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Dienstag, 6. Oktober 2020

LAST AND FIRST MEN - Brutalismus und das Ende der achtzehnten und letzten Menschheit

LAST AND FIRST MEN
Island 2017/2020
Regie: Jóhann Jóhannsson
Erzählerin: Tilda Swinton



LAST AND FIRST MEN ist in gewissem Sinn das Vermächtnis des 2018 mit 48 Jahren verstorbenen isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, auch wenn es nicht als solches gedacht war: Die Musik ist seine letzte Komposition, und der Film seine erste und einzige Regiearbeit, wenn man davon absieht, dass er zuvor schon in antarktischen Gegenden einen kurzen Dokumentarfilm auf Super 8 gedreht hatte - in statischen Tableaus, wie es in der IMDb heißt, und damit anscheinend schon in einem ähnlichen visuellen Stil wie LAST AND FIRST MEN. Als Filmkomponist bekannt geworden ist Jóhann (das "Jóhannsson" bedeutet "Sohn von Jóhann", ist also, wie in Island üblich, kein Familienname) vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Denis Villeneuve, aber er schrieb auch Musik für andere Regisseure, für Theaterprojekte und für Soloalben. Sein plötzlicher und zunächst rätselhafter Tod in Berlin, wo er gelebt hatte, wurde durch eine Überdosis Kokain im Zusammenspiel mit Erkältungsmedikamenten verursacht. Eine vorläufige Fassung von LAST AND FIRST MEN lief bereits 2017 mit Live-Orchesterbegleitung bei einem Festival in Manchester, aber Jóhann arbeitete weiter an der Musik dazu und konnte sie nicht mehr fertigstellen. Sein musikalischer Mitstreiter bei diesem Projekt, der in Israel geborene und in Berlin lebende Yair Elazar Glotman, komplettierte die Komposition und leitete die Aufnahme. Auch der endgültige Schnitt von LAST AND FIRST MEN wurde erst posthum erledigt. Seine Premiere erlebte der fertige Film heuer auf der Berlinale. Er lief auch auf weiteren Festivals, z.B. neulich in Vancouver.
LAST AND FIRST MEN besteht aus drei nur lose verknüpften Ebenen - der visuellen und zwei akustischen. Für die Filmaufnahmen (auf körnigem 16mm) reiste Jóhann mit seinem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen kreuz und quer durch die Staaten des früheren Jugoslawien und filmte die dort so genannten Spomeniks. Das sind von den 60er bis in die 80er Jahre im Stil des Brutalismus errichtete Monumente aus Stein, Beton und Metall, die im ganzen Land an die Opfer von Krieg und Faschismus erinnern sollten. Die Spomeniks wurden von politischen Entscheidungsträgern von Marschall Tito bis hinab zu Kleinstadtbürgermeistern in Auftrag gegeben und sollten noch einen weiteren Zweck erfüllen, nämlich in dem ethnisch und religiös inhomogenen Land die nationale Einheit zu befördern. Wie wir heute wissen, ohne langfristigen Erfolg.
Etliche der prominentesten und visuell spektakulärsten Spomeniks, wie etwa das Denkmal für die Revolution der Einwohner von Moslavina oder die Nekropole für die Opfer des Faschismus bei Novi Travnik (die David Bordwell an die Kunst australischer Aborigines erinnert, während ich eher an Skulpturen europäischer neolithischer oder bronzezeitlicher Kulturen und wieder andere Leute an die Etrusker dachten), bilden also die visuelle Ebene von LAST AND FIRST MEN. Die Kamera fährt dafür mit sehr langsamen und langen Bewegungen, Drehungen und Zooms an den rohen Monumenten entlang, oft in Blickrichtung von unten nach schräg oben, so dass regelmäßig auch der Himmel im Blick ist. Menschen sind dagegen nie zu sehen. Die Idee dazu wurde Jóhann 2010 durch den Bildband eines holländischen Fotografen über Spomeniks eingegeben. Schon vorher hatte er den unbestimmten Drang, einmal einen größeren Film zu drehen, aber es fehlte die zündende Idee dafür.
Die eine der beiden akustischen Ebenen bildet die von Jóhann und Yair Elazar Glotman komponierte Musik. Während 2017 in Manchester offenbar noch ein großes Orchester im Vordergrund stand, verschob sich im weiteren Verlauf der Arbeit am Score der Fokus in Richtung Kammermusik, auch wenn noch ein Orchester (das Budapest Art Orchestra) in den Credits genannt wird. Klassische Instrumente, wie das von Jóhanns häufiger Mitstreiterin Hildur Guðnadóttir gespielte Cello, Percussion, elektronische Klänge (neben moderner Gerätschaft kam auch das mittlerweile auch schon historische Ondes Martenot zum Einsatz) und ätherisch-abgehobene Vokalisen bilden einen getragen dahinfließenden Score mit dunkler Grundstimmung. Es wirkt wie ein Requiem - und genau das ist es ja auch, siehe übernächster Absatz.
Die andere akustische Ebene besteht aus einem von Tilda Swinton gesprochenen Text, der auf Olaf Stapledons Debütroman Last and First Men beruht. Ich habe den Roman nicht gelesen, dafür aber Star Maker, ein anderes Hauptwerk des englischen Autors. Dieser Roman zeugt von schier grenzenloser Fantasie und schwingt sich zu erstaunlichen metaphysischen Höhen auf, bleibt dabei aber spannend und unterhaltsam. Selbiges gilt offenbar auch für Last and First Men. Es geht darin um die ganze zukünftige Geschichte der Menschheit - genauer gesagt, der Menschheiten - in den nächsten zwei Milliarden (!) Jahren. Immer wieder kommt es zu apokalyptischen Katastrophen, aus denen eine neue Menschheit hervorgeht, und jede dieser menschlichen Spezies unterscheidet sich mehr oder weniger deutlich von den Vorgängern - eine Zusammenfassung findet man im oben verlinkten Wikipedia-Artikel. Wir, von der Steinzeit bis noch ein paar hunderttausend Jahre in der Zukunft, sind die erste dieser Spezies, die First Men. Die letzte und achtzehnte Spezies, die Last Men, lebt in zwei Mrd. Jahren auf dem Neptun.
Diese letzten Menschen verfügen über telepathische Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich zu einem kollektiven Super-Bewusstsein zusammenschließen und damit auch die gemeinsame Vergangenheit erforschen können. Doch die Tage der letzten Menschheit sind gezählt. Eine Art Supernova in galaktischer Nachbarschaft hat katastrophale Auswirkungen auf die Sonne, die nun unaufhörlich immer heißer wird und sich ausdehnt - in heutiger Terminologie würde man sagen, sie wird zu einem Roten Riesen - und die Lebensbedingungen im gesamten Sonnensystem zerstört. Das wird zwar noch Jahrtausende dauern, ist aber unabwendbar. So bleibt der 18. Menschheit nur, in Würde das Ende abzuwarten. Zwei wichtige Dinge sind aber noch zu erledigen. Erstens, mit zahlreichen Sonden Lebenskeime in alle erdenklichen galaktischen Winkel zu senden, in der vagen Hoffnung, dass einige davon auf günstige Bedingungen treffen und eine neue Evolution hervorbringen. Die Erfolgsaussichten dieser Mission sind aber höchst ungewiss, und die letzte Menschheit wird nichts mehr über den Erfolg oder Misserfolg erfahren. Und zweitens, telepathisch Kontakt mit den First Men (also mit uns) aufzunehmen. Genau das ist der ganze Roman, und der von Tilda Swinton vorgetragene Text: Der aus ferner Zukunft telepathisch übertragene kollektive Bericht der achtzehnten an die erste Menschheit über das, was alles in der Zukunft geschehen wird (aus unserer Sicht) bzw. in der Vergangenheit geschehen ist (aus Sicht der Last Men auf dem Neptun), wobei sich der Film auf die letzte Phase der 18. Spezies beschränkt. Stapledons Roman wurde von Jóhann und einem José Enrique Macian adaptiert. Ob das bedeutet, dass sie nur die passenden Textstellen auswählten, oder ob sie frei nach dem Roman einen eigenen Text schrieben, geht aus den mir bekannten Informationen nicht hervor. Tilda Swinton trägt den Text nüchtern vor, fast unterkühlt, auch wenn man eine gewisse Melancholie herauslesen mag. Das war von der ersten Idee an so geplant, und Swinton war Jóhanns Idealbesetzung, wie er 2017 in einem Interview anlässlich der Vorführung in Manchester sagte.
Die Musik und der Text kommen sich gegenseitig nicht in die Quere, es gibt aber auch keine klar erkennbaren Verbindungen, und das gilt auch für die Bilder der Spomeniks. Man mag dabei an verfallende Technik oder auch Kultstätten irgendeiner der vergangenen Menschheiten denken, aber klare Hinweise gibt der Film nicht. In LAST AND FIRST MEN ihres geografischen, historischen und politischen Kontexts entkleidet, wirken fast alle Spomeniks im Film ziemlich abstrakt. So bleibt viel Raum für freies Assoziieren. Und bei mehrfacher Sichtung des Films kann man sich mal auf die eine und mal auf die andere seiner Ebenen konzentrieren und ihn dabei ganz unterschiedlich wahrnehmen. Wer aber eine geschlossene Einheit von Bild und Ton erwartet, der wird mit LAST AND FIRST MEN nicht recht glücklich werden. Unter den Filmen der letzten Jahre ist LAST AND FIRST MEN sicher einer der ungewöhnlichsten. Wirklich singulär ist er aber nicht, steht er doch in der Tradition so extravaganter Werke wie Christopher Youngs OBJECT LESSON (1941) oder José Val del Omars erstaunliches TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA. Ob solche Traditionslinien Jóhann bewusst waren, steht aber auf einem anderen Blatt.
LAST AND FIRST MEN ist bei der Deutschen Grammophon in zwei Editionen erschienen, die den Film auf Blu-ray und zusätzlich die Musik auf CD bzw. Schallplatte enthalten. Booklet und Menü sind englischsprachig, und für den gesprochenen Text gibt es optionale engl. Untertitel, aber Swintons Aussprache ist ohnehin tadellos und sehr gut verständlich. - Wer mehr über Spomeniks wissen will, findet in der Spomenik Database eine gute Anlaufstelle. Und in der Ausgabe 09/2020 der Zeitschrift GEO findet sich ein schön bebilderter Artikel über den Brutalismus, in dem außer Spomeniks auch die Sowjetunion und andere frühere Ostblockstaaten zu ihrem Recht kommen.

Sonntag, 26. August 2018

Zeugin aus der Hölle

Zum hundertsten Geburtstag von Artur Brauner am 1. August 2018

ZEUGIN AUS DER HÖLLE / GORKE TRAVE
BRD/Jugoslawien 1965/67
Regie: Žika Mitrović
Darsteller: Irene Papas (Lea Weiss/Clément), Daniel Gélin (Bora Petrović), Heinz Drache (Dr. Hoffmann), Werner Peters (von Walden), Alice Treff (Frau Ritter), Jean Claudio (Nino Bianchi), Hans Zesch-Ballot (Dr. Berger), Radmila Guteša (Telefonistin)

Lea, die Zeugin aus der Hölle
Bora Petrović, ein gestandener jugoslawischer Journalist, bekommt eines Tages unerwarteten Besuch aus Deutschland in seiner Belgrader Redaktion: Dr. Hoffmann, ein Staatsanwalt an der Ludwigsburger Zentralen Stelle für Nazi-Verbrechen. Er ist seit Monaten dem früheren KZ-Arzt Dr. Berger auf der Spur, der in einem Lager grausame Menschenversuche und Zwangssterilisationen an weiblichen Häftlingen durchgeführt hat. Doch jetzt führt Berger als wissenschaftlicher Direktor einer großen Pharmafirma ein gutbürgerlichen Leben mitten in der Bundesrepublik. Er gab sogar einem Fernsehteam ein Interview, in dem er die Vorwürfe gegen ihn jovial-herablassend als frei erfunden abbügelt, ließ dann aber die Ausstrahlung durch seinen Anwalt verhindern. Aber Dr. Hoffmann hat eine potentielle Belastungszeugin: Die jüdische KZ-Überlebende Lea Weiss, nach ihrer Hochzeit mit einem Franzosen (der inzwischen als Reporter in Vietnam verschollen und wahrscheinlich tot ist) Lea Clément. Diese hatte unmittelbar nach dem Krieg ihre Erinnerungen an das Konzentrationslager Petrović diktiert, der das als Buch in Jugoslawien herausbrachte. Dieses Buch, in dem Dr. Berger schwer belastet wird, ist erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen, und so ist Dr. Hoffmann auf Lea Clément, die wieder in Deutschland lebt, aufmerksam geworden. Doch Lea will nicht in einem Prozess aussagen und behauptet sogar, ihre Aussagen in dem Buch seien Übertreibungen und "Mystifikationen" gewesen. Das alles erzählt nun Dr. Hoffmann im Büro von Petrović und bittet ihn um eine Einschätzung. Petrović kann kaum glauben, was er da hört - er ist fest davon überzeugt, dass in dem Buch jedes Wort wahr ist. Und so begleitet Petrović nun Hoffmann auf dessen Bitte hin nach Deutschland, um mit Lea zu sprechen.

