anti-Nazi-Film PARIS AFTER DARK (1943), einen seiner drei Hollywoodfilme. Er sah sich weitere Moguy-Filme an und wurde ein Fan von ihm. Als 2013 auf dem Festival Lumière in Lyon der hier besprochene JE T'ATTENDRAI gezeigt wurde, hielt Tarantino (dem dort auch der Prix Lumière verliehen wurde) eine Einführung. Dass der Film letztes Jahr in Frankreich auf DVD und Blu-ray erschien, tat ein Weiteres, um Moguy der Obskurität zu entreißen.


JE T'ATTENDRAI (ursprünglich LE DÉSERTEUR)
Frankreich 1939
Regie: Léonide Moguy
Darsteller: Jean-Pierre Aumont (Paul Marchand), Corinne Luchaire (Marie), Berthe Bovy (Pauls Mutter), Édouard Delmont (Pauls Vater), René Bergeron (Auguste), Raymond Aimos (Sergent Lecoeur)

Erster Weltkrieg, im Artois im Norden Frankreichs. Ein Bombenangriff der deutschen Luftwaffe auf ein Bahngleis verschafft einem französischen Truppentransport an die Front einen Zwangsaufenthalt. Das nutzt der junge Soldat Paul zu einem ungenehmigten Abstecher in das nahegelegene Dorf, aus dem er stammt. Sein Freund und direkter Vorgesetzter Lecoeur deckt ihn zähneknirschend, aber die Offiziere dürfen nichts erfahren. Und es ist nicht viel Zeit: Die nächste Station ist nicht weit, und Antransport von Schienen und Schwellen und die Reparatur des Gleises werden nicht länger als zwei Stunden dauern. Wenn dann der Zug weiterfährt, und Paul noch nicht zurück ist, dann ist er ein Deserteur (und er würde damit auch Lecoeur schwer in die Bredouille bringen).

Paul (rechts) und Sergent Lecoeur
Doch Paul hat einen triftigen Grund. Im Dorf leben noch seine Eltern, vor allem aber seine Verlobte Marie. Und die hat ihm nie geschrieben, seit er bei der Armee ist, während er ständig Briefe an sie geschickt hat. Ist sie ihm etwa untreu geworden? Er muss es wissen, und so gibt es kein Halten, als sich die Gelegenheit ergibt. Im Dorf, das vom Krieg gezeichnet ist, trifft er zunächst seine Mutter in der Kirche. Und die hat unerfreuliche Nachrichten. Wie sie erzählt, sei Marie bald nach Pauls Einziehung zur Armee aus seinem Elternhaus, wo sie bereits gewohnt hatte, ausgezogen, weil sie nichts mehr von ihm und seiner Familie wissen wollte. Nun wohnt sie im Anbau einer üblen Spelunke, wo sie als Bedienung arbeitet. Paul kann es kaum glauben und eilt sofort in die düstere Kaschemme, die vor allem von Soldaten auf Fronturlaub frequentiert wird. Und tatsächlich findet er dort Marie, deren übergriffiger Chef, der einäugige Wirt Auguste, sein verbliebenes Auge auf sie geworfen hat. Der ebenso grobschlächtige wie durchtriebene Auguste schreckt nicht davor zurück, die angetrunkenen Soldaten übers Ohr zu hauen, indem er deutlich mehr Getränke berechnet, als tatsächlich konsumiert wurden. Und er denunziert Gäste, die sich ohne Erlaubnis bei ihm aufhalten, bei der Gendarmerie - ein schlechtes Omen für Paul.

Ein Dorf, vom Krieg gezeichnet
Die Aussprache zwischen Marie und Paul verläuft anders, als er gedacht hat: Sie ist es, die ihm heftige Vorwürfe macht, weil er ihr nie geschrieben habe. Als er das bestreitet, lässt sie durchblicken, dass nur seine Eltern dafür in Frage kommen, die gegenseitigen Briefe verschwinden zu lassen. Als Zuschauer weiß man sogleich, dass sie recht hat, doch Paul glaubt ihr kein Wort. Sie zerstreiten sich heillos, und die Beziehung ist offenbar endgültig zu Ende. Unterdessen gibt es auch einen heftigen Streit zwischen Pauls Eltern, die durch die Einrichtung ihres Häuschens, ihren Habitus und den Inhalt des Streits als konservative Kleinbürger gekennzeichnet werden. Wie man nun erfährt, war es vor allem die Mutter, die "etwas Besseres" für Paul wollte als die aus einfachsten Verhältnissen stammende Marie, und sie war es, die Marie gleich nach Pauls Abreise aus dem Haus geworfen hat. Und natürlich hat sie auch die Briefe unterdrückt. Der Vater, der schwächere Part in der Ehe, hat gegen seine Überzeugung mitgemacht. Und nun streiten die beiden darüber, ob sie bei der Lüge bleiben oder Paul die Wahrheit sagen sollen.

