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Sonntag, 3. Februar 2019

Valkoinen peura - das weiße Rentier

VALKOINEN PEURA (DAS WEISSE REN, auch DAS WEISSE RENTIER)
Finnland 1952
Regie: Erik Blomberg
Darsteller: Mirjami Kuosmanen (Pirita), Kalervo Nissilä (Aslak), Åke Lindman (der Finne), Arvo Lehesmaa (Tsalkku-Nilla)


Das Volk der Samen, früher meist als Lappen bezeichnet (was mittlerweile als politisch unkorrekt gilt), lebt bekanntlich in den nördlichen Gegenden Norwegens, Schwedens und Finnlands (und in einem nordwestlichen Zipfel Russlands) - lange Zeit vorwiegend als (halb-)nomadische Rentierzüchter (die heute nur noch eine Minderheit innerhalb der samischen Minderheit darstellen). Die abgelegenen Weiten im Norden wurden nur sporadisch für den Spielfilm erschlossen (beispielsweise entstanden Teile von Victor Sjöströms wegweisendem BERG-EJVIND OCH HANS HUSTRU (1918) im Nationalpark Abisko). Umso erfreulicher ist es, dass der finnische Regisseur und Kameramann Erik Blomberg (1913-96) 1952 ein wunderprächtiges Genrestück bei den Samen drehte, eine Mischung aus mythologischer Erzählung, Märchen- und Horrorfilm und düsterem Drama.

Rentierschlittenrennen - hier ist die Welt noch in Ordnung
Es beginnt mit einem Prolog: Man hört ein von einer Sängerin gesungenes Lied - vielleicht ein samisches Volkslied, vielleicht auch "nur" für den Film geschrieben -, dessen Text schon mal in abstrahierter Form das böse Schicksal der "Rentierfrau" Pirita vorwegnimmt, die hier schon als Hexe von Geburt an bezeichnet wird, dazu gibt es Bilder von der Geburt in einem Zelt bei grimmiger Kälte. Nach dem düsteren Prolog beginnt die eigentliche Handlung in einer wesentlich helleren Tonart: Es gibt ein zünftiges Rentierschlittenrennen bei schönstem Wetter. Daran nimmt auch die mittlerweile erwachsene und ebenso hübsche wie forsche Pirita teil. Bald liefert sie sich ein Duell mit dem ebenso draufgängerischen Aslak, und am Ende kugeln sie gemeinsam durch den Pulverschnee und werden flugs ein Paar. Alsbald wird geheiratet, doch es ziehen Schatten auf. Aslak ist oft als Hirte mit den wandernden Rentierherden unterwegs, während Pirita daheim bleibt, und wenn er mal da ist, ist er manchmal so erschöpft, dass er seine ehelichen Pflichten nicht ausreichend erfüllt - und das arbeitet in ihr. Muss er wirklich so lange weg bleiben, ist er auch treu?

Pirita und Aslak
So sucht sie den etwas gnomenhaften Schamanen Tsalkku-Nilla auf. Der braut sich zur Aktivierung seiner seherischen Fähigkeiten erst mal einen Trank aus Rentierhoden und weiteren Ingredienzien und schlägt dann eine magische Trommel, die als Orakel dient. Schließlich gibt er Pirita den Rat, bei einem einsam auf einem Hügel gelegenen animistischen Freiluft-Altar das erste Lebewesen zu opfern, das sie beim Heimweg zu sehen bekommt. Das ist nun ausgerechnet ein weißes Ren-Kitz, das ihr Aslak beim letzten Abschied geschenkt hatte, und Aslak selbst kehrt früher als gedacht zurück - doch Pirita setzt den einmal eingeschlagenen Weg fort. Sie fährt also mit dem Schlitten zu dem Altar und schlachtet dort das Kitz mit einem Messer. Doch das hätte sie lieber bleiben lassen sollen. Schon Tsalkku-Nilla ist erschrocken vor ihr zurückgewichen, weil er etwas Böses erkannte, das schon in ihr angelegt war. Und mit der Opferung ist sie sozusagen auf die dunkle Seite gewechselt, ohne es zunächst selbst zu begreifen.