Bora Petrović und Dr. Hoffmann
Diese hat bis vor einiger Zeit ein halbwegs normales Leben in einer westdeutschen Großstadt geführt und als Pianistin in einem Hotel gearbeitet. (Die städtischen Außenaufnahmen entstanden in Berlin, doch die Stadt wird nicht beim Namen genannt, ist aber durch einige dezente Hinweise erkennbar.) Doch seit einigen Wochen ist sie mehr oder weniger auf der Flucht, zieht in kurzer Folge von Hotel zu Pension. Sie lässt nur noch zwei Personen an sich heran, ihren zwielichtig-schmierigen Anwalt von Walden und ihren derzeitigen Geliebten Bianchi, einen Autohändler. Dieser weiß nichts von Leas Vergangenheit, kann sich keinen Reim auf die hastigen Umzüge machen und ist davon genervt. Bianchi bleibt eine Randfigur, er verschwindet bald aus dem Film. Unmittelbar nach Hoffmanns und Petrović' Ankunft in Leas derzeitigem Hotel packt diese wieder die Koffer und zieht in eine großbürgerliche Villa am Stadtrand, deren ältliche Besitzerin Frau Ritter auch dort wohnt und Zimmer vermietet. (In IMDb, Wikipedia und sonstigen Quellen wird sie aus mir unbekannten Gründen "Frau von Keller" genannt - mehr dazu weiter unten.) Wie man später erfährt, hat von Walden Lea diese Adresse empfohlen. Doch Petrović und Hoffmann geben nicht auf. Mit Hilfe von Bianchi finden sie die Villa, und eine indiskrete Hoteltelefonistin enthüllt den Grund für Leas Verhalten: Sie erhält Drohbriefe und -anrufe mit Inhalten wie "Jude raus!", "Du hast eine Entschädigung bekommen, was willst Du hier noch, Du Blutsaugerin?" (mit einem Hakenkreuz versehen) oder "Du stinkige Judensau, die man vergessen hat zu vergasen, was suchst Du noch in unserem Land?". Der Film nimmt hier wirklich kein Blatt vor den Mund - und gibt wieder, was sich Mitte der 60er Jahre, zur Zeit des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, vielfach tatsächlich ereignet hat. Für den Fall, dass Lea gegen Dr. Berger aussagt, wird sie mit dem Tod bedroht. Es ist also die Angst, die jetzt ihr Verhalten diktiert, aber nicht nur das. Durch das erneute Trauma hat sie wieder Alpträume von ihrer Verhaftung und Deportation und von der Zeit im Lager. In einem der Träume bietet ihr Dr. Berger ein großes Stück tätowierte Menschenhaut als Geschenk an. (Das Thema der tätowierten Menschenhaut, aus der angeblich Lampenschirme gefertigt wurden, ist komplex und diffizil. Hans Schmid hat in seinem Artikel über die ILSA-Filme und deren reale Hintergründe im Lager Buchenwald ausführlich darüber berichtet.) Lea hat die begründete Furcht, dass sie es nicht durchstehen würde, in einem Prozess ihre Geschichte noch einmal durchleben zu müssen.

Wiedersehen von Bora und Lea nach vielen Jahren
Dr. Hoffmann lässt durch die Polizei Recherchen anstellen und findet so schnell heraus, dass Frau Ritters Bruder ein hoher SS-Offizier war, was von Walden Lea gegenüber natürlich nicht erwähnt hat. Und Frau Ritter und von Walden sind alte Freunde, sie nennt ihn "Rudi". Gegen Ende des Films stellt sich sogar heraus, dass dieser dubiose Anwalt auch Dr. Berger vertritt. Und natürlich ist der KZ-Arzt sein eigentlicher Klient, dem er loyal ist, und an Lea hat er sich nur herangewanzt, um sie bequem manipulieren zu können. Und kein anderer als von Walden veranstaltet durch seine Gehilfen die Terrorkampagne gegen Lea. Schon zuvor hat man durch Gespräche der Protagonisten einige Details aus Leas Vergangenheit erfahren, die Dr. Hoffmann noch nicht kannte, weil sie nicht im Buch stehen. Lea und Petrović waren damals, kurz nach dem Krieg, für kurze Zeit ein Paar, bis sie ihn ohne Vorwarnung verließ. Den Grund kannte Petrović selbst noch nicht, aber jetzt erfährt er ihn: Es war sein Wunsch nach Kindern, den er gar nicht offensiv geäußert hatte, den ihm Lea aber angemerkt hatte. Aufgrund ihrer Zwangssterilisation ertrug sie das nicht, konnte auch nicht darüber sprechen und ergriff die Flucht. Und noch etwas erfährt man, das selbst Petrović noch nicht wusste, weil sich Lea damals zu sehr geschämt hatte: Sie war nicht nur den üblichen Qualen und der Sterilisation ausgesetzt, sondern sie musste auch im Lagerbordell arbeiten und war einige Zeit zwangsweise Dr. Bergers Mätresse, bis er ihrer überdrüssig wurde und sie an einen Kollegen abgab, der an Häftlingen Unterkühlungsexperimente in Wassertanks durchführte. Lea musste dann bei diesen Experimenten assistieren, indem sie sich nackt zu den fast erfrorenen Opfern legte, um diese wieder aufzutauen.

Undurchsichtige Gastgeberin: Frau Ritter
Nachdem Lea aus den Fängen von Frau Ritter und "Rudi" befreit wurde und von einem Kriminalbeamten bewacht wird, wirkt sie vorübergehend entspannter. Doch der Schein trügt, Lea wird die Dämonen aus der Vergangenheit nie loswerden. Einmal sagt sie zu Petrović, es wäre besser gewesen, sie wäre vor ihrer Verhaftung aus dem Fenster gesprungen. Nicht, um sich zu retten - das Fenster war im 4. Stock. Doch damals fehlte ihr der Mut dazu. Vor Gericht will sie jetzt immer noch nicht aussagen, aber sie macht in Hoffmanns Büro eine per Tonband mitgeschnittene offizielle Aussage. Das reicht zumindest mal für einen Haftbefehl, und Dr. Berger wird festgesetzt. Aber die Aussage übersteigt Leas Kräfte, und am Ende kollabiert sie mit einer Nervenkrise. Und als Reaktion auf Dr. Bergers Verhaftung aktiviert von Walden wieder seine Drohanrufer - dummerweise hat man Lea im selben Hotel wie vor ihrem Wechsel in die Villa untergebracht, so dass er nicht lange nach ihr suchen musste. Lea ist jetzt am Ende. Als drei junge Männer im Hotelflur Radau machen, kann sie Realität und Vergangenheit nicht mehr unterscheiden - sie wähnt sich wieder am Tag ihrer Verhaftung und glaubt, dass sie jetzt abgeholt wird. Und diesmal springt sie aus dem Fenster.

Lea erhält Drohanrufe
Es ist starker Tobak, der dem deutschen Publikum von ZEUGIN AUS DER HÖLLE präsentiert wurde, und erwartungsgemäß wollten die meisten das nicht sehen. Doch die Zeit war reif für diesen Film, denn von 1963 bis zur Urteilsverkündung im August 1965 hatte der erste Frankfurter Auschwitzprozess stattgefunden. Der Prozess war nicht nur ein epochales Ereignis der westdeutschen Justizgeschichte, er löste auch ausgiebige juristische, politische und historische Debatten aus und inspirierte mediale und künstlerische Auseinandersetzungen mit der Materie, wie etwa Peter Weiss' szenisches Oratorium "Die Ermittlung". Und ganz offensichtlich wurde auch ZEUGIN AUS DER HÖLLE vom Prozess angestoßen. Und er spricht das Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager so deutlich und unverblümt an wie kein anderer bundesdeutscher Film der 60er Jahre, den ich kenne. Er braucht dazu, abgesehen von den Personen, nichts erfinden, sondern kann sich an verbürgte Details halten, nur der Ort wird manchmal verlagert. Aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontextes könnte man ganz automatisch annehmen, dass auch Lea in Auschwitz war, aber das wird nie ausgesprochen. Tatsächlich legen zwei im Film zu sehende Fotos und eine Bemerkung von Dr. Hoffmann nahe, dass sie im KZ Natzweiler-Struthof im Elsass war. Die Unterkühlungsexperimente fanden in der Realität weder in Auschwitz noch in Struthof statt, sondern im KZ Dachau - die Verlegung im Film ist eine legitime künstlerische Komprimierung dieser Abartigkeiten (ebenso wie die Sache mit der tätowierten Haut, die eigentlich nach Buchenwald gehört). Aber tatsächlich geschehen sind diese Versuche, sogar das mit den nackten Frauen neben den halb (oder schon ganz) erfrorenen Opfern ist tatsächlich passiert. Das klingt so abseitig, dass ich hier eine Originalquelle zitieren möchte. Der tschechische Arzt Dr. Franz Blaha, ab 1941 als Gefangener in Dachau, sagte im Januar 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess aus. Er hatte zuvor eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, die nun verlesen wurde, und darin hieß es unter anderem:
5. [Dr. Sigmund] Rascher hat auch Versuche über die Wirkung kalten Wassers an Menschen durchgeführt. Dies wurde getan, um einen Weg zu finden, die Flieger wieder zu beleben, die in den Ozean fielen. Die Person wurde ins eiskalte Wasser gesetzt und dort solange gehalten, bis er das Bewußtsein verlor. [...] Manche Männer hielten 24-36 Stunden aus. Die niedrigste Körpertemperatur erreichte 19 Grad C., aber die meisten Männer starben bei 25 bis 26 Grad Celsius. Als die Menschen vom Eiswasser entfernt wurden, hat man versucht, sie durch Kunst-Sonnenwärme, heißes Wasser, Elektro-Therapie und Tierwärme zu beleben. Für das letztere sind Prostituierte benutzt worden, und man legte den Körper des bewußtlosen Mannes zwischen die Körper zweier Frauen. [...] Ich war persönlich bei einigen dieser Kaltwasser-Versuche anwesend, zur Zeit, wo Rascher abwesend war, und ich sah auch Notizen und Diagramme darüber in Raschers Laboratorium. An ungefähr 300 Personen wurden diese Versuche durchgeführt. Die Mehrzahl von denen starb.


Es wurde gelegentlich vermutet, dass es für Lea ein reales Vorbild gab, nämlich die aus Russland stammende jüdische Auschwitz-Überlebende Dunia bzw. Dounia Wasserstrom, die 1964 als Zeugin im Frankfurter Prozess aussagte. Wasserstrom, die nach der Befreiung zunächst in Frankreich und dann in Mexiko lebte, war seit ihrer Hochzeit mit einem Franzosen französische Bürgerin, genau wie Lea Weiss/Clément. Dounia Wasserstrom war nicht bei medizinischen Experimenten anwesend, sondern sie war in der Politischen Abteilung in Auschwitz als Dolmetscherin eingesetzt, wo sie vor allem die Verbrechen von Wilhelm Boger, einem der 22 Angeklagten in Frankfurt, aus nächster Nähe miterleben musste. Boger hatte die "Boger-Schaukel" erfunden, auf der er viele Häftlinge zu Tode prügelte. Vor allem ein Detail aus Wasserstroms Aussage in Frankfurt hat die Öffentlichkeit schockiert: Boger ermordete einen vier- bis fünfjährigen Jungen, indem er ihn an den Füßen packte und seinen Kopf gegen eine Wand schmetterte. (Es gibt in Bertoluccis NOVECENTO eine ähnliche und sehr beklemmende Szene.) Wasserstrom musste danach die Wand säubern. Sie war davon so traumatisiert, dass sie keine Kinder mehr sehen konnte, ohne dabei depressiv zu werden, weshalb sie später, als sie schwanger wurde, eine Abtreibung durchführen ließ - eine gewisse Parallele zu Lea, die aus einem anderen Grund keine Kinder mehr bekommen kann. Wasserstrom hatte schon längere Zeit vor dem Prozess in der deutschen Botschaft in Paris eine Aussage zu Protokoll gegeben, aber ebenso wie Lea in ihrem Buch konnte sie damals noch nicht alles sagen - die Ermordung des Jungen hat sie damals noch für sich behalten. Wasserstrom hat auch auf Französisch, Spanisch und Englisch Bücher über ihr Schicksal und über Auschwitz verfasst. Es ist gut möglich, dass sie tatsächlich als Vorbild für Lea diente, aber wirklich wichtig ist das nicht - es gab zu viele ähnliche Schicksale.

