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Samstag, 10. August 2024

Eine Ermittlung in Ost- und Westdeutschland

Kürzlich auf dem Münchner Filmfest erlebte DIE ERMITTLUNG von RP Kahl seine Uraufführung, wenig später folgte die reguläre Kinopremiere in Berlin. Es handelt sich um eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Peter Weiss, das eng an die Verhandlungsprotokolle des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses angelehnt ist. Der sperrige Film, der vollständig vier Stunden dauert (es gibt auch eine dreistündige Version, mit acht statt elf "Gesängen"), erhielt gute bis sehr gute Kritiken (Beispiele: Rüdiger Suchsland in Telepolis, Peter Neumann in der Zeit, Ayala Goldmann in der Jüdischen Allgemeinen). Doch hier soll es nun nicht um diesen Film gehen, sondern um die beiden recht unterschiedlichen Fernsehfassungen des Stoffs, die Mitte der 60er Jahre, also zeitnah zum Prozess und zum Stück, in den beiden deutschen Staaten entstanden, vor allem aber um das Stück selbst.

DIE ERMITTLUNG
Deutschland (DDR) 1965/66
Sender: DFF
Regie: Lothar Bellag, Erich Engel, Karl von Appen, Manfred Wekwerth und Konrad Wolf (Bühneninszenierung) sowie Ingrid Fausak (TV-Regie)
Darsteller: Hilmar Thate (Richter), Alfred Müller (Ankläger), Dieter Knaup (Verteidiger), Stephan Hermlin, Bruno Apitz, Eberhard Esche u.v.a. (Angeklagte), Helene Weigel, Ernst Busch, Erwin Geschonneck u.a. (Zeugen) - vollständige Liste siehe Wikipedia, Robert Siewert (Kommentator)

DIE ERMITTLUNG
Deutschland (BRD) 1966
Sender: NDR
Regie: Peter Schulze-Rohr
Darsteller: Fritz Straßner (Richter), Herbert Fleischmann (Ankläger), Helmut Peine (Verteidiger), Bum Krüger, Hellmut Lange u.v.a. (Angeklagte), Ida Ehre, Hanne Hiob, Benno Sterzenbach, Siegfried Wischnewski, Pinkas Braun u.a. (Zeugen) - vollständige Liste siehe wiederum Wikipedia

Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess vom Dezember 1963 bis August 1965 bildete nicht nur eine Zäsur in der westdeutschen Justizgeschichte, er wirkte auch weit in die Gesellschaft der Bundesrepublik hinein (auch wenn natürlich nach wie vor viele nichts von diesem Thema hören wollten), in die Politik, in die Medien und in das Kulturleben. Von den zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Prozess ist Peter Weiss' Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen wohl die wichtigste, und zweifellos die bekannteste. "Oratorium" und "Gesänge" ist hier metaphorisch zu verstehen - gesungen wird in dem reinen Sprechstück nicht. (Ursprünglich plante Weiss eine Trilogie, die an die drei Teile von Dantes Göttliche[r] Komödie angelehnt war, und den dort verwendeten Begriff "Gesänge" (canti) für Kapitel hat er dann in der geänderten Konzeption des Stücks beibehalten.)

Peter Weiss gehörte seit Beginn der 60er Jahre zu den wichtigen Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur (die er in seiner schwedischen Wahlheimat auf Deutsch verfasste). 1935 emigrierte die Familie (Weiss' Vater war jüdischer Herkunft, was aber nach seiner Konversion zum Protestantismus 1920 weitgehend verheimlicht wurde), seit 1938 in Schweden - wo Peter Weiss dann blieb. Das Land bot bis 1945 Schutz, dann Lebensunterhalt, 1946 wurde Peter Weiss schwedischer Bürger, und nach zwei nur kurzen gescheiterten Ehen war er bis zu seinem Tod mit einer Schwedin verheiratet. Und doch wurde er in Schweden nie heimisch. Er wollte aber auch in keinen der beiden deutschen Staaten zurückkehren, und so blieb er ein "Unzugehöriger", wie es im Titel eines Films über ihn heißt. Weiss war zunächst vorwiegend Maler und schrieb nur nebenbei, dann drehte er auch einige Experimental- und Dokumentarfilme. Sein Durchbruch als Schriftsteller kam, als er 1960 einen Vertrag beim Suhrkamp Verlag erhielt, der bis zuletzt (und teilweise noch posthum) sein Hausverlag blieb. Nach seinem Tod 1982 geriet Weiss zwar nicht in Vergessenheit, verlor in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber den nobelpreisgekrönten Kollegen Heinrich Böll und Günter Grass aber doch deutlich an Boden. Vielleicht zu Unrecht, aber darüber soll hier nicht lamentiert werden (dafür gibt es Berufenere als mich).

Die Ermittlung beruht also wie erwähnt auf dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Weiss besuchte die Verhandlungstage öfters als Zuschauer und stützte sich zusätzlich auf die Protokolle von Bernd Naumann. Vom 14. bis 16. Dezember 1964 hatte der Prozess einen Lokaltermin in Auschwitz. (Das war ein bemerkenswerter Vorgang, denn damals gab es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und Polen, geschweige denn ein Rechtshilfeabkommen. Trotzdem willigte die polnische Regierung ein, dass ein westdeutsches Gericht mitten in Polen Amtshandlungen durchführen konnte.) Neben den Prozessbeteiligten waren auch rund 200 Journalisten und sonstige Besucher anwesend, darunter auch Peter Weiss. Wie bei vielen anderen Anwesenden dieses Termins auch, hinterließ der Besuch tiefen und bleibenden Eindruck bei ihm. Übrigens war Weiss der einzige deutsche Schriftsteller bei diesem Ortstermin, was Marcel Reich-Ranicki veranlasste, ihn in seiner regelmäßigen Kolumne in der Zeit zu loben und seine Kollegen zumindest subtil zu tadeln.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - die Bühne in der Volkskammer der DDR
Natürlich stellte sich für Weiss die Frage nach der Form eines Textes über Auschwitz. Es stand noch das Diktum von Theodor W. Adorno von 1951 im Raum, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Das hatte schon Paul Celan mit seiner Todesfuge zu schaffen gemacht und ließ sich natürlich auch auf Dramen übertragen. Für Weiss kam nur eine äußerste Reduktion auf das Wesentliche in Frage, auf die gesprochene Sprache, unter Verzicht auf jegliche Schnörkel und Bühnenfirlefanz. Das bedeutet nicht, dass er aus den Verhandlungsprotokollen einfach abschrieb, sondern er verdichtete die Texte in eine bühnentaugliche Sprache und komponierte sie zu einem gewissen Fluss, den man fast musikalisch nennen könnte, was durch das Weglassen der Interpunktion in den gedruckten Ausgaben verstärkt wird. Und er kondensierte die Richter, Staatsanwälte (einschließlich Anwälte der Nebenkläger) und Verteidiger zu jeweils nur einem Vertreter des jeweiligen Berufsstands. Die 359 Zeugen im Prozess wurden zu nur neun konzentriert, die (wie die Juristen) im Stück keine Namen haben, sondern nur Nummern. Wenn also etwa Zeuge Nr. 3 an einer Stelle im Stück eine Aussage macht, dann stammt diese im echten Prozess von einem bestimmten Zeugen, und wenn "derselbe" Zeuge Nr. 3 an einer anderen Stelle etwas sagt, dann stammt dieser Text in der Realität von einem ganz anderen Zeugen. Zwei Charakteristika sind aber im ganzen Stück fix: Die Zeugen 1 und 2 sind (nicht belangte) Handlanger oder Mittäter aus Auschwitz, wie beispielsweise ganz am Anfang ein Eisenbahner, der an der Rampe, wo die Selektionen stattfanden, seinen Dienst tat. Die anderen sieben Zeugen sind Opfer, also Auschwitz-Überlebende. Und die Zeuginnen 4 und 5 sind weiblich, die anderen sieben männlich. Von den 22 Angeklagten in der Hauptverhandlung sind im Stück 18 vorhanden, und sie werden tatsächlich mit ihren richtigen Namen benannt. Nur sehr spärlich im Stück verteilt sind kurze Bemerkungen über die Angeklagten wie "Die Angeklagten lachen zustimmend", die man auch als Bühnenanweisungen betrachten kann.

Um wenigstens ein bisschen zu veranschaulichen, wie Weiss' Konzentrat der Aussagen aussieht, hier nur ein einziges Beispiel. Die Auschwitz-Insassin Dounia Wasserstrom, die der "politischen Abteilung" (also der Lager-Gestapo) als Übersetzerin zugeteilt war, sagte am 40. Verhandlungstag im April 1964 als Zeugin aus. Darunter war diese schockierende Passage (Wilhelm Boger war einer der Angeklagten, die sich durch besonderen Sadismus auszeichneten):
Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand Boger und Draser. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, »das an der Wand« abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.
In Die Ermittlung wird daraus (im Gesang von der Schaukel):
Da war draußen ein Lastwagen vorgefahren
mit einer Fracht von Kindern
Ich sah es durch das Fenster der Schreibstube
Ein kleiner Junge sprang herunter
er hielt einen Apfel in der Hand
Da kam Boger aus der Tür
Das Kind stand da mit dem Apfel
Boger ist zu dem Kind gegangen
und hat es bei den Füßen gepackt
und mit dem Kopf an die Baracke geschmettert
Dann hat er den Apfel aufgehoben
und mich geholt und gesagt
Wischen sie das da ab an der Wand
Und als ich später bei einem Verhör dabei war
sah ich
wie er den Apfel aß
Bei den Zeugen 1 und 2, also den Mitläufern und Mittätern, wäre es zum größten Teil mühsam und müßig, die realen Zeugen dahinter im Prozess ausfindig zu machen. Mit einer Ausnahme: Im Abschnitt II im Gesang von den Feueröfen, dem letzten der elf "Gesänge", steckt hinter dem Zeugen 1 der SS-Richter Konrad Morgen (nach dem Krieg bis 1979 Rechtsanwalt in Frankfurt), der im März 1964 aussagte (von der über dreistündigen Vernehmung liegt auch ein Tonmitschnitt vor).

Eines der Anliegen von Weiss (und vielleicht sein wichtigstes) beim Verfassen der Ermittlung war es, die tiefe Verstrickung der deutschen Großindustrie in den Auschwitz-Komplex (zu dem auch das Lager Buna-Monowitz gehörte) und überhaupt in das ganze KZ-System aufzuzeigen. Eine Schlüsselpassage hierzu findet sich ganz am Anfang, im Gesang von der Rampe (Zeuge 1 ist hier der oben schon erwähnte Eisenbahner):
Ankläger Wer wohnte sonst dort [im Ort Auschwitz, der schon vor dem Lager bestand]

Zeuge 1 Die Ortschaft war von der einheimischen
              Bevölkerung geräumt worden
              Es wohnten dort Beamte des Lagers
              und Personal der umliegenden Industrien

Ankläger Was waren das für Industrien

Zeuge 1 Es waren Niederlassungen
              der IG Farben
              der Krupp- und Siemenswerke

Ankläger Sahen Sie Häftlinge
               die dort zu arbeiten hatten

Zeuge 1 Ich sah sie beim An- und Abmarschieren

Ankläger Wie war der Zustand der Gruppen

Zeuge 1 Sie gingen im Gleichschritt und sangen

Ankläger Erfuhren sie nichts über die Verhältnisse im Lager

Zeuge 1 Es wurde ja soviel dummes Zeug geredet
              man wusste doch nie woran man war

Ankläger Hörten Sie nichts
               über die Vernichtung von Menschen

Zeuge 1 Wie sollte man sowas schon glauben
Hier werden also konkrete Namen genannt - Krupp und Siemens existierten bekanntlich auch nach dem Krieg weiter (Krupp heute als Thyssenkrupp). Und es war auch allgemein bekannt, dass die bekannteren und wichtigeren Vorläuferunternehmen der I.G. Farben (Agfa, BASF, Bayer und Hoechst) nach der Zerschlagung des Konzerns durch die Alliierten unter ihren alten Namen getrennt weiter aktiv waren. Weiter hinten im Stück wird auch die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (was für ein Name in diesem Zusammenhang), kurz Degesch, namentlich benannt. Die Degesch, eine Tochter der Degussa und der I.G. Farben (und zu einem kleinen Teil eines weiteren Unternehmens), hatte das Zyklon B erfunden, ließ es durch eine Partnerfirma herstellen und lieferte es an die Vernichtungslager. Auch die Degesch existierte nach 1945 weiter (unter ihrem alten Namen - offenbar hat sich niemand dafür geschämt). Insgesamt nehmen die Stellen in Die Ermittlung, die sich mit dieser Thematik befassen, nur einen kleinen Teil ein - aber sie sind da. Etwas allgemeiner lässt sich sagen, dass sich Weiss dafür interessierte, wie Auschwitz "als System" jenseits der Mordtaten einzelner SS-Verbrecher funktionierte - das sollte "ermittelt" werden, und das zieht sich quer durch das Stück. In Interviews hat er Die Ermittlung mehrfach als eine "fast wissenschaftliche Arbeit" bezeichnet.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - hier ist die Bühne abgedunkelt
Hier werden also prominente und wichtige Namen der bundesrepublikanischen Industrie von Weiss angegriffen, und das hatte Folgen, die sich in den beiden deutschen Staaten stark unterschieden. Die Ermittlung hatte am 19. Oktober 1965 Premiere, aber schon im August wurde der Text vorab in einer Theaterzeitschrift veröffentlicht. Und sofort begannen die Debatten.

Im September 1965 veröffentlichte Weiss in einer schwedischen sowie je einer west- bzw. ostdeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, und darin bekannte er seine Sympathie für den Sozialismus, ebenso wie bei diversen öffentlichen Auftritten in jener Zeit. So nahm er schon im Mai 1965 an einem internationalen Schriftstellertreffen in Ost-Berlin und Weimar teil, und bei einer Fernsehdiskussion als Teil der Veranstaltung unter der Leitung des später notorischen Karl-Eduard von Schnitzler antwortete er auf Schnitzlers Frage, ob er Kommunist sei, mit "Ich bin nicht Kommunist, nein. [...] Aber ich bin in meiner Einstellung Sozialist." (hier gibt es diese Gesprächsrunde in der ARD-Mediathek, die fragliche Stelle ist bei 27:25). Dieses Bekenntnis zum Sozialismus und dann die kapitalismuskritischen Stellen in Die Ermittlung führten dazu, dass Weiss 1965 von der DDR regelrecht adoptiert wurde, ob er das nun wollte oder nicht. Dass er auch damals schon mehr Offenheit und Meinungsfreiheit in den real existierenden sozialistischen Staaten einforderte, wurde zunächst geflissentlich ignoriert. (Mehr zu Weiss' Verhältnis zum Politischen und zum Sozialismus findet man in diesem Artikel.)