Schneebedeckte Weiten
Denn schon bald verwandelt sich Pirita unversehens in ein stattliches weißes Rentier. Ein Jäger folgt dem Tier, um es zu fangen und zu zähmen - und wird am nächsten Tag tot und übel zugerichtet aufgefunden. Bei seiner unmittelbaren Begegnung mit Pirita erlangte diese wieder menschliche Gestalt, doch es war eine animalische Frau mit langen Eckzähnen wie ein Raubtier oder auch ein Vampir - und gleich danach war es um den Mann geschehen. Später ist Pirita wieder "normal" und unauffällig, wenn auch beunruhigt. Zu Recht, denn es war nicht ihre letzte Verwandlung. Bald gibt es weitere tote Männer, und immer wurde das ominöse weiße Rentier in der Nähe gesehen. Auch ein "Mann aus dem Süden" (also ein ethnischer Finne, kein Same), der als eine Art Forstbeamter den Kontakt mit den Samen pflegt und mit einem Gewehr ausgerüstet ist, zieht den Kürzeren - doch Pirita lässt ihn unter schallendem Gelächter lebend entkommen. Der war wohl kein standesgemäßes Opfer für sie. Die Einheimischen wissen ohnehin, dass man so einem magischen Wesen nicht mit einem Gewehr beikommen kann - nur eine schmiedeeiserne Speerspitze kann so ein Malefiz-Ren töten.

Beim Schamanen
Nach ein, zwei weiteren Toten sieht man nun alle Männer der Gegend solche Speerspitzen hämmern, und Pirita verfolgt es mit wachsendem Unbehagen, ja Panik - denn sie weiß ja, wem das gilt, und dass sie auf Dauer nicht wird entkommen können. In ihrer Verzweiflung sucht sie abermals Tsalkku-Nilla auf, damit der den Zauber zurücknimmt. Doch der Schamane liegt nur (vermutlich betrunken) in seiner Hütte und rührt sich nicht. So zieht Pirita weiter zum steinernen Altar, doch auch hier tut sich nichts. Nachdem der Versuch, den Weg ins Verderben durch Doppelung rückgängig zu machen, fruchtlos geblieben ist, zieht sich die Schlinge zu. Fatalerweise ist es ausgerechnet Aslak, der den tödlichen Speer auf das weiße Rentier schleudert. Am Ende liegt Pirita wie in einem Werwolf- oder Jekyll&Hyde-Film in ihrer normalen menschlichen Gestalt tot, aber (hoffentlich) vom Fluch erlöst auf dem Boden vor ihrem fassungslosen Ehemann.

Opferung am steinernen Altar
In Texten über VALKOINEN PEURA wird Piritas tödliche Erscheinungsform meist als Vampir gedeutet. Aber wie schon geschrieben, könnten ihre "Beisserchen" auch einfach die Reißzähne eines Raubtiers sein, und es wird im Film nie ausgesprochen, dass den Toten das Blut ausgesaugt worden wäre. Da die Verwandlungen offenbar zu zufälligen Zeitpunkten und ohne Piritas Zutun, wahrscheinlich sogar gegen ihren Willen, geschehen, könnte man an eine Art Werwolf (oder eben Wer-Ren) denken, oder auch an die Katzenfrauen aus den Filmen von Tourneur und Schrader. Es ist aber müßig, darüber zu streiten, was das nun genau für ein Wesen sein soll. Ich weiß auch nicht, ob es dieses männermordende Wesen in der authentischen Mythologie der Samen tatsächlich gibt, oder ob Erik Blomberg und seine Hauptdarstellerin und Ehefrau Mirjami Kuosmanen (1915-63), die zusammen das Drehbuch schrieben, sich "nur" in der damals schon globalen Welt der Horrorliteratur und des Horrorfilms bedient haben. (Mirjami Kuosmanen soll sich auch an der Regie beteiligt haben, aber ich weiß nicht, wie belastbar das ist.)

