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Samstag, 5. August 2017

Ritter Eisenstein erstürmt La Sarraz

Der erste Internationale Kongress des Unabhängigen Films, 1929 in der Schweiz

Es gibt ein Foto, das Sergej M. Eisenstein (nicht besonders gut erkennbar) zeigt, wie er im Stil eines Ritters von der traurigen Gestalt auf einem Gestell sitzt, vor sich auf dem Boden den Brustharnisch einer Rüstung. Auf dem Kopf trägt Eisenstein einen Ritterhelm mit Straußenfedern, und unter dem Arm hat er eine lange Lanze, an der etwas befestigt ist, das verdächtig nach einer Filmapparatur aussieht. Was hat es damit auf sich? Ist es ein bloßer Jux im Stil des in Mexiko entstandenen Fotos mit dem Peniskaktus? Oder legt Eisenstein eine Rüstung an, um sich bei den Dreharbeiten zu ALEXANDER NEWSKIJ unter sein Riesenheer an Komparsen zu mischen, mit dem er die Ritterschlacht auf dem zugefrorenen Peipussee nachstellt? Etwa im Stil eines Königs oder Feldherrn in einem Shakespeare-Drama, der sich in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht inkognito unter seine Soldaten mischt, um die Stimmung zu erkunden?

Nein, natürlich alles Blödsinn. Das Foto entstand 1929 in einem Ort in der Westschweiz, wo Eisenstein am ersten Internationalen Kongress des Unabhängigen Films (Congrès international du cinéma indépendant, CICI) teilnahm. Bei dieser Gelegenheit drehte er mit seinen anwesenden Kollegen als Abwechslung zu den teilweise trockenen Debatten einen kurzen allegorischen Film über den siegreichen Kampf des Avantgardefilms gegen den Kommerzfilm. Dieses Kuriosum ist leider seit 1930 (wo es in Tokio gezeigt wurde) verschollen, aber zum Glück gibt es wenigstens viele Fotos von den Dreharbeiten.

Man erkennt ihn nicht gut, aber es ist Eisenstein als General Don Quijote
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)

DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ / TEMPÊTE SUR LA SARRAZ, auch STURM ÜBER LA SARRAZ und weitere Abwandlungen (alles informelle Titel), KOKUSAI DOKURITSU EIGA KAIGI (Japan)
Schweiz 1929 (verschollen)
Regie: Sergej Eisenstein und (wahrscheinlich) Hans Richter
Darsteller: Teilnehmer des Kongresses

La Sarraz und der Kongress


Im Kanton Waadt (franz. Vaud) liegt ungefähr 15 km nördlich des Genfer Sees das Städtchen La Sarraz, das heute ungefähr 2500 Einwohner hat. Zu den Sehenswürdigkeiten des Orts zählt das Château de La Sarraz, architektonisch mehr eine Burg als ein Schloss. Seinerzeitige Eigentümerin und Bewohnerin des Château war Madame Hélène de Mandrot (1867-1948). Sie entstammte dem Genfer Großbürgertum, und ihr 1920 verstorbener Mann Henry de Mandrot hatte in Texas zusätzlich Geld gemacht und das Château geerbt. Mme de Mandrot war den modernen Künsten zugetan. Sie hatte selbst in Genf, Paris und München Kunst studiert und sich auch als Kunsthandwerkerin betätigt, als sie in Paris lebte. Sie und ihr Mann sammelten nicht nur Kunstwerke, sondern sie betätigten sich auch als Mäzene. 1922 gründete Hélène de Mandrot das Maison des Artistes de La Sarraz als ein Versammlungszentrum. Im Juni 1928 lud sie zum ersten der beiden Kongresse, die ihr bleibenden Nachruhm eintrugen, ins Château: Zum Congrès International d'Architecture Moderne (CIAM). Der CIAM wurde zu einer festen Organisation, die solche Größen wie Le Corbusier und Walter Gropius zu ihren Mitgliedern zählte. Bis 1959 gab es in wechselnden Städten zehn Nachfolgekongresse, die sich jeweils Fragen der zeitgenössischen Architektur und Stadtplanung widmeten. Damit erwies sich der erste Kongress von 1928 als Ausgangspunkt einer einflussreichen Entwicklung.

Nach diesem Erfolg sollte es nun 1929 beim nächsten größeren Kongress um den "unabhängigen Film" gehen, was in etwa gleichbedeutend mit "Avantgardefilm" verstanden wurde. Die Eingebung zu diesem Thema wird je nach Quelle Robert Aron von der progressiven Pariser Filmzeitschrift Du cinéma (die unmittelbar nach dem Kongress in La Revue du cinéma umbenannt wurde) oder Robert Guye vom Genfer Ciné-Club zugeschrieben. Beide waren schon länger mit Mme de Mandrot bekannt und auch schon mehrfach im Château gewesen, wären also plausible Kandidaten für die Idee zum Kongress. Robert Aron wurde jedenfalls mit der Organisation betraut, anscheinend als Teil eines Komitees, dem außer ihm auch noch u.a. André Gide, Luigi Pirandello und Filippo Tommaso Marinetti angehört haben sollen. In La Sarraz anwesend war dann von diesem Komitee aber nur Aron, der den Vorsitz des Kongresses führte. Der Arbeitsplan wurde aber schon in der Vorbereitungsphase recht detailliert festgelegt, denn er findet sich in den von Aron verschickten Einladungsschreiben (mindestens eines davon, nämlich das an Alberto Sartoris, hat die Zeiten überdauert und kann hier gelesen werden). Neben den Debatten war für die Abende auch die Vorführung aktueller Avantgardefilme vorgesehen. Der Kongress fand schließlich vom 3. bis zum 7. September 1929 im Château von La Sarraz statt.

Die Teilnehmer


Die Teilnehmer des Kongresses setzten sich grob betrachtet aus drei Kategorien zusammen: Filmschaffende aus dem Avantgardesektor, progressive Filmkritiker sowie Gründer und Betreiber von Filmligen, Ciné-Clubs und dergleichen (aber natürlich konnte man auch mehr als nur einer dieser Kategorien angehören). Die Teilnehmer wurden zu nationalen Delegationen zusammengefasst (wobei man auch ein anderes als sein Herkunftsland vertreten konnte), insgesamt waren so elf Länder vertreten, nämlich Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, Spanien, die Sowjetunion und die USA. Die Delegationen bestanden aus folgenden Mitgliedern:

Deutschland
Béla Balázs, Hans Richter, Walter Ruttmann

Frankreich
Robert Aron, Jean George Auriol, Janine Bouissounouse, Alberto Cavalcanti, Léon Moussinac

Großbritannien
Jack Isaacs, Ivor Montagu

Italien
Enrico Prampolini, Alberto Sartoris

Japan
Hiroshi Higo, Moichiro Tsuchiya

Niederlande
Mannus Franken

Österreich
Fritz Rosenfeld

Schweiz
Robert Guye, Arnold Kohler, Alfred Masset, Georg Schmidt

Spanien
Ernesto Giménez Caballero

Sowjetunion
Grigori Alexandrow, Sergej Eisenstein, Eduard Tissé

USA
Montgomery Evans


Eisenstein vor dem Château
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)