In der Rezeption von Die Ermittlung in der DDR stand nun von Anfang an die Kritik an den westlichen Konzernen, und damit an der Bundesrepublik und am kapitalistischen Westen insgesamt, stark im Vordergrund. Eigentlich kritisiere und entlarve das Stück über die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit, dass der "Monopolkapitalismus" (dieser Begriff wurde in der DDR inflationär verwendet) und der Faschismus in Westdeutschland nach wie vor am Ruder sei. Das war der Tenor in der (stark vereinheitlichten) Literaturkritik der DDR, und es wurde in diversen Podiums-, Radio- und TV-Diskussionen (mehrfach unter der Leitung von Karl-Eduard von Schnitzler) von DDR-Schriftstellern, Kritikern und sonstigen Kulturschaffenden vorgebracht. Selbstverständlich schwang dabei immer die offizielle Doktrin mit, dass man selbst mit der braunen Vergangenheit nichts zu tun habe. Gegenstimmen gab es nur wenige, aber Stephan Hermlin sagte damals explizit, dass Auschwitz ein gesamtdeutsches Problem sei. Das intellektuelle Niveau dieser Diskussionen und der einzelnen Wortbeiträge war mal mehr und mal weniger hoch, man muss aber festhalten, dass es dabei keineswegs nur um Propaganda ging, sondern dass auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Stück als Kunstwerk stattfand.

In der Bundesrepublik verlief die Diskussion naturgemäß nicht nur ganz anders, sie lässt sich auch viel weniger auf einen einheitlichen Nenner bringen. Etliche bekannte Kritiker, darunter so unterschiedliche wie Joachim Kaiser und Hellmuth Karasek, mochten Die Ermittlung nicht, wobei letzterer dem Stück immerhin auch positive Seiten abgewinnen konnte und nach der Stuttgarter Aufführung seine Meinung etwas revidierte, während Kaiser schon die Berechtigung des Stücks in seiner vorliegenden Form grundsätzlich in Abrede stellte. In seinem umfänglichen Artikel mit dem Titel Plädoyer gegen das Theater-Auschwitz meinte er, "Auschwitz hingegen sprengt den Theaterrahmen, ist unter ästhetischen Bühnenvoraussetzungen schlechthin nicht konsumierbar". Andere Kritiker wiederum lobten oder feierten das Stück als überfällige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (und der Gegenwart). Aus denselben Gründen, wegen denen Die Ermittlung in der DDR gefeiert wurde, wurde es in der BRD von der konservativen Presse abgelehnt, um nicht zu sagen verdammt. Es wurden also sowohl die politische Einstellung des Autors als auch der konkrete Gehalt des Werks als Begründung für Schmähungen herangezogen. Wie üblich, tat sich darin auch die Springer-Presse hervor. In der Welt, dem vermeintlich seriösen Schwesterblatt der Bild, schrieb ein Günter Zehm einen groß aufgemachten Leitartikel mit dem Titel "Gehirnwäsche auf der Bühne", und im Untertitel wird die aufgeworfene Frage "Dokumentation oder Kunstwerk?" sogleich mit "Propaganda im Sinne der Zone" beantwortet. (Für die jüngeren Leser: "Zone" = "Ostzone" = DDR.) Und im Artikel bezeichnet Zehm das Stück dann nochmals wörtlich als Gehirnwäsche. Doch nicht nur Redakteure und Kritiker fühlten sich zu solchen Äußerungen bemüßigt, sondern auch Leute, die sich sonst eher selten zu kulturellen Themen äußern. Im Unternehmerbrief des deutschen Industrieinstituts, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband der deutschen Industrie und den industriellen Verbänden der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände herausgegeben wurde, schrieb jemand, der nur mit "F/W" unterzeichnete, einen zweiseitigen Artikel mit dem Titel Kulturpartisan des Kommunismus - gemeint war natürlich Weiss. Der Autor entlarvt unerbittlich Weiss' eigentliche Absicht: "Damit gewinnt Weiss den Ansatzpunkt für seine literarisch-politische Partisanentätigkeit, mit der er die Gesellschaftsordnung, die er haßt, durch Diffamierung, Entstellung und Demagogie beseitigen will." Wer mitten im Kalten Krieg so unverblümt über die Rolle der deutschen Industrie im KZ-System schreibt, der kann eben nur ein verkappter Ost-Agent sein!
DIE ERMITTLUNG - die Richter, links NDR und rechts DFF
Andererseits wurde Weiss von liberaler bis linker Seite (auch und gerade im Westen) vorgeworfen, dass er sich viel zu sehr auf die sadistischen "Exzesstäter" (vor allem Kaduk und Boger) konzentriert habe und die systematischen (vor allem gesellschaftlichen) Ursachen und Funktionsprinzipien von Auschwitz vernachlässigt habe - trotz seiner Bemühungen in diese Richtung. Weiss konnte es also nicht allen Recht machen - aber erstens war das bei diesem Thema ohnehin von vornherein ausgeschlossen, und zweitens auch gar nicht seine Absicht. Aber er ist auf die Kritik eingegangen. So sagte er im Oktober 1965 auf einer Podiumsdiskussion in Stuttgart: "Es wäre unmöglich gewesen, wenn ich im Rahmen eines Abends ein Zeittheater darstellen könnte, das sowohl dieses Konzentrationslager als System schildert und außerdem noch die ganze Gesellschaftsordnung, die dahinter steht, genau analysiere und außerdem noch ihre Folgen zeige, die bis auf den heutigen Tag führen." Auch in einem ausführlichen TV-Interview mit dem damaligen WDR-Redakteur und Berlin-Korrespondenten Roland H. Wiegenstein ist er auf die diversen Vorwürfe und Angriffe eingegangen. - In den oben erwähnten 10 Arbeitspunkten finden sich die Sätze "Die Art, in der meine Worte aufgenommen werden, ist weitgehend bedingt von der jeweiligen Gesellschaftsordnung, unter der sie verbreitet werden" und "Die Aussagen eines deutschsprachigen Autors liegen sogleich auf der Waagschale, wo sie den beiden verschiedenen Bewertungssystemen unterworfen werden". Er hat also schon zumindest in einem gewissen Ausmaß im Vorhinein gewusst und in Kauf genommen, was da auf ihn zukam. Aber das galt vielleicht nicht für die Tatsache, dass er auch von einigen Schriftstellerkollegen aus dem Westen scharf angegriffen wurde. So ist er 1966 auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton ernsthaft mit Günter Grass aneinandergerasselt.

Die Premiere von Die Ermittlung fand dann also am 19. Oktober 1965 statt, und zwar als sogenannte Ring-Uraufführung. Es handelt sich dabei um ein singuläres Ereignis der deutsch-deutschen Geschichte, denn es gab simultan vier Aufführungen im Westen und (vermutlich) zehn oder elf im Osten. Die "Leit-Aufführungen", wenn man das so nennen mag, waren die von Erwin Piscator inszenierte an der Freien Volksbühne in West-Berlin und die in der Volkskammer in Ost-Berlin (auf die ich noch ausführlich zu sprechen komme). Dazu kamen in der BRD die städtischen Theater in Essen und in Köln, sowie die Münchner Kammerspiele, hier unter der Regie von Paul Verhoeven (natürlich nicht der holländische Verhoeven, sondern der Vater des kürzlich verstorbenen Michael Verhoeven). In der DDR gab es Aufführungen bzw. szenische Lesungen beispielsweise in Dresden, Gera, Halle, Potsdam, Rostock und Weimar. Bei einigen Spielstätten, etwa in Cottbus und Neustrelitz, habe ich widersprüchliche Angaben gefunden, ob sie nun dabei waren oder nicht. Wenn ich alle irgendwo genannten Spielorte im Osten zusammenzähle, auch die unsicheren, dann komme ich nicht auf zehn oder elf, sondern 14. Aufgrund dieser unübersichtlichen Lage verzichte ich hier auf die komplette Auflistung. Übrigens täuscht hier das Übergewicht der DDR, denn abgesehen von Potsdam und Rostock handelte es sich nur um einmalige Vorstellungen am Premierentag. (Zum Volkstheater Rostock und dessen Intendanten Hanns Anselm Perten besaß Weiss ein besonderes Vertrauensverhältnis - Perten hatte schon im Frühjahr 1965 als erster in der DDR Marat/Sade an sein Theater geholt und selbst inszeniert, und bei der Ermittlung führte er auch selbst Regie.) In der BRD dagegen kamen im Lauf der nächsten Wochen und Monate etliche weitere Spielstätten hinzu, und Die Ermittlung wurde in der Theatersaison 1965/66 das meistgespielte Stück (Wikipedia spricht von zwölf Inszenierungen).
DIE ERMITTLUNG (DFF)
Auch das Württembergische Staatstheater in Stuttgart hätte eigentlich an der Ring-Uraufführung teilnehmen sollen, aber aufgrund von Unstimmigkeiten, die mit Piscators Inszenierung und deren Charakter als Jubiläumsveranstaltung (s.u.) zusammenhingen, zog man sich kurzfristig zurück, und die Stuttgarter Inszenierung unter der Regie von Peter Palitzsch startete erst am 23. Oktober. Palitzsch verfolgte dabei einen "anti-identifikatorischen" Ansatz, was hier heißen soll, dass die Angeklagten und die Zeugen von denselben Darstellern gespielt wurden. - Wenn man Die Ermittlung komplett spielt, so dauert das wohl so um die vier Stunden (was durch die aktuelle Verfilmung bestätigt wird). Deshalb wurde damals wie auch später bei den meisten Inszenierungen an der einen oder anderen Stelle gekürzt. Je nach Ort und verantwortlichen Personen wurde dabei mal eher künstlerisch und mal eher politisch motiviert entschieden. Wie erwähnt, nahm auch Essen an der Ring-Uraufführung teil, und es wirkt im Rückblick ziemlich peinlich, dass in der dortigen Inszenierung jeder Bezug zu Krupp aus dem Stück getilgt wurde. In der Volkskammer wiederum wurde nicht nur Text gestrichen, sondern auch ein bisschen Text hinzugefügt, der nicht von Weiss stammte, und der die politische Botschaft noch etwas deutlicher machen sollte.

Neben den genannten deutschen Aufführungen gab es, ebenfalls am 19. Oktober, noch eine in London, hier unter dem Titel The Investigation, vorgetragen von der Royal Shakespeare Company im Aldwych Theatre im Londoner West End unter der Regie von Peter Brook. Der 2022 verstorbene Brook scheint ein Faible für Weiss gehabt zu haben, denn schon 1964 inszenierte er, ebenfalls mit der Royal Shakespeare Company, das gerade schon erwähnte Stück, das ob seines barocken Titels meist als Marat/Sade abgekürzt wird, und 1967 adaptierte er diese Inszenierung für die Kinoleinwand (ebenfalls 1967 drehte Peter Schulze-Rohr für den NDR eine Fernsehfassung von Marat/Sade). Die Übersetzung für The Investigation wurde erst in letzter Minute fertig, und so konnte Brook "nur" eine szenische Lesung darbieten, die aber offenbar ihre Wirkung nicht verfehlte. Wie eine Kritikerin der Stuttgarter Zeitung schrieb, war das Haus bis auf den letzten Platz gefüllt. "Eindringlicheres, Atemloseres und Ungeheuerlicheres kann es nicht geben", steht in ihrem Fazit.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - die Zeugenbank
Die Berliner Volksbühne, von der während der deutschen Teilung je eine Dependance in West- und Ost-Berlin existierte, feierte am 19. Oktober 1965 ihr 75-jähriges Jubiläum. Der altgediente, aber geistig noch sehr junge Erwin Piscator, der schon in den 20er Jahren an der damaligen Volksbühne Regie führte und seit 1962 Intendant der Freien Volksbühne im Westteil der Stadt war, suchte einen geeigneten Premierenstoff für das Jubiläum und streckte schon im Frühjahr 1965 seine Fühler in Richtung Suhrkamp aus, ob er wohl Die Ermittlung bekommen könne. Piscator hatte schon 1963 die Uraufführung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter an seinem Haus inszeniert, und er war für Die Ermittlung prädestiniert wie wenige andere im Westen. Weiss' Verleger, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, war mit dem Spielort und dem Termin einverstanden, zugleich aber war den Beteiligten klar, dass der besondere Charakter des Stücks auch besondere Umstände für die Premiere erforderte. Und so entschloss man sich, Die Ermittlung allgemein freizugeben, das heißt, jede interessierte Bühne durfte das Stück am 19. Oktober spielen. (Weiss und Unseld hatten auch gemeinsam beschlossen, dass alle Einnahmen aus dem Werk, die über die Deckung der Unkosten hinausgingen, an eine Stiftung für Auschwitz-Opfer gespendet wurden.) Der für Weiss zuständige Lektor bei Suhrkamp Karlheinz Braun verschickte am 5. Mai einen entsprechenden Rundbrief an alle in Frage kommenden Theater in beiden Teilen Deutschlands. (Im Rundbrief ist ausdrücklich von "allen deutschsprachigen Bühnen" die Rede, ich bin aber nicht sicher, ob die Einladung auch für Österreich und die Schweiz galt. Von dortigen Aufführungen im Jahr 1965 ist mir jedenfalls nichts bekannt.) Weil "die gewohnten Voraussetzungen eines Theaterstücks nicht mehr gegeben sind", heißt es in dem Brief, erscheine es Suhrkamp "wünschenswert, die Uraufführung dieses Stückes von der jedes anderen abzuheben", und "notwendig, daß dieses Stück auf das Bewußtsein möglichst vieler Deutscher wirkt".