Die erste Verwandlung
Letzten Endes kommt es auf die Umsetzung an, und die ist vorzüglich gelungen. Blomberg erzählt seine Geschichte schnörkellos und kompakt in einer guten Stunde. Er findet dabei eine gute Balance zwischen realistischen und fantastischen Elementen. Manche Szenen haben fast ethnografische Anmutung. Und obwohl der Film märchenhafte Elemente aufweist, spielt er weder in einer Märchenwelt noch in einer unbestimmten grauen Vorzeit, in der die Samen isoliert vom Rest der Menschheit gelebt hätten. Die Samen im Film sind Christen, auch wenn unter der Oberfläche alte animistische und schamanistische Traditionen fortleben. Und wenn sie nicht gerade mit den Rentierherden unterwegs sind, dann leben sie nicht in Zelten oder Jurten, sondern in festen Hütten und Häusern mit Glasfenstern. Und auch der finnische Forstbeamte mit Gewehr verortet die Geschichte in der Neuzeit.

Das ominöse weiße Ren
Mirjami Kuosmanen ist sehr überzeugend, sowohl als die fröhliche Pirita vom Anfang wie auch als die zunehmend animalische und verzweifelte Pirita in der zweiten Hälfte des Films. Der größte Pluspunkt von VALKOINEN PEURA und sozusagen ein weiterer Hauptdarsteller ist aber die Landschaft. Die endlosen schneebedeckten Weiten geben eine phänomenale Kulisse ab, und Blomberg, der auch als Kameramann und Cutter fungierte, hat sie gekonnt in Szene gesetzt und in die Handlung eingebaut. Es gibt relativ sparsame Dialoge, und manche Sequenzen erinnern an Stummfilme und frühe Tonfilme von Arnold Fanck und seinen Epigonen wie Luis Trenker. Zwar spielt der Film überwiegend im Freien und damit im hellen, vom Schnee reflektierten Licht, doch es gibt auch Innen- und Nachtaufnahmen mit expressiver Licht- und Schattensetzung.

Pirita erschrickt vor ihrem Spiegelbild ...
VALKOINEN PEURA stieß seinerzeit auf viel Resonanz. Er gewann 1952 bei den finnischen Jussi Awards in drei Kategorien, erhielt 1953 einen Spezialpreis für den besten Märchenfilm in Cannes und 1954 beim Filmfestival von Karlovy Vary den Preis für die beste Kamera. Und weil er mit einigen Jahren Verzögerung auch in den USA lief, gab es dann noch 1957 den Golden Globe für das Jahr 1956 in der Kategorie Best Foreign Film, freilich nicht als alleiniger Sieger, sondern gemeinsam mit vier weiteren Filmen. In Finnland wird VALKOINEN PEURA alle paar Jahre mal im Fernsehen gezeigt (eine finnische Website kommt auf 15 Ausstrahlungen zwischen 1963 und 2017); außerhalb seiner Heimat verschwand der Film natürlich etwas in der Versenkung, geriet aber nicht völlig in Vergessenheit, sondern wurde gelegentlich mal beim einen oder anderen Festival vorgeführt. 2010 informierten Alex Klotz und Michael Schleeh über VALKOINEN PEURA und animierten mich damit zum Kauf des Films auf einer finnischen DVD.