Der damals schon bekannte Filmtheoretiker Béla Balázs (1884-1949), wiewohl Ungar, war also Mitglied der deutschen Delegation - er lebte seit 1926 in Berlin und schrieb seine filmtheoretischen Hauptwerke auf Deutsch. Er schrieb auch Drehbücher, u.a. war er an Leni Riefenstahls DAS BLAUE LICHT beteiligt (Riefenstahl prellte ihn aber um sein Honorar dafür). Als Jude und Kommunist emigrierte er nach Moskau, nach Kriegsende kehrte er nach Ungarn zurück. Hans Richter, sein schwedischer Freund und Kollege Viking Eggeling (die beide der Dada-Bewegung angehörten) und Walter Ruttmann (eigentlich Walther Ruttmann, aber seit 1929 ließ er das "h" im Vornamen weg) lieferten sich Anfang der 20er Jahre so etwas wie ein Wettrennen um den ersten deutschen abstrakten Film (das Ruttmann gewann). Eggelings Rollenbilder wie "Horizontal-Vertikal-Messe" (1919) waren direkte Vorläufer davon, und auch Hans Richter (1888-1976) versuchte sich darin, dann arbeiteten er und Eggeling in einem kleinen Ort in Brandenburg an ihrem jeweils ersten Film, wobei sie von zwei Tricktechnikern der UFA unterstützt wurden. Richters RHYTHMUS 21 war in einer vorläufigen Fassung 1921 fertig (worauf der Titel anspielt), aber er arbeitete weiter daran, und unter dem neuen Titel FILM IST RHYTHMUS war er dann 1923 endgültig fertig. Danach drehte Richter etliche dadaistische bis surrealistische Filme, wie VORMITTAGSSPUK (1928). 1933 ging er in die Emigration, ab 1940 war er in den USA. Dort realisierte er von 1944 bis 1947 den surrealen DREAMS THAT MONEY CAN BUY, bei dem Freunde und Kollegen von Richter wie Max Ernst, Fernand Léger, Man Ray und Marcel Duchamp mitwirkten und Teile der Regie übernahmen. Produziert wurde der Film von Richter und Kenneth Macpherson, dem früheren Mitherausgeber von Close Up, mit Geld von Peggy Guggenheim. Viking Eggelings DIAGONAL-SYMPHONIE wurde 1924 fertig, und auch er geriet zu einem Klassiker des abstrakten Films. Wenn Eggeling nicht schon 1925 gestorben wäre, wäre er bestimmt auch nach La Sarraz eingeladen worden. Walter Ruttmann (1887-1941) vollendete sein abstraktes LICHTSPIEL OPUS 1 1921 und kam Richter damit knapp zuvor. OPUS 1 wird gelegentlich als erster abstrakter Film überhaupt bezeichnet (das stimmt allerdings nicht, weil die beiden italienischen Brüder Bruno Corra und Arnaldo Ginna, die dem Futurismus nahestanden, schon um 1910 welche machten - diese sind allerdings verschollen, es existieren nur verbale Beschreibungen). OPUS 1 zeichnet sich (im Gegensatz zu den Filmen von Richter und Eggeling) durch Farbe aus, und es gab auch eine Originalmusik, die Ruttmanns Freund Max Butting komponiert hatte. Es folgten noch drei weitere abstrakte OPUS-Filme, und Ruttmann arbeitete auch an Lotte Reinigers DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED mit, und er steuerte zu Fritz Langs DIE NIBELUNGEN die kurze Falkentraumsequenz bei. Für all diese Projekte hatte Ruttmann einen Tricktisch mit drei horizontalen Glasplatten konstruiert, den er sich patentieren ließ. 1927 folgte sein nächster Streich mit BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT, der klassischen Großstadtsymphonie, die dem Genre den Namen gab. Ruttmann war auch ein Pionier des Tonfilms in Deutschland, und er schuf mit "Weekend" eines der ersten experimentellen Hörspiele, vielleicht das erste überhaupt (aber mit solchen Zuschreibungen muss man ja vorsichtig sein). Und ab 1933 machte er dann Propagandafilme für die Nazis - eine schwer begreifbare Entwicklung. Ruttmanns Tod 1941 verhinderte, dass er sich dazu erklären musste. - Aus Deutschland wurden möglicherweise auch noch Lupu Pick und G.W. Pabst eingeladen, aber falls das wirklich so war, konnten oder wollten sie nicht kommen - sie waren jedenfalls nicht da.

Drei der offiziellen französischen Kongressteilnehmer (sowie zwei Dolmetscher) kamen von der monatlich erscheinenden, progressiven Pariser Filmzeitschrift Du cinéma bzw. La Revue du cinéma, wie sie ab der Ausgabe Nr. 4 im Oktober 1929 hieß, nämlich Aron, Auriol und Bouissounouse. Robert Aron (1895-1975), wie schon erwähnt der Hauptorganisator und Leiter des Kongresses, war Mitherausgeber und Kritiker bei der Zeitschrift. Als Gaston Gallimard, der Verleger des Blatts, Anfang der 30er Jahre die kurzlebige Filmproduktionsgesellschaft Nouvelle société de films (NSF) gründete, war Aron in diesem Zusammenhang an der Produktion von Jean Renoirs MADAME BOVARY beteiligt. Später betätigte sich Aron zeitweise in der Politik sowie als Schriftsteller und Historiker. Für seine Meriten auf diesen Gebieten brachte er es bis zum Mitglied der Académie française und zum Offizier der Ehrenlegion. Jean George Auriol (1907-1950) war Gründer und Herausgeber von Du cinéma/La Revue du cinéma. Mit 22 Jahren war er der jüngste Kongressteilnehmer. In den 30er und 40er Jahren schrieb Auriol auch etliche Drehbücher. La Revue du cinéma stellte 1932 nach 29 Ausgaben ihr Erscheinen ein, von 1946 bis 1949 gab es aber eine Neuauflage mit 20 weiteren Ausgaben, wiederum mit Auriol als Herausgeber. Zu den Mitarbeitern der Zeitschrift in dieser Spätphase zählten André Bazin, Jacques Doniol-Valcroze und Joseph-Marie Lo Duca. Nachdem Auriol 1950 bei einem Autounfall starb, gründeten die genannten drei Mitarbeiter 1951 in seinem Geist eine neue Zeitschrift, die als Cahiers du cinéma in die Geschichte einging. Janine Bouissounouse (1903-1977/78, je nach Quelle), die einzige weibliche Kongressteilnehmerin, war Kritikerin bei Du cinéma/La Revue du cinéma. 1927 wirkte sie als Regieassistentin und Darstellerin bei zwei Filmen von Alberto Cavalcanti mit. Später war sie Romanautorin und Historikerin, teilweise in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann Louis Héron de Villefosse. Der Brasilianer Alberto Cavalcanti (1897-1982) lebte und arbeitete in den 20er Jahren in Frankreich, wo er sich seine ersten Lorbeeren als Regisseur erwarb, etwa mit der Pariser Proto-Großstadtsymphonie RIEN QUE LES HEURES von 1926. 1933 ging Cavalcanti nach England, wo er sich der Dokumentarfilmbewegung um John Grierson anschloss und bald eine führende Rolle darin übernahm. Den einen oder anderen Spielfilm drehte er aber auch. Léon Moussinac (1890-1964) war seinerzeit wohl der bekannteste kommunistische Filmkritiker Frankreichs. Neben anderen Blättern schrieb er für die kommunistische Parteizeitung L'Humanité. Arnold Kohler schrieb 1963, dass Moussinac "zu den kultiviertesten Menschen gehörte, die man sich vorstellen kann", und Hans Richter bezeichnete ihn in seinen Memoiren "Köpfe und Hinterköpfe" von 1967 als den "bedeutendsten französischen Filmkritiker jener Tage". Moussinac war auch Organisator diverser Ciné-Clubs, so brachte er etwa 1926 als erster PANZERKREUZER POTEMKIN nach Frankreich. Während der Besatzung war er in der Résistance, und nach dem Krieg leitete er zwei Jahre lang die Pariser Filmhochschule IDHEC. Schon 1927 hatte Moussinac in Moskau Freundschaft mit Eisenstein geschlossen, und nun in La Sarraz sowie in den folgenden Monaten mehrfach in Frankreich konnten die beiden ihre Freundschaft erneuern. Danach blieben sie brieflich in Kontakt. Als etwa Eisenstein einmal aus Kalifornien schrieb, dass in Hollywood alle außer Lubitsch und Sternberg Idioten seien, waren Moussinac und seine Frau die Adressaten. 1964 veröffentlichte Moussinac ein Buch über Eisenstein und seine Freundschaft mit ihm. Mit Béla Balázs und Wsewolod Pudowkin war er auch befreundet.