So kam es also zur Ring-Uraufführung am fraglichen Termin. Piscator bekam seine Jubiläums-Premiere, und er richtete das Stück (u.a. mit Dieter Borsche als Richter, Günter Pfitzmann als Ankläger und Horst Niendorf als Verteidiger) karg stilisiert, aber als "echte" Theaterinszenierung ein, mit einer elektronisch-dissonanten Musik des italienischen Avantgardisten Luigi Nono zwischen den Gesängen versehen (Piscator hatte schon in den 20er Jahren mehrfach Bühnenmusiken des damaligen Avantgardisten Edmund Meisel verwandt und blieb dieser Tradition treu). Ganz anders in jeder Beziehung gestaltete sich die Ost-Berliner Aufführung, die von nicht wenigen westlichen Beobachtern als "Staatsakt" tituliert wurde. In Ost-Berlin wären verschiedene Theater in Frage gekommen, etwa die Volksbühne (Ost), das Berliner Ensemble (das Bert Brecht und seine Frau Helene Weigel gegründet und geleitet hatten), oder das Deutsche Theater. Natürlich erhielten sie alle die besagte Einladung, aber Manfred Wekwerth, der angesehene Brecht-Schüler und Chefregisseur am Berliner Ensemble, hatte eine andere Idee. Mitte Juni 1965 schrieb er einen Brief an Konrad Wolf, der gerade zum Präsidenten der Akademie der Künste der DDR gewählt worden war. Darin schlug er vor, die Akademie solle eine szenische Lesung von Die Ermittlung organisieren, an der die besten Schauspieler der DDR teilnehmen sollten. Aber nicht nur die, sondern auch Schriftsteller, bildende Künstler und sonstige Kulturschaffende sowie Funktionäre und Politiker der DDR. Die verbindende Klammer dieser schauspielerischen Laien sollte sein, dass sie alle am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hätten oder von den Nazis verfolgt wurden. Diese Veranstaltung sollte die anderen in der DDR an öffentlicher Aufmerksamkeit weit übertreffen (was dann auch der Fall war), und sie sollte zu einer "antifaschistischen Demonstration" werden, die eindeutig gegen die Bundesrepublik gerichtet war.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - die Angeklagten
Nach einigen Akademie-internen Diskussionen wurde der Vorschlag angenommen, einschließlich der propagandistischen, gegen den Westen gerichteten, Ausrichtung der Veranstaltung. Man muss festhalten, dass diese Ausrichtung nicht von oben dekretiert wurde, sondern von den Beteiligten selbst ins Spiel gebracht und ausgearbeitet wurde, aber sie richtete sich natürlich an der Linie der SED aus. Ab Mitte Juli tagte dann bis kurz vor der Aufführung in kurzen Abständen zur Vorbereitung eine Art Komitee. Da das offiziell Sitzungen der Akademie waren, gibt es auch offizielle Protokolle, so dass wir gut darüber unterrichtet sind. Zu diesem Kreis gehörten Helene Weigel und Karl Hossinger, der Direktor der Akademie der Künste (nicht zu verwechseln mit der Position des Präsidenten, also Wolf). Und dann die fünf Herren, die zusammen das offizielle "Regiekollektiv" bildeten: Zunächst einmal Wekwerth und Wolf. Konrad Wolf war damals ebenso wie heute im Rückblick einer der wichtigsten Filmregisseure der DDR, aber nicht deshalb war er dabei, sondern eben wegen seiner Position in der Akademie. Dazu kamen dann Lothar Bellag, der wie Wekwerth Regisseur am Berliner Ensemble war, und gleichzeitig fest angestellter Fernsehregisseur beim DFF; Erich Engel war ebenfalls Regisseur und zeitweise Oberspielleiter am Berliner Ensemble, zugleich seit Ufa-Zeiten ein Veteran des Spielfilms (nicht zu verwechseln mit dem fast gleichnamigen und auch fast gleich alten Erich Engels); Karl von Appen schließlich war einer der führenden Bühnenbildner der DDR und ebenfalls mit dem Berliner Ensemble verbunden. Der Komponist Paul Dessau, der, ähnlich wie Nono bei Piscator, eine dissonante Musik (nur ohne Elektronik) zur Einleitung und für die Szenenübergänge schrieb, nahm auch gelegentlich teil. Bei dem fünfköpfigen Regiekollektiv war Karl von Appen naturgemäß für das Bühnenbild zuständig, aber bei den anderen vier sind die Rollen wohl nicht so klar. Bellag scheint primus inter pares gewesen zu sein, aber ich weiß nicht, wieweit sich die anderen überhaupt an der eigentlichen Regie beteiligt haben - vielleicht war das doch mehr ein Organisationskomitee. Eine der ersten Fragen, die auf den Sitzungen geklärt wurden, war der Ort der Veranstaltung. Es sollte nicht eines der gewöhnlichen Theater sein, sondern ein repräsentativer Saal, der zugleich Platz für viele Zuschauer bot. Nach einigen Vorschlägen und einer Ortsbesichtigung einigte man sich auf den Plenarsaal der Volkskammer, also des Parlaments der DDR (damals noch nicht im Palast der Republik, der erst in den 70er Jahren gebaut wurde, sondern im Langenbeck-Virchow-Haus). Dieser Ort verlieh der ohnehin politisch stark aufgeladenen Veranstaltung zusätzliche Bedeutung.

Ein weiterer Punkt, der entschieden werden musste, war der der Mitwirkenden. Es blieb bei dem Konzept, professionelle (und teilweise erstklassige) Schauspieler mit Laien zu paaren. Zeitweise wurde erwogen, auch Künstler aus dem Westen einzuladen, aber davon wurde dann wieder Abstand genommen. Weiss und Unseld wussten zunächst nichts von diesen Vorbereitungen, erst Ende Juli wurde Weiss voll unterrichtet und zu einer der Sitzungen eingeladen, zu der er Anfang August auch erschien. Er billigte das Konzept einschließlich des Spielorts Volkskammer, und er gab seine Zustimmung, die Veranstaltung für das Fernsehen aufzuzeichnen. Gegen die Beteiligung der Laien äußerte Weiss künstlerische Vorbehalte. "Jedenfalls wird keine wirklich vollendete Theaterleistung erreicht werden", meinte er laut Protokoll (und damit sollte er Recht behalten). Aber anscheinend überwog seine Hoffnung auf die politische Wirkung, jedenfalls erhob er keinen ernsthaften Einspruch. Unseld erfuhr noch später von den Einzelheiten, und er war im Gegensatz zu Weiss ziemlich entsetzt, denn er sah voraus, dass diese Veranstaltung die nicht geringen Vorbehalte gegen Weiss und sein Werk im Westen noch verstärken und der rechten Presse willkommene Munition liefern würde. Ich weiß nicht, ob Suhrkamp zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit gehabt hätte, der Akademie die Aufführungsrechte zu entziehen, aber selbst wenn, wäre ein solcher Eklat erst recht propagandistisch ausgeschlachtet worden. So nahmen die Dinge also ihren Lauf.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - Helene Weigel
Spätestens im August wurde die geplante Lesung zu einer offiziösen Angelegenheit der DDR. Der höchstrangige Politiker, der involviert war, und der dann auch tatsächlich an der Veranstaltung teilnahm, war Alexander Abusch. Der war von 1958 bis 1961 Kulturminister der DDR, danach als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates (einer von mehreren) ebenfalls für Kultur zuständig, und Mitglied der Akademie war er auch. Durch seine politische Funktion war Abusch mitverantwortlich dafür, dass auf dem berühmt-berüchtigten 11. Plenum im Dezember 1965 Filme wie SPUR DER STEINE (Frank Beyer), DAS KANINCHEN BIN ICH (Kurt Maetzig) , DENK BLOSS NICHT, DASS ICH HEULE (Frank Vogel), KARLA (Herrmann Zschoche), JAHRGANG 45 (Jürgen Böttcher) und FRÄULEIN SCHMETTERLING (Kurt Barthel) kurz nach oder schon vor ihrem Erscheinen verboten wurden (und bis 1989/90 verboten blieben), und dass allgemein das kulturpolitische Klima wieder viel rigider wurde als in den wenigen Jahren davor. Das betraf übrigens auch damals schon Wolf Biermann, der von der SED extrem scharf kritisiert wurde. Das veranlasste Weiss im Dezember 1965, sich öffentlich für Biermann einzusetzen. Nachdem man vergeblich versuchte, Weiss durch gutes Zureden zur "Umkehr" zu bewegen, erkaltete die offizielle Weiss-Begeisterung der DDR jäh. Weiss seinerseits wurde durch das Ende des Prager Frühlings desillusioniert, was die gesellschaftlichen Entwicklungsaussichten der sozialistischen Staaten betraf, und als er 1970 sein Drama Trotzki im Exil herausbrachte, war es ganz vorbei (Leo Trotzki blieb auch nach dem Ende des Stalinismus im Ostblock eine Unperson) - aus dem vemeintlichen kommunistischen Kulturpartisanen war schon fast ein Klassenfeind geworden. Ebenfalls 1970 wurde Weiss in Ost-Berlin festgenommen und in den Westteil abgeschoben, und er erhielt Einreiseverbot in der DDR. So kann das gehen.
DIE ERMITTLUNG (DFF) - Ernst Busch
Doch zurück ins Jahr 1965. Abusch gehörte trotz seiner Position doch eher zum oberen Mittelbau der SED, und es schien ratsam, angesichts der diffizilen Thematik Rückendeckung von ganz oben einzuholen. So schrieb Konrad Wolf am 9. August einen Brief an Erich Honecker, damals schon zweiter Mann in der Parteihierarchie hinter Ulbricht, und erläuterte ihm das Projekt. Honecker persönlich rief drei Tage später Wolf an und gab sein Placet. - Da waren nun also die verschiedensten Leute zu einem temporären Ensemble vereinigt. Neben Abusch einige weitere kulturnahe Funktionäre, Schrifsteller wie Stephan Hermlin und Bruno Apitz, der Autor des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen, altgediente honorige Antifaschisten wie der auch im Westen geschätzte Verleger Wieland Herzfelde, bildende Künstler, und einiges mehr. Und natürlich die richtigen Schauspieler, darunter so bekannte Namen wie Helene Weigel, Ernst Busch (der sich eigentlich schon von der Bühne zurückgezogen hatte, aber hier nochmal ein Gastspiel gab), Erwin Geschonneck, Hilmar Thate, Eberhard Esche, Rolf Ludwig, Horst Drinda und Ekkehard Schall. Es wurden Proben abgehalten, allerdings fluktuierte die Besetzungsliste im Lauf der Vorbereitungszeit stark, und zwar bis unmittelbar vor der Vorstellung (so stand Anna Seghers bis zuletzt auf der Liste, war dann aber nicht dabei), so dass einige Mitwirkende nur an wenigen oder vielleicht gar keinen Proben teilnahmen. - "Die Mitwirkenden sollen Persönlichkeiten sein, die die Schrecken der Konzentrationslager aus eigenem Erleben kennen und sich am antifaschistischen Widerstandskampf in Deutschland und in der Emigration beteiligt haben", hieß es schon im Protokoll des ersten Vorbereitungstreffens. Das klingt ja auf dem Papier schön, wurde aber nicht ganz eingehalten, denn zwei der Mitwirkenden, der Schriftsteller Helmut Baierl und der Maler und Zeichner Bert Heller, waren Wendehälse, die bis 1945 in der NSDAP und wenig später in der SED waren (wer wann davon wusste, ist mir nicht bekannt). Baierl war auch Stasi-Spitzel (nicht der einzige im Ensemble) und spionierte auch Peter Weiss aus, und 1989 trat er wieder aus der SED aus.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - der Ankläger (links) und der Verteidiger
Wie schon mehrfach geschrieben, handelte es sich in der Volkskammer um eine szenische Lesung. Das bedeutet konkret: Alle Mitwirkenden sitzen auf Stühlen oder Bänken. Wer gerade dran ist, steht auf (und geht ggf. zu einem Pult vor), liest aus einem aufgeschlagenen Textbuch seine Passage vor, setzt sich wieder, und der nächste ist an der Reihe. Das klingt dröge, kann aber, wenn es gut gemacht ist, durchaus seine Wirkung entfalten, wie ja etwa Peter Brook in London bewiesen hat. Aber in der Volkskammer ging es daneben. Das lag nicht nur in der übermäßig akzentuierten und allzu offensichtlichen politischen Stoßrichtung, sondern auch an den Laien, die das nicht wirklich konnten. Vielleicht wäre es falsch zu sagen, dass sie überfordert waren, weil ja von vornherein nichts anderes von ihnen verlangt wurde, als dass sie ihren Text fehlerfrei herunterlesen, aber bei etlichen hat man schon sehr deutlich gemerkt, dass sie hier nicht in ihrem Metier waren. Die Beklemmung, die das Stück ja eigentlich auslösen sollte, wollte sich bei mir nur an wenigen Stellen einfinden, und das ausschließlich bei den Profis wie Helene Weigel und Ernst Busch. Ich bin nicht der einzige, der das so sieht oder damals sah. Dieter E. Zimmer schrieb in einem klugen Artikel in der Zeit:
"Es erwies sich nämlich, daß wider Erwarten nicht die Lesung, sondern nur die Bühneninszenierung [bei Piscator] die tiefe Betroffenheit erzeugen konnte, die Weiss beabsichtigt hat und deren Ausbleiben sein Oratorium nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich machen würde. Die offiziellen Umstände der Volkskammerlesung, das Aufgebot an prominenten Namen, die Mischung von Laien und Schauspielern, welche bei aller Zurückhaltung, zu der sie angehalten worden waren, ihre Qualitäten nicht verleugnen konnten, der Kontrast zwischen Sprechenkönnen und Dilettantismus, der sich nicht vertuschen ließ – alles dies rückte gerade den Akt der Vermittlung des Textes an das Publikum so sehr in den Vordergrund, daß der Stoff selbst dahinter (einmal mehr, einmal weniger) verschwand. Statt auf die Worte zu hören, dachte man: Aha, jetzt also kommt der Abusch. Statt Bogers Ausreden zu überdenken, fragte man sich, wie ausgerechnet einem Apitz dieses Boger-Gerede über die Lippen käme. Das stimmte alles so wenig, daß die Unstimmigkeiten die Sache, um die es den Beteiligten zu tun war, verdunkelten. Die Ausschaltung allen Theaters, so stellte sich heraus, gereichte dem Text gerade nicht zum Vorteil, sondern behinderte seine Wirksamkeit auf fatale Weise.