... und zwar zu Recht
Im letzten November wurde eine neuere 4K-Restauration bei einem Filmfestival in Braunschweig gezeigt, und die aktuelle Ausgabe des Filmmagazins 35 mm sowie eine Festivalbeilage derselben Zeitschrift berichteten darüber. Mein Anlass für diesen Artikel besteht aber hauptsächlich darin, dass VALKOINEN PEURA seit einiger Zeit wesentlich besser zugänglich ist als noch vor Jahren. Die alte finnische DVD hat keine Untertitel (ich konnte aber immerhin eine engl. Untertiteldatei im Netz finden) und war auch nicht ganz leicht aufzutreiben - ich habe mein Exemplar bei irgendeinem skandinavischen Versender erstanden. Doch schon kurz danach erschien eine französische DVD (unter dem Titel LE RENNE BLANC) mit engl., franz. und span. Untertiteln, 2014 eine weitere finnische DVD und schließlich vor ungefähr zwei Jahren eine finnische Blu-ray, die auf der 4K-Restauration beruht, mit engl. und schwed. Untertiteln, und man bekommt sie bei den üblichen Quellen. Auf allen diesen Medien hat VALKOINEN PEURA eine Laufzeit von 68 (Blu-ray/Kino) bzw. 65 Minuten (DVD). Ursprünglich hatte der Film jedoch eine Länge von 74 Minuten. Wo die fehlenden sechs Minuten abgeblieben sind, und was darauf zu sehen ist, ist mir nicht bekannt.

Pirita (links im Vordergrund liegend) wird gejagt und schließlich getötet

Dienstag, 10. Mai 2011

Etwas ist faul im finnischen Papierkonzern

Hamlet macht Geschäfte (Alternativtitel: Hamlet goes Business)
(Hamlet Liikemaailmassa, Finnland 1987)

Regie: Aki Kaurismäki
Darsteller: Pirkka-Pekka Petelius, Esko Salminen, Kati Outinen, Elina Salo, Esko Nikkari, Kari Väänänen u.a.

Schon bei Shakespeare pflastern Leichen Hamlets Weg. Der Prinz von Dänemark, der  eigentlich ein Mann der Tat sein müsste, wird zum Zögernden, als ihn der Geist des Vaters auffordert, sich an seinem Mörder zu rächen. Und dieses Zögern eines Melancholikers, des Lebens Überdrüssigen, führt zu einem Blutbad, das  nicht nötig gewesen wäre. Tatsächlich ist “Hamlet” wohl die einzige Rachetragödie, deren wesentliche Figuren am Ende (z.T. unverdient) tot auf der Bühne oder anderswo herumliegen, weshalb ganz  am Schluss  ein bisher nicht eingeführter Charakter, Fortinbras, Prinz von Norwegen,  auftreten und den Epilog sprechen muss.

Es ist denn auch verständlich, dass sich Schauspieler, obwohl sie förmlich nach der Rolle gieren, immer wieder schwer tun mit dieser Figur, die einerseits, den Wahnsinnigen spielend, ihre Rache minutiös vorbereitet, sich andererseits aber gelegentlich auch ein “Sein oder Nichtsein” gönnt. Mit Sicherheit ist Hamlet nicht der arische Kraftmensch, als den ihn die Nazis sehen wollten (weshalb der zierliche Gründgens an ihm scheiterte); und die für das 20. Jahrhundert vermutlich bedeutendste Gestaltung verdanken wir Sir Laurence Olivier, der auch lange mit dem Shakespeare-Helden kämpfte, ihn aber letztlich ganz aus psychologischer Sicht anging (er betonte nicht zuletzt das inzestuöse Verlangen nach Gertrude, dessen Mutter) und für seine grandiose Verfilmung (1948) mit vier Oscars belohnt wurde. - Weitere Filme bieten uns einen entrüsteten Mad Max in der Ahnengruft (Zeffirelli in seiner unerträglichen Version mit Mel Gibson, 1990) oder stellen statt der Frage nach der individuellen Entscheidungsfähigkeit die Korruption im Herzen einer dekadenten Kultur in den Mittelpunkt (Kenneth Branagh, der sich 1996 narzisstisch durch den vollständigen Text kämpfte). Es gibt sogar einen “Baz” Luhrmann’s “William Shakespeare’s Romeo + Juliet” nachahmenden Versuch, der die Tragödie mit einem sich desaströs den altertümlichen Versen hingebenden Ethan Hawke als Videoclip ins New York der Gegenwart verlegt (2000).