Rechtsanwalt von Walden
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist eine westdeutsch-jugoslawische Coproduktion eines Belgrader Studios mit der CCC von Artur, genannt "Atze" Brauner, und damals hätte wohl auch kein anderer westdeutscher Produzent als er diesen Film machen wollen. (Kleine Randnotiz: Als Dr. Hoffmann und Petrović mit Hoffmanns Wagen vor einem Fernsehstudio vorfahren, um sich das unveröffentlichte TV-Interview mit Dr. Berger anzusehen, ist dieses Studio in Wirklichkeit das CCC-Studio in Spandau. Immer sparsam, der Atze.) Brauner, ein aus Polen stammender Jude, dessen meiste Angehörige im Holocaust umgekommen sind, hat in seinem Berliner Studio bekanntlich vor allem anspruchslose Kommerzfilme in Serie produziert, aber dazwischen auch immer wieder mal Filme über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, als er darauf bauen konnte, dass diese Filme auch im Fernsehen gezeigt wurden und dort ein Millionenpublikum fanden. Wie etwa HITLERJUNGE SALOMON (1990) von Agnieszka Holland, von dem Brauner behauptet, er hätte ihm den Oscar gebracht, wenn er vom deutschen Auswahlgremium nominiert worden wäre (was aber nicht geschah). Doch schon 1948 mit MORITURI (Regie Eugen York) begann Brauner diesen Strang seiner Produzententätigkeit. Es handelt sich um ein Drama um einen KZ-Ausbruch und darum, was die erfolgreichen polnischen und jüdischen Ausbrecher mit einem deutschen Soldaten anfangen sollen, der ihnen in die Hände fällt. Die Westdeutschen wollten sich aber nicht gern einen Spiegel vorhalten lassen. Die zeitgenössischen Kritiken waren durchwachsen, und es gab Randale pöbelnder Zuschauer, als sei das Jahr nicht 1948, sondern 1933. Der Film wurde fast überall vorzeitig aus dem Programm genommen oder gar nicht erst gestartet. Das ließ Brauner vorsichtig werden, und seine ambitionierten Filme über die braune Vergangenheit waren nun erst mal dünn gesät. Zu nennen ist etwa noch DER 20. JULI (1955, Regie Falk Harnack), einer von zwei zeitgleich erschienenen Filmen über das Stauffenberg-Attentat (der andere ist ES GESCHAH AM 20. JULI von G.W. Pabst).

In der Villa ...
Und nun also ein Auschwitz-Film, auch wenn er gar nicht in Auschwitz spielt - wie schon erwähnt, ziemlich singulär in der bundesdeutschen Kino-Landschaft der 60er Jahre. Im Fernsehen immerhin gab es 1966 DIE ERMITTLUNG als Umsetzung von Peter Weiss' Stück (produziert von Egon Monk für den NDR, Regie Peter Schulze-Rohr), und 1968 das Fernsehspiel MORD IN FRANKFURT um einen Auschwitz-Prozess (und einen zeitgleich dazu passierenden Mord an einem Taxifahrer), von Rolf Hädrich für den WDR inszeniert (bei Pidax auf DVD erschienen). Die jugoslawische Seite der Coproduktion stellte nicht nur etliche Nebendarsteller, sondern auch den Regisseur. Živorad, genannt "Žika" Mitrović (1921-2005) war nicht nur Regisseur von ungefähr 20 Spielfilmen, sondern auch passionierter Comiczeichner. Man findet nicht viele Informationen über ihn in mir verständlichen Sprachen. Wenn ich das, was mir der Google Translator aus dem serbischen Wikipedia-Artikel über ihn übersetzt, richtig interpretiere, war er wohl Spezialist für historische oder zeitgeschichtliche Stoffe. Mitrović' Frau, die aus Sarajevo stammende Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Übersetzerin (aus dem Französischen) Frida Filipović (1913-2002), hatte die Idee zum Stoff, den sie 2000 auch als Roman veröffentlichte (ich habe aber vage Hinweise gefunden, dass der Roman unveröffentlicht schon vor dem Film existierte). Das Drehbuch schrieb Filipović unter Mitarbeit von Michael Mansfeld. Dieser Autor und Journalist, eigentlich hieß er Eckart Heinze, war in den 50er Jahren bekannt geworden, als er in Artikelserien die problemlose Fortsetzung von Nazi-Karrieren in der Bundesrepublik anprangerte, vor allem im Auswärtigen Amt. Die so treffende Zeichnung von Dr. Berger und von Walden ist wohl hauptsächlich sein Verdienst.
... und im Hotel
Der im Sommer und Herbst 1965 gedrehte Film lief im März 1966 unter seinem serbokroatischen Titel GORKE TRAVE in Jugoslawien an. In Deutschland hat es über ein Jahr länger gedauert: Premiere war im Juni 1967 bei den Berliner Filmfestspielen, die Kinoauswertung begann im darauffolgenden Juli. In zwei TV-Dokus über Artur Brauner, die kürzlich aus Anlass seines 100. Geburtstags zu sehen waren, wird gar behauptet, ZEUGIN AUS DER HÖLLE hätte gar keinen Verleih gefunden, aber das ist zum Glück etwas übertrieben. Schon 1966 erhielt ZEUGIN AUS DER HÖLLE das Prädikat wertvoll. Schön, könnte man denken, allerdings liest sich die Jury-Begründung mehr wie ein Verriss als wie ein Lob. "Vieles Bedenkliche ist allerdings geblieben", heißt es da, "und der Vorwurf, dass man sich filmtechnisch, dramaturgisch und auch in der Ausstattung nicht die bei einem solchen Stoff nochmehr als bei einem anderen notwendige Mühe gegeben hat, besteht nach wie vor." Außerdem geht daraus hervor, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE unter seinem Arbeitstitel BITTERE KRÄUTER zuvor bereits der Filmbewertungsstelle vorgelegt wurde - und durchgefallen ist. Erst unter seinem neuen Titel und nach offenbar größeren Änderungen hat er es im zweiten Anlauf geschafft. (Der Arbeitstitel bezieht sich auf "ungesäuertes (oder ungesalzenes) Brot und bittere Kräuter", die Juden beim Pessachfest essen sollen, was sich wiederum von zwei Stellen im Alten Testament bzw. den entsprechenden Büchern der Thora ableitet.) Leider habe ich keinerlei Informationen darüber gefunden, worin diese Änderungen bestanden, aber kleinere Sprünge in der Handlung und die Tatsache, dass ZEUGIN AUS DER HÖLLE nur 83 Minuten dauert, können unter diesen Umständen nicht verwundern. Wenn man Artur Brauners Gepflogenheiten kennt, dann weiß man, dass der Regisseur bei solchen nachträglichen Eingriffen nicht gefragt wurde. Allerdings war da ja auch noch der jugoslawische Coproduzent. Theoretisch könnte es also sein, dass der Film in Jugoslawien in seiner ursprünglichen Form gezeigt wurde. Dafür könnte sprechen, dass er in Jugoslawien über ein Jahr früher erschien, und dass in der serbischen Wikipedia eine Laufzeit von 87 Minuten angegeben wird. Mehr Informationen darüber liegen mir nicht vor, und Angaben über die Laufzeit sind ja oft unzuverlässig - es bleibt also vage. Möglicherweise hängt auch die Unklarheit bei zwei Namen mit dieser Frage zusammen. Den Fall von Frau Ritter/von Keller habe ich oben schon angesprochen, und Bianchi hat in ZEUGIN AUS DER HÖLLE den Vornamen Nino, aber in den üblichen Quellen und überhaupt in allen Texten zum Film, die ich gelesen habe, heißt er Carlos (oder manchmal Charlos). Falls "Frau von Keller" und "Carlos Bianchi" die Namen in BITTERE KRÄUTER waren und dann für ZEUGIN AUS DER HÖLLE noch kurzfristig geändert wurden, könnte die erstere Umbenennung möglicherweise mit dem Herrn Rupprecht von Keller zusammenhängen. Dieser Jurist und Diplomat konnte seine im Dritten Reich begonnene Karriere nahtlos in der Bundesrepublik fortsetzen. Als ZEUGIN AUS DER HÖLLE gedreht wurde, war er einer der deutschen Delegierten bei der UNO-Niederlassung in Genf. Falls sich die deutschen Namen im Film nicht Frida Filipović, sondern Michael Mansfeld ausgedacht hatte, hätte das sogar ein gezielter Seitenhieb von ihm sein können, der dann von Brauner entschärft wurde - aber das ist jetzt eine sehr vage Spekulation von mir.

Dr. Berger gibt ein Interview
Auch mit seinen ambitionierten Filmen wollte Artur Brauner Geld verdienen, und das spiegelt sich in der Starbesetzung von ZEUGIN AUS DER HÖLLE. Heinz Drache mal nicht auf der Spur des Hexers oder Zinkers, sondern eines ganz anderen Schurken - doch er macht seine Sache ausgezeichnet als ebenso korrekter wie engagierter Staatsanwalt, der in erster Linie daran denkt, wie er Dr. Berger hinter Gitter bringen kann, und erst in zweiter Linie, wie es Lea dabei geht - ohne das aber ganz aus den Augen zu verlieren. Auch der französische Star Daniel Gélin ist als Bora Petrović bestens besetzt, und Werner Peters und Alice Treff sind in ihren Rollen ganz in ihrem Element. Wahrhaft grandios aber ist Irene Papas, die höchste Schauspielkunst mit internationalem Ruhm kombinierte, den sie spätestens seit ALEXIS SORBAS genoss. Mit ihrer Besetzung ist Brauner und seinen jugoslawischen Partnern ein echter Coup gelungen. Ich will hier nicht in Lobhudelei auf Brauner verfallen. Es gibt viel, was man gegen ihn vorbringen kann, und Hans Schmid hat das in einem seiner gewohnt profunden Artikel in Telepolis ausführlich getan. Aber für einen Film wie ZEUGIN AUS DER HÖLLE muss man Atze Brauner dankbar sein.

Lea hat Albträume
ZEUGIN AUS DER HÖLLE ist 2013 in Deutschland auf DVD erschienen. Leider ohne die geringsten Spuren von Bonusmaterial - da hätte man mehr daraus machen können.

Montag, 2. Mai 2016

Mörderspiele, Zeitreisen und technische Pannen: das 16. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films


Mittwoch, 20. April

20.45 Uhr, Heimkino in Jena
ASSASSINATION GAMES
Regie: Ernie Barbarash
USA 2011
96 Minuten, DVD
Zwei melancholische Killer, die aufeinander gehetzt werden sollen, tun sich zusammen, um für Geld bzw. eine persönliche Rache ihren Auftraggebern in den Allerwertesten zu treten.

Der Film, der Jean-Claude Van Dammes melancholisch-nachdenkliches Spätwerk festigte, war, quasi als „vorbereitende Hausaufgabe“, die perfekte Einstimmung auf das diesjährige goEast-Festival. US-amerikanische Verbrecher, die sich völlig entfremdet durch eine triste, namenlose (aber vermutlich ist es Bukarest) postsozialistische Metropole jagen. Der wilde Osten: was als Drehort einfach etwas billiger sein sollte als die USA und mehr up to date als etwa die Philippinen, entpuppt sich als stimmungsvolle Kulisse für melville‘ianische Mörderspiele.

Und Mörderspiele gab es auf dem goEast-Festival 2016 viele: Die interessanteste Retrospektive der diesjährigen Edition war das Symposium „Die im Schatten. Verbrechen und andere Alltäglichkeiten im mittel- und osteuropäischen Kriminalfilm ab 1945“. Insofern war ASSASSINATION GAMES, angesiedelt in Bukarest bzw. im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet der Karpaten, ein idealer „Vorfilm“. Und irgendwie wäre das auch eine Idee für ein „Sequel“ des Symposiums in den nächsten Jahren: Osteuropa in angelsächsischen direct-to-video-Actionfilmen ab den 2000er Jahren...


Freitag, 22. April

17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
UN COMISAR ACUZĂ („Ein Kriminalkommissar klagt an“)
Regie: Sergiu Nicolaescu
Rumänien 1974
113 Minuten, 35mm
Bukarest, 1940: eine Gruppe von Legionären der faschistischen Eisernen Garde ermordet in einem Gefängnis fast alle kommunistischen Häftlinge – einige können jedoch fliehen, werden später jedoch wieder gefangen genommen. Inspektor Tudor Moldovan soll den Vorfall untersuchen und letztlich die überlebenden kommunistischen Häftlinge inkriminieren. Doch Moldovan hat seinen eigenen Kopf und beginnt einen Feldzug gegen die Legionäre und die Politiker, die die Faschisten unterstützen.