Auguste macht sich an Marie heran
Vorerst setzt sich wieder die Mutter durch, doch der Schuss geht nach hinten los. Als nämlich Paul aus der Spelunke zurück im Elternhaus ist, ist er so niedergedrückt, dass ihn der Lebensmut verlassen hat. Recht unverblümt lässt er durchblicken, dass er im Schlachtgetümmel den Tod suchen wird. Das schockiert zunächst den Vater und mit einiger Verzögerung auch die hier etwas begriffsstutzige Mutter, und sie ringen sich dazu durch, nun doch mit der Wahrheit herauszurücken. Natürlich muss Paul sofort wieder in das Lokal, um es doch noch mit Marie zu richten. Doch der Graben ist tief, und er braucht viel Zeit und Überzeugungskunst, um Marie umzustimmen - Zeit, die er gar nicht hat. Schließlich schafft er es doch, aber die Versöhnung wird von Auguste belauscht. Der schickt wieder mal nach der Gendarmerie, um den neu aufgetauchten Nebenbuhler gleich wieder loszuwerden, und dann liefert er sich im Lagerraum seiner Spelunke eine wüste Schlägerei mit Paul - an deren Ende er scheinbar tot auf dem Boden liegt. Paul hat ihn nicht vorsätzlich umgebracht, aber es ist nun mal passiert. Paul ist hin- und hergerissen, ob er sich stellen oder doch noch versuchen soll, den Zug zu erreichen. Während ein erneuter deutscher Luftangriff für allgemeines Tohuwabohu sorgt, kommt der nur bewusstlose Auguste allein zu sich und taumelt auf die Tür zu - wird er Paul nun zum Verhängnis werden? Doch im genau passenden Moment schlägt eine Bombe exakt ins Lager ein und macht Auguste nun wirklich den Garaus, und alle Spuren sind getilgt. Paul nimmt jetzt die Beine in die Hand, läuft buchstäblich um sein Leben, und kann im allerletzten Moment auf den bereits anfahrenden Zug aufspringen, auch sehr zur Erleichterung von Lecoeur und den anderen Kameraden. Kaum ist Paul im Zug, ist er wieder guter Laune und tut so, als sei nichts gewesen, so wie 25 Jahre später Jean-Paul Belmondo am Ende von ABENTEUER IN RIO. Und Pauls Mutter und Marie sind auch wieder versöhnt, als sei da nichts gewesen.

Schatten auf den Protagonisten
Es geht also gut aus für Paul, und für den Teil der Zuschauer, der auf ein Happy End gehofft hat - vielleicht allzu gut. Da ist ein bisschen viel Rettung in letzter Sekunde, Augustes finale Bombe ist schon fast ein deus ex machina. Hätte Jacques Prévert das Drehbuch geschrieben, hätte der Film einen ganz anderen Schluss - keinen guten für Paul. Doch tatsächlich stammt das Drehbuch von Marcel Achard, Jacques Companéez und Jean Aurenche (dem wir hier schon bei DIE MAUERN VON MALAPAGA begegnet sind), nach einer Vorlage von Companéez und Michel Deligne. Trotzdem habe ich keine Probleme damit, JE T'ATTENDRAI dem Poetischen Realismus zuzurechnen. Er bietet genug menschliche Abgründe und über weite Strecken eine düstere Grundstimmung. Auch visuell ist JE T'ATTENDRAI ein dunkler Film mit viel Schatten auf den Protagonisten, und ein Beispiel dafür, dass der Poetische Realismus zu den Vorläufern des Film noir zählt. Ursprünglich hieß er übrigens LE DÉSERTEUR, und so kam er im März 1939 in die Kinos. Doch in den Zeiten kurz vor dem nächsten Krieg gefiel dieser Titel der französischen Zensur gar nicht, und er musste umbenannt werden. Unter dem zweiten Titel, der "Ich werde auf dich warten" bedeutet (und damit das Ende vorwegnimmt), kam er im November 1939 erneut in die Lichtspielhäuser. In Deutschland scheint er nie gelaufen zu sein.