Auch Aki Kaurismäki siedelt seine noch vor “Ariel” (1988) gedrehte und hierzulande leider wenig bekannte Hamlet-Version im Helsinki der Gegenwart an. Was jedoch der aus Finnland stammende “Chef-Melancholiker des europäischen Autorenkinos” (Rainer Gansera) aus dem Stoff macht, hat es in sich: Sein Film handelt von einem bedeutenden Papierkonzern, dessen Inhaber Hamlet’s Vater ist; Polonius wird zum Grundstückverwalter, sein Sohn Lauri (bei Shakespeare Laertes) zum Marketingspezialisten - und Hamlet zum öligen, verwöhnten Bengel, der einfach alles Essbare, das ihm in den Weg kommt, in sich hineinstopft  - weshalb er anschliessend im Fitness-Center zusammen mit seinem Chauffeur und vermeintlichen Freund Simo - Horatio! - wieder ein paar Pfunde loswerden muss. Und wären auch hier die vielen Toten am Ende nicht unumgänglich, könnte man angesichts der intriganten Bande, der man begegnet, beinahe von einem finnischen “Dynasty” ohne Kaviarfrühstück sprechen. So aber muss der halbwegs der Vorlage folgende Film zu einem Wirtschaftskrimi werden - zu einem Wirtschaftskrimi, wie ihn freilich nur Kaurismäki drehen konnte.

Kaurismäki, der als Vorbilder gerne Melville und Bresson nennt und mit lakonischem Bedauern feststellt, er könne keine Meisterwerke, nur Dokumente seiner Zeit drehen (“Cinema is dead. It died in 1962, I think it was in October!”), wird oft für seinen trockenen Humor gerühmt. Dieser Humor ist auch in “Hamlet macht Geschäfte” vorhanden, z.B. wenn einer kleinen (Prosa!)-Passage, die tatsächlich von Shakespeare übernommen wurde (etwa dem berühmten “Worte, Worte, Worte!” anlässlich der Befragung des scheinbar vom Wahnsinn Befallenen durch Polonius) plötzlich wieder Klagen über die Verdauung gegenübergestellt werden oder der - offenbar auch nicht allwissende - Geist des Vaters, der sich gefälligst beeilen soll, weil das Abendessen wartet, seinen Sohn als “Dummkopf!” bezeichnet. Er sorgt jedoch dafür, dass dem Zuschauer, der in kargen Schwarzweiss-Bildern mit oft seltsamen Einstellungen, die die Distanz der Figuren zueinander betonen sollen, eine Welt zu sehen bekommt, in der jeder berechnend ist und den anderen zu hintergehen versucht, das Lachen oft im Halse stecken bleibt. Denn hinter diesem trocken-lakonischen Humor versteckt sich bitterer Ernst.

Anders als bei Shakespeare hat Gertrud mit Klaus (Claudius), der einzig an der Übernahme und profitablen Umgestaltung des Konzerns interessiert ist, bereits vor dem Gifttod ihres Mannes ein Verhältnis. Hamlet (er entdeckt seinen toten Vater, als er gerade ein riesiges Stück Schinken - Ham! - verschlingt) erbt jedoch 51%, wobei man hofft, man könne den sich scheinbar seiner Rolle selber nicht Sicheren und vor allem an Sex mit Ofelia Interessierten mit Taschengeld abspeisen. In Wirklichkeit ist er nicht weniger selbstsüchtig als der Rest der Bande, hört voller Misstrauen ein Gespräch zwischen Klaus und Polonius über den Verkauf einer Sägemühle ab und weiss natürlich, dass die von Papa Polonius in dessen Pläne eingebrachte Ofelia, die ein Eis seinen sexuellen Avancen vorzieht, ihn lediglich wegen seines Geldes heiraten will. Er spielt den Wahnsinnigen und fertigt während einer Vorstandsitzung an einem separaten Tisch wie ein Kindergartenschüler Zeichnungen an - um dann doch überraschend seine 51% geltend zu machen. Gleichzeitig scheint er, wie er etwa anlässlich eines Rockkonzerts zu erkennen gibt, tatsächlich von einer Art Melancholie befallen zu werden. - Gegen diesen unvorhersehbaren Störenfried muss etwas unternommen werden; und da Lauri, der sich vor dem Betreten von Klaus’ Büro wie ein richtiger Yuppie noch einmal gründlich rasiert, eine Rückkehr an die Universität bevorzugt, kommen - anders als in Olivier’s Verfilmung - nach der zufälligen Tötung des in Gertruds Schlafzimmer lauschenden Polonius Rosencranz und Gyldenstern (zwei richtige Gangsterfressen) ins Spiel.