Sergiu Nicolaescu als Tudor Moldovan – © goEast Filmfestival
Holla die Waldfee! Was für ein Film!
UN COMISAR ACUZĂ lief im Rahmen des Symposiums zum osteuropäischen Kriminalfilm und wurde angekündigt als einer von vielen Filmen, wie sie im Rumänien der 1970er Jahre wohl am laufenden Band produziert wurden: propagandistisch angehauchte Historienkrimis über die antikommunistischen Verbrechen der rumänischen Faschisten in den 1940er Jahren. Regisseur und Autor Sergiu Nicolaescu, der auch die Hauptfigur des Kommissars spielt, wurde von Kurator Olaf Möller als Regisseur präsentiert, der sich in seinen politischen Inhalten opportunistisch und immer nah am herrschenden Regime positionierte und sein ideologisches Fähnchen stets nach dem Wind richtete – dabei jedoch über viele Jahrzehnte ästhetisch extrem konsistent blieb. Zu ersterem kann ich nichts sagen, wenn aber letzteres stimmt, muss hier einer der energischsten und ungeheurlichsten auteurs jenseits des Eisernen Vorhangs wieder entdeckt werden!
Inhaltlich ist UN COMISAR ACUZĂ vielleicht tatsächlich ein leicht durchschaubares Propagandastück: ekelhafte Faschisten töten märtyrerhafte Kommunisten und werden bei ihren Intrigen von korrupten Politikern des alten Regimes unterstützt. Ab und zu gibt es zwischendurch auch eine kleine Rede über die blendende Zukunft, die der Kommunismus bringen wird. Doch das ganze wird verpackt im Gewand eines atemberaubenden  Cop- und Gangster-Actionfilms, der wie eine Dampfwalze alles platt drückt, was ihm in den Weg kommt. Die ersten Minuten, das Massaker an den Gefangenen, ist trotz fehlender blood squibs von ungeheuerlicher, schockierender Gewalt, die anschließende Verfolgungsjagd durch die Gänge des Gefängnisses und durch die dunklen Straßen der Nacht ist von atemloser Spannung. Hinzu kommt die knallharte, rhythmisch stark punktierte, funky-jazzige Musik, die in einem italienischen Poliziesco ebenso gut aufgehoben wäre
Überhaupt: UN COMISAR ACUZĂ erinnert eher an einen italienischen Poliziesco oder an einen New-Hollywood-Cop-Thriller als an das, was man sich unter einem rumänischen Propagandafilm aus der eisern-kalten Ceaușescu-Diktatur so vorstellen würde. Wenn bei einer rasanten Autoverfolgungsjagd gar ganze Autokolonnen zu explodieren anfangen, wird fast ein bisschen das US-Blockbusterkino der 1980er und 1990er Jahre vorweggenommen.
Die Inszenierung ist tatsächlich auch eher auf allerreinsten Pulp und fetzige Genre-Motive gebürstet als auf politischen Inhalt. Die faschistischen Legionäre werden wie Gangster gefilmt, manchmal in einer fast schon ehrfürchtigen Untersicht – besonders Gheorghe Dinică entwickelt fast schon einen ganz eigenen Glamour als Paraipan, dem charismatischen Kopf der Legionärstruppe.
Tudor Moldovan hingegen wird wie ein US-amerikanischer Loner Cop gefilmt und verhält sich auch so: gibt furztrockene One-Liner von sich, drischt den Leuten, die ihn mit einer Pistole bedrohen, nonchalant ein Paar Ohrfeigen ins Gesicht, ist immer der Schnellste beim Ziehen, springt mühelos vom vierten Stock auf den nächsten, unteren Fenstervorsprung, um seinen Angreifern zu entfliehen, fährt unerschrocken und zielsicher sein Auto und endlos cool angezogen ist er sowieso immer. Obwohl er letztendlich die Identifikationsfigur des Films ist und im letzten Drittel mit den Kommunisten sympathisiert, schließt er sich ihnen niemals an: ihnen gehöre die Zukunft, seine eigenen Kämpfe müsse er selbst und alleine ausfechten. Ein echter, archetypischer Actionheld: im Dienste einer Gesellschaft, der er nicht angehört. Dirty Tudor kommt – Harry Calahan kann sich warm anziehen!
Am unglamourösesten kommen tatsächlich die Kommunisten daher, von denen nur einer als individuelle Figur erkennbar gemacht wird, nämlich der Eisenbahnarbeiter Pîrvu, der mit seinen über fünfzig Lenzen, seinen sackartigen Gefängnisklamotten und seinem leichten Fettansatz wahrlich nicht als strahlender Held rüberkommt, auch, wenn er die Zukunft des Kommunismus predigt. Die vielleicht lebensnaheste Figur in dieser stilisierten Pulp-Delikatesse.
Völlig überzogen und dadurch erst richtig lustig sind zwei Sidekicks: ein Taschendieb, gespielt von Jean Constantin, der sich nach allen Seiten als Informant verdingt und nur dann sein Geld nicht bekommt, wenn ihn Tudor Moldovan daran hindert. Ein weiterer drolliger Sidekick ist tatsächlich einer der Legionäre, den Moldovan von seinen Chefs als Assistent und de-facto-Aufpasser zur Seite gestellt bekommt: ein Ex-Zuhälter und totaler Tollpatsch mit lächerlicher Hitlerfrisur und passendem Bärtchen, der trotz seiner Zugehörigkeit zu den Legionären nicht grund-unsympathisch gezeigt wird und am Ende sogar einen tragischen Moment bekommt.
UN COMISAR ACUZĂ gibt es, wie ich später erfahren habe zu, meiner großen Freude tatsächlich auf DVD, aber leider nur in Deutschland: die rumänische Originalfassung ist dabei, aber leider ohne Untertitel. Das Bildformat stimmt aber tatsächlich: Nicolaescus Film kommt auch im Jahr 1974 ultraklassisch im 1.33:1-Format daher.

Ein bisschen enttäuschend ist es für das restliche Festival dann schon ein bisschen, wenn keiner der nachfolgenden Filme dieses Niveau wieder erreichen kann. Aber Freitag Abend im Murnau-Filmtheater laufen halt traditionell die besten Filme des Festivals.

na ja... zumindest größtenteils...


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
BYT‘ LIŠNIM / LIEKAM BŪT („Ein überflüssiges Leben“)
Regie: Aloizs Brenčs
UdSSR 1978
98 Minuten, Digibeta
Der Kleinkriminelle Voldis kommt nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis und kehrt in seine Heimatstadt Riga zurück. Dort verliebt er sich unglücklich in eine Taxifahrerin, überwirft sich wieder einmal mit seiner Schwester und seinem Schwager und gerät in den Kreis seiner Ex-Kumpanen, die einen großen Coup planen.

Der Titel dieses Films bezieht sich auf den Topos des „überflüssigen Menschen“ aus der russischen Literatur im 19. Jahrhundert und davon ausgehend hatte ich irgendwie mehr erwartet als ein Film, der bis auf einige Traumsequenzen ein wenig zu sehr wie ein schnell herunter gekurbeltes TV-Drama wirkt. Das, was ich als „sozialistisch-realistische TV-Ästhetik“ bezeichnen würde, macht auch den trüben Fatalismus des Films unerträglich: was in einem ästhetisch stilisierten film noir funktioniert, wirkt hier unmenschlich. Natürlich lässt BYT‘ LIŠNIM / LIEKAM BŪT zwei Lesarten offen. Die einfachere wäre, dass Verbrechen sich nicht lohnt, und das Voldis natürlich am Ende mit seinem Coup scheitern muss. Etwas „subversiver“ wäre die Lesart, dass man im sowjetischen Riga so oder so dem Verderben ausgeliefert ist. Die mäßigen Schauspieler, gerade auch der hölzerne Hauptdarsteller Vytautas Tomkus, können nicht wirklich die dösige TV-Ästhetik und den enervierenden Fatalismus des Films wettmachen.
BYT‘ LIŠNIM wurde in einer wenig ansehnlichen russischsprachigen Digibeta-Kopie ohne Untertitel gezeigt. Zur Übersetzung gab es eine Simultanübersetzung per Kopfhörer mit einer Übersetzerin, deren schiere Unlust beim Einsprechen manchmal etwas zu passend den Ton des Films traf.
Eigentlich heißt der Film ja LIEKAM BŪT: gemäß IMDb ist die Originalsprache des Films nicht Russisch (wie projiziert), sondern Lettisch. Dazu gab es aber bei der Präsentation des Films keine Angaben.


22.30 Uhr, Caligari FilmBühne
RITAM ZLOČINA („Rhythmus des Verbrechens“)
Regie: Zoran Tadić
Jugoslawien 1981
90 Minuten, 35mm
Der Schullehrer Ivica wohnt in einem beschaulichen Haus in den Vororten von Zagreb. Dort sucht ihn eines Tages der pensionierte Landvermesser Fabijan auf, der ihn um eine Zwischenmiete bittet. Beide kommen gut miteinander zurecht, und so hat Fabijan auch kein Problem damit, seinem Vermieter Ivica von seinem Hobby zu erzählen: er führt Statistiken über Verbrechen in diesem Zagreber Stadtteil und ist überzeugt, dass mit stochastischen Berechnungen Taten genau vorhergesagt werden können. Bald ist sich Ivica nicht mehr sicher, ob er sich mit Fabijan nicht einen Psychopathen ins Haus geholt hat, der bereit ist, selber zu morden, um seine statistischen Berechnungen zu beweisen.


Der tolle Ivica Vidović als Ivica – © Slovenian Cinemateque
Im Kroatien der 1960er Jahre fand sich eine Gruppe von Filmregisseuren und Filmkritikern zusammen, die in Anlehnung an die „cahiers du cinéma“ ein neues Kino, ein Kino der auteurs in Jugoslawien schaffen wollten. Nach ihrem größten auteur-Vorbild wurde die Gruppe bald als die „Hičkokovi“ bezeichnet. Zoran Tadić, so Kurator der Kriminalfilm-Reihe beim diesjährigen goEast-Festival Olaf Möller, war in der Gruppe wohl der einzige Regisseur, der konsequent Kriminalfilme und Thriller (im weitesten Sinne) drehte.
Hitchcock in allen Ehren, aber RITAM ZLOČINA erinnerte mich besonders in der ersten Hälfte eher an einen anderen komplett anderen Regisseur, nämlich an Eric Rohmer (selbst natürlich ein großer Hitchcock-Anhänger und zusammen mit Claude Chabrol Verfasser einer Monografie über den Meister, die schon Jahre vor François Truffauts großes Interview-Buch erschien). Auch wenn die erotische Komponente der Rohmer-Filme fehlt: RITAM ZLOČINA ist ein über weite Strecken scheinbar locker inszenierter Film, der hauptsächlich über die langen, ausführlichen Dialoge zwischen den beiden Hauptfiguren abgewickelt wird. „Scheinbar“ locker inszeniert, weil hier jede kleine Kamerabewegung, jeder Schnitt von der Totalen auf ein Gesicht perfekt kalkuliert ist und eine besondere Wirkung zeitigt. Etwa in der Mitte, oder nach zwei Dritteln, ändert sich der Ton des Films, ohne, dass sich dabei freilich die Inszenierung wesentlich wandelt. Aus einem „heiteren Dialogfilm“ wird plötzlich ein Paranoia-Thriller. Leider habe ich diesen Übergang aufgrund einer etwa 10-minütigen Sekundenschlafattacke nicht wirklich mitbekommen – als ich wieder hellwach und 100%-ig konzentiert war, hatte sich die Atmosphäre in etwas Unheilvolles gewandelt.
Interessanterweise wirkte RITAM ZLOČINA auch unfreiwillig wie eine Absage an den Fatalismus des vorangegangenen BYT‘ LIŠNIM: die Eskalation seiner Geschichte läuft auf eine gewisse Weise zwangsläufig ab, doch das „wie“ dieser Eskalation ist wahrlich verblüffend...
Die gezeigte Kopie des Films hatte slowenische Untertitel. Englische Untertitel wurden auf eine Tafel unter der Leinwand per Beamer projiziert. Auf der Kopie waren die slowenischen Untertitel auffällig weit oben im Bild angesiedelt, aber vielleicht machten das die Slowenen eben so... dachte ich... Nach etwa einem Drittel der Laufzeit passierte dann etwas. Der Film, projiziert im Format von 1.33:1, wurde plötzlich schwarz. Man hörte irgendetwas im Projektor tatsächlich bis weit in den Saal laut klicken, und dann kam das Bild wieder – nunmehr im Format von 1.66:1 oder vielleicht auch 1.85:1, so dass die slowenischen Untertitel nun im Kader genau dort platziert waren, wo es Untertitel normalerweise sind. Wir haben also durch die Nachlässigkeit bei der Projektion einen Drittel des Films „open matte“ gesehen, und die restlichen zwei Drittel im vorgesehenen Kinoformat. Zugegeben: im Vergleich zu anderen Problemen, die ich bei goEast-Projektionen dieses Jahr so erlebte, war dieses noch harmlos (zumal „open matte“ nicht per se falsch ist), demonstriert aber doch die zunehmende Schludrigkeit, die die Digitalisierung des Kinos mit sich gebracht hat. Mehr und schlimmere Beispiele dazu weiter unten.


Samstag, 23. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
CÓRKI DANCINGU („Sirenengesang“)
Regie: Agnieszka Smoczyńska
Polen 2015
92 Minuten, Screener
Die beiden Meerjungfrauen Srebrna und Złota (in etwa: die Silberne und die Goldene) tauchen aus dem Wasser auf, verspeisen erst einmal einen leckeren Jungen und werden dank ihrer besonderen Eigenschaften (im Kontakt mit Wasser verwandeln sich ihre Beine in Fischflossen – logisch: sind ja Meerjungfrauen) in einem Nachtclub als Stripperinnen der besonderen Art angestellt. Doch die beiden Fabelwesen rechnen nicht damit, sich in menschliche Männer zu verlieben, und an die Grausamkeit der Menschen haben sie auch nicht gedacht.