Piscators Inszenierung dagegen: sie zeigte, was immer im einzelnen dazu zu sagen war, daß das Theater jedenfalls keine Apparatur zu sein braucht, die sich hinderlich zwischen den Stoff und das Publikum schiebt, sondern daß seine Möglichkeiten, intelligent genutzt, im Gegenteil dafür sorgen können, daß der Akt der Vermittlung unmerkbar wird und die unmittelbare Konfrontation von Publikum und Stoff stattfindet; und daß das Theater, so ehrenwert seine Skrupel auch sind, Unrecht hat, sich seiner selbst zu schämen und sich zu verleugnen."
Dem kann ich mich nur anschließen. Natürlich habe ich im Gegensatz zu Zimmer die Inszenierung von Piscator nicht gesehen, aber stattdessen kann man hier auch zwanglos die gelungene von Peter Schulze-Rohr einsetzen. Kurze Nebenbemerkung: Ist es bei diesem so heiklen Stoff überhaupt erlaubt, von einer "guten" oder "schlechten" Performance eines Darstellers zu sprechen? Dieter E. Zimmer stellte sich diese Frage auch, beantwortete sie mit "ja", und wiederum bin ich derselben Meinung:
"Und nach dieser Erfahrung würde ich mich auch nicht mehr genieren, das zu tun, was mancher, der dem ganzen Unternehmen mit Skepsis entgegensah, für den Gipfel der Zumutung hielt – nämlich zu sagen: der war gut als Zeuge drei, der war schlecht als Kaduk. Ich geniere mich nicht, zu sagen: Bruno Apitz war natürlich ganz und gar unmöglich als Boger (und das braucht den Autor von »Nackt unter Wölfen« wahrlich nicht zu kränken), und zum Beispiel der Schauspieler Otto Mächtlinger (bei Piscator), der den Angeklagten Stark sprach, war »gut«, er war »richtig« in seiner dummschlauen ewig unreifen Tätigkeit."
Peter Weiss und Siegfried Unseld waren übrigens unter den Gästen in der Volkskammer, sahen sich ungefähr die Hälfte an, wechselten dann flugs über die Zonengrenze, und verfolgten den Rest von Piscators Inszenierung. Ausschnitte aus der Volkskammerlesung wurden schon am nächsten Tag im DFF ausgestrahlt, die vollständige Aufzeichnung 13 Monate später, am 20. November 1966. Die Fernsehregie besorgte eine Ingrid Fausak, über die ich nichts Nennenswertes herausfinden konnte, außer dass sie noch für etliche weitere Bühnenverfilmungen des DFF die TV-Regie übernahm. Vielleicht war sie eine fest angestellte Mitarbeiterin des Senders. - Die vier westlichen Aufführungen am 19. Oktober wurden anscheinend nicht gefilmt, jedenfalls ist nichts davon überliefert. Doch es war klar, dass es auch in der Bundesrepublik eine Fernsehfassung von Die Ermittlung geben sollte, ja geben musste. Die kam dann 1966 vom NDR, Sendetermin war der 29. März um 20:15 Uhr in der ARD, und Regie führte Peter Schulze-Rohr. Diese Sendung hatte einen Vorläufer: Bereits im Oktober 1965 produzierte der HR federführend für acht der neun damaligen ARD-Anstalten (es fehlt der Bayerische Rundfunk, dafür war zusätzlich noch das Schweizer Radio DRS dabei) Die Ermittlung als Hörspiel. Dieses Hörspiel war mit 175 Minuten sogar noch länger als dann der Fernsehfilm (155 min), die Ausstrahlung war am 25. Oktober, und im Lauf der Jahre wurde es mehrmals auf Tonträgern veröffentlicht. Regie führte auch hier schon Peter Schulze-Rohr, und die Besetzungslisten des Hörspiels und des TV-Films sind zu gut der Hälfte identisch. Zu denjenigen, die beim Hörspiel als Sprecher dabei waren, aber beim Film nicht mehr, gehören durchaus prominente Namen wie Friedrich Joloff, Hans Helmut Dickow, Karl Lieffen, Robert Graf und Wolfgang Büttner.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Hanne Hiob
Treibende Kraft beim NDR für den Fernsehfilm war neben Schulze-Rohr (oder vielleicht noch vor ihm) Egon Monk. Wie so viele, die damals mit Die Ermittlung zu tun hatten, war Monk als junger Mann beim Berliner Ensemble. Von 1960 bis 1968 war Monk der erste Fernsehspielchef beim NDR, und in dieser Position war er einer derjenigen, die unermüdlich dafür sorgten, dass auch das Fernsehen in den 60er Jahren ankam und der Mief der 50er Jahre wenigstens teilweise vertrieben wurde. Monk führte auch selbst Regie, u.a. 1965 bei EIN TAG - BERICHT AUS EINEM DEUTSCHEN KONZENTRATIONSLAGER 1939, einer Art von Dokudrama in dem Stil, der später von Heinrich Breloer weiterentwickelt wurde (derzeit ist dieser Film in der Mediathek von 3sat zu finden). Peter Schulze-Rohr gehörte ab 1964 zum Team von Monk beim NDR. Einem breiten Publikum bekannt wurde Schulze-Rohr, als er bis auf die zwei letzten sämtliche TATORT-Episoden mit dem bärbeißigen Hamburger Kommissar Trimmel inszenierte, die samt und sonders von Friedhelm Werremeier geschrieben wurden. Damit bildeten Werremeier und Schulze-Rohr ein ähnlich erfolgreiches und noch langlebigeres Team als Herbert Lichtenfeld und Wolfgang Petersen, die (ebenfalls beim NDR) die Folgen mit Kommissar Finke aus Kiel schrieben bzw. inszenierten.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Einblendungen: links der Galgen, rechts das "alte
 Krematorium" im Stammlager (Auschwitz I)
Zurück zu Die Ermittlung. Der NDR-Film wurde in einem Hamburger Theater vor Publikum gedreht, das aber im abgedunkelten Bühnenraum (im Gegensatz zur hell ausgeleuchteten Volkskammer) die meiste Zeit unsichtbar bleibt. Das Bühnenbild ist streng stilisiert, Musik gibt es hier keine (und man vermisst sie auch nicht im Mindesten). Dafür bietet der Film ein sehr gut bedachtes Stilmittel: Immer wieder werden während der Aussagen der Zeugen dokumentarische Fotos bzw. kurze langsame Kamerafahrten aus Auschwitz eingeblendet, die genau jene Örtlichkeiten zeigen, von denen im Text gerade die Rede ist. Gerade bei diesen Szenen, aber auch sonst praktisch durchgehend, gelingt dem Film (zumindest bei mir), was der Volkskammer-Version weitgehend versagt blieb, nämlich Beklemmung und Betroffenheit zu erzeugen. Das gut ausgewogene und sehr solide Ensemble tut sein Übriges dazu - ein wirklich deutlicher Gegensatz zu der Polit-Veranstaltung in Ost-Berlin. Es gibt hier übrigens, abweichend vom Originaltext, drei weibliche und insgesamt zehn Zeugen. Wenn man vom Ensemble irgendwen herausgreifen möchte, dann würde ich vielleicht Hanne Hiob nennen, die von den drei Zeuginnen am meisten Text hat, in den sie einen gewissen bitter-abgeklärten Sarkasmus legt. In der Volkskammer spricht Helene Weigel die meisten dieser Texte, und zwar völlig anders als Hiob. Da ich die NDR-Fassung zuerst gesehen hatte, hatte ich zunächst Schwierigkeiten, mich in Weigels Duktus einzufinden, aber letztlich fand ich sie auch überzeugend (die andere Zeugin in der Volkskammer, die gebürtige Bulgarin Georgia Peet-Taneva, bleibt dagegen ziemlich blass). Übrigens war Hanne Hiob eine Tochter von Brecht und Stieftochter von Theo Lingen, und rein technisch gesehen auch sowas wie eine Stieftochter von Helene Weigel, und Ekkehard Schall, der auch in der Volkskammer-Lesung dabei war, war Schwiegersohn von Brecht und Weigel - aber das nur am Rande.
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Benno Sterzenbach und Siegfried Wischnewski
Um nochmals auf die Volkskammer-Lesung zurückzukommen: Ich hatte den Eindruck, dass nicht nur der künstlerische Wert, sondern bisweilen sogar das angestrebte politische Ziel durch die Art der Inszenierung torpediert wurde. Das möchte ich an der Figur des Verteidigers erläutern. Der Verteidiger in der NDR-Fassung, der vom heute weitgehend vergessenen Helmut Peine gespielt wird, ist ein subtiles Ekelpaket, das - nicht allzu vordergründig, aber doch erkennbar - mit den Angeklagten sympathisiert und jeden Respekt vor den Zeugen 3 bis 10 - also den Auschwitz-Opfern - vermissen lässt. Wenn man sich etwas mit dem Auschwitz-Prozess beschäftigt hat, dann kann man leicht auf die Idee kommen, dass der Verteidiger, so wie er von Schulze-Rohr und dem Darsteller angelegt wird, von Hans Laternser inspiriert ist. Die Mehrzahl der Rechtsanwälte im Frankfurter Prozess erledigten professionell ihren Job und verteidigten die Angeklagten, so wie man das auch erwarten kann. Doch einige, allen voran Hans Laternser, waren anders. Laternser nutzte jede Gelegenheit, um den Belastungszeugen mit teilweise abstrusen Argumenten grundsätzlich ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen, ja sie geradezu als Lügner hinzustellen, wenn sie etwa, was fast unvermeidlich war, bei exakten Zeitangaben Erinnerungslücken hatten oder ungenaue Angaben machten. Geradezu spektakulär absurd ist auch seine Argumentation im Schlussplädoyer, die Angeklagten, die an der Rampe Selektionen durchführten, seien in Wirklichkeit Lebensretter, weil sie ja zumindest einen Teil der Häftlinge (wenn auch nur vorübergehend) dem direkten Weg in die Gaskammer entzogen. Ob nun Laternser hinter dem Verteidiger beim NDR steckt oder nicht - diese Figur bringt fast unausweichlich die wohlbekannte Tatsache in Erinnerung, dass die Angeklagten damals in den 60er Jahren noch viele Sympathisanten in der westdeutschen Justiz besaßen. Diese Assoziation war ganz im Sinn von Weiss, aber natürlich auch im Sinn der DDR. Doch gerade der von Dieter Knaup gespielte Verteidiger (Ost), der mehr an einen pedantischen Urkundsbeamten erinnert, evozierte bei mir nichts davon. Setzen, Thema verfehlt!
DIE ERMITTLUNG (NDR) - Ida Ehre und Pinkas Braun
Die Bundeszentrale für politische Bildung betreibt neben ihren sonstigen Aktivitäten auch ein DVD-Programm, und darin erschien 2008 das 2-DVD-Set "auschwitz auf der bühne. peter weiss' »die ermittlung« in ost und west". Darin finden sich auf einer DVD-ROM jede Menge Originaldokumente von damals - Texte als Faksimile, Fotos, Audio- und Videoausschnitte -, und auf einer Video-DVD die komplette Volkskammer-Lesung. Ohne diese Edition wäre dieser Artikel so nicht möglich gewesen, und eine andere Möglichkeit, an den Volkskammer-Film zu kommen, ist mir nicht bekannt. Dass er nochmal im Fernsehen wiederholt wird, halte ich für unwahrscheinlich. Von den diversen Ausgaben und Auflagen von Die Ermittlung, die im Lauf der Jahrzehnte erschienen, hat mindestens eine (und vielleicht auch nur genau diese eine), nämlich die "Einmalige Sonderausgabe 2008" von Suhrkamp (ISBN 978-3-518-41989-2), den NDR-Film auf einer DVD beiliegen. Derzeit findet man ihn auch auf YouTube. Dort ist er kürzer als auf DVD, aber möglicherweise wurde dort "nur" die Bildfrequenz erhöht. Das ARD-Hörspiel von 1965 findet sich ebenfalls auf YouTube.

Donnerstag, 4. Juli 2024

Du musst zur KIPHO!

Wo muss ich hin? Na, steht doch da - in die KIPHO oder KiPho, die Kino- und Photo-Austellung vom 25. September bis 4. Oktober 1925 in Berlin. Oops, das war ja schon. Diese damals sicher sehr interessante Ausstellung, die über 100.000 Besucher anzog, haben wir also verpasst, aber wenigstens hat eine Art von Werbefilm, der das Ereignis feierte, die Zeiten überdauert. Und diesen Film wollen wir uns jetzt mal ansehen.

KIPHO oder KIPHO-FILM, auch schlicht FILM (inoffizielle Titel)
Deutschland 1925
Regie: Guido Seeber und Julius Pinschewer



Hoppla, was war das denn? Vier Minuten pure Avantgarde. Wer sich mit dem Weimarer Kino auskennt, hat natürlich einiges wiedererkannt. Der feuerspeiende Drache aus Fritz Langs DIE NIBELUNGEN (Teil 1, "Siegfrieds Tod"), ein gezeichneter Emil Jannings in seiner Portiers-Operettenuniform und weitere Anspielungen auf Murnaus DER LETZTE MANN, und natürlich Robert Wienes expressionistischer Klassiker DAS CABINET DES DR. CALIGARI, und das eine oder andere weitere (nicht ganz so bekannte) Bildzitat wie etwa aus WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT. Dazu kommen die von Pinschewer und vor allem Seeber selbst gestalteten wilden Collagen und Montagen, die an zeitgenössische Vertreter des "absoluten Films" (wie man abstrakte Filme damals nannte) erinnern, wie etwa BALLET MÉCANIQUE, den Fernand Léger und Dudley Murphy 1924 in Frankreich drehten. Ideen und Gestaltungselemente aus etwas späteren Werken wie Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und vor allem Dsiga Wertows DER MANN MIT DER KAMERA werden hier auch schon vorweggenommen. Ähnlich wie in DER MANN MIT DER KAMERA ist die Herstellung eines Films selbst Thema ebenjenes Films, aber auch die (damals noch junge) Geschichte und Vorgeschichte des Films, etwa indem einige der Apparate für "bewegte Bilder" von Ottomar Anschütz gezeigt werden, die - ähnlich wie die von Étienne-Jules Marey - zu den direkten Vorläufern der Kinematographie zählen.