Diese Konstellation lässt den Monologen, die Shakespeares “Hamlet” berühmt machen, keinen Raum. Denn Kaurismäki, der so schon auf eine Länge von 85 Minuten kommt (er bevorzugt “kurze” Filme um die 70 Minuten) und ausdruckstarke Bilder der Geschwätzigkeit vorzieht, will seine Tragödie, die keine Rachetragödie, sondern eine der skrupellosen Gier ist, nach dem berühmten “Spiel im Spiel”, auf das auch er nicht verzichten kann, zu einem Ende bringen: Ofelia ertränkt sich nach dem Tod ihres Vaters Polonius zeitgemäss in der Badewanne (Hamlet teilt ihr vorher noch mit, er liebe sie ohnehin nicht, weil sie zu dünn sei), Gertrud stirbt nicht an einem Giftbecher, sondern weil sie vom vergifteten Hähnchenschenkel isst, von dem Klaus eigentlich erwartete, Hamlet könne ihm nicht widerstehen - und der nach Rache dürstende Lauri bekommt einen Radioapparat über den Kopf gestülpt, zu dessen Musik er scheinbar tanzend zusammenbricht. --- Am Ende erwartet den Zuschauer eine Überraschung, eine Abweichung von Shakespeare, die jedoch dem selbstsüchtigen, nur von der Macht beherrschten Pack, das die Suche nach Schuldigen gar nicht lohnt, angemessen ist. Es braucht denn für den Epilog auch nicht den Auftritt einer neuen Figur. Lediglich der Chauffeur Simo und das ihn liebende Dienstmädchen Helena sind froh, die widerlichen Intrigen hinter sich zu haben und die riesige Villa mit ihren Toten verlassen zu dürfen. Simo weist Helena an: “Du kannst packen!”, worauf Helena erwidert: “Ich habe es bereits getan. Wir können gehen.”


Der Film kommt nicht weniger flapsig daher als diese Zusammenfassung, und dennoch gelingt es Kaurismäki, etwas aus dem Stoff herauszuholen, was durchaus zeitgemäss ist: Er übt mit ihm auf düster-sarkastische Weise Kapitalismuskritik. Die pathetische Gnadenlosigkeit seiner Figuren rührt daher, dass sich ihr Leben nur  um Geld dreht. - Eine solche Uminterpretation des Stücks (eine höchst berechtigte Anpassung an die 80er Jahre), die die Schlechtigkeit einer einzig am Gewinn orientierten Welt betont, wäre damals mit ein wenig mehr Anlehnung an den Originaltext mit Sicherheit auch auf jeder Bühne ein Erfolg gewesen. - Zeitdokument? Meisterwerk? - Wen kümmerts? Auf jeden Fall eine Entdeckung wert, und meines Erachtens eine der spannendsten Gestaltungen des “Hamlet”-Stoffs seit dem Film von Sir Laurence Olivier.

Sonntag, 18. Juli 2010

Über den gezielten Einsatz des Oberflächlichen


Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini

Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen.  Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?

Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.


Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?


Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett  die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die  um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).

Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun?  Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und  erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? -  Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es  könnte  hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung  ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten  auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.


Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von  Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht.  Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer  minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss.  Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und  für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.

Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung.   Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.

Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich  auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten  Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.

Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!