CÓRKI DANCINGU wird auf der IMDb als das erste Musical aus Polen bezeichnet. Angesichts der Lebendigkeit der polnischen Kinogeschichte bezweifle ich das irgendwie. Zumindest könnte ich mich darauf verständigen, Smoczyńskas Film als das wahrscheinlich erste Splatter-&-Sleaze-Musical Polens zu bezeichnen.
Der Regisseurin ist ein schwebender, verträumter, poetischer, jenseitiger, manchmal schockierender Film gelungen, der besonders in den ersten beiden Dritteln voll und ganz in den Musical-, Gesangs- und Tanznummern seinen eigenartigen Rhythmus erhält. Manche Dialoge werden ebenfalls gesungen, doch auch normal gesprochene Dialoge wirken die meiste Zeit eher wie lyrische Rezitationen: auch wenn meine Polnisch-Grundkenntnisse für das Detail überfordert waren, so schien mir, dass auch einfache Dialogzeilen auf lautmalerische Reime und musikalische Rhythmik hin verfasst worden waren (wofür sich die polnische Sprache offenbar ganz besonders eignet).
CÓRKI DANCINGU ist auch ein Film, der keine Gefangenen macht: da werden wortwörtlich Herzen zerbrochen, indem sie aus Körpern herausgerissen und dann verspeist werden, da wird 1980er-Jahre-Pomp und -Glitzer aufgefahren, als hätte es die gerade im Ausverkauf gegeben und die emotionalste Gesangsnummer ist die, bei der Złota (traurig singend) auf dem OP-Tisch in zwei Teile zersägt wird, damit ihr Rumpf und Beine einer toten Frau transplantiert werden können.
Manchmal ist es schade, wenn ein Film nicht einfach 90 Minuten vor sich hin schweben kann, sondern schlussendlich doch in die Bahnen narrativer Konventionen gebracht wird, und so passiert leider genau dies mit CÓRKI DANCINGU. Wie Złota in der eben erwähnten, denkwürdigen Szene bekommt der Film seine poetische Fischflosse amputiert und bekommt „normale“ (narrative) Beine. So verliert Złota nicht nur ihre besonderen Meerjungfraukräfte, sondern der Film auch seine Magie. 
Inwiefern das am DVD-Player lag, der alle paar Sekunden das Bild kurz stocken ließ und sich gegen Ende immer mehr weigerte, richtig zu funktionieren, sei leider dahingestellt.


13.30 Uhr, Caligari FilmBühne
ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? („Wie viel wiegt das trojanische Pferd“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 2008
117 Minuten, 35mm
Zosia ist gerade 40 Jahre alt geworden und kommt damit nur bedingt klar. Ihr zweiter Ehemann Kuba ist ein Traummann, Tochter Florka ein absolutes Herz, aber dennoch: sie bereut die ganze verschwendete Zeit mit ihrem ersten Ehemann Darek, einem schleimigen Aufschneider; ist unglücklich darüber, eine ihrer besten Freundinnen mit einem Prügler verkuppelt zu haben; weint fast jeden Tag über die verlorene Großmutter. Silvester 1999 kommt eine harte Probe: durch ein Zeitloch wird Zosia in das Jahr 1987 zurückversetzt. Dort muss sie schauen, dass sie das Bereute nun besser macht: Darek schneller abservieren (aber dennoch mit ihm Florka zeugen), Kuba früher kennenlernen und verführen, Großmutter retten und vieles mehr...

Zosia (gespielt von der wundervollen Ilona Ostrowska) entdeckt entsetzt,
in welchem Jahr sie gelandet ist, und warum ihr nerviger Ex-Mann
(Robert Wieckiewicz) im Haus ist – © goEast Filmfestival
Das Portrait des diesjährigen goEast-Festivals war Juliusz Machulski gewidmet, einem der populärsten Mainstream-Regisseure Polens, der das Publikum seit den 1980er Jahren bis heute hauptsächlich mit Komödien begeistert. Leider hat es sich für mich abgesehen von zwei Kurzfilmen nicht ergeben, weitere Filme von Machulski zu sehen. Angesichts von ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? sicherlich ein etwas bedauernswerter Umstand.
Was ein bisschen wie eine Mischung aus BACK TO THE FUTURE und GROUNDHOG DAY klingt, entwickelt sich doch zu einem wunderbar eigenständigen Film. Das besondere polnische Setting trägt natürlich viel dazu bei, da Zosia nicht nur von einer Zeit in die andere katapultiert wird, sondern eben auch in ein anderes politisches System mit einer ganz anderen, von Mängeln gekennzeichneten Lebenswirklichkeit. Klar, Sushibars, vernünftigen Kaffee in Porzellantassen und Mobiltelefone gab es auch anderswo in den späten 1980er Jahren noch nicht. In einem der markantesten Momente möchte Zosia in einem relativ schicken Hotel übernachten, doch als Polin und ohne Sondergenehmigung darf sie das nicht – und dem Rezeptionisten erklären, dass das in zwei Jahren ganz anders sein werde, bringt ihr dann erst einmal auch nichts. Während einer Zugreise hingegen kann sie zwei Soldaten, die sich flüsternd große Hoffnung auf Solidarność und politische Reformen machen, bei einem Gespräch belauschen. Im Vorbeigehen versichert sie ihnen, dass in zwei Jahren alles besser sein wird. Oder auch nicht: an anderer Stelle beklagt sie sich, dass in der „Zukunft“ die Menschen den Wert von Freiheit nicht mehr zu schätzen wüssten.
Das alles soll nicht davon ablenken, dass ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? im Kern eine romantische Komödie mit einem klitzekleinen Sci-Fi-Twist ist, und keine schwere Abhandlung über das Verhältnis der Polen zur realsozialistischen Vergangenheit. Vor allem ist aber ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? Ilona Ostrowskas Film. Die gebürtige Stettinerin ist als Zosia wahrlich das Herz und die Seele des Films und ist dank ihrer Ausstrahlung ein fester und verlässlicher Ankerpunkt, auch, wenn sich gegen Ende die eine oder andere Länge auftut.


16.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
PESN‘ PESNEJ („Das Lied der Lieder“)
Regie: Eva Nejman
Ukraine 2015
76 Minuten, DCP
Der kleine Shimek liebt Busya. In ihren Kinderträumereien stellen sich beide vor, sie wären Prinz und Prinzessin. Die Realität sieht anders aus: sie wohnen in einem verarmten und heruntergekommenen russischen Schtetl Anfang des 20. Jahrhunderts. Von dort entflieht Shimek dann auch, um in der Stadt Medizin zu studieren. Nach Jahren kommt er in sein Heimatort zurück, anlässlich der Hochzeit Busyas mit einem anderen, und versucht sie, von der Eheschließung abzuhalten.

Nach einer Vorlage von Scholem Alejchem inszeniert Eva Nejman einen zärtlichen, sinnlichen, poetischen, musikalisch schwebenden Film, der eher eine geistige Welt präsentiert als eine Geschichte erzählt. Im Gegensatz zu Agnieszka Smoczyńska in CÓRKI DANCINGU gelingt es ihr auch bis zum Schluss, praktisch jeglichen störenden Plot aus ihrem Film fernzuhalten. Leider kann ich mich weder wirklich an Details noch an die Gesamtkonzeption wirklich gut erinnern, da ich PESN‘ PESNEJ aufgrund einer hartnäckigen (wohlgemerkt nicht vom Film hervorgerufenen) Schläfrigkeit nicht 100%-ig konzentriert schauen konnte. Wahrscheinlich bin ich zwischendurch wohl auch für wenige Minuten eingeschlummert – woran ich mich nicht wirklich erinnern kann, weil der Film eher flüssig dahinfließt als dass er erkennbare, einzelne Stationen abarbeitet.
Wacher war ich beim darauffolgenden Q & A mit der Regisseurin Eva Nejman, die sich sehr geduldig und tapfer durch die teils sehr belanglosen Fragen des Moderators und die bisweilen etwas nervenden Anmerkungen der Zuschauer kämpfte. Gedreht hat sie PESN‘ PESNEJ mit einem Budget von umgerechnet etwa 1,2 Millionen Euro in der Nähe von Odessa. Trotz der schwierigen politischen Situation in der Ukraine ein paradiesischer Dreh, wie sie betonte: die Gelder wurden privat spendiert, die Produzenten ließen ihr aber völlig freie Hand und sie konnte den Film genau so drehen, wie sie wollte – in Deutschland hätte sie, wie sie von deutschen Regisseur-Kollegen erfuhr, niemals so frei arbeiten können. Nejman betonte auch, dass es ihr nicht um Realismus oder um die minutiöse Rekonstruktion jüdischer Lebenswelten ging, sondern eine geistige Welt.


18.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
BOPEM
Regie: Zhanna Issabayeva
Kazachstan 2015
77 Minuten, DCP
Der Teenager Rayan bekommt von einem Arzt die Diagnose: in wenigen Wochen wird er an einem Gehirntumor sterben. Seine Mutter hat er bei einem Autounfall verloren, in dem ein Polizist verwickelt war, sein Vater ließ sich später von eben jenem Polizisten bezahlen, um keine Anklage zu erheben. Mit der Todesdiagnose ausgestattet beginnt Rayan einen blutigen Rachefeldzug.

In einer gerechteren Welt wäre ich bei PESN‘ PESNEJ hellwach und bei BOPEM schläfrig gewesen... Was sich in der Inhaltsangabe als ungewöhnlicher (oder doch nicht so ungewöhnlicher) Rache-Thriller anhört, ist leider eine ziemliche Schlaftablette von einem Film geworden. Ellenlange Einstellungen von Figuren, die von einem Bildrand zum anderen Bildrand laufen, ein Hauptdarsteller, dessen mimischer Stoizismus zutiefst unexpressiv bleibt und ein Rückgriff auf wirklich klischeehafte Plotelemente machen BOPEM zur Geduldsprobe. Schade: sowohl vom goEast-Festival wie auch von der Viennale war ich Besseres aus Kazachstan gewöhnt.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
ÚSMEV DIABLA („Das Lächeln des Teufels“)
Regie: Ján Zeman
ČSSR 1987
93 Minuten, 35mm
Irgendwo in einem abgelegenen Berghotel in der Slowakei: eine Crew dreht gerade eine Filmadaption von Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Ein Polizeikapitän befindet sich auch dort und ermittelt – ähm... irgendetwas mit gefälschten Juwelen und bei einer Grabstätte in der Nähe des Hotels wurde wohl auch irgendetwas geplündert? Das hat wohl irgendetwas mit dem Dreh zu tun – oder auch nicht? Nun ja, der Dreh verläuft etwas chaotisch, der Polizist verliebt sich ein bisschen in die Ehefrau des Regisseurs, die zugleich – ähm... Hauptdarstellerin, oder doch nur Synchronsängerin für die eigentliche Hauptdarstellerin ist...? Einen Bestattungsunternehmenschaffeur, der zu schmierigem Stalking neigt, taucht auch auf. Während allerdings der Hund der eben genannten Sängerin verschwindet. Und der (eigentlichen?) Hauptdarstellerin tote Ratten ins Bett gelegt werden. Ein italienischer Produzent, der wie die Karikatur eines schmierigen Zuhälters aussieht, taucht auch auf. Und der Polizist ermittelt weiter – ähm... in einer Angelegenheit, bei der eine Donald-Quietschfigur ein Indiz sein soll. Und ähm... Andere Sachen, die sich nicht leicht erklären lassen, passieren auch noch... irgendwie... ???