Der Geist des unabhängigen Films (Janine Bouissounouse)
ist an das finstre Gemäuer des Kommerzfilms gekettet
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Ivor Montagu (1904-1984), als Sohn eines aristokratischen Bankiers in London geboren, war eine äußerst illustre Persönlichkeit. Er hatte Botanik und Zoologie studiert und war ein linker Politiker und Aktivist, zuerst in der British Socialist Party und dann in der Communist Party of Great Britain. 1925 gründete er zusammen mit dem späteren Medienunternehmer Sidney Bernstein und weiteren Mitstreitern die London Film Society, die nicht nur einer der ersten, sondern auch mitgliederstärksten, erfolgreichsten und langlebigsten Filmclubs überhaupt war (wobei später auch der Regisseur Thorold Dickinson als technischer Direktor eine wichtige Rolle spielte). In den 20er und 30er Jahren war Montagu auch wiederholt als Cutter und Produzent im kommerziellen Film tätig, und in diesen Funktionen war er an einigen Filmen von Alfred Hitchcock beteiligt. In derselben Zeit inszenierte er auch selbst einige Kurzfilme. Montagu war auch ein erstklassiger Tischtennisspieler, und 1926 gründete er sowohl den britischen als auch (mit anderen) den Tischtennis-Weltverband, und beiden Verbänden stand er vier Jahrzehnte als Präsident vor. Als ob das alles noch nicht reichen würde, war Montagu möglicherweise auch ein sowjetischer Spion (aber wenn, dann kein bedeutender), während sein älterer Bruder Ewen Montagu gleichzeitig Agent im MI6 war. Ivor Montagu schloss in La Sarraz enge Freundschaft mit Eisenstein, er lud ihn dann nach London in die Film Society ein, und 1930 begleiteten Montagu und seine Frau Eisenstein, Alexandrow und Tissé nach Hollywood. Darüber schrieb er 1968 das Buch "With Eisenstein in Hollywood". Jack Isaacs (1896-1973), eigentlich Jacob Isaacs, war ein frühes und sehr aktives Mitglied der London Film Society, aber er führte ein weit ruhigeres Leben als Montagu, das er der Lehre der englischen Literatur widmete. Zu Isaacs' Spezialgebieten zählten Shakespeare und seine Zeitgenossen sowie englische Literatur des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Assistentenzeit in Wales war er in den 20er und 30er Jahren Dozent am King's College in London. Von 1942 bis 1945 war er Professor für Englisch an der Hebräischen Universität in Jerusalem (obwohl er zunächst überhaupt nicht Hebräisch konnte), dann wieder in England, zuletzt als Lehrstuhlinhaber am Queen Mary College in London.

Enrico Prampolini (1894-1956) und Alberto Sartoris (1901-1998) repräsentierten die italienischen Ciné-Clubs. Prampolini, ein Vertreter des Futurismus, war abstrakter Maler sowie Bühnen- und Filmarchitekt. Und ebenso wie der futuristische Vordenker Filippo Tommaso Marinetti, war er ein Anhänger des italienischen Faschismus. Alberto Sartoris war ein italienisch-schweizerischer Architekt (er lebte meist in Genf), und in der ersten Hälfte der 20er Jahre war auch er Mitglied der Futuristen. Er setzte sich zeitlebens für moderne, rationelle Architektur ein und gab 1948-57 eine dreibändige Enzyklopädie zu diesem Thema heraus. Sartoris war auch schon 1928 Teilnehmer des Architekturkongresses in La Sarraz.

Hiroshi Higo und Moichiro Tsuchiya (es kursieren auch andere Schreibweisen der Namen) repräsentierten Japan in La Sarraz. Hiroshi Higo war von der japanischen Liga für den proletarischen Film (Pro-Kino), die 1928 von einem Künstler- und Schriftstellerverband gegründet worden war, der der Kommunistischen Partei Japans nahestand (und 1934 von der Regierung verboten wurde). Higo betrieb auch seit 1927 ein Kino in Tokio, und er verbrachte 1929 längere Zeit in Europa, um das hiesige Filmwesen zu studieren, und um Filmkopien für die Mitnahme nach Japan auszuwählen. Ein Hiroshi Higo taucht 1950 als einer der Produzenten von Yasujiro Ozus DIE SCHWESTERN MUNEKATA auf, aber ich bin nicht sicher, ob es sich um denselben handelt. Moichiro Tsuchiya war Pariser Korrespondent von Kinema Junpo, der ältesten und bedeutendsten japanischen Filmzeitschrift.

Mannus H.K. Franken (1899-1953) ging nach einer Zeit als Filmkritiker in Paris zurück in die Niederlande und drehte einige Kurzfilme, teils allein und teils gemeinsam mit seinem Landsmann Joris Ivens. In Amsterdam und in Rotterdam wurde 1927 je ein Filmclub unter dem Namen "Filmliga" gegründet, woraus die Niederländische Filmliga entstand, in der Franken aktiv war. Später ging er als eine Art filmischer Entwicklungshelfer nach Indonesien. Der österreichische Schriftsteller und Journalist Fritz Rosenfeld (1902-1987), auch unter dem Namen Friedrich Feld bekannt, war Kulturredakteur bei der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung in Wien. Nach dem kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934, der den Sieg des Austrofaschismus brachte, ging Rosenfeld/Feld zunächst nach Prag, wo er für die dortige Niederlassung der Paramount arbeitete, 1939 zog er weiter nach England. Er war aber auch schon vorher zumindest zeitweilig dort, denn 1936 war er Zeuge bei den Dreharbeiten zu Friedrich Fehérs THE ROBBER SYMPHONY (worüber er in REQUIEM VOOR EEN FILM berichtet). Nach dem Krieg blieb er in England, und 1948 wurde er britischer Bürger, aber er schrieb dann bis 1956 wieder Filmkritiken für die Arbeiter-Zeitung.

Die Schweiz stellte nach Frankreich die größte Delegation auf dem Kongress. Robert Guye, Arnold Kohler (1899-1991) und Alfred Masset (1903-1969) waren alle vom Ciné club de Genève. Was Guye sonst noch so gemacht hat, ist mir nicht bekannt, aber wie schon erwähnt, könnte er eine der treibenden Kräfte hinter dem Kongress gewesen sein. Arnold Kohler war Kritiker, und Alfred Masset war 1928 Mitgründer der Genfer Produktionsgesellschaft Cinégram, die u.a. eine Wochenschau produzierte, die jahrzehntelang in der Schweiz gezeigt wurde. Der Kunsthistoriker Dr. Georg Schmidt (1896-1965) vom Schweizerischen Werkbund war damals Bibliothekar des Basler Gewerbemuseums, von 1939 bis 1961 dann Direktor des Basler Kunstmuseums. Sein Bruder, der Architekt Hans Schmidt, hatte 1928 am Architekturkongress teilgenommen.