"Du musst zur KIPHO" - das ist natürlich eine Reminiszenz an "Du musst Caligari werden!". Anfang 1920, vor der Premiere von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, prangte diese ominöse Aufforderung auf Berliner Plakatwänden und Litfaßsäulen sowie in Anzeigen in Filmzeitschriften - ohne irgendeinen erklärenden Kontext. Und mit einer expressiven Grafik versehen, in der sehnige Hände nach dem bizarr gestalteten Schriftzug greifen. Was mochte das wohl heißen? Es handelt sich um einen Schlüsselsatz in einem der Zwischentitel von DAS CABINET DES DR. CALIGARI, aber vor der Premiere des Films wusste bis auf wenige Eingeweihte niemand Bescheid - und so wurde privat und öffentlich eifrig darüber diskutiert und spekuliert. Die Kampagne wurde so zu einem frühen Beispiel für das, was man heute virale Werbung nennt. Dass Seeber und Pinschewer gut fünfeinhalb Jahre später daran anknüpften und sich darauf verlassen konnten, dass das Publikum versteht, zeigte erneut, wie innovativ und erfolgreich die Werbekampagne für CALIGARI war (und für die, die da nicht ganz so firm waren, wird die Aufforderung, zur KiPho zu kommen, mit Bildern von Werner Krauß als dem sinistren Hypnotiseur Caligari unterlegt). Natürlich wäre es naheliegend gewesen, dass auch KIPHO in den Tagen oder Wochen vor der Veranstaltung als eine Art Trailer in den Kinos von Berlin (oder gar in ganz Deutschland) lief. Ich habe aber widersprüchliche Informationen dazu gefunden, ob das tatsächlich der Fall war. In dem Artikel von Michael Cowan (siehe unten) heißt es in der Tat "... which ran as a trailer in German theaters in the weeks leading up to the exhibition". Laut filmportal.de allerdings hatte der Film (abgesehen von einer Pressevorführung am 3. September) erst auf der KiPho selbst am 25. September Premiere.

Anzeige in der Lichtbild-Bühne (links) und Plakat, gemeinsam gestaltet von Erich Ludwig Stahl und Otto Arpke
Ein witziges Detail im KIPHO-FILM sind die Fake-Credits ziemlich am Anfang. Natürlich sind nicht nur die Charaktere wie der "Emir von Belustigstan", sondern auch die Namen der angeblichen Darsteller frei erfunden. Der amerikanische Avantgarde-Regisseur und Kunsthistoriker Standish D. Lawder (1936-2014) hat in seinem Buch The Cubist Cinema von 1975 dem KIPHO-FILM ein ganzes Kapitel gewidmet. (Lawder hat einen Teil seines Studiums in München absolviert, und seine Frau war eine Stieftochter des Dada-Regisseurs Hans Richter (u.a. RHYTHMUS 21, VORMITTAGSSPUK und DREAMS THAT MONEY CAN BUY), mit dem Lawder zeitweise zusammengearbeitet hat.) In Lawders einfachem, aber sehr originellen Film NECROLOGY (1970) gibt es ebenfalls sehr einfallsreiche Fake-Credits. Zwar sind diese nicht am Anfang, sondern am Ende des Films, und sie entschwinden nicht sofort in die ungebremste Beschleunigung, sondern nehmen einen beträchtlichen Teil des Films ein. Aber wer weiß, vielleicht wurde Lawder von KIPHO dazu inspiriert.

Wer waren nun die Herren Pinschewer und Seeber? Julius Pinschewer (1883-1961) war mindestens im deutschsprachigen Raum, aber vielleicht weltweit, der Erfinder der regulären Kinowerbung. (Der Erfinder der Schleichwerbung im Film war möglicherweise der Schweizer François-Henri Lavanchy-Clarke, der schon ab 1896 dezent platzierte Werbung für Seife und Schokolade in seinen kurzen pseudodokumentarischen - aber in Wirklichkeit inszenierten - Filmen unterbrachte.) Zwar gab es schon zuvor vereinzelte Werbefilme im Kino, aber erst Pinschewer hatte die Vision, diese systematisch herzustellen und zu vertreiben. Ab 1910 produzierte Pinschewer also kurze Werbefilme, die einzeln oder in Blöcken im Vorprogramm der deutschen Kinos gezeigt wurden, und er schuf dafür nicht nur ein eigenes Studio, sondern auch die dazugehörige Vertriebsorganisation. Für eineinhalb Jahrzehnte besaß Pinschewer in Deutschland mehr oder weniger ein Monopol in seinem Metier, bevor er von finanzstarken Konkurrenzfirmen überflügelt wurde, die ihm seine zuvor exklusiven Geschäftspartner wie die Ufa-Kinokette abspenstig machten. 1928 schlug er noch einmal zu, indem er mit DIE CHINESISCHE NACHTIGALL den ersten Werbetrickfilm mit Ton (im Tri-Ergon-Verfahren) produzierte, aber wirtschaftlich konnte er da nicht mehr so recht mithalten. 1933 floh er als Jude mit seiner Familie und nur wenigen Habseligkeiten in die Schweiz, wo er sich eine neue Existenz aufbaute - sein nicht unbeträchtliches Vermögen musste er den Nazis überlassen. Aufgrund der Gegebenheiten in der Schweiz beschränkte sich Pinschewer dort fast vollständig auf Zeichentrickfilme - überwiegend kommerzielle Werbung wie bisher, teils aber auch Filme mit kulturellen und identitätsstiftenden Schweizer Themen, die von öffentlichen Körperschaften in Auftrag gegeben wurden. Die meisten seiner deutschen Werbeclips inszenierte Pinschewer selbst, bei etlichen übertrug er die Regie aber an externe ambitionierte Kräfte wie etwa Lotte Reiniger und mehrfach Walter Ruttmann (die sich dabei aber immer eng mit Pinschewer absprechen mussten). Für KIPHO, der von Pinschewers Werbefilm GmbH im Auftrag des Berliner Messe-Amts produziert wurde, tat er sich dann mit Guido Seeber zusammen. Insgesamt hat Pinschewer rund 700 Werbefilme produziert.

Friedrich Konrad Guido Seeber (1879-1940) war ein Fotograf und Kameramann sowie (anfangs zusammen mit seinem Vater) ein Techniker und Tüftler, der die Technik (und insbesondere die Tricktechnik) beim Film voranbrachte. Seeber hat als Kameramann über 150 Filme auf dem Konto. Bis ungefähr 1911 hat er auch gelegentlich Regie geführt, danach aber so gut wie nicht mehr - KIPHO bildet hier also eine von offenbar nur zwei Ausnahmen. Parallel dazu inszenierte Seeber nämlich wiederum im Rahmen der KiPho (anscheinend ohne Beteiligung von Pinschewer, aber ebenfalls im Auftrag des Berliner Messe-Amts) die Kurz-Doku AUS VERGANGENER ZEIT, über die ich nichts Nennenswertes finden konnte. Im Rahmen der KiPho betreute Seeber auch eine Sonderschau mit dem Titel "Zur Geschichte des lebenden Lichtbildes". Möglicherweise war AUS VERGANGENER ZEIT ein Bestandteil davon. Seeber schrieb auch Bücher und Beiträge in Fachzeitschriften über seine Tätigkeiten. In seinem Buch Der Trickfilm in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten (1927, Neuauflage 1979) ging er auch auf KIPHO ein und schrieb, dass es dafür statt eines konventionellen Drehbuchs eine nach musikalischen Prinzipien gestaltete Partitur gab. Beim KIPHO-FILM war Seeber vor allem für die eigens neu gedrehten Teile zuständig. Zwar hatte sich Pinschewer in den damals schon 15 Jahren seiner Karriere auch technische Expertise erworben und benutzte diverse Animationstechniken für seine Filme, aber die "in der Kamera" erzeugten Collagen, Split Screens und Mehrfachbelichtungen, mit Hilfe von Prismen und Maskenvorsätzen am Objektiv, das war Seebers Domäne.

Der KIPHO-FILM ist in der sehr empfehlenswerten DVD "Julius Pinschewer. Klassiker des Werbefilms" enthalten, die in der arte Edition in Zusammenarbeit mit absolut Medien erschienen ist. Momentan scheint die DVD nur noch gebraucht (immerhin zu vernünftigen Preisen) erhältlich zu sein. Da es absolut Medien in der alten Form seit einem halben Jahr nicht mehr gibt, könnte das auch so bleiben. - KIPHO besitzt laut filmportal.de eine Länge von 111 Metern. Die Fassung aus der Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, die ich hier via YouTube eingebettet habe, dauert gut vier Minuten und besitzt somit eine Bildrate von 24 fps. Die Fassung auf der gerade erwähnten DVD dauert ca. fünfeinhalb Minuten, läuft mithin mit deutlich langsameren 18 fps (was auf der PAL-DVD natürlich zu 25 Bildern pro Sekunde hochgerechnet wird).

Neben Standish Lawder hat sich auch Michael Cowan ausführlich mit dem KIPHO-FILM befasst, in einer Arbeit mit dem Titel Advertising, Rhythm, and the Filmic Avant-Garde in Weimar: Guido Seeber and Julius Pinschewer's Kipho Film (October Magazine, Winter 2010, Seiten 23-50). Mit etwas Mühe kann man den Artikel mit einem kostenlosen Account bei JSTOR auftreiben. Cowan stellt den Film darin in einen weiteren Kontext, der um die zeitgenössischen Diskussionen um den Gegensatz von natürlichen/biologischen und künstlichen/industriellen Rhythmen kreist (und das nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Arbeitswelt). Dabei zitiert er Arbeiten wie Arbeit und Rhythmus von Karl Bücher, Vom Wesen des Rhythmus von Ludwig Klages, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl von Fritz Giese, Expressionismus und Film von Rudolf Kurtz, Filmgegner von heute - Filmfreunde von morgen und weitere Texte von Hans Richter, und noch einiges mehr. Cowan weist auch darauf hin, dass die KiPho in einer Zeit der großen Krise der deutschen Filmindustrie stattfand. In den Zeiten der Hyperinflation konnten die Studios quasi auf Pump aufwendige Filme drehen, ohne die Kosten dafür dann auch wirklich bezahlen zu müssen. Nach dem Ende dieser Zustände durch die Währungsreform im November 1923 hatten es die Studios verabsäumt, sich auf die neue Situation einzustellen, und 1925 standen viele Firmen einschl. der Ufa kurz vor der Pleite. Damals forderten viele Insider, von "zu viel" Kunst im Film wegzukommen und der Industrie (also dem Kommerz) absoluten Vorrang einzuräumen. Und Cowan kommt zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, dass auch KIPHO auf dieser Linie liegt. Und zu den vorher schon zitierten Arbeiten kommt eine weitere von 1926 mit dem Titel Rhythmus und Resonanz als ökonomisches Prinzip in der Reklame von einem Fritz Pauli. Auch die damaligen Werbepsychologen und Psychotechniker hatten den Rhythmus als ein wichtiges Werkzeug ihrer Zunft entdeckt. Und KIPHO ist eben nicht nur Avantgarde, sondern auch Werbung - für eine Ausstellung, aber damit auch für die Firmen und Verbände der deutschen Filmwirtschaft. Seebers und Pinschewers Film soll das Publikum wie einst Caligari in sein Zelt locken, ja zwingen, aber nicht mit den okkulten Mitteln des verrückten Hypnotiseurs, sondern mit den modernen wissenschaftlichen Methoden der damaligen Zeit. - Neuere ausführliche Texte über KIPHO auf Deutsch habe ich nicht gefunden (nach dem erwähnten Buch von Seeber habe ich nicht gesucht), aber das muss nicht heißen, dass es keine gibt.

Samstag, 24. Dezember 2022

Zärtlich, lustvoll und wüst in der Messestadt

Bericht vom außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos im Luru-Kino, Leipzig, 9.-12. Juni 2022


Editorische Notiz:

Zwischen dem Leipziger Hofbauer-Kongress und der Veröffentlichung dieses Textes ist viel Zeit vergangen. Teile des Berichts wurden am Montag und Dienstag, dem 13. und 14. Juni 2022, entworfen. Andere Teile kamen später, als die Erinnerung an die entsprechenden Filme bereits etwas verblasst war. Starke Qualitätsschwankungen im Text kommen (unter anderem) daher.



Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Pause lud das Hofbauer-Kommando im frühen Sommer 2022 recht kurzfristig zu einem neuen Kongress unter dem Motto "Zärtlich, lustvoll, wüst" ein – und gönnte sich dabei ein Auswärtsspiel im Leipziger Luru-Kino. Zu entdecken gab es ein schönes, kleines, atmosphärisches Kino auf einem ehemaligen Industriegelände im Westen Leipzigs. Ein wunderbares Feature: auf dem kleinen Platz vor dem Kinoeingang konnten Filme spätabends in Open-Air-Vorstellungen gezeigt werden. 



Der leicht versteckte Eingangsbereich des Luru-Kino


Donnerstag, 9. Juni 2022


20.00 Uhr


CLAUDE ET GRETA ("Greta – Die Fremde kam nackt")

Regie: Max Pécas

Frankreich 1970

91 Minuten, 35mm, DF

Die naive schwedische Studentin Greta kommt nach Paris, wo sie unter die Protektion der reichen Lesbierin Claude gerät. Die ohnehin angespannte Beziehung zwischen den beiden Frauen wird herausgefordert, als Greta sich in Jean verliebt – der wiederum in einer angespannten Beziehung mit dem schwulen Künstler Mathias lebt.

Eine Sexploitation-Geschichte für das Bahnhofskino, erzählt in den erlesenen, slicken Bildern des hochpreisigen "Qualitäts"-Kino: visuell ist CLAUDE ET GRETA – auch trotz des leichten Rotstichs bei der gezeigten Kopie – absolut makellos, ja vielleicht sogar etwas zu makel- und kantenlos. Die Sexszenen sind durch Schleier fotografiert und wirken dadurch gleichzeitig sehr geschmackvoll, aber eben auch ein bisschen körperlos...

Da ich mir zu diesem Film keine Notizen gemacht hatte, fällt es mir viele Monate später sehr schwer, mich an Einzelheiten zu erinnern. Nur ein wohliges Gefühl schöner Bilder bleibt. Und ein sehr unwohliges Gefühl bezüglich seiner moralisierend-reaktionärer Heteronormativität, die weniger unterschwellig als sehr prononciert ist: der Film legt es schon drauf an, die beiden homosexuellen Figuren als wahlweise intrigant-manipulativ oder lächerlich darzustellen (wenn er dabei scheitert, Claude und Mathias also offensichtlich entgegen den Absichten des Films ein Eigenleben als würdige Charaktere entfalten, ist der Film am interessantesten – während Greta und Jean schon eher fade Trüblinge bleiben).