Aus dem Dreh von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen"
Im Film eigentlich in Farbe zu sehen
© Slowakisches Filminstitut – Fotoarchiv/Vladimír Vavrek
Der Kurator der Kriminalfilmreihe bezeichnete ÚSMEV DIABLA als „slightly deranged little half-brother of Dario Argento‘s OPERA“. Eine schlechte Vorbereitung für diesen wunderlichen Film, der ganz bestimmt kein „slowakischer Giallo“ ist – zumal es im Grunde bis zu den letzten zehn Minuten kein richtiges Verbrechen oder gar Mord gibt (zumindest, soweit ich erkennen konnte). Wenn wir schon bei Analogien sind, würde ich eher vorschlagen: man stelle sich vor, Monty Python hätte eine Drehcrew zusammengestellt und diese François Truffaut überlassen, der dann versucht hätte, unter widrigen Bedingungen in der Slowakei und in Ko-Regie mit Helge Schneider LA NUIT AMÉRICAINE zu drehen... Aber irgendwie trifft es das auch nicht genau.
Als „Krimi“ jedenfalls ist ÚSMEV DIABLA ein totaler Reinfall. Warum gibt es denn einen ermittelnden Polizisten, wenn es nichts richtiges zu ermitteln gibt (oder zumindest nichts, was mit dem Gezeigten in Beziehung stehen würde). Dann gibt es auch Figuren, die man in einem „normalen“ Krimi als potentielle Verdächtige präsentieren würde (z. B. den schmierigen Totengräber-Chauffeur), aber wo kein richtiges Verbrechen ist, kann doch auch kein Verdacht sein. Um noch mal auf Analogien zurückzukommen: als „Krimi“ wirkt ÚSMEV DIABLA wie eine Anhäufung von Genre-Zutaten, die nicht verbunden werden – als würde jemand einen Kuchen backen, in dem er einfach Mehl, Zucker, Butter und aufgeschlagene Eier unvermischt in ein Blech kippt und das ganze in den Backofen schiebt. Heraus käme dann... Mehl, Karamell, geschmolzene Butter und etwas Eierstich-Ähnliches.
ÚSMEV DIABLA ist gewissermaßen eine Summe von Teilen, die kein Ganzes bilden. Aber was für Teile. Natürlich erst einmal der Polizeikapitän selbst, wunderbar gespielt von Pavol Mikulík, mit stets etwas melancholischen Augen, als würde er nicht so richtig durchschauen, wo er hineingeraten ist. Er ist gewissermaßen der Ankerpunkt, die Erdung des Films. Wenn sich scheinbar alles in Irrsinn und Nonsense auflöst, ist er da, um Orientierung zu bieten (auch, wenn er sie selbst vermutlich nicht hat).
Einen weiteren, ebenso „nicht-narrativen“ Fixpunkt (neben den wiederholt auftauchenden Einblendung, welcher Tag gerade ist – ob die Tage wirklich chronologisch folgen, weiß ich nicht) bieten die ausgedehnten Probe- und Drehszenen der Filmcrew. Lange Tanz- und Gesangpassagen, die entsprechend ihres Ursprungs in der Oper pathetisch, flamboyant und durch eine Prise 1980er-Jahre-Kitsch leicht campy wirken. Wunderbar: diese Montage der Balletttänzerinnen und -tänzer, die sich in knappen, genital- und busenbetonten Outfits äußerst sexy tänzelnd aneinanderräkeln, während ein junger Polizist, der irgendwie mit dem Kapitän vor Ort ist und die Probe beobachtet, ganz große Augen macht. Köstlich die Attacke des schmierigen Voyeurs, der sich in das Zimmer der jungen (Haupt-?)darstellerin schleicht, sie überrascht und sich nur einen Schnitt später nackt, mit einem Kissen zwischen den Beinen, auf ihrem Bett räkelt – wenige Sekunden, bevor sie ihn zur Sau macht und hochkant hinauswirft. Die alte und die junge Darstellerin, die im Nirgendwo spazieren und sich dann dazu entscheiden, ein Bier zu trinken. Nach einer Abwägung, ob sich das überhaupt für Damen ziemt, trinken sie sogar zwei! Irrsinniges, Absurdes, Wunderliches und Triviales, das sich vor einer malerischen Landschaft oder vor wunderschöner habsburgischer Architektur abspielt.
Die deutschen Untertitel auf der 35mm-Kopie des Films waren übrigens ein weiteres Argument gegen Verfechter der „lustigen“, sprich selbstvertrashenden Synchronisationen: komplett leserunfreundlich in Versalien, voller unfreiwillig komischer Tippfehler und mit Stilblüten übersät, als hätte der Übersetzer 1987 eine Reise in die Zukunft gemacht, um das zu benutzen, was Google-Translator bisweilen ausspuckt. Irgendwie passte das zum Film, auch wenn es das ohnehin geringe Verständnis dessen, was da passiert und was die Figuren eigentlich sagen und tun, noch weiter erschwerte.
Fazit: ich habe diesen Film nicht verstanden und ich finde ihn toll!


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
DOM ZŁY („Das Haus des Bösen“)
Regie: Wojciech Smarzowski
Polen 2009
105 Minuten, 35mm
Ein verschneites Haus irgendwo auf dem flachen Land in Polen, anno 1981. Einige Polizisten stellen zusammen mit einem Verdächtigen einen Mord nach. Das gestaltet sich aufgrund des Alkoholkonsums aller Beteiligten schwierig, zumal auch noch politische Intrigen permanent wechselnde Fronten aufbauen. In Rückblenden wird dem Hergang dieser Tat aus der Ich-Perspektive des Verdächtigen nachgegangen: auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle kommt er zu diesem Haus, wo ein älterer Bauer und seine jüngere Frau ihn bewirten. Mit dem Mann wird er Freundschaft trinken und Schwarzmarktgeschäfte planen, mit der Frau das Bett teilen – bis es zur Eskalation kommt.

© goEast Filmfestival
DOM ZŁY erzählt in der Tat die Geschichte einer doppelten Eskalation, eines doppelten Hineinschlitterns in den puren Wahnsinn. Auf zwei Ebenen verteilt ist es die Eskalation der Leidenschaft (in den Rückblenden) und die Eskalation der Politik (bei der Untersuchung). Das ist zuerst befremdlich, denn es sieht zunächst aus, als würde man zwei komplett verschiedene Filme schauen. In den Rückblenden: ein manisches Melodrama, als des Erzählers Frau von einer Sekunde auf die andere tot umkippt und er sich dann im Dreck und Wodka suhlt, bis er dann doch einen neuen Job bekommt (den er nie erreichen wird). Später das Umkippen in einen unkontrollierten Trinkkumpanen-Drama, als der spätere Verdächtige mit dem älteren Bauern eine Flasche nach der anderen kippt und dabei Größenwahnsinniges herbeispinnt. Zwischendurch immer wieder die Rückkehr in die Gegenwart, in einen Procedural, der ein wenig an Sidney Lumet erinnert: Polizisten, die eigentlich einen Mordfall ermitteln, werden des Amtsmissbrauchs, der Trunksucht, der politischen Unzuverlässigkeit angeklagt – und verlieren wird der, der als letzter die anderen denunziert.
Im Programmheft wurde Wojciech Smarzowski als Dominik Graf Polens bezeichnet. Nicht ganz abwegig: DOM ZŁY und Grafs TV-Thriller sind großes, leidenschaftliches Kino der Intensität, mit einem feinen Blick für Irrsinn und totalen Kontrollverlust.
À propos Kontrollverlust: Die gezeigte 35mm-Kopie war geradezu kristallin klar – aber warum sollte es den Zuschauern einfach gemacht werden, wenn es auch lästig geht? Die dritte Rolle wurde nämlich auf welche Weise auch immer nicht richtig in den Projektor gelegt, so dass der Bildstand knapp 20 Minuten lang extrem zittrig war – was in statischen Momenten bereits nervig war, verschwamm in Momenten mit schnellen Schnitten oder raschen Kamerabewegungen zu einem kopfschmerzinduzierenden Mischmasch. Wenn ich es richtig registriert habe, ging mindestens ein Co-Zuschauer irgendwann raus, um dies mitzuteilen, aber wirklich etwas unternommen wurde nichts. Vielleicht wäre es ja eine Lösung gewesen, den Film mal kurz anzuhalten, die Rolle zurückzuspulen und noch einmal richtig einzulegen (zumal der Vorführer im Murnau-Theater offenbar nicht die geringsten Probleme damit hat, Filme aus anderen Gründen mittendrin einfach zu stoppen – mehr dazu aber unten). Die restlichen Rollen waren dann wieder halbwegs fachmännisch eingefädelt. Wieder eine Vorführung, wo alles gegeben wurde, damit ja keine Immersion stattfindet.


Sonntag, 24. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
CZERWONY PAJĄK („Die rote Spinne“)
Regie: Marcin Koszałka
Polen 2015
90 Minuten, Screener
Ein Serienmörder bringt im Krakau der späten 1960er Jahre Knaben um. Eines seiner grausam zugerichteten Opfer wird von einem Medizinstudenten, der auch Wasserspringermeister der Stadt ist, am Rand eines Rummelplatzes entdeckt. Als er wenig später auch zufällig die Identität des Täters aufdeckt, beginnt eine obsessive Beziehung zwischen den beiden. Der junge Wasserspringer nimmt dabei nach und nach die Identität des Mörders an.

„So unaufgeregt wie leider auch fürchterlich unaufregend inszeniert“ ist ein Urteil, das ich auch in Bezug auf einen anderen Wettbewerbsfilm fällen werde. „Arthouse-Kino macht ein bisschen einen auf Genre“ würde ebenfalls zutreffen. Keine Frage: CZERWONY PAJĄK ist handwerklich makelloses Kino mit guten Darstellern, aber er ist eben auch leblos, fast steril. Vielleicht ist es diese „unaufgeregte“ Ästhetik, die mich gestört hat, diese langen Einstellungen, die im Grunde nichts zu sagen haben (kürzer würden sie eher zum Punkt kommen, noch länger würden sie zumindest richtig irritieren), diese Aneinanderreihung von Trivialitäten (der Student geht ein bisschen Turmspringen üben), die einen gewissen Realismus vorspiegeln sollen. Vielleicht hat mich gestört, dass im Gegensatz dazu das Drehbuch umständlich, vollkommen unfokussiert ist: soll es um die Beziehung zwischen zwei Besessenen gehen? Oder doch um eine Art Bestandsaufnahme der vergangenen, realsozialistischen Tristesse? Oder doch um einen Serienmörder-Thriller? Irgendwie scheinbar um alles und dadurch auch um nichts. Definitiv gestört hat mich der Nebenplot um eine Journalistin, die sich mehr oder minder an den Medizinstudenten (bzw. eher an den Wasserspringermeister) ranwirft – eine weibliche Figur, die auf unsagbar umständliche Weise eingeführt wird, nur, damit sie später so nonchalant wie brutal beseitigt werden kann.
Je mehr ich über den Preisträger für die beste Regie und den FIPRESCI-Preisgewinner nachdenke, umso banaler und vergesslicher erscheint er mir.


13.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
ZIEMA OBIECANA („Das gelobte Land“)
Regie: Andrzej Wajda
Polen 1975
ca. 170 Minuten, DCP
Der Pole Karol, der Deutsche Max und der Jude Moritz sind Söhne adeliger bzw. großbürgerlicher Familien, die im Łódź des späten 19. Jahrhunderts große Karriere machen möchten. Zusammen gründen sie eine Textilfabrik und scheuen dabei vor Betrügereien, Intrigen und Grausamkeiten nicht zurück.