An der Schärpe erkennt man es: Hier kämpft einer der Guten
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Der spanische Schriftsteller und Diplomat Ernesto Giménez Caballero (1899-1988) war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift La Gaceta Literaria in Madrid. Einige Filme hat er auch inszeniert, und in La Sarraz war er als Vertreter des Cine Club Español. Aus mir nicht bekannten Gründen erschien er erst am 5. September, also am dritten Kongresstag. Giménez Caballero war ein Vordenker und prominentes Mitglied der faschistischen Falange, die ein Wegbereiter und Stützpfeiler der Franco-Diktatur wurde. Dafür bekam er dann später einen Posten als Botschafter in Paraguay. Angeblich verfolgte er zeitweise den Plan, Pilar Primo de Rivera, die Schwester des Falange-Gründers, mit Hitler zu verheiraten. Montgomery Evans II (1901-1954) besaß und betrieb 1925/26 das Arthouse-Kino Fifth Avenue Playhouse in Greenwich Village in New York, das dort 1925 an der Stelle eines abgebrannten Theaters eröffnete, und er stellte in dieser Zeit Filmprogramme für die New Yorker Screen Guild zusammen. In Quellen, die sich auf La Sarraz beziehen, wird er auch als Kritiker bezeichnet, aber das dürfte kaum seine Hauptbeschäftigung gewesen sein - die bestand offenbar darin, ein wohlhabender Büchersammler zu sein.

Warum Sergej M. Eisenstein, Grigori Alexandrow und Eduard Tissé 1929/30 in verschiedenen europäischen Ländern herumfuhren, und was sie dann in Hollywood erlebten, habe ich schon in diesem Artikel erzählt und will es hier nicht wiederholen. Trotz der Anwesenheit von Ruttmann und Richter war Eisenstein zweifellos der Star in La Sarraz. Das sahen auch die meisten Teilnehmer so. Janine Bouissounouse etwa erinnerte sich 1977: "Unnötig zu sagen, was für uns, die demütigen Bewunderer des PANZERKREUZER POTEMKIN, diese Begegnung mit dem großen Regisseur bedeutete. Wir erwarteten ihn mit Ungeduld, neugierig auf das, was er uns sagen würde und bedacht auf die Fragen, die wir ihm stellen wollten." Und Arnold Kohler schrieb 1963 in einem Erinnerungstext: "Eisenstein war eine Art mythologischer Halbgott." Auch Hélène de Mandrot war von den drei Russen angetan, vor allem wegen ihrer vorzüglichen Manieren. "Ach, die Bolschewiki, die Bolschewiki - das sind die einzigen Gentlemen" soll sie beim Abschied gesagt haben - so behauptet es jedenfalls Eisenstein in seinen Memoiren "Yo. Ich selbst". Und Kohler im gerade erwähnten Text: "Und so kamen eines Tages nicht drei Schurken mit Verbrechergesicht an, sondern drei gewandte und vornehme Herren. Besonders Eisensteins Manieren waren von ausgesuchter Höflichkeit. Hélène de Mandrot warf uns einen triumphierned-ironischen Blick zu und sagte: 'Sie sind besser erzogen als wir alle!'"

Dabei war Eisenstein nur die Zweitbesetzung. Eigentlich war nämlich Dsiga Wertow, der 1929 einige Zeit in Deutschland verbrachte, als sowjetischer Vertreter eingeladen, und er wollte auch kommen. Doch aus verschiedenen Gründen kam das doch nicht zustande, und so wurde Eisenstein, der erst am 21. August in Berlin angekommen war, von Hans Richter, der auch gerade in Berlin war, kurzfristig nachnominiert. Mit dem Segen der zuständigen Behörden in Moskau versehen, war Eisenstein nun der offizielle sowjetische Delegierte, und Alexandrow und Tissé fuhren auch mit. Doch es gab ein bürokratisches Problem: Die Schweiz unterhielt keine diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion, und deshalb erhielten Sowjetbürger normalerweise keine Visa für die Schweiz. Schon 1928 hatten deshalb El Lissitzky und zwei weitere vorgesehene Delegierte nicht an der CIAM-Konferenz in La Sarraz teilnehmen können, und jetzt erhielten Eisenstein und seine beiden Genossen auch keine regulären Visa. Da kam die Rettung in Person von Lazar Wechsler, der sich gerade anschickte, mit seiner 1924 gegründeten Praesens-Film der führende Produzent des frühen Schweizer Films zu werden. Wechsler war zufällig gerade in Berlin, und als er von Eisensteins Problem hörte, erbot er sich, die drei Russen mit seiner Limousine über die Grenze zu bringen. Über die genauen Umstände des Grenzübertritts kursieren schöne Geschichten. Laut der Eisenstein-Biografin Oksana Bulgakowa gab Wechsler die drei Russen an der Grenze als seine Söhne aus. Das klingt allerdings wenig plausibel, schließlich war Wechsler gerade mal ein bzw. zwei Jahre älter als Tissé und Eisenstein. Ebenfalls bei Bulgakowa findet man die Behauptung, Wechsler habe an der Grenze darauf bestanden, dass sein Auto so etwas wie eine (ziemlich mobile) Immobilie sei, also rollender Privatgrund, und dafür brauche es überhaupt keine Visa. Ob er wirklich mit dieser eigenwilligen Argumentation die Schweizer Grenzer überzeugen konnte, sei dahingestellt, aber jedenfalls schaffte er es irgendwie, die Russen nach La Sarraz zu chauffieren. Sie kamen am 4. September an, dem zweiten Kongresstag.

Auch Auriol gehört zu den Guten - die um den Arm gewickelte Ausgabe
von Du cinéma beweist es. Eine Schreibmaschine wird zum Maschinengewehr
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Wechsler hatte sich als Gegenleistung ausbedungen, dass die drei für ihn einen Film in der Schweiz drehen sollten, der Propaganda gegen die Schweizer Abtreibungsgesetze machen sollte, die damals (wie fast überall in Europa) sehr streng waren. Auch diesen Film, der schließlich unter dem Titel FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK realisiert wurde, hätte ursprünglich eigentlich Dsiga Wertow drehen sollen. Nach Ankunft in La Sarraz waren die bürokratischen Hemmnisse noch nicht vorbei. Die Polizei wusste von Anfang an über die Anwesenheit der Russen Bescheid und hätte sie sofort wieder abschieben können. Doch laut Oksana Bulgakowa war der zuständige Kommandeur ein Fan von Eisenstein und erteilte deshalb eine Sondererlaubnis. Laut Arnold Kohler waren allerdings erst hartnäckige Verhandlungen seitens Hélène de Mandrot nötig, die ihre erstklassigen Beziehungen spielen ließ. Aber jedenfalls erhielten die Russen eine Sondergenehmigung, allerdings unter der Auflage, das Gelände des Château nicht zu verlassen. Dagegen verstießen sie aber nach dem Kongress, als sie in Zürich FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK drehten (sie wohnten dort bei Wechsler), und Eisenstein ließ es sich auch nicht nehmen, in Zürich den einen oder anderen Vortrag zu halten. Das ging natürlich nicht ohne Aufsehen, und schließlich verloren die Schweizer Behörden die Geduld. Am 18. September wurden die Russen mit sofortiger Wirkung ausgewiesen, und schon am nächsten Tag waren sie wieder in Berlin. Die bürokratischen Schikanen veranlassten einige von Eisensteins Freunden zu ironischen Bemerkungen. Hans Richter etwa schrieb 1967 in "Köpfe und Hinterköpfe": "Die Schweizer Fremdenpolizei, in Besorgnis, was S.M. Eisenstein, dieser weltberühmte Russe, eventuell an Weltrevolutionen anstellen möchte, hatte ihm ausdrücklich verboten, sich auch nur einen Schritt ohne spezielle Erlaubnis von Madame de Mandrots Schloß zu entfernen. Man konnte ja nie wissen?" Noch süffisanter Léon Moussinac in einem Brief an Eisenstein: "Wer weiß, was diese Bolschewiki alles anstellen können! Womöglich stürzen sie die Regierung oder entführen den Genfer See, um ihn ins Asowsche Meer zu gießen."