Vorbereitetes Open-Air am Luru-Kino



22.00 Uhr

Open Air


DAS STACHELTIER: DAS GROSSE ABENTEUER

Regie: Richard Groschopp

DDR 1953

10 Minuten, 35mm

Ein Bayer fährt zu einer Messe nach Leipzig, voller Angst, von der Stasi verhaftet und nach Sibirien deportiert zu werden.

Ein interessanter Film darüber, wie sich Ostdeutsche in der Hochphase des Kalten Kriegs (und noch im Stalinismus) den Ottonormal-Bayern vorgestellt haben: mit Lederhose und einem großen Proviant an Bier im Reisegepäck ausgestattet, etwas trottelig, aber eigentlich auch herzensgut. Die "Stasi-Leute", die ihn "verhaften" kommen, entpuppen sich als Mitbewohner für das Zimmer im messebedingt ausgebuchten Hotel – beruhigt kann da das Reiseproviant an Bier und Weißwürsten gemeinsam vernichtet werden! Wäre der Handelsreisende bloß in Leipzig geblieben – denn zurück in Bayern gerät er richtig in Schlamassel!



HUT AB, WENN DU KÜSST!

Regie: Rolf Losansky

DDR 1971

86 Minuten, 35mm

Die Automechanikerin Petra (Angelika Waller) wird von ihrem Verlobten, dem Ingenieur Fred (Alexander Lang) regelmäßig gerügt, weil sie sich zu männlich benehme. Ihres trüben Fiancés überdrüssig lässt sich Petra nur allzu gerne den Hof machen von Juan (Rolf Römer), dem Neffen eines spanischen Konsuls, der zu Besuch bei der Leipziger Messe weilt.

HUT AB, WENN DU KÜSST! stellte eine Premiere beim Hofbauer-Kongress dar: der erste abendfüllende Film aus der DDR, der bei dieser Veranstaltung lief. Nun, Sexfilme gab es in der DDR offiziell natürlich nicht... doch Lust, Begehren und Erotik konnten sich natürlich doch in der einen oder anderen Form in eine Komödie oder in ein Melodrama einschleichen (siehe dazu einige meiner Ausführungen zu DIE SCHÖNSTE, DU UND ICH UND KLEIN-PARIS, REIFE KIRSCHEN und DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR, die beim 1. Jenaer Paradies-Filmfestival liefen). Der Leipziger Kongress griff nun also zu dieser Leipziger RomCom, um das sleazologische Terrain der DEFA zu erkunden. Die Aussicht war schön, wenn auch nicht sonderlich spektakulär: zu sehen gab es eine Neo-Screwball-Komödie, die dank eines hohen Tempos und vieler witziger Ideen ein sehr kurzweiliges Vergnügen bereitete (auch wenn der Film ein verblüffend reaktionäres Bild von Geschlechterbeziehungen und Ehe hat: hier gut vergleichbar mit REIFE KIRSCHEN – und möglicherweise Ausdruck einer konservativen Familienpolitik in der DDR der 1970er?). Szenen, die in Schwarzweiß mit schneller Klaviermusik zu kleinen Slapstick-Nummern stilisiert werden; einige witzig-amouröse Verfolgungsjagden durch ein internationales Messe-Hotel; ein sehr denkwürdiges gemeinsames Duschen des enttäuschten und traurigen Fred mit einem Arbeitskollegen in der Werksdusche, bei der das tröstende Gespräch mit der Vernichtung rauher Mengen an Radeberger-Pils einhergeht; dazu immer wieder Verwechslungssituationen, wenn Petra wahlweise in "männlichem" Mechanikeroverall oder "weiblicher" Abendgarderobe von Leuten nicht erkannt wird. Und der große Höhepunkt: Petras lange, singende und sehr befreiende Radtour durch die Leipziger Innenstadt, gefilmt in einer einzigen langen und ausgelassenen Plansequenz on location.




Freitag, 10. Juni 2022


14.00 Uhr


SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT – "KARTOFFELSUPP, KARTOFFELSUPP"

Regie: Erich Schönfelder

Deutschland 1931

77 Minuten, 35mm

Im Internat der Baronin Wittenau sind zwar Lola, Fritzi, Vera und Elsa untergebracht – aber ein Mann, das fehlt! Das ändert sich, als eine Armeeeinheit mit vielen feschen, jungen Soldaten für ein nahegelegenes Manöver einquartiert wird.

Die sleazologischen Expeditionen des Hofbauer-Kommandos im deutschen Kino haben bei diesem Kongress zum ersten mal in die DDR geführt – das Vorkriegskino wird schon länger ausgelotet. Dass das Weimarer Kino mehr ist als Expressionismus und Fritz Lang, hat diese schöne Ausgrabung wieder einmal deutlich gemacht: eine frische, spritzige, vergnügliche, teils verblüffend moderne und teils erstaunlich pikante Komödie. Atmosphärisch und inhaltlich wird einiges abgedeckt: es gibt Gesangseinlagen, Slapstick, Romantik, leises Begehren und derbe Erotik, subtile Gags und schenkelkopfenden Klamauk – und an jeder Ecke lauert eine Verwechslung.

Es beginnt damit, dass Ida Wüst breitbreinig in einem androgynen Reiterkostüm eine Reitgerte lustvoll verbiegt und mehrmals sehr bestimmt "Wir brauchen Männer!" sagt. Ida Wüst wird dann auch ein wenig der schauspielerische Fixstern des Films bleiben: das fetischistische Kostüm wird sie dann gegen klassische Hausherrin- und eleganter Abendgarderobe tauschen, aber ihre charismatische Präsenz wird die gleiche bleiben. Als ich meinte, der Film sehe sehr modern aus, meinte ich besonders die Stellen, in denen Wüst scheinbar aus der Rolle fällt, vor unkontrollierbaren Lachkrämpfen durchgeschüttelt wird: Szenen, die normalerweise einen Retake bräuchten, hier aber im Film geblieben sind (und diese Momente sehen viel frischer als ein "sauberer" Take aus).

Der andere schauspielerische Fixstern des Films ist Oscar Sabo (?) als Feldwebel, der seine Soldaten gerne bestialisch beschimpft (so heftig, dass ihn sein Vorgesetzter ermahnt, weniger Tierbegriffe zu benutzen) und überhaupt als Soldat ein ziemliches Arschloch ist, aber in zwei Bereichen einen unstillbaren Hunger hat: Essen und junge Frauen. Die Köchin der Baronin entpuppt sich als eine frühere Liebschaft und ein ganzer Nebenplot des Films dreht sich dann darum, wie der Feldwebel den Avancen seiner früheren (und – wie er selbst natürlich – nicht mehr blutjungen) Geliebten zu entkommen versucht, um den jüngeren Bewohnerinnen des Internats nachzustellen – UND gleichzeitig aber auch versucht, in den Genuss der kulinarischen Köstlichkeiten zu kommen, die ihm besagte Ex-Geliebte zubereitet, weil Liebe ja durch den Magen geht. Die Köchin, die ja nicht auf den Kopf gefallen ist, merkt das und versucht ihn dann (durchaus erfolgreich) mit Dirty-Talk heiß zu machen: "Erinnere dich an meine Kartoffelpuffer... und an den Schweinebauch!". Als Worte nicht mehr reichen, um ihn in der Küche festzuhalten, bereitet sie ihm dann auch was zu: "Kalbsbraten... Kalbsbraten... Kalbsbraten" – ihm den Teller mit besagter Köstlichkeit unter die Nase haltend lockt sie ihn auch erfolgreich an den Küchentisch. Schweinebauch, Kalbsbraten, Kartoffelpuffer und natürlich die titelgebende Kartoffelsuppe (die allerdings sowohl die vier Internatsschülerinnen wie auch die Soldaten praktisch jeden Tag essen müssen und deshalb verschmähen) wurden unter den Kongressniki zu den gastronomischen Bonmots dieses Kongresses (wie "Kakao" beim 18. Kongress).

SCHÖN IST DIE MANÖVERZEIT kam 1931 heraus und wurde Opfer einer Schmutzkampagne aus nationalkonservativen und rechtsradikalen Kreisen: mit einem antisemitischen Grundton (der Regisseur, der Drehbuchautor und der Produzent des Films waren jüdischer Herkunft) wurde dem Film eine Verunglimpfung der Armee vorgeworfen. Trotz der antiautoritären Frische, die durch den Film weht, ist dieser Vorwurf aus heutiger Sicht wenig haltbar. Die Soldaten und Offiziere sind eher als überzogene Genretypen (wie die Keystone-Kops) und weniger als wirkliche Vertreter einer realen Institution gezeichnet. Zumindest in den USA schien der Film ein Kritikererfolg zu sein. Wie er dies- und jenseits des Atlantiks beim Publikum ankam, ist mir unbekannt. Die gezeigte 35mm-Kopie war gut in Schuss – aber er ist offenbar doch ein weiterer Film, der von offiziösen Filmrestaurationsbemühungen ignoriert wird, weil METROPOLIS nach der 22. Restauration nun auch die 23. braucht.




16.00 Uhr


RANDY

Regie: Phillip Schuman, Zachary Strong

USA 1980

72 Minuten, 35mm, OV

Randy, eine junge Frau, die Schwierigkeiten hat, zum Orgasmus zu kommen, bietet sich an, bei einem Forschungsinstitut als Versuchsperson teilzunehmen. Dort findet man heraus, dass sie beim Kommen eine sehr potente Substanz namens "Orgasmin" produziert, was lustvolle Leute und Verrückte mit Weltherrschaftsfantasien auf den Plan bringt.

Auch hier (leider) eine große Gedächtnislücke: ein sehr schick fotografierter Film mit schönen Bildern, schönen Menschen bei lustvollen (Softcore-)Akrobatiken, fetziger Musik, einigen durchaus recht gelungenen humoristischen Einlagen und Dialogen und einer recht entspannten, vor sich hinfließenden Atmosphäre – auch wenn ich mich an Details kaum noch zu erinnern vermag. Das größte Rätsel beim Abendessen danach war, ob es eine Hardcore-Version gibt, aber dagegen spricht, dass viele Szenen sehr offensichtlich mit Softcore-Kamerawinkeln fotografiert waren.




20.00 Uhr


GEFÄHRDETE MÄDCHEN

Regie: Wolfgang Glück

BRD 1958

94 Minuten, 35mm, französische Fassung mit englischen Untertiteln

Wiener Mädeln verlassen ihre schöne Operetten-Stadt, um in harten Hanseatischen Gefilden, genauer gesagt in Hamburg, St. Pauli, ihr Glück als Animiermädchen zu versuchen – und verschwinden spurlos, zumindest, bis eine ermordet wieder aufgefunden wird. Eine Wiener Polizistin ermittelt incognito im Milieu...

Möglicherweise der schwächste Film des Kongresses dieses Jahr. Auch hier sind mir Details (und eigentlich auch große Teile des Films) weitestgehend entglitten, wobei sich das hier eher nach Erdulden als nach gemütlichem Dahinfließen fühlte. Dafür folgte nach einer Pause der Höhepunkt des Kongresses und einer der besten Filme, die ich dieses Jahr sehen durfte.




22.00 Uhr

Open Air


BEVOR DER STRIP STIRBT

Regie: Günter Weiss-Thiele

BRD 1966

14 Minuten, 35mm

Was ist denn dieses Strip-Tease? Kurze Umfragen unter Passanten und dokumentarische Impressionen aus Lokalen sorgen für Klärung.



ROULETTE D'AMOUR ("Baron Pornos nächtliche Freuden")

Regie: Frits Fronz

Österreich/BRD 1969

73 Minuten, 35mm

Ein alter, obdachloser Mann läuft durch Wien, und erinnert sich an die Zeit, als er noch Alexander von Wartenberg war, der beliebteste Playboy der Wiener Nachtlokale – und daran, wie ihn die Liebe zu einer Tänzerin in den Ruin trieb. Oder spinnt sich das der obdachlose Mann beim Anblick der schicken, teuren, unerreichbaren Luxusgegenstände in den Boutiquenschaufenstern einfach nur zusammen?

Edgar Ulmers DETOUR meets Arthur Schnitzlers bzw. Max Ophüls' LA RONDE? Der obdachlose und unzuverlässige Erzähler, die Rückblendenstruktur, die Mischung aus galligem Humor und Fatalismus, der sehr selbstbewußt an die Zuschauer gerichtete Off-Kommentar, die (budgetbedingt) ultrastilisierten Dekore, eine wiederkehrende Melodie als Leitmotiv, die Erzählung vom Fall in die Gosse und die Nutzung von Matching-Cuts zur Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit haben mich zumindest strukturell stark an Ulmers B-Movie-Meisterwerk erinnert. Das Wienerische Setting und die Kettenstruktur der Geschichte (mit Objekten statt mit Personen) lassen hingegen den "Reigen" grüßen.

"Es war ein zärtlicher..." – Mund, Kuss etc. – so beginnt der Off-Kommentar jedes neue Kapitel in der Gegenwartshandlung, jeder Satz wie eine schwermütige, melancholische Gedichtrezitation vorgetragen. Den Weg in die Vergangenheit (oder in die Fieberfantasie) und wieder zurück ebnet immer wieder ein Matching-Cut mit einem bestimmten Gegenstand: ein silbern glitzernder Damenschuh, eine Packung Zigaretten, rote Rosen, ein Kofferradio. Die Erinnerungen / Fantasien breiten sich dann immer wie statische Tableaus aus – statisch nicht nur in den Momenten mit ruhiger Kamera, sondern auch in den wilden Montagen, weil der Film das Gefühl eines Fiebertraums mit sich bringt, eines Alptraums, in dem man auch beim Rennen trotzdem an Ort und Stelle stehen bleibt. Traum ist hier das zentrale Stichwort: ROULETTE D'AMOUR ist ein schwermütig-traumartiger, tranceähnlicher Film, der seine (eigentlich sehr banale und generische) Geschichte weniger linear und klassisch mit einer klaren Dramaturgie erzählt, sondern eher in losen Traumfragmenten (daher finde ich meine Interpretation, dass wir hier eine Fieberfantasie und keine reale Vergangenheit sehen, zunehmend schlüssig).