Daniel Olbrychski als Karol und Kalina Jędrusik als Lucy
© goEast Filmfestival
Andrzej Wajdas Adaption von Władysław Reymonts gleichnamigem Roman will in vielerlei Hinsicht zu vieles auf einmal und in gewisser Weise ist ZIEMA OBIECANA auch ein Film, der ein wenig zu vielen Leuten gefallen möchte (um das Wort „anbiedern“ mal zu vermeiden). Reymonts Geschichte wird zu einem monumentalen Epos auserzählt, das in aller Deutlichkeit und mit nur wenig Subtilität die Entwicklung des räuberischen Industriekapitalismus in den polnischen Westgebieten des Russischen Reiches darstellen will. Und so fühlt sich dann ZIEMA OBIECANA auch an: Qualitätskino mit großer Message-Keule für den realsozialistischen Gebrauch. So ist der Film in Teilen eine biedere Literaturverfilmung, aufgeblasen zu epischer Länge, damit Freunde epischer Literaturverfilmungen ihre Freude haben. Die Kapitalismuskritik des Films wird bis zum Grotesken getrieben: inmitten einer wilden Orgie, die einer der gemeinen Industriellen veranstaltet, gibt es auch einen Käfig mit einem Tiger, damit auch der dümmste anzunehmende Zuschauer die Botschaft kapiert. Und wer in das Industriegebiet von Łódź kommt, wird gnadenlos zermalmt – wenn ein älterer Arbeiter bei einem Kampf mit einem Geschäftsführer, der seine Tochter vergewaltigt hat, zusammen mit ihm in eine der großen Maschinen reinfällt, spuckt die Maschine nach wenigen Sekunden eruptiv blutiges Gekröse durch den ganzen Raum. Wer sich also Raubtierkapitalisten als perverse Lustmolche vorstellt und auch auf unmotivierten Splatter steht, wird bei ZIEMA OBIECANA ebenfalls gut bedient.
Lustig, nett und irgendwie unterhaltsam ist das alles ja schon, und tatsächlich gehen die drei Stunden überraschend flott vorüber. Wesentlich störender fand ich, wie der Film in seinen Figuren relativ nonchalant antisemitische und deutschfeindliche Ressentiments pflegt (während die polnischen Figuren auf gewisse Weise netter behandelt werden). So sind alle deutschen und jüdischen Industriellen Karikaturen von Stehaufbösewichten: der schimpfende Deutsche, der mit seinem Gehstock seine Angestellten bis aufs Blut schlägt, der schmierige Jude, der einen halben Meter hinter seinem Schreibtisch seinen Safe stehen hat. Das vermischt sich zumal mit einem etwas zweifelhaften Frauenbild. Magda Müller, die Tochter eines deutschen Industriellen (die Karol am Ende aus Karriere-Kalkül heiratet), ist die Karikatur der strohdämlichen deutschen Gans, die auf Polnisch kaum zwei Wörter geradeaus sagen kann und sich bei jeder Gelegenheit peinlich benimmt. Lucy Zucker, die junge Ehefrau eines jüdischen Industriellen und heimliche Geliebte Karols, ist hingegen die Karikatur der durchtriebenen jüdischen Nymphomanin, die, wenn sie Karol nicht gerade vernaschen möchte, andere Sachen in rauen Mengen isst (in einer denkwürdigen Szene etwa einen leicht gammelig aussehenden Fischkopf). Der Deutsche Max ist aus dem Antihelden-Trio jener, für den sich der Film am allerwenigsten interessiert. Allerhöchstens ist er ein wenig tollpatschig. Der Jude Moritz hingegen ist ein hyperaktives Stehaufmännchen. ZIEMA OBIECANA nutzt mehrere Gelegenheiten um anzudeuten, dass er homosexuell ist (und dass dies im Sinne des Films natürlich verwerflich sei): so schlägt er etwa eine Prostituierte, die sich an ihn ranmacht, hat ein Foto von Karol in seiner Brieftasche und wuselt immer etwas zu nah um Karol herum.
Ob das alles 1974, also noch nicht einmal zehn Jahre nach dem Beginn massiver antisemitischer Kampagnen in Polen, wirklich künstlerisch, politisch und allgemein menschlich „nötig“ war, sei dahingestellt. Dass eine der leidenden Arbeiterinnen, die für vielleicht zwei Minuten ein Gesicht bekommt, offensichtlich jüdisch ist und ein Fabrikangestellter mit humanistischem Gewissen deutsch, ist kein wirklicher Ausgleich...
In einem Film, wo es fast nur Bösewichte gibt, werden praktisch alle polnischen Figuren doch irgendwie anders gezeigt. Während Deutsche und Juden in Łódź Arbeiter schinden, hat sich Karols Familie auf einen Landsitz zurückgezogen: leicht dekadente Adelige, die nicht mehr besonders reich sind und keinen politischen oder wirtschaftlichen Einfluss haben, aber irgendwie keine bösen Leute. Karols polnische Verlobte (ihren Namen habe ich vergessen) ist eh eine musterhafte junge Frau – gewissermaßen die polnische Heilige zu Lucy Zuckers jüdischer Hure. Und Karol selbst? Ein Bösewicht, sicherlich, aber auch die einzige Figur, die so etwas wie Gangster-Glamour haben kann und darf.
Ein besonderes Merkmal des Films ist seine faszinierende Sprache. Polnisch ist die Hauptsprache, wird aber von vielen Figuren mit zahlreichen deutschen Begriffen aufgelockert. Sätze werden auf Polnisch begonnen und auf Deutsch beendet oder umgekehrt. Kleine Zwischenrufe werden auf Deutsch vorgetragen. Manche Dialoge sind zweisprachig, wenn etwa Karol auf Polnisch mit einem deutschen Fabrikchef spricht und dieser jeweils komplett auf Deutsch antwortet. Faszinierend, zumal hier wiederum zeitgenössischen polnischen Zuschauern doch viel zugemutet wurde. In der in Wiesbaden gezeigten DCP-Kopie, die deutsch untertitelt war, wurde konsequent alles Deutsche nicht untertitelt.
Wie gesagt: ZIEMA OBIECANA ist keineswegs zu lang, irgendwie unterhaltsam, aber angesichts der Kür zum besten polnischen Film aller Zeiten hätte ich mehr erhofft.

irgendwann zwischen 14.00 und 16.15 Uhr, Murnau-Filmtheater
ZIEMA OBIECANA - Das Bonusprogramm
Regie: Andrzej Wajda / ein Wiesbadener Filmvorführer
Polen 1975 / Deutschland 2016
ca. 20 Minuten, DCP mit exklusivem Pausenblock und raffinierter Analog-Veredelung
Ungefähr nach einer halben oder Dreiviertelstunde fror das Bild von ZIEMA OBIECANA ohne jegliche Vorwarnung auf der Leinwand ein. Es dauerte dann etwa zwei Minuten, bevor der Filmvorführer in dramatisch-theatralischer Pose den Saal betrat, um einen der Zuschauer darauf aufmerksam zu machen, dass er mit seinem Smartphone ein Bild des Films gemacht habe und dies verboten sei. Eine (der Stimme nach ältere) Zuschauerin beeilte sich, dem Vorführer beizustimmen und fuhr den Schuldigen hastig mit der Bemerkung „Dafür könnte man sogar Anzeige gegen Sie erstatten“ an. Nun denn: der Schuldige löschte das Bild, der Vorführer ging wieder in die Kabine und es konnte dann endlich weiter gehen...
Nicht, dass ich besonders viel Sympathie hätte für Leute, die mit ihren Handys ein Foto von der Leinwand machen, aber irgendwie scheint mir dieser Vorfall doch symptomatisch für eine zunehmend verfallende Filmkultur zu sein. Und damit meine ich jetzt tatsächlich die Intervention des Vorführers. Von den drei möglichen Lösungen des Problems, nämlich den fotografierenden Zuschauer NACH Ende des Films zur Rede stellen, den fotografierenden Zuschauer während des weiter laufenden Films im Dunkeln zur Rede stellen oder den Film komplett zu stoppen, um aufmerksamkeitsträchtig den fotografierenden Zuschauer mit „Beteiligung“ des restlichen Publikums zur Rede zu stellen, hat er sich ausgerechnet für die wahrhaftig dämlichste Lösung entschieden.
Wenn ich nicht so verärgert gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich so etwas denken können wie „Schön, wenigstens sitzt der Vorführer im Vorführraum und passt haargenau auf die Projektion auf“. Wie sehr ich mich getäuscht hätte...
Denn à propos „Haar“: eine halbe Stunde vor Ende des Films folgte der nächste Zwischenfall. Ein Faden, oder eben ein Haar, oder was auch immer, schob sich vor die Projektionslinse und teilte das Bild ungefährt in der Mitte, leicht rechts ausgerichtet, mit einem schwarzen, leicht unregelmäßig verlaufenden Strich von oben bis unten. Kritiker des digitalen Kinos (zu denen ich mich bei manchen Aspekten durchaus zähle) vermissen die Materialität von Film bei DCP-Projektionen – auf eine solche Form von Materialität konnten wir allerdings schon in Zeiten des analogen Kinos verzichten. Nun wurde ZIEMA OBIECANA gerade in dem Moment richtig spannend und nach dem Vorfall von vorhin mussten sich doch alle Zuschauer geradezu darauf verlassen können, dass der Vorführer das Haar, diesen Faden (oder was auch immer) merken würde, wenn er mit seinen Adleraugen schon so aufmerksam den Saal nach fotografierenden Zuschauern durchsucht. Nach weiteren zehn Minuten, in denen das Haar-Faden-Dings weiter das Bild trübte, entschied ich mich, Synergieeffekte zu nutzen: also aufs Klo zu gehen (was ich seit mindestens einer halben Stunde doch dringend musste) und auf dem Weg dem Vorführer bescheid zu geben. Der war nicht in der Vorführkabine, sondern irgendwo anders, so dass ich den beiden charmanten Einlassmitarbeiterinnen bescheid geben musste. Auf dem Weg von ihr wisst schon wo zurück zum Saal sah ich vor der Saaltür den Vorführer und die beiden netten Damen stehen, die mir mitteilten, dass es sich um ein Kabel handelte. Warum der Vorführer erneut nicht im Vorführraum war, sondern davor stand, verkniff ich mich zu fragen.
Die gute Nachricht allerdings: die letzten zehn Minuten des Films liefen ohne weitere Zwischenfälle.
Diese Qualität von Projektionen scheint mir für das Kino der Murnau-Stiftung, also einer Institution, die sich ein Stück weit der Bewahrung des Filmerbes verschrieben hat, vollkommen daneben zu sein. Der Kinosaal des Murnau-Filmtheaters spielt allerdings nicht nur für die Murnau-Stiftung, sondern auch für die FSK – insofern passt das also doch wieder...


17.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
SZENVEDÉLY („Leidenschaft“)
Regie: Fehér György
Ungarn 1998
ca. 122 Minuten (?), 35mm
James M. Cains „The Postman Always Rings Twice“, angesiedelt im Nirgendwo, auf Ungarisch, in Schwarzweiß und ultralangen Plansequenzen.


Ildikó Bánsági als die Ehefrau, Đoko Rosić als der Ehemann und
János Derzsi (ein Stammdarsteller von Tarr Béla) als der Mann
© goEast Filmfestival
Die Ungarn und ihre langen Plansequenzen: hier nicht so musikalisch wie Jancsó, sondern gnadenlos streng und unerbittlich wie bei Tarr (der auch am Drehbuch mitschrieb). Minutenlange Einstellungen auf Schlammeinöde, trostlose Regenlandschaften, darin drei Menschen (später nur noch zwei), die wie leere Hüllen, Zombies, durch das Bild kriechen. Im Mittelteil diese Episode im Gefängnis mit dem langen Monolog des Anwalts, in dem wir etwa zehn Minuten lang nur sein hartes Gesicht sehen, und dann diese tiefen, düsteren Gänge mit den Stahltüren, begleitet vom gnadenlosen Hämmern der Schreibmaschine, die das Geständnis der Frau abtippt. Das Tageslicht wieder zu sehen, wirkt dann geradezu wie ein Schock.
So entsteht ein avantgardistisches Werk, der den Geist des film noir zu einer fast unerträglichen Stärke konzentriert. „The next films are about people torturing and killing each others in rural landscapes. You will die in a really slow and painful agony. Have fun!“ schloss Kurator Olaf Möller seine kurze Einführung des Films ab (womit er allerdings die beiden darauffolgenden Filme des Krimi-Symposiums ebenso dazu zählte).
Ja, die Erotik fehlt etwas bei SZENVEDÉLY, und nicht nur deshalb mag ich BODY HEAT und BASIC INSTINCT doch lieber. Nicht der beste, aber ohne Zweifel einer der abgefahrensten neo-noirs, dessen Bilder vollkommen zeitlos wirken, wie aus einem Paralleluniversum. Niederschmetternd, radikal, toll.
Ein Rätsel dieser Projektion ist und bleibt leider die Vorführzeit. IMDb sagt, dass SZENVEDÉLY 155 Minuten dauert, eine Dauer, die im Internet auch anderswo sehr häufig zu finden ist. Im Programmheft des Festivals stand etwas von 136 Minuten (seltener, aber auch auf mehreren Seiten zu finden). Ebenfalls, allerdings schon wesentlich seltener, ist die Zahl von 122 Minuten zu finden, und das war auch ungefähr die Dauer der Projektion im Murnau-Theater. Was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Spontan hätte ich ja darauf getippt, dass der Filmvorführer vielleicht eine Rolle vergessen hat, was bei einem Film wie SZENVEDÉLY, der anti-narrativ und sowieso voller Ellipsen ist, sicherlich weniger aufgefallen wäre als bei einem „durchgeskripteten“ Film. Angesichts der Vorkommnisse bei den vorigen Projektionen hätte mich das nicht gewundert. Ansonsten muss davon ausgegangen werden, dass offenbar unterschiedlich lange Kopien unbekannten Ursprungs im Umlauf sind.


20.00 Uhr, Caligari FilmBühne
ORIZONT
Regie: Marian Crișan
Rumänien 2015
93 Minuten, DCP
Lucian übernimmt zusammen mit seiner Frau ein Berghotel in den Karpaten. Bald wird er vom Mafioso Zoli und seinen Schlägern bedrängt und bedroht.

Auf keinen aktuellen Film des Festivals habe ich mich so sehr gefreut wie auf diesen. 2013 hatte mich Marian Crișans ROCKER schlichtweg umgehauen. Mit ORIZONT kam jedoch eine furchtbare Ernüchterung. 
Ich zitiere mich noch einmal kurz selbst aus meiner Einschätzung zu CZERWONY PAJĄK: „So unaufgeregt wie leider auch fürchterlich unaufregend inszeniert [...] Arthouse-Kino macht ein bisschen einen auf Genre“. Es gibt ja die Auffassung, dass praktisch jede „neue Neue Welle“ seit den 1990er Jahren irgendwann beim Genre landet: die koreanische war von Anfang an dort, die Neue Berliner Schule kam zum urbanen Actionfilm, zum Western und sogar zum Sadiconazista-Film, sogar Hou Hsiao-Hsien hat jetzt kürzlich einen wuxia-Martial-Arts-Film gedreht. Auch angesichts des Plakats (siehe z. B. hier) erwartete ich eigentlich einen Gangster-Thriller, der keine Gefangenen macht. Warum auch nicht?
ORIZONT entpuppte sich dann doch als richtiger Langweiler in jeglicher Hinsicht. Hauptdarsteller András Hatházi ist vom intensiv-expressiven Dan Chiorean aus ROCKER meilenweit entfernt und bläst die meiste Zeit eher Trübsal als dass er eine richtige Figur spielen würde. Bis auf Zsolt Bogdán als Gangsterchef Zoli, der gewisse, gleichwohl unterentwickelte Ansätze an Charisma entwickelt, spielen auch die anderen Darsteller nur Dienst nach Vorschrift bzw. Drehbuch. Dessen Trivialität versucht die Inszenierung durch bedeutungsschwanger ausgedehnte Szenen zu kaschieren, die durch zu viele lens flares allerdings auch nicht besonders ansehnlich sind.
2013 schrieb ich: „Regisseur Marian Crişan hat gut verstanden, was er an Chiorean hatte, und filmt oft nicht Handlungen selbst, sondern Victors Reaktionen darauf“ – ist Marian Crișan als Filmemacher also doch nur so gut wie seine Darsteller?