Neben den offiziellen Delegierten nahmen noch zwei Mitarbeiter von Du cinéma als Dolmetscher teil: André R. Maugé für Englisch und Jean Lenauer für Deutsch. Der in Wien geborene Lenauer (1904-1983) war auch einer der beiden Pariser Korrespondenten von Close Up (sein Bericht über den Kongress erschien in der Ausgabe vom Oktober 1929). 1936 übersiedelte er in die USA, und wenige Jahre vor seinem Tod ging er unter die Schauspieler: In Louis Malles MY DINNER WITH ANDRE spielte er den Kellner. Mit seiner Aufgabe als Übersetzer stieß er jedoch zumindest beim anspruchsvollen Vortrag von Eisenstein über "Nachahmung [in der Kunst] als Beherrschung" (den dieser auf Deutsch hielt) an seine Grenzen, wie Kohler 1963 berichtete: "In weiser Voraussicht hatte Robert Aron für alle Fälle einen jungen Mann mitgebracht, der als Übersetzer dienen sollte. Ach! Besagter junger Mann, der keine Erfahrung in diesem schwierigen Metier besaß und schon gleich zu Beginn den besonders schwierigen Eisenstein dolmetschen sollte, verfiel in ein totales Abracadabra. Nach drei Sätzen stimmten diejenigen, die Deutsch konnten, ein solches Protestgeschrei an, daß der Unglückliche seine Glanzleistung abbrach. Allerdings rächte er sich dafür. In die Enge getrieben, war keiner von uns Germanisten in der Lage, ihn zu ersetzen. So blieb der Vortrag von Eisenstein für zwei Drittel der Kongreßteilnehmer unverständlich."

Am einen oder anderen Kongresstag waren auch Gäste im Château anwesend, die eingeladen wurden oder aus eigenem Antrieb vorbeischauten: Neben Wechsler beispielsweise die Schriftsteller Paul Budry und Charles-Ferdinand Ramuz, der Genfer Maler Gustave François, der Zeichner und Karikaturist Géa Augsbourg und der Werbegrafiker und Maler Pierre Zénobel (1905-96), der ein Vertrauter von Mme de Mandrot war. Zénobels Anwesenheit erwies sich im Nachhinein als wichtig, weil er eine Menge Fotos von den Kongressteilnehmern und insbesondere von den Dreharbeiten zu DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ geschossen hat, die nun, da der Film selbst verschollen ist, wichtige und interessante Dokumente darstellen - hier sind einige davon versammelt, aber es gibt noch viel mehr. Es war aber auch ein professioneller Fotograf anwesend, Jéchiel Feldstein (bzw. Feldstein-Imbert) aus Lausanne (ursprünglich kam er aus Odessa), der einige Gruppenfotos der Teilnehmer anfertigte. Zumindest ein Foto bei den Dreharbeiten (mit Eisenstein, der Auriol instruiert) hat aber auch er geschossen, denn ein Set mit fünf Abzügen wurde 2009 für 1250 € versteigert. Wahrscheinlich haben auch einige der Kongressteilnehmer Fotos geknipst, aber die dürften in alle Winde zerstreut sein. Aber die Fotos von Feldstein und Zénobel, die nach dem Kongress in La Sarraz verblieben, befinden sich heute in der Obhut der Cinémathèque suisse in Lausanne.

Gruppenbild mit Dame


Foto von Jéchiel Feldstein (Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Links stehend Robert Aron; jeweils von links nach rechts: hintere Reihe Jean George Auriol, André R. Maugé, Arnold Kohler, Jack Isaacs, Fritz Rosenfeld, Enrico Prampolini, Montgomery Evans, Moichiro Tsuchiya; mittlere Reihe Ivor Montagu, Alberto Sartoris, Jean Lenauer, Alfred Masset, Robert Guye, Mannus Franken, Georg Schmidt; vordere Reihe Léon Moussinac, Walter Ruttmann, Béla Balázs, Sergej Eisenstein, Hiroshi Higo, Hans Richter; ganz vorne Grigori Alexandrow, Eduard Tissé, Janine Bouissounouse. Es fehlen Alberto Cavalcanti und Ernesto Giménez Caballero. Identifizierung der Abgebildeten nach Roland Cosandey.

Debatten und Ergebnisse


Am ersten Kongresstag erstatteten zunächst die Delegationen Bericht, wie es um den unabhhängigen Film im jeweiligen Land bestellt sei. Positiv war die Situation in den Niederlanden, in der Schweiz und in Großbritannien, wo es erfolgreiche, mitgliederstarke Filmclubs bzw. -ligen gab, und wo man auch wenig oder gar nicht unter Zensur oder Kontingentierung (also Quotenregelungen, was die Einfuhr ausländischer Filme betraf) litt. Auch in den USA zeigte die Entwicklung nach oben, aber für alle anderen Länder wurde die Situation als eher schlecht bis düster dargestellt. Dann ging man ans eigentliche Arbeitsprogramm (das, wie oben schon angedeutet, teilweise schon im Voraus festgelegt war): Es sollte eine unabhängige Produktionsgesellschaft auf genossenschaftlicher Basis gegründet werden, die die Produktion von Avantgardefilmen frei von kommerziellen Zwängen ermöglichen sollte; es sollte eine weitere Organisation ins Leben gerufen werden, die die internationale Distribution unabhängiger Filme gewährleisten sollte; und es sollte die Frage von Zensur und Kontingentierung erörtert werden. Zu diesen Zwecken wurden die Delegierten auf drei Arbeitsgruppen verteilt. Bei den Debatten kam es zu Meinungsverschiedenheiten darüber, was genau eigentlich ein "unabhänhgiger Film" sein soll. Dabei ging es vor allem darum, wie massenkompatibel so ein Film sein kann, darf oder muss. Die Hauptantipoden waren dabei Balázs und Richter. Balázs drängte darauf, dass auch Avantgardefilme ein möglichst großes Publikum erreichen sollten. "Falls das Wort 'unabhängig' die gleiche Bedeutung wie 'abstrakt' bekäme, könne der Kongreß seine Arbeit auch gleich einstellen", so Balázs nach einem Kongressbericht von Mannus Franken. Richter dagegen erklärte den Spielfilm für "überwunden" und meinte, ein Avantgardefilmer müsse nicht die geringste Rücksicht auf den Massengeschmack nehmen. Letztlich konnte man sich bei der Definition von "unabhängiger Film" nur auf eine ziemlich blumige, aber wenig trennscharfe Formel von Aron einigen: "Der unabhängige Film muss sein wie ein Eisenbahnunglück - das heißt, er erklärt sich nicht, er wird gespürt." Balázs hatte übrigens auch Einwände gegen den oben erwähnten Vortrag von Eisenstein (er war einer derjenigen, die ihn verstanden). Eisenstein konstruierte darin einen Gegensatz zwischen dem (oberflächlichen) Erscheinungsbild und dem "Wesen" der Dinge, und er forderte, dass sich filmische Nachahmung auf den zweiten und nicht den ersten Punkt konzentrieren müsse. Balázs hielt diesen konstruierten Gegensatz für eine Illusion. In seinem 1930 erschienenen Buch "Der Geist des Films" ging er darauf ein und bezeichnete Eisenstein diesbezüglich als "rettungslos kantianischen Dualisten". Hans Richter hinwiederum bezeichnete Balázs eine Woche nach dem Kongress in einem Brief an Dsiga Wertow (mit dem er befreundet war) als "Spielfilmreaktionär", und er unterstrich das Wort sogar.