Dabei sind die unterschiedlichen Tempi beeindruckend: frenetische Montagen von Impressionen beim Prater, experimental anmutende Momente, in denen sogar mehrere Bilder übereinander gelegt werden auf der einen Seite, dann wieder die völlig entschleunigten, einlullenden Tableaus mit dem "Baron" an seinem Stammtisch, mit seinen ihn (solange er Getränke bezahlt) feiernden Groupies, dann die Bilder des mühsamen Schlurfens durch das nächtliche Wien. Der Traum-Modus hat viele Varianten, bleibt aber im Kern sehr konsistent.

Passen dazu zwei sich wiederholende Musikstücke: ein melancholisches Chanson (teils gesungen bzw. gesummt vom "Baron" selbst) und ein schnelles Tanzstück mit knüppelhartem Beat. Es gibt eine besonders denkwürdige Abwechslung zu diesen zwei Melodien: eine Orgel-Performance, bei der der Organist in kaleidoskopartig überlagerten Bildern zunehmend intensiver in die Tasten haut, sich geradezu in Trance spielt (für viele im Publikum ein großer Höhepunkt des Films). Ansonsten trägt gerade die Wiederholung der beiden Hauptmelodien noch weiter zum tranceartigen Gefühl von ROULETTE D'AMOUR bei.

Jeder Traum muss enden. Die Sonne erhebt sich über Wien. Der Baron geht ans Ufer der Donau. Vielleicht könnte er sich reinstürzen, doch stattdessen nähert sich ihm ein anderer nächtlicher Streuner. Und so schreiten der Baron und der Straßenköter am Ende nach einer langen Nacht zusammen dem Sonnenaufgang entgegen.


Die folgenden Screenshots sind aus Manfreds Text über Frits Fronz ausgeliehen:


Der Obdachlose erinnert sich – oder fantasiert im nächtlichen Wien

Autor, Regisseur und Hauptdarsteller Frits Fronz als Alexander von Wartenberg




Samstag, 11. Juni 2022


14.00 Uhr


ICH SUCHE EINEN MANN

Regie: Alfred Weidenmann

BRD 1966

87 Minuten, 35mm

Barbara ist von den Männern enttäuscht und wendet sich an ein professionelles Institut, das mit solch modernen Techniken wie einer Lochkartendatenbank garantiert die richtige Person findet... oder – wie Barbara bei ihren vielen Match-Dates herausfindet – vielleicht auch nicht?

Tinder-Date gone wrong im Dutzend könnte man im heutigen Neudeutsch wohl sagen. ICH SUCHE EINEN MANN ist tatsächlich über weite Strecken eine Aneinanderreihung loser kleiner Vignetten von Barbaras "Treffern".

Da ist der feine Adelige, der sich nach einem gepflegten Restaurant-Dinner als potentieller Date-Rapist entpuppt. Ein bayerischer Landwirt und Hotelier, der sich für Barbaras Körper, ihre Person und ihre Gesundheit vor allem aus der Perspektive interessiert, seine Wirtschaft am Laufen zu halten. Der Lehrer, der Kniebeugen liebt und um den "gesunden Volkskörper" besorgt ist (und im übrigen in der Öffentlichkeit von seinen spöttischen Schülern verfolgt wird). Der Student, der sich nur für Tandemradfahren und Bowling interessiert. Und nicht zu vergessen: der trauernde Witwer, der Barbara gerne als hintere Zebrahälfte (gemeint ist eine Zirkusnummer mit einem Zebrakostüm) hätte, weil die "Nummer muss ja weiter gehen". Und außerhalb der Treffer natürlich der Angestellte des Eheinstituts, der sich um Barbaras Fall kümmert: ein Traum an Professionalität, hinter dem sich ein schüchterner, gar zu schüchterner Verehrer verbirgt (bzw. der wunderbare Harald Leipnitz).

Das klingt nach nicht viel, wird aber mit einem ordentlichen Tempo inszeniert und mit gut gewürzten Dialogen abgeschmeckt, dass es die hellste Freude ist: ein fluffiges Wölkchen von einer Komödie und sicherlich der perfekte Einstieg in den programmatisch schönsten Tag des diesjährigen Kongresses.

Die zentrale und wichtigste Zutat dieses wohlschmeckenden, spritzigen Cocktails war am Ende die bezaubernde Ghita Nørby. Ihre Figur ist natürlich erst mal ganz gut geschrieben, aber sie macht aus Barbara mit ihrem Charisma tatsächlich einen überlebensgroßen Charakter zum Mitlachen, Mitfühlen und Mitlieben.




16.00 Uhr


VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK (Softcore-Fassung)

Regie: Jürgen Enz

BRD 1980

72 Minuten, 35mm

In die Abiturklasse kommt eine Neue – und verdreht prompt ihren Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrern den Kopf.

VERBOTENE SPIELE AUF DER SCHULBANK wurde beim Hofbauer-Kongress nun zum "anderthalbten" Mal gezeigt: beim 16. Kongress im Jahr 2017 lief der Film in der Hardcore-Fassung, die für Angst und Schrecken und Entsetzen sorgte. "Enz war kein Typ für harten Sex", so Hofbauer-Kommandant und Enzologe Christoph bei seiner wunderbaren und liebevollen Einführung über einen der wichtigsten HK-Säulenheiligen. Die "Director's Cuts" von Jürgen Enz waren stets die Softcore-Fassungen: Hardcore-Inserts wurden von Assistenten inszeniert oder komplett nachgedreht und nach dem Ziehen der Softcore-Kinokopien in das Negativ reingeschnitten.

Die Vorführung war auch eine Hommage an den Ende 2020 verstorbenen Regisseur. In einer Vorführung dieses Films konzentriert sich eine Essenz der Hofbauer-Kongresse. Man sitzt dort, sieht, staunt, und merkt, dass hier ein vollkommen zu Unrecht vergessenes Schlüsselwerk der deutschen Kinogeschichte gezeigt wird, das Meisterwerk eines Filmemachers mit einer extrem persönlichen Handschrift: die geradezu aufreizende Langsamkeit, tranceartig vorgetragene Dialoge, eine Inszenierung mit einem manchmal geradezu obsessiv-manischen Gestaltungswillen, die viele Szenen fast wie belebte Installationskunst aussehen lassen, die fast dystopisch anmutenden Abscheulichkeiten bundesdeutscher Spießbürgerwohnzimmer mit kackbraun-olivfarbenen Couch-Garnituren und kitschigen Deko-Elementen, die repetitive, einlullende, hypnotisierende Musik (die sich ein wenig so anhört, als hätte John Carpenter seine düsteren elektronischen Scores in heiteren Bierzelt-Versionen eingespielt) und nicht zuletzt die fast grenzenlose, naive Zärtlichkeit für alle Figuren, die in dieser tristen Umwelt immer wieder von ihren sexuellen Trieben überwältigt werden und nicht anders können, als auf den erwähnten scheusslichen Couch-Garnituren wie Tiere zu kopulieren.

Enz' große Zärtlichkeit zeigt sich wieder darin, wie er "unwichtigen" Figuren ganze Subplots schenkt. Das Pendant der beiden dauergeilen Schlossangestellten in WAIDMANNSHEIL IM SPITZENHÖSCHEN sind hier der Deutschlehrer und die Biologielehrerin, die ihren eigenen Score (eher upbeat und fröhlich) erhalten, wenn sie übereinander herfallen. Auch hier wieder Figuren, deren Äußeres nicht unbedingt 100%ig kompatibel ist mit den Ansprüchen eines kommerziellen Sexfilms und die vor allem auch die Funktion des Comic-Relief haben (sie sind leicht tollpatschig, was zu quasi-slapstickhaften Situationen führt) – und dennoch, wenn er sie im Wald während des Schulausflugs (dieser Schulausflug: Stoff für ganze filmwissenschaftliche Abhandlungen!) von hinten nimmt, sie sich an zwei jungen Bäumen dabei festhält und die Montage zwischendurch offenbart, wie die beiden Baumwipfel wackeln, dann ist das pure Kinomagie.


Oben: Die Biologielehrerin und der Deutschlehrer haben sich lieb
Unten: Lehrkörper und Schülerschaft in tristen Wohnlandschaften (mit Paprika als Deko-Elementen)


Oben: beim Schulausflug geht es zwischen Lehrkörper und Schülerschaft heiß her
Unten: Enz' Regie lässt viele Bilder immer wieder wie belebte Installationskunst aussehen



19.30 Uhr


LADY BEWARE ("Hautnah")

Regie: Karen Arthur

USA 1987

108 Minuten, 35mm, DF

Die Schaufensterdekorateurin Katya beginnt in einem Pittsburgher Kaufhaus eine neue Anstellung. Mit ihren unverhohlen erotischen Installationen zieht sie sehr effizient die Aufmerksamkeit der Passanten an – darunter auch eines Stalkers, der ihr nachspürt, ihre Post öffnet, sie mit obszönen Anrufen traktiert und schließlich sogar in ihre Wohnung einbricht. Nach einer kurzen Begegnung mit ihm beschließt Katya, zurückzuschlagen.

In den 1990er Jahren gab es auf dem französischen Sender TF1 am späten Samstagabend eine Sendereihe namens "Hollywood Night". Da liefen entgegen des Namens keine Hollywood-Klassiker (die liefen eher am späten Sonntagabend auf FR3): die Werbetrailer, die ich als Junge sah, versprachen Crime, Sex & Violence der Kategorie Direct-to-Video, und tatsächlich liefen US-amerikanische Actionfilme, Thriller und Erotikthriller der späten 1980er und frühen 1990er Jahre (darunter z. B. Filme aus dem Hause PM Entertainment). Ich glaube nicht, dass LADY BEWARE bei "Hollywood Night" mal gelaufen ist, aber Karen Arthurs Erotikthriller dürfte – jetzt im Erwachsenenalter – die ultimative Wunscherfüllung der damaligen Jungsfantasie gewesen sein, die in den Werbetrailern eine prickelnde Mischung aus Erotik, Seediness und süßem Verbotenem hineinprojizierte.

Ein urbaner US-Thriller der 1980er Jahre – das würde man wohl in New York oder in Los Angeles ansiedeln, aber LADY BEWARE spielt in Pittsburgh: kein überzeichnetes Großstadt-Moloch, sondern eine gutbürgerliche "kleine Großstadt", in der Innenstadt voller arbeitender Menschen aus den peripheren Wohngebieten: Katya etwa pendelt jeden Morgen mit dem Bus zur Arbeit, und fährt dabei über eine der zahlreichen ikonischen Brücken der Brückenstadt; der Stalker wohnt in einem Viertel, in dem man sich tatsächlich Ärzte ohne Ansprüche auf repräsentativen Luxus vorstellen kann. Beide Kontrahenten treffen schließlich bei ihrer "ersten" Begegnung (der ersten, bei der Katya ihn endlich sehen kann) auch auf einer der Pittsburgher Brücken, getaucht in rötlichem Dämmerlicht.

Das bedrohliche Szenario, das LADY BEWARE auffährt, hat seinen Ursprung nicht in den Nebengassen des Großstadt-Slums, sondern hat ein gutbürgerliches Gesicht: der Stalker, Jack, ist kein Creep aus dem dunklen Keller, sondern ein Arzt in der Röntgenabteilung einer städtischen Klinik (die direkt gegenüber von Katyas Kaufhaus liegt). Von Beruf aus schaut er also schon sehr genau auf Menschen, blickt nicht nur auf sie, sondern in sie hinein – bis auf die Knochen. Mit seinem Stalking-Objekt Katya lebt er eine sexuelle Fantasie aus, die er nicht mit seiner respektablen Ehefrau in seinem langweiligen Familienleben ausleben kann. LADY BEWARE macht deutlich, dass wir hier keine Fassade sehen, sondern naheliegend Aspekte der gleichen Person: tagsüber Arzt, abends Stalker. Ein obszöner Anruf, während nebenan die Tochter spielt (er lässt sie sogar die Nummer eingeben). Interferenzen nicht ausgeschlossen: in einer wahrlich unglaublichen Szene ruft er Katya an, spielt bereits an sich herum – und nachdem er den Hörer aufgelegt hat, eilt er erregt zu seiner Frau in die Küche und fällt lustvoll über sie her. Insofern ist es sehr geschickt von Katya, dass sie ihren Stalker dort angreift, wo es ihm richtig weh tut – in den Weichteilen seiner bürgerlichen Existenz.

LADY BEWARE hat die Logik und Struktur eines Rape-and-Revenge-Films, ohne, dass es eine "klassische" Vergewaltigung gibt, sondern etwas viel Tiefgreifenderes, Strukturelleres. "Ich bin in dich drin, und ich ficke mich von innen nach außen" sagt Jack seinem Opfer Katya lustvoll am Telefon. Nach vielen obszönen Anrufen, nachdem er in ihrer Post einen Brief des Vaters abgefangen hat, ihn ihr am Telefon vorliest und eine Missbrauchsgeschichte zwischen den Zeilen liest, auf die Katya sichtlich mimisch reagiert (ein Element, das nie wieder aufgegriffen wird) kommt die ultimative Grenzüberschreitung: er bricht in ihrer Abwesenheit in ihren Loft ein, inspiziert die Wohnung, schnüffelt an ihren Kleidern, trinkt genüsslich ihren Wein, gönnt sich in ihrer Badewanne ein entspannendes Schaumbad, putzt sich mit ihrer Zahnbürste die Zähne und schließlich, noch triefend nass und mit nur einem Badetuch um die Hüften, beginnt er zur Musik, die er aufgelegt hat, ekstatisch zu tanzen – der abgründige, fiese kleine Bastard-Bruder von Tom Cruises legendärem Tanz in RISKY BUSINESS: enthemmter, erotischer und von furchterregender Schönheit. Michael Woods' Körper wird von der Kamera in diesem Moment genauso erotisiert und fetischisiert wie Diane Lanes Körper, wenn sie nackt und bereit für Sex mit ihrem Liebhaber ist (und dabei von Jack heimlich beobachtet wird). Die beiden Antagonisten sind nicht nur Charaktere, sondern auch Körper, lustvolles Fleisch.