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
AFERIM!
Regie: Radu Jude
Rumänien / Bulgarien / Tschechische Republik / Frankreich 2015
108 Minuten, DCP
Zwei Kopfgeldjäger brechen auf, um einen entflohenen Banditen zu fangen, der sich schlussendlich nur als armer Bauer entpuppt.

Präziser formuliert: Anfang des 19. Jahrhunderts fangen ein Gendarm und sein Sohn einen aus der Sklaverei eines wallachischen Bojaren entflohenen Rom. So en passant hatte ich letztes Jahr von diesem Film gehört, der tatsächlich besprochen wurde als eine Art rumänischer Western. Auch hier tat sich nun eine gewisse Enttäuschung breit, da die Ähnlichkeit zum Genre wahrhaftig sehr kursorisch ist. Eher ist AFERIM! eine Art Übertragung donquijote‘ischer Motive auf das Rumänien des frühen 19. Jahrhunderts, mit einem Helden (dem erfahrenen Gendarmen) als redseliger Draufgänger und seinem Kumpanen (dem Sohn) als Tollpatsch mit comic-relief-Potential. Ein bisschen Schwejk versteckt sich auch in den Figuren, die, egal in welcher Situation, immer irgendeine Anekdote zum Besten geben müssen, so dass der Film bisweilen einen erschlagenden Redefluss entwickelte und fast mehr wie ein Hörbuch mit Bildern als wie ein Stück Kino wirkte. Sicherlich ist AFERIM! dennoch ein engagierter Film, ein Plädoyer gegen Antiziganismus und überhaupt gegen Rassismus und Nationalismus – und bleibt dabei dennoch angenehm unpädagogisch und frei von Thesenfilmattitüden.
Und doch floss dieser Film weitestgehend an mir vorbei, ohne, dass ich irgendeine Spur von Anteilnahme entwickelte. Ich registrierte AFERIM! mehr, als dass ich ihn sah und irgendwie erinnerte mich das (und natürlich das historische Setting und das Schwarzweiß und der redselige Held) an Welles‘ CHIMES AT MIDNIGHT, den ich letztes Jahr auch eher registrierte als sah. Vielleicht lag das an meiner schwindenden Energie und der Erkältung, die sich seit Anfang des Abends immer aggressiver in mir breit machte...
Ein Kandidat für eine konzentriertere Neusichtung unter besseren Bedinungen.


Montag, 25. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
MEHANIZAM („Mechanismus“)
Regie: Đorđe Milosavljević
Bundesrepublik Jugoslawien 2000
94 Minuten, Screener
Die beiden Profikiller Mak und Debeli fahren zu ihrem nächsten Auftrag. Auf der Fahrt durch die Einöde gabeln sie die Autostopperin Snežana auf, eine Dorflehrerin auf dem Weg zu ihrem nächsten Job. An einem verlassenen Bahnhof wartet der mysteriöse Janko auf die Truppe, und es kommt zur Eskalation.

Nikola Kojo als sadistischer Mak, Ivana Mihić als Snežana und
Andrej Šepetkovski als Janko  © goEast Filmfestival
MEHANIZAM hätte ich auf einer 35mm-Kopie anstatt ORIZONT schauen können, und er hätte wunderbar an SZENVEDÉLY anschließen können. Ich erinnere an die Worte des Symposium-Kurators: „The next films are about people torturing and killing each others in rural landscapes. You will die in a really slow and painful agony. Have fun!“ 
Der Screener hatte ein fürchterliches, abgeranztes Bild, das ein wenig an eine dreifach überspielte VHS-Aufnahme erinnerte. Auf merkwürdige Weise passte das zu diesem fiesen kleinen Film. Tatsächlich eine Art Kammerspiel, bei dem sich vier (später drei) Leute an einem heruntergekommenen Nirgendwo gegenseitig foltern und töten. Wenn irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, MEHANIZAM das Label „tarantino‘esk“ anzukleben, hätte der Film schon längst eine vernünftige Heimvideo-Auswertung. Doch vielleicht ist er dazu auch zu eigen und sicherlich auch zu brutal für gängige Fans „tarantino‘esker“ Gangsterkomödien. MEHANIZAM ist tatsächlich eine Gangsterkomödie, aber er ist auch ein abstrakter, absurder und abgrundtief schwarzer neo-noir. Abstrakt ist natürlich das Setting: Dreiviertel des Films spielt auf einer Schlammfläche in der Nähe einer heruntergekommenen Bahnstation. Absurd mutet der Film an, weil keine Handlung irgendeinen Ursprung oder ein Motiv zu haben scheint: der Auftrag der beiden Killer bleibt lange unklar, und löst sich dann im Nichts auf, als Mak die falschen Ziele tötet, und was Janko bei der Station macht (er wartet dort offenbar auf jemanden, aber nicht auf Mak und Debeli) bleibt mysteriös. Abgrundtief schwarz ist der Todeswunsch Maks: je sadistischer er im Laufe des Films wird, umso deutlicher wird, dass er Snežana und Janko letztlich dazu bringen möchte, ihn umzubringen.
Eine Wucht von einem Film.


ca. 11.45 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
WOLNA SOBOTA („Freier Samstag“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 1977
12 Minuten, Screener
Kazimierz und Olenka, die sich offenbar nicht kennen, brechen zusammen zu einem Landausflug auf. Die beiden kennen sich offenbar nicht richtig, und rasch wird klar, dass das eine Zweckbekanntschaft ist: Kazimierz ist Arzt und nimmt an Olenka eine Abtreibung vor. Während Olenka sich erholt, geht Kazimierz fischen und bringt seinen Fang später zu seiner Familie mit.

Nur noch wenig Zeit, deshalb einen Kurzfilm noch genommen – leider ohne Untertitel auf dem Screener. Mit meinen rudimentären Polnisch-Kenntnissen gestaltet sich das Verständnis schwierig. Vielleicht habe ich deshalb etwas verpasst, denn in meinem Gedächtnis ist WOLNA SOBOTA tatsächlich nur ein sauberes Stück Kinohandwerk und gehört zur Sorte Kurzfilm, die eben handwerkliches Können und Potential für „mehr“ demonstrieren sollen.

GORĄCZKA MLEKA („Milchfieber“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 1977
15 Minuten, Screener
Ein Student trägt in einer riesigen Plattenbausiedlung Milch aus. Das Gebäude wird nach und nach zum Ort des Grauens für ihn, als eine ältere Frau die Milch nicht mehr in die Wohnung nimmt, weil sie gestorben ist.

Hier noch mehr Verständnisprobleme, weil der Film merkwürdigerweise mehr Dialoge als WOLNA SOBOTA hatte. Visuell einige interessante Thriller-Momente, denen man aber eben doch das geringe Budget einer Filmhochschularbeit ansieht.


14.00 Uhr, Caligari FilmBühne
DRAK SA VRACIA („Drache kehrt heim“)
Regie: Eduard Grečner
ČSSR 1968
81 Minuten, DCP
Der Töpfer Martin wird aus nichtigen Gründen von der Dorfgemeinschaft verstoßen und lässt seine große Liebe Eva zurück. Jahre später kehrt er zurück. Als die Kuhherde des Dorfes in einem entfernten Tal in einen Waldbrand gerät, bietet er sich an, sie zu retten.

Ein markantes, kantiges, unvergessliches Gesicht: Radovan Lukavsky
© goEast Filmfestival
Die Tschechoslowakische Neue Welle fand nicht nur in Tschechien, sondern auch in der Slowakei statt. Eduard Grečner, Anfang der 1960er Jahre noch als Regieassistent bei Štefan Uher, einem der Gründungsväter der Tschechoslowakischen Neuen Welle, drehte mit DRAK SA VRACIA seinen dritten Spielfilm und für lange Zeit auch seinen letzten: nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde er in der tschechoslowakischen Filmindustrie marginalisiert und war fortan nur noch als Synchronisationsregisseur tätig. Abgesehen zweier eigener Spielfilme in den 1990er Jahren ist er das bis heute, wie Alexandra Strelková, die Leiterin des Nationalen Filmzentrums des Slowakischen Filminstituts, in ihrer Einführung sagte.
DRAK SA VRACIA ist zwar ein slowakisch-sprachiger Film, allerdings mit nur sehr wenigen Dialogen. Den großen Teil seiner Geschichte erzählt er über seine verblüffend schönen Schwarzweißbilder. Hervorzuheben sind die langen, assoziativen Montagen, in denen Martins Verdrängung aus dem Dorf in Rückblende gezeigt wird und in denen sich totale Stille und laute, sphärische Musik mit lang anhaltenden Akkorden abwechseln. Toll ist auch die absolute Abgehobenheit von Zeit und Ort: der Film spielt weder explizit in der Vergangenheit, noch explizit in der Gegenwart, sondern präsentiert eine im Grunde zeitlose Tragödie von Verstoß aus einer Gemeinschaft. Das Dorf ist auch die einzige soziale Institution im ganzen Film (abgesehen von wandernden Hirtengemeinschaften in den Bergen). Das Gefühl, das in der Welt von DRAK SA VRACIA irgendwo anders jemand leben könnte, kommt praktisch nicht auf.
DRAK SA VRACIA ist ein trauriger und hoffnungsloser Film, wenn es um die menschliche Natur geht. Statt zuzugeben, dass sie Martin unrecht getan hat, möchte die Dorfgemeinschaft am Ende lieber ein zweites Mal in Negation ihres eigenen Unrechts leben, und der „Drache“ (so Martins Spitzname), der zurückgekehrt ist, muss wieder weggehen.
Wieder eine 10-20-minütige Phase von Sekundenschlaf-Attacken, doch dieses Mal kann ich mich trösten: es gibt eine wahrscheinlich exzellente DVD-Edition des Films beim britischen Label Second Run DVD.


Persönliches Ranking

1. UN COMISAR ACUZĂ


2. RITAM ZLOČINA

ÚSMEV DIABLA

DRAK SA VRACIA


3. DOM ZŁY

SZENVEDÉLY

MEHANIZAM


4. ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI?

5. PESN‘ PESNEJ


6. CÓRKI DANCINGU

7. ZIEMA OBIECANA

8. AFERIM!


9. CZERWONY PAJĄK

10. ORIZONT


11. BYT‘ LIŠNIM


12. BOPEM

Einige Spezialpreise

Beste Regie
Sergiu Nicolaescu für UN COMISAR ACUZĂ

Bester Darsteller
Sergiu Nicolaescu in UN COMISAR ACUZĂ

Beste Darstellerin
Ilona Ostrowska in ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI?

Bester Filmanfang
RITAM ZLOČINA – eine lange Plansequenz durch eine ländliche Idylle, die sich durch einen Kameraschwenk als städtischer Vorort entpuppt, während die Hauptfigur ihr Fahrrad nach Hause schiebt, dazu diese Sommerferienmusik...

Beste Schlussbilder
UN COMISAR ACUZĂ – Freezeframe auf Dirty Tudor, der von einer Hundertschaft umzingelt noch einige bad guys in Tod mitreisst
ÚSMEV DIABLA – zwei Männer kreuzen ihre Blumensträuße, während die Frau, die sie bekommen soll, wegläuft (Freezeframe)
DOM ZŁY – ein Bosch‘sches Tableau des Irrsinns, mit herumliegenden Leichen, prügelnden und saufenden Polizisten, Flaschen, die knapp an der Kamera vorbeigeworfen werden und einer wahrscheinlich bald tödlichen Verfolgungsjagd im Hintergrund

Beste Musik
Richard Oschanitzky für UN COMISAR ACUZĂ – oder: was Italiener in den 1970er Jahren konnten, hatten Rumänen sowieso drauf
Hrvoje Hegedušić für RITAM ZLOČINA – idyllische Sommerferienmusik, lediglich am Anfang als Einstimmung und am Schluss als Ausklang herrlich kontrapunktisch eingesetzt

Goldener Quietsche-Donald für den besten Irrsinn
ÚSMEV DIABLA

Vintage-silbernes Spielzeugraumschiff für die beeindruckendste Zeitlosigkeit
RITAM ZLOČINA
SZENVEDÉLY
DRAK SA VRACIA

Rottropfendes Küchenmesser für den absurdesten Splattermoment
ZIEMA OBIECANA