Es gab also ideologischen Streit, aber bei den organisatorischen Aufgaben, die man sich gesetzt hatte, kam man ans Ziel. Es wurde ein internationaler Dachverband der Filmligen und Ciné-Clubs (Ligue Internationale du Film Indépendant) mit (vorläufigem) Sitz in Genf gegründet, der den gegenseitigen, internationalen Austausch von Avantgardefilmen bewerkstelligen sollte. Als Vorbild für Organisationsform und Statuten diente die Niederländische Filmliga und der Ciné club de Genève. Mitgliedsländer waren zunächst Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Spanien, Schweiz und die USA. In den anderen am Kongress teilnehmenden Ländern gab es wohl gar nicht ausreichend Filmclubs, um überhaupt beitreten zu können. Auch die avisierte Produktionsgenossenschaft wurde gegründet, die Coopérative du Film Indépendant, mit Sitz in Paris - allerdings noch nicht mit Kapital ausgestattet, das musste erst aufgetrieben werden. Etwas überrascht hat mich der Teil der Schlussresolution, der sich mit Zensur und Kontingentierung beschäftigt:
1) Neben den Zensurbestimmungen, die für kommerzielle Kinos gelten, soll eine spezielle, weniger strenge Zensurbestimmung eingeführt werden. Diese soll für Kinos und Organisationen gelten, die regelmäßig unabhängige Filme spielen. Das dementsprechend kleinere und ausgewähltere Publikum stellt vom moralischen und politischen Standpunkt her nicht die gleiche Gefahr dar, wie das Publikum der anderen Kinos.

2) Für Filme, die für Vorführungen in Kinos und für spezialisierte Organisationen bestimmt sind, soll sich die Frage der Kontingentierung nicht stellen. Das sehr beschränkte Publikum dieser Kinos kann für die nationale Produktion keine Gefahr darstellen.

3) Aus den gleichen Gründen soll die Billettsteuer für die Filme, die für die gleichen Organisationen oder Kinos bestimmt sind, abgeschafft oder erweitert werden.
Man fordert also Exemtion nur für sich selbst, die Existenz, um nicht zu sagen Notwendigkeit, einer "normalen" Filmzensur wird dagegen anerkannt. Ich hätte eigentlich das Gegenteil erwartet, nämlich die Forderung nach einer allgemeinen Abschaffung oder zumindest Lockerung der Filmzensur.

Die japanische Hilfstruppe des Kommerzfilms (Moichiro Tsuchiya) - am Ende bleibt nur Harakiri
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Nicht alle Delegierten hatten Lust, den stundenlangen Debatten vom Anfang bis zum Ende beizuwohnen. Arnold Kohler schrieb in seinem Text von 1963: "Wenn die Diskussionen unergiebig wurden, sind wir, er [Moussinac] und ich, im Auto auf und davon, um die Landschaft zu erkunden (Romainmôtier wurde von uns bevorzugt). Ein anderes Mal sind wir frühmorgens losgezogen, um Krebse zu fangen ...". Wie schon erwähnt, gab es auch ein Filmprogramm, und La Sarraz wurde damit zu so etwas wie einem frühen Filmfestival, bevor es diesen Begriff überhaupt gab (das erste "richtige" Festival, das von Venedig, fand 1932 zum ersten Mal statt). Das Programm war nach Herkunftsländern der Filme geordnet. Am 3. September waren die USA und Großbritannien auf dem Spielplan, da wurde u.a. THE FALL OF THE HOUSE OF USHER von Watson & Webber, Len Lyes erster Film TUSALAVA, THE LOVE OF ZERO des Exilfranzosen Robert Florey und auch Filme von heute vergessenen Leuten wie der schöne PRELUDE (aka RACHMANINOV'S PRELUDE IN C SHARP MINOR) von Castleton Knight gezeigt. Am 4. September war Holland und Frankreich an der Reihe. Es liefen UN CHIEN ANDALOU von Luis Buñuel & Salvador Dalí, L'ETOILE DE MER von Man Ray, sowie DE BRUG von Joris Ivens und REGEN von Ivens und Mannus Franken. Am 5. war nochmals Frankreich in Gestalt von zwei Filmen Cavalcantis an der Reihe sowie Deutschland mit drei Filmen von Hans Richter und drei kurzen Naturdokumentationen des heute weitgehend vergessenen, aber seinerzeit sehr produktiven Ulrich K.T. Schultz. Am 6. lief JÛJIRO (IM SCHATTEN DES YOSHIWARA) von Teinosuke Kinugasa (der 1926 mit dem famosen expressionistischen EINE SEITE DES WAHNSINNS Aufsehen erregt hatte), es scheint aber nicht klar zu sein, ob er ganz oder nur in Auszügen gezeigt wurde, und es scheint nochmals eine Kompilation französischer Werke gegeben zu haben. Das bisher genannte Programm war den Kongressteilnehmern vorbehalten, aber am 6. September gab es zusätzlich eine öffentliche Vorführung für die Bevölkerung von La Sarraz, in der ein schweizerischer Dokumentarfilm über die RHÔNE, ein Film von Germaine Dulac und nochmals REGEN und DE BRUG sowie die Filme von Schultz gezeigt wurden. Das bisher von mir aufgezählte Programm scheint gesichert zu sein, darüber hinaus listen einige Quellen weitere Filme auf, die gelaufen sein sollen, etwa Eggelings DIAGONAL-SYMPHONIE, Dsiga Wertows EIN SECHSTEL DER ERDE, Eisensteins DIE GENERALLINIE (aka DAS ALTE UND DAS NEUE), Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT, der surrealistische LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN von Germaine Dulac und RIEN QUE LES HEURES von Cavalcanti.