Noch mehr Schatten
Die Schauspieler machen ihre Sache gut, ohne herauszuragen. Jean-Pierre Aumont hatte in seiner langen Film- und TV-Karriere, die bis ins hohe Alter dauerte, dutzende von Rollen. Vor JE T'ATTENDRAI sah man ihn beispielsweise schon in DRÔLE DE DRAME und HÔTEL DU NORD, beide von Carné, und im fortgeschrittenen Alter in Truffauts DIE AMERIKANISCHE NACHT. Ganz anders verlief die Laufbahn der mir bisher unbekannten Corinne Luchaire: Sie spielte zwischen 1937 und 1940 nur in sieben Filmen, in denen sie namentlich genannt wurde, drei davon unter der Regie von Moguy, dann erkrankte sie an Tuberkulose und musste ihre Laufbahn beenden. Nach JE T'ATTENDRAI spielte sie die weibliche Hauptrolle in LE DERNIER TOURNANT, der unautorisierten ersten Verfilmung von James M. Cains "The Postman Always Rings Twice". Corinne Luchaire war die Tochter des Zeitungsverlegers und Politikers Jean Luchaire, der während der französischen Besatzung eng mit den Nazis und dem Vichy-Regime zusammenarbeitete. Dafür wurde er 1946 als hochrangiger Kollaborateur hingerichtet. Corinne war tief in die Aktivitäten ihres Vaters verstrickt und ging bei Nazi- und Vichy-Größen ein und aus, sie soll aber auch jüdischen Freunden und Bekannten wie Simone Signoret geholfen haben. Ich bin nicht sicher, wie ihr Verhalten während der Besatzung letztlich zu beurteilen ist. Jedenfalls kam sie nach dem Krieg für einige Monate in Untersuchungshaft, und nach einem Verfahren wurden ihr 1946 für zehn Jahre die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, was nach einer Berufung auf fünf Jahre verkürzt wurde. Da hatte sie schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Und es kam für sie noch schlimmer: Sie konnte sich nie von ihrer Krankheit erholen und starb 1950 mit 28 Jahren an der Tuberkulose. - Ebenso neu für mich war die in Belgien geborene Bühnen- und Filmschaupielerin Berthe Bovy. Seit 1907 bei der Comédie-Française, spielte sie noch mit der legendären Sarah Bernhardt, und ungefähr zur selben Zeit drehte sie ihre ersten Stummfilme. Bovy war auch die erste Interpretin von Jean Cocteaus "La Voix humaine". Ein alter Bekannter ist dagegen Édouard Delmont, den ich etwa schon aus allen drei Teilen von Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (MARIUS, FANNY und CÉSAR) kannte sowie aus Renoirs TONI und LA MARSEILLAISE und Carnés LE QUAI DES BRUMES.

Pauls Eltern streiten sich
Léonide Moguy wurde je nach Quelle 1898, 1899 oder 1900 als Leonid Mogilewski in St. Petersburg oder Odessa (wiederum je nach Quelle) geboren (ich bin der Frage nach den Geburtsdaten nicht weiter nachgegangen). Gestorben ist er jedenfalls 1976 in Paris. Schon in den 20er Jahren betätigte er sich nach seinem Studium (Recht, Volkswirtschaft und Psychologie) in der Sowjetunion als Filmkritiker, war an der Herstellung von Wochenschauen und Dokumentarfilmen beteiligt, war Mitgründer einer Cinematheque, und er leitete ein Experimentalfilmlabor, bevor er 1928 nach Frankreich emigrierte. Dort betätigte er sich zunächst als Cutter, und er soll dabei so geschickt gewesen sein, dass man ihm den Spitznamen "Chirurg des französischen Kinos" verlieh. Nach einem Film als ungenannter Co-Regisseur inszenierte er dann zwischen 1936 und 1961 15 Spielfilme. Interessanterweise lagen zwischen der Premiere seines ersten und letzten eigenen Spielfilms auf den Tag genau 25 Jahre. Nach der französischen Niederlage 1940 emigrierte Moguy vorübergehend in die USA, und wie schon angedeutet, drehte er zwischen 1943 und 1945 drei Filme in Hollywood. Im letzten davon, der im Januar 1946 herauskam, hatte Ava Gardner ihre erste Hauptrolle (und drehte gleich danach THE KILLERS unter Siodmak). Moguy kehrte unterdessen nach Europa zurück, und nach einem Film in Frankreich mit Danielle Darrieux drehte er dann 1950 und 1951 in Italien zwei Filme, in denen jeweils die damals noch sehr junge Pier Angeli Hauptrollen spielte, im ersten neben "Moneypenny" Lois Maxwell und Vittorio De Sica. Seine letzten vier Filme inszenierte Moguy dann wieder in Frankreich. Ab den 50er Jahren engagierte er sich in der internationalen Anti-Atomwaffenbewegung, und dieses Thema bestimmte auch seinen letzten Film LES HOMMES VEULENT VIVRE - es geht darin um drei Physiker, die an Atomwaffen forschen und irgendwann vor der Frage stehen, ob sie diese Forschungen fortsetzen oder einstellen sollen - jeder der drei kommt dabei zu einem anderen Ergebnis.

Paul schockiert seine Eltern
Etliche von Moguys Filmen behandeln soziale Themen, speziell solche von Kindern oder Jugendlichen, allerdings attestiert ihm das Lexikon des Internationalen Films dabei teilweise Oberflächlichkeit oder gar Larmoyanz. Ob das nun gerechtfertigt ist oder nicht, zu den Großen der Filmgeschichte zählt Moguy jedenfalls nicht. Trotzdem sollte er vielleicht etwas bekannter sein, als er ist, nicht nur weil Quentin Tarantino das auch findet. Auf jeden Fall ist er ein weiteres Beispiel dafür, dass die französische Filmkultur der 30er Jahre Immigranten gegenüber so offen war wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. - Wer noch mehr über Moguy und speziell seine amerikanischen Filme erfahren will, dem sei dieser Artikel empfohlen. - Die bereits erwähnte DVD bzw. Blu-ray von Gaumont hat englische Untertitel. Allerdings gilt das nur für den Film selbst. Beim Bonusmaterial, im Wesentlichen eine 19-minütige Einführung durch den Filmhistoriker Laurent Véray, hielt man das für verzichtbar.

Versöhnung