Während der Stalker seine sexuellen Fantasien in tätlichen Angriffen auf fremde Menschen auslebt, tut das Katya in ihrer Kunst – heißt: in ihren Schaufensterdekorationen, mit denen sie Parfüms, Schmuck und Joghurts bewirbt. Transgressive Kunst oder zumindest provokante Kunst in einem hyperkommerziellen Umfeld der Kaufhausschnäppchen; Kunst und Begehren vs. Kommerz. Wir sind hier fast schon am Rande der Meta-Kunst, des Meta-Kinos (Lukas Foerster bringt Brian De Palma als Stichwort zum Vergleich). Kunst, nicht nur als etwas Schönes und Erhabenes, sondern auch als Kommunikationsplattform: auf eine gewisse Weise kommunizieren Katya und Jack über Katyas Kunstinstallationen, und Jacks partielle Verwüstung von Katyas Wohnung mit sorgfältigen Arrangements der dort vorhandenen Schaufensterpuppen "liest" sich wie ein künstlerischer Kommentar.

Diane Lane ist neben Ghita Nørby (und ein bisschen auch Lina Romay) die große weibliche Figur des diesjährigen Kongresses: eine fantastische Schauspielerin, die mich anfänglich etwas an Kathleen Turner in BODY HEAT erinnert hat. Keine Femme Fatale, sondern eher der Typ der gequälten Künstlerin, die sich zwar ohne weiteres einen Liebhaber anlächeln kann, diesen dann aber nicht braucht, um sich zu wehren. Während einer Zwangsbeurlaubung gittert sie beim Höhepunkt ihrer Verzweiflung nicht nur alle Fenster ihrer Wohnung zu, sondern spannt auch eine Art Schutzkokon aus Gaze um den Kern ihres Wohnbereichs (um einige der tragenden Säulen). Nach einigen Tagen im fiebrigen Paranoiawahn und offenbar einer Metamorphose in diesem Kokon erlebt sie eine Art Wiedergeburt als entschlossene Rächerin in eigener Sache, ohne, dass sie ihre Identität als Künstlerin aufgibt. Kann man es vielleicht als einen Akt der Zärtlichkeit, der Wertschätzung, des Respekts sehen, dass sie ihrem Stalker eine eigene Kunstinstallation im Schaufenster widmet? Und ihn dann damit sogar fängt?

Regisseurin Karen Arthur hat mit LADY BEWARE ein lang gehegtes Herzensprojekt realisiert – und sich tragischerweise schließlich vom fertigen Film distanziert, nachdem das Studio den Film umschnitt. Mehr Nacktszenen mit Diane Lane wurden hinzugefügt, Szenen mit Cotter Smith (Katyas Liebhaber) wurden herausgeschnitten. Ich wäre dazu geneigt, beide Entscheidungen gutzuheißen: dass beide Protagonisten als körperliche, sexuelle Charaktere dargestellt werden, halte ich für ganz zentral für das Funktionieren des Films. Was Cotter Smith betrifft (der wie ein gemeinsamer Cousin von Billy Cristal und John Leguizamo aussieht): er spielt sicherlich nicht die interessanteste Figur, und dass im letzten Drittel alles sich nur noch um Katya und Jack dreht, spiegelt ihre zunehmende Obsession nach Rache. Es verschwinden auch der stockschwul-extravagante Arbeitskollege Katyas (die etwas peinlichen schwulen Stereotype stehen gegenüber der Tatsache, dass er ein absolut klarer Sympathieträger ist und die wohl "normalste" Figur in einem Film voller "Kaputter") und die schüchterne, schwarze Arbeitskollegin, ebenso der onkelige Chef. Diese Verdichtung macht den Film im letzten Drittel umso stärker, so dass man ihn auch "on the edge of the seat" und vor Anspannung nägelkauend sehen kann.




22.00 Uhr

Open Air


"Gli italiani si voltano"

Regie: Alberto Lattuada

Italien 1954

14 Minuten, 35mm, OV

Impressionen von Italienerinnen, die durch Rom spazieren und von Männern, die ihnen nachblicken.

Diese Episode aus L'AMORE IN CITTÀ lief bereits beim 18. Hofbauer-Kongress. Wieder ein fluffig-leichter Film, der im letzten Drittel ins Bedrohliche und Düstere kippt. Ihn – natürlich nach einer Pause – direkt nach LADY BEWARE zu schauen, war schon ziemlich passend, und hat das Unbehagliche des letzten Drittels, als eine junge Frau plötzlich zu einer echten Protagonistin wird, die hartnäckig von einem einzelnen Mann durch die ganze Stadt verfolgt wird, noch potenziert.



GRIECHISCHE FEIGEN

Regie: Siggi Götz

BRD 1977

95 Minuten, 35mm

Patricia soll nach einem Griechenland-Urlaub mit den Eltern allein nach München zurückfliegen, um dort ihr Studium zu beginnen. Stattdessen begibt sie sich auf eine lange Spritztour durch Griechenland, um Spaß zu haben und Männer aufzureissen – und lernt schließlich Tom kennen.

GRIECHISCHE FEIGEN war auf gewisse Weise der perfekte Film, um an einem warmen Frühsommertag ein Festivaltag im Freien ausklingen zu lassen (gleichwohl die Temperaturen zu später Stunde etwas sanken): ein sommerlicher Film, der größtenteils unter freiem Himmel spielt. Ein eher lose vor sich hintreibendes Roadmovie, das Etappe für Etappe, Episode für Episode ruhigen Schrittes erkundet. Die Stimmung ist insgesamt heiter, auch wenn während des ganzen Films dunkle Wolken am Horizont zu sehen sind und die Wärme immer wieder droht, in Gewitter und Unwetter umzuschlagen. Vielleicht liegt es an der zweiten Begegnung, die Patricia auf den Straßen des ländlichen Griechenlands macht: zwei Deutsche (es ist schlimm: sie sind überall! Von ein paar Engländern und einigen griechischen Komparsen abgesehen ist praktisch jede sprechende Rolle im Film deutsch) nehmen sie im Auto mit und versuchen sie schon nach wenigen Hundert Metern zu vergewaltigen – Patricia kann ihnen zwar entkommen und sie sogar der Lächerlichkeit preisgeben, aber es bleibt doch immer ein Nachgefühl von Bedrohung, das nie ganz verschwindet (auch, weil der weitere Weg der zwei Männer immer wieder zwischendurch eingeblendet wird).

Mit dem Segler Tom findet Patricia für einige Tage eine kleine Utopie des Liebesglücks. Doch auch hier ziehen Wolken auf, als Eifersucht, Besitzansprüche und teils auch einfach nur bedauernswerte Missverständnisse die Idylle angreifen.

Die größte Schwäche von GRIECHISCHE FEIGEN ist vielleicht, dass Patricia schon eine sehr, sehr unsympathische, egozentrische, teils schlichtweg asoziale Figur ist – und manchmal auch eine echte Heuchlerin, hinter deren Rebellentum und Unangepasstheit sich auch repressives Spießertum verbirgt, wenn sie etwa gegen Ende eine andere junge Frau, die fast wie ihr eigenes Spiegelbild wirkt und nun ihren Platz an Toms Seite genommen hat (wohlgemerkt nachdem sie Tom selbst zum Teufel gejagt hat) auf aggressive und demütigende Weise zur Sau macht. Insofern wirkt GRIECHISCHE FEIGEN auch ein bisschen wie ein 68er-Katerfilm: von den einstigen Träumen von freier Gesellschaft und freier Liebe sind nur Äußerlichkeiten geblieben – und auch diese blättern schnell ab, wenn der Widerstand zu groß, die Konflikte zu komplex, die Umstände zu ungünstig werden.




Sonntag, 12. Juni 2022


15:00 Uhr


PAPAYA DEI CARAIBI ("Papaya, Liebesgöttin der Kannibalen")

Regie: Joe D'Amato

Italien 1978

86 Minuten, 35mm, DF

Auf einer karibischen Insel soll ein Kernkraftwerk errichtet werden, doch das Projekt gerät ins Stocken, weil die leitenden Projektingenieure nach und nach unter mysteriösen Umständen ermordet werden. Der neue Ingenieur Vincent (Maurice Poli) soll nun das Projekt weiterführen. Zusammen mit der Journalistin Sara (Sirpa Lane) versucht er auch, das Geheimnis um die Morde zu lüften und bekommt prompt Unterstützung von der Einheimischen Papaya (Melissa Chimenti). Diese bietet ihre Hilfe nicht ganz uneigennützig an: sie ist eine der Anführerinnen des konspirativen Aufstands gegen das Kraftwerk und stets bereit, ihre gefährlichste Waffe (ihren Körper) einzusetzen.

Nach GRIECHISCHE FEIGEN ging es mit den sommerlichen Filmen nun weiter: noch höhere Temperaturen, ein noch langsameres Tempo und noch viel mehr nackte Haut leiteten den letzten Tag des Leipziger Kongresses ein. PAPAYA DEI CARAIBI mag wesentlich langsamer sein als GRIECHISCHE FEIGEN, sein revolutionärer Spirit war allerdings intakter und auch roher: die selbstherrlichen kolonialen Imperialisten, die für ihre Profite und die in Kauf genommene Umweltverschmutzung irgendetwas von "Fortschritt" faseln, werden verführt, bekommen ihren Penis abgebissen und werden dann noch lebendig verbrannt.

Die große "pièce de résistance" des Films kommt in der Mitte, als Vincent und Sara nach einer Autofahrt, einem längeren Spaziergang durch eine kleine Stadt, die gerade von einem feierlichen Umzug belebt wird, ein paar Mal zu viel "falsch" abbiegen, in ein Haus eintreten, dort überfallen und unter Drogen gesetzt werden und in ihrem Rausch einer sehr wilden, eskalierenden Voodoo-Zeremonie beiwohnen müssen. Wenn Vincent und Sara dann hilf- und wehrlos dem wilden Treiben zusehen müssen, befinden wir uns als Zuschauer in einer ähnlichen Position: die sublimen Bilder haben uns eingelullt, wir wussten, dass das nicht "gut" endet, aber wir konnten uns einfach diesem Flow nicht entziehen. In PAPAYA DEI CARAIBI sieht man wieder, welch großartiger Kameramann Aristide Massaccesi  (so Joe D'Amatos bürgerlicher Name, unter dem er seine eigenen Regiearbeiten auch fotografierte) war: ja, das ist der Mann, der L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE fotografiert hat (und natürlich auch EVA NERA, von den mir bislang bekannten D'Amato-Filmen der schönste). Einen erheblichen Teil zum Vergnügen trägt Stelvio Ciprianis wunderschöner Score, der sich für den Rest des Tages als sanfter Ohrwurm in meinem Kopf eingebrannt hat.

Eine deutliche Trübung des Vergnügens brachte der leider schon recht fortgeschrittene Rotstich (und Kontrastverlust) der Kopie, der die vermutlich satten karibischen Farben in ein gedämpftes Sepia verwandelte.




17:00 Uhr


LA ESCONDIDA ("Die Rebellenbraut")

Regie: Roberto Gavaldón

Mexiko 1956

99 Minuten, 35mm, DF

Mexiko, Anfang des 20. Jahrhunderts. Felipe und Gabriele wollen bald heiraten. Doch die revolutionären Wirren treiben sie auseinander: Felipe wird zum Revolutionär, Gabriele lässt sich – zunächst, um Felipe zu retten – auf eine Affäre mit einem brutalen General ein.

Die "carte blanche" des LURU-Kino hat mich persönlich gepflegt gelangweilt. Die Liebesgeschichte im Zentrum dieses Revolutionsmelodrama hat mich leider eher kalt gelassen: zu groß war in meinem Kopf die Kluft zwischen dem hölzernen Felipe-Darsteller Pedro Armendáriz, den der Film als bewundernswerter Held darstellte, und der eigentlich ganz guten Maria Félix, deren Gabriele der Film als durch und durch verdorbenes, intrigantes und teuflisches Luder zeichnete, ohne ihr freilich dabei den Glamour einer femme fatale zuzustehen.

Die Kopie war allerdings farbecht, die mexikanische Sonne brannte unerbittlich auf die trockenen und staubigen Feldwege, und eine ausgelassene Karnevalsfeier bei Nacht erstrahlte frenetisch (ja gar fast stroboskopisch) in den knalligsten Farben. Also irgendwie auch schön anzusehen.




19:00 Uhr


MIDNIGHT PARTY ("Heiße Berührungen")

Regie: Jess Franco

Frankreich/Schweiz 1975

63 Minuten, 35mm, DF

Eine Stripperin (Lina Romay) bandelt mit zwei Nachtclubkunden an, und gerät dabei in eine haarsträubende Mord- und Spionageintrige.


Joseph von Sternberg und Marlene Dietrich, Yasujiro Ozu und Setsuko Hara, Jean-Luc Godard und Anna Karina, John Cassavetes und Gena Rowlands... Alles bekannte Duos aus Regisseur und Schauspielerin, doch keines dürfte in der Intensität, Dauer und dem schieren Output an jenes von Jess Franco und Lina Romay reichen, die über fast 40 Jahre eine dreistellige Anzahl an Filmen drehten.

Vor der Vorstellung gab es eine wunderschöne Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph, der von der Schönheit des leidenschaftlich-obsessiven Kinos Jess Francos schwärmte und die Zuschauer passend auf den Film einstimmte. Die gezeigte deutsche Kopie hat leider viele Federn gelassen, offenbar vor allem aus den interessantesten Teilen des Films: Lina Romay, die in einer Art Rahmen-Kommentar zum Film sich in rotes Licht getaucht nackt in einem Bett räkelt, die vierte Wand brechend mit den Zuschauern im Kino plaudert, sie teils sanft anteast, teils roh anbaggert und teils einfach nur entspannt rumblödelt.

Dazwischen gibt es eine völlig haarsträubende Räubergeschichte um eine Verschwörung und eine Mordintrige, die die Protagonistin immer wieder aus den Klamotten und ins Bett treibt – Hindernisse werden gegebenenfalls mit Mitteln des Slapsticks überwunden: Luststöhnen und prustendes Gelächter sind in MIDNIGHT PARTY nie weit voneinander entfernt.

Das Ende ist dann pure Eskalation: wilde Verfolgungsjagden, Figuren werden erschossen, aber werden kurz darauf wieder lebendig. Das schwindelerregende Spielen mit den Genre-Motiven hat was von Godard (den Franco verehrte), bloß in etwas beschwingter. Kino ist Spaß, Kino ist Lust, Kino ist Entspannung, Kino ist Leben.