La Sarraz wird erstürmt


Am Vormittag des 5. September hatten die Debatten Pause, denn da wurde ein Film gedreht. "Zur Stunde tagt der Kongress nicht. Der Kongress amüsiert sich" schrieb Eisenstein (vielleicht in Anspielung auf den Wiener Kongress) dazu in seinen Memoiren. Die Idee dazu hatte nach einer Version (die z.B. Montagu in seinem Eisenstein-Buch vertrat) Eisenstein, Hans Richter dagegen schreibt sie sich in "Köpfe und Hinterköpfe" selbst zu, und Georg Schmidt schrieb in einem Text von 1959, dass es ein gemeinsamer Entschluss von ihm, Richter und Eisenstein gewesen sei. Auch bei der Frage, wer Regie führte, gibt es unterschiedliche Versionen. Laut Lenauers Artikel in Close Up war es Eisenstein allein, aber meist wird die Regie Eisenstein und Richter gemeinsam zugeschrieben. "Die Regisseure sind Eisenstein und Hans Richter", hieß es etwa am 1. Oktober in der Zeitschrift Le Cinéma Suisse. Kohler wiederum schrieb 1963, dass Eisenstein, Richter, Ruttmann und Franken jeweils eine Episode des kurzen Films inszeniert hätten. Worum ging es? Der Geist des unabhängigen Films (gespielt von Janine Bouissounouse in einem weißen Nachthemd) ist gefangen in den Klauen des Kommerzfilms, vertreten durch den Kommandanten von dessen Armee (Béla Balázs), Ritter Blaubart (Jack Isaacs in einer Ritterrüstung) und weiteren Bösewichtern. Da eilt die Armee des unabhängigen Films herbei, angeführt von deren General Don Quijote (Eisenstein auf einem uralten Filmprojektor sitzend), auch Moussinac (als D'Artagnan), Richter und Auriol gehören dazu, und es gibt auf beiden Seiten weitere Protagonisten, alle von Kongressteilnehmern gespielt. Nach kurzem, aber heftigem Kampf siegen die Guten, und der Film wird aus den Fängen des Kommerzes befreit!

Wenn man Eisenstein glaubt, waren die Dreharbeiten für Janine Bouissounouse nicht ganz ungefährlich: "Und der von mir in D'Artagnan verwandelte Moussinac steigt aufs Dach, um den Qualen der armen Mademoiselle Bouissounouse ein Ende zu bereiten, unter deren Füßen die alten Dachziegel wegrutschen und sowohl sie als auch das Kameragestell Eduard Tissés in die Tiefe mitzureißen drohen." Zur Ausstattung des Films wurden vorübergehend die Rittersäle und die Truhen des Château geplündert und Rüstungen, Schwerter, Lanzen, Tücher, Straußenfedern und dergleichen in den Schlosspark geschafft. Bezüglich der Frage, inwieweit Hélène de Mandrot darüber informiert war, gibt es wieder recht unterschiedliche Versionen. In der Darstellung von Hans Richter wurde de Mandrots vorübergehende Abwesenheit ausgenutzt, und als sie zurückkehrte, soll sie wegen der "Entweihung dieser Familienheiligtümer für unser Fabelspiel" sehr zerknirscht gewesen sein und in Hinkunft nichts mehr mit Filmleuten zu tun haben wollen. In Georg Schmidts Version von 1959 hingegen wurde er in aller Frühe, als er mit dem Ausräumen des Rittersaals begonnen hatte, von Mme de Mandrot (im Nachthemd, "wie ein Gespenst") überrascht. Als er auf ihre Frage, was das soll, antwortete, dass Eisenstein und Richter einen Film drehen wollen, gab sie ihre Zustimmung nur unter der Bedingung, dass am Abend wieder alles an Ort und Stelle ist, denn für den nächsten Tag war eine Inspektion durch eine Kommission des Denkmalsamts angesagt. Und in Eisensteins Memoiren liest sich das ganze so: "Die hochbetagte [hu? sie war 61], aber 'geistig ewig junge' Madame de Mandrot erstarrt jeden Augenblick vor Entsetzen darüber, wie man mit ihren Familienreliquien umspringt, beim Anblick des zertrampelten Rasens, der geknickten Geranien und des von Hellebarden zerschundenen wilden Weins. Letzten Endes aber lässt sich die nette Dame selbst mitreißen: eigenhändig bringt sie aus ihrer altertümlichen Truhe die von uns benötigten Laken für irgendeine Gespensterepisode und bewirtet die vor Hitze vergehenden Geharnischten, wie es dazumal den Kreuzfahrern erging, mit diversen wunderbaren Erfrischungsgetränken."

Eisenstein präpariert Moussinac als D'Artagnan
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Wer glaubt, dass es mit den verschiedenen Versionen bezüglich dieser oder jener Frage nun aber ein Ende haben müsse, sieht sich getäuscht, denn das Beste kommt erst noch. DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ, wie der Film auf Deutsch meist genannt wird, wurde in Europa nie vorgeführt, und er verschwand hier schon direkt nach dem Kongress spurlos. Auch die allermeisten Kongressteilnehmer sahen ihn nie und waren völlig ratlos, was seinen Verbleib betraf. Und, wie könnte es anders sein, im Lauf der Jahre und Jahrzehnte kursierten verschiedene Theorien über sein Verschwinden. In Eisensteins Memoiren (die er von 1940-46 verfasste) findet sich diese kurze Notiz: "Unser schöner Film aber ist in irgendeinem der unzähligen Zollämter, die das bunte und vielschichtige Bild Europas in ein System einzelner Staaten zerteilen, verlorengegangen ...". Das ist alles - kein konkreter Hinweis, um welche Grenze oder gar um welches Zollamt es sich handelte, so dass sich keine Anhaltspunkte für Nachforschungen ergeben. Ganz anders liest sich die Geschichte ohnehin in Hans Richters Memoiren: "Was aus unserem La Sarraz-Film geworden ist, der in der Tat ein Dokument ersten Ranges, wenn auch dadaistischer Färbung gewesen wäre, weiß niemand. S.M. [Eisenstein] beschuldigte mich, daß ich ihn nach Deutschland gebracht hätte, wohingegen ich genau wußte, daß er mit Tissés Kamera und Magazin nach Zürich zu Herrn Wechslers "Praesensfilm" gewandert sein mußte, um dort entwickelt und kopiert zu werden. Meiner Meinung nach hat Eisenstein ihn irgendwo in einer Pension unter dem Bett stehen lassen [...]". Richters Einwand, dass der Film zunächst in Zürich gelandet sein muss, klingt plausibel, denn Tissé war der Kameramann beim Dreh (wobei in manchen Quellen noch Ruttmann als zweiter Kameramann genannt wird), und die Einrichtungen der Praesens-Film waren die erste geeignete Anlaufstelle zur Entwicklung des Films. Lazar Wechsler hätte die Kosten für die (im Vergleich zu FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK) wenigen zusätzlichen Minuten sicher anstandslos übernommen - doch irgendwelche Belege gibt es nicht. Es gibt übrigens noch eine Variante der Version mit Richter als Beschuldigtem - nach dieser hätte er den Film im Zug vergessen, als er nach England fuhr (wo sich einige Wochen nach dem Kongress mehrere der Beteiligten wieder trafen).

Doch es wird noch spektakulärer. Bei Richter geht es nämlich noch weiter: "Wie dem auch sei, der La Sarraz-Film war und blieb verschwunden, ohne ein weiteres Lebenszeichen von sich zu geben ... bis im Jahr 1963 ein Genfer Skeptiker, A.C. in der Tribune de Genève, eine Lösung des Rätsels anbot mit der Überschrift "Le film du Congrès de La Sarraz n'a jamais existé" [Der Film des Kongresses von La Sarraz hat nie existiert]: Tissé habe auf Eisensteins Anordnung (sie hatten kein Geld, um Filme zu kaufen) mit leerer Kassette gedreht! Das ist nicht unmöglich. Eisenstein hatte von seiner Heimat keine Kopeke mitbekommen, und das genügte in der Tat nicht, Rohfilme zu kaufen. Aber auch wenn Wechsler ihm Rohfilme zur Verfügung gestellt hätte, wäre es fraglich, ob er wertvolles Rohmaterial für so ephemere Zwecke hätte verwenden wollen. Denn so sah es doch damals aus? Sehr schade!" Richter hat die Theorie, der Film sei nie gedreht worden, also nicht erfunden (auch wenn das gelegentlich so dargestellt wird), aber er scheint sie dann irgendwann geglaubt oder zumindest für möglich gehalten zu haben. Wie das allerdings mit der im selben Buch geäußerten Pensionsbetttheorie unter einen Hut passt, erschließt sich mir nicht. Es wäre interessant zu wissen, wer "A.C." war und wie er (oder sie) zu dieser Theorie kam. Von den Kongressteilnehmern passen die Initialen auf Cavalcanti, aber der war es wohl eher nicht. Vielleicht handelte es sich einfach nur um einen Wichtigtuer.

Denn die Theorie, der Film habe nie existiert, ist ohnehin hinfällig. Seit geraumer Zeit weiß man nämlich, dass DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ am 13. Juni 1930 in Tokio gezeigt wurde, und zwar unter dem prosaischen Titel KOKUSAI DOKURITSU EIGA KAIGI, was schlicht INTERNATIONALER KONGRESS DES UNABHÄNGIGEN FILMS bedeutet, gemeinsam mit anderen Filmen in einer Abendveranstaltung der proletarischen Filmliga Pro-Kino (der, wie erwähnt, Hiroshi Higo angehörte). Mindestens zwei japanische Zeitungen oder Zeitschriften (Proletaria Film und Shingo Eiga) berichteten damals darüber, und es ist sogar das Freigabedokument der japanischen Zensur vom 11. Juni erhalten, aus dem hervorgeht, dass es sich um eine 16mm-Kopie mit einer Länge von 61 Metern handelte. Man kennt nicht die Vorführgeschwindigkeit bei dieser Veranstaltung, bei 18 Bildern pro Sekunde würden 61 m einer Laufzeit von 7:26 Minuten entsprechen, bei 24 Bildern pro Sekunde wären es 5:34 Minuten. Der Film hat also existiert, aber damit sind nicht alle genannten Theorien über sein Verschwinden widerlegt. Die Kamera, die Tissé auf der Reise bei sich führte, war eine Debrie für 35mm, und in diesem Format wurde der Film somit gedreht. Es wäre wenig plausibel, wenn man davon nur eine 16mm-Kopie angefertigt und dann das Negativ weggeworfen hätte. Wahrscheinlicher wäre, dass Eisenstein das Negativ zunächst behielt und ein Positiv in 16mm anfertigen ließ, vielleicht auch eines in 35mm. Das hätte in Zürich bei Praesens-Film geschehen können, vielleicht auch später in einem Labor in Berlin oder gar noch später in Paris. Hiroshi Higo stach erst am 28. Oktober 1929 von Neapel aus gen Japan in See, also auch wenn er die Kopie gleich selbst mitgenommen hätte (von einigen anderen Filmen ist sicher, dass er Kopien mitnahm), wäre genug Zeit für die eine oder andere Variante gewesen. Es ist also sehr wohl möglich, dass das Negativ oder ein 35mm-Positiv in den bürokratischen Mühlen des Zolls verlorenging - oder in einem Zug oder unter einem Pensionsbett vergessen wurde. Nach dem Juni 1930 verliert sich auch in Japan die Spur des Films, und er blieb seitdem verschollen. Aber wie heißt es doch in solchen Fällen immer in der IMDb: Please check your attic!

Wie es weiterging


Die organisatorischen Strukturen, die 1929 in La Sarraz ins Leben gerufen wurden, waren weit kurzlebiger als die der Architekten vom Vorjahr. Vom 27. November bis zum 1. Dezember 1930 fand in Brüssel der zweite (und letzte) Internationale Kongress des Unabhängigen Films statt. Veranstaltungsort war das Palais des Beaux-Arts. Zu den Teilnehmern zählten Charles Dekeukeleire und Henri Storck, Joris Ivens, Boris Kaufman, Jean Painlevé, Jean Vigo, Germaine Dulac, Oswell Blakeston sowie erneut Hans Richter, Robert Aron, Jean George Auriol und Léon Moussinac, und weitere Delegierte. Schon in La Sarraz wurde eigentlich eine belgische Delegation erwartet, der Storck hätte angehören sollen (vielleicht auch Dekeukeleire, aber darüber liegen mir keine Informationen vor), aber die ist aus mir nicht bekannten Gründen nicht erschienen. Auch in Brüssel gab es Filmvorführungen, gezeigt wurde dort auch BORDERLINE. Die Mehrzahl der Delegierten in La Sarraz stand politisch links, einige waren sogar Kommunisten, mindestens zwei der Südeuropäer, Prampolini und Giménez Caballero, standen dagegen ziemlich weit rechts außen (über Sartoris' damalige politische Einstellung weiß ich nichts). Um den Kongress nicht von vornherein an politischen Gegensätzen scheitern zu lassen, wurde das Thema Politik in La Sarraz strikt ausgeklammert. Das aber goutierten nicht alle Delegierten, und nun, beim zweiten Kongress in Brüssel, brachen die Gegensätze offen aus. Die Mehrzahl der Delegierten (besonders prononciert etwa Richter) plädierten dafür, dass der unabhängige Film einen Beitrag zur Eindämmung des Faschismus leisten solle. Das aber führte zum Auszug der italienischen und der spanischen Delegation und zum raschen Zerfall der erst in La Sarraz gegründeten Organisationen. So blieb von La Sarraz außer der Symbolwirkung nur eine Verstärkung der persönlichen Kontakte eines Teils der Teilnehmer. Für viele schien es so, als sei auch der Avantgardefilm selbst an einem Endpunkt angekommen. Das lag nicht nur an den politischen Gegensätzen, sondern auch am Einbruch des Tonfilms. Der war ja auch schon 1929 voll im Gang (wenn man von wenigen Ländern wie Japan absieht), aber die Filme, um die es in La Sarraz ging, waren im Wesentlichen noch Stummfilme. Zwar wurde das Thema Tonfilm nicht ausgeklammert (Ruttmann und Balázs hielten Vorträge darüber), fand aber wohl doch nicht die gebührende Beachtung. Einige Teilnehmer meinten möglicherweise, in den geschützten Biotopen der Ciné-Clubs könne der Stummfilm dauerhaft Widerstand leisten, aber das war eine Illusion. Der Tonfilm aber brachte eine deutliche Verteuerung mit sich, die es Avantgardefilmern und ambitionierten Amateuren deutlich schwerer machte als bisher. Trotzdem war der unabhängige Film natürlich nicht am Ende, aber der Schwerpunkt verlagerte sich langsam von Europa in die USA. In den 30er Jahren, dem Jahrzehnt des New Deal, gab es dort unabhängige linke Filmkooperativen wie die Film and Photo League, Nykino oder Frontier Films, und ab den 40er Jahren trat eine neue Generation von Avantgardisten hervor (Maya Deren, Marie Menken, Kenneth Anger, Stan Brakhage etc.), die freilich nicht aus dem Nichts kam, sondern auch schon in den 20er Jahren ihre Vorläufer hatte, wie etwa das unverzichtbare DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 belegt. Der Avantgardefilm war also Ende 1930 nicht tot, aber zumindest in Europa erlebte er eine deutliche Zäsur. Aber der kurzfristige Aufbruch von La Sarraz verdient doch etwas mehr Bekanntheit, als es derzeit (außerhalb der Schweiz) der Fall ist.