ONE OF THE MISSING
UK 1969
Regie: Tony Scott
Darsteller: Stephen Edwards (James Clavering)
Im August 1863, im Süden Georgias, während des amerikanischen Bürgerkriegs: der Soldat James Clavering wird zur Aufklärung in Feindesgebiet geschickt. Dort versteckt er sich in einer Häuserruine und beobachtet eine feindliche Einheit, die sich gerade zum Aufbruch bereit macht. Deren Artillerie verschießt kurz vor dem Weiterziehen eine überflüssige Kanonenladung und der Schuss trifft ausgerechnet die Ruine, in der sich James versteckt hat. Der Aufklärungssoldat wird unter einem Haufen Trümmer vergraben. Als er wieder aufwacht, kann er sich unter dem Geröll kaum bewegen – schlimmer: sein eigenes Gewehr, ebenfalls begraben unter Trümmern, ist direkt auf ihn gerichtet. In dem Versuch, sich aus dem Schutt zu befreien, ohne dabei das Gewehr zum Abschuss zu bringen, verliert James nach und nach den Verstand...
James Clavering in Aufklärungsmission. Ein feindlicher Kanonenschuss bringt ihn in eine missliche Lage. (Der Soldat im Vordergrund oben rechts wird übrigens von Ridley Scott gespielt) |
1969 war der 25-jährige angehende Maler Anthony Scott ein Absolvent des Sunderland Colleges und belegte am Leeds College of Art einen Malerei-Lehrgang. In dieser Zeit trat der Künstler an den BFI Production Board heran, um sein erstes Filmprojekt, eine Adaption der Kurzgeschichte „One Of The Missing“ von Ambrose Bierce, zu finanzieren. Das British Film Institute vergab schon seit Anfang der 1950er Jahre Zuschüsse an junge Regisseure und genehmigte Scott 750 £ (die Summe wurde später auf 1100 £ erhöht) für seinen ersten Film ONE OF THE MISSING.
Scott fungierte als Regisseur, Produzent, Autor, Kameramann und Cutter. Seine Schauspieler waren allesamt Laien, die meisten von ihnen, inklusive Hauptdarsteller Stephen Edwards, Kommilitonen Scotts am Leeds College of Art. Auch Scotts älterer Bruder Ridley wirkte als Darsteller (als einer der gegnerischen Soldaten) mit. In dessen Debütfilm BOY AND BICYCLE, gedreht 1961/62, veröffentlicht 1965, hatte Tony selbst wiederum die Hauptrolle gespielt.
ONE OF THE MISSING wurde an der Filmabteilung des Leeds College fertig gestellt und erlebte seine Premiere im Januar 1969 am National Film Theatre in London. Der nicht einmal 30 Minuten lange Film wurde zu einem kleinen Hit: er gastierte auf 19 Filmfestivals und räumte dort auch zahlreiche Preise ab. Ein 35mm-Blowup (der Film wurde auf 16mm gedreht) kam schließlich in die britischen Kinos.
James gerät zunehmend in Panik |
Ein britischer Kunststudent dreht einen im Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelten Film – und nannte einen Ungarn als größte Inspirationsquelle! Es scheint merkwürdig, dass Tony Scott, bekannt als Blockbuster-Regisseur von Hollywood-Actionfilmen, in Interviews in den späten 1960er Jahren ausgerechnet Jancsó Miklos als Vorbild nannte. Die Ähnlichkeiten liegen aber auf der Hand: in ONE OF THE MISSING wie in vielen Jancsó-Filmen laufen uniformierte Männer durch eine leere und merkwürdig abstrakte Landschaft, die zwar historisch datiert ist, aber auch völlig von Zeit und Ort enthoben zu sein scheint. Mit viel Vorstellungskraft kann man ONE OF THE MISSING als Western sehen, doch die Verortung der Situation im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt im Grunde keine Rolle – genauso wie es auch bei Jancsó zwischen dem Post-1848-Ungarn, dem antiken Griechenland und Russland während des Bürgerkriegs nur sehr graduelle Unterschiede gibt. Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK („The Round-Up“ / „Die Hoffnungslosen“), in dem Gefangene in der ungarischen Steppe nach 1848 systematisch schikaniert, gefoltert und getötet werden, lief tatsächlich im November 1966 in den britischen Kinos. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Scott ihn in dieser Zeit sah. Neben der abstrahierten Handlung teilt ONE OF THE MISSING eine Besonderheit mit SZEGÉNYLEGÉNYEK: die zirpenden Vögel als Soundkulisse.
„Narrative frustrates me. I would like to move away from it to create an inner continuity of mood, to use costume and landscape the way Jancso does.“ Hier liegt nach Ignatiy Vishnevetsky, dessen großartigen und zutiefst leidenschaftlichen Artikel „Smearing the Senses: Tony Scott, Action Painter“ ich schon in anderen Artikeln bei Whoknows Presents zitierte, auch trotz der äußerlichen Unterschiede die Gemeinsamkeiten Jancsós und Scotts: die Abstrahierung der Handlung durch halluzinatorische Bilder – was Scott, so Vishnevetsky, in den viel geschmähten Filmen seiner späten „abstrakt-impressionistischen“ Phase erreichte (ENEMY OF THE STATE, SPY GAME, MAN ON FIRE, DOMINO, DÉJÀ VU, THE TAKING OF PELHAM 1 2 3). Und vielleicht tatsächlich gegen Ende von ONE OF THE MISSING.
James verliert schließlich den Verstand – und stirbt. |
Die Unterschiede liegen bei ONE OF THE MISSING trotzdem noch etwas deutlicher auf der Hand: hier gibt es keine kunstvoll choreografierten, „tanzenden“ Plansequenzen wie bei Jancsó, sondern eher viele kurze Tableaus, ab und zu kleine Schwenks und langsame Zoom-Ins und Zoom-Outs. Abgesehen von einigen Wortfetzen im Hintergrund hat ONE OF THE MISSING keine Dialoge. Musik, in Form elektronisch verfremdeter Akkorde, gibt es nur bei den kurzen Träumen bzw. Visionen des Soldaten. Das Sound-Design des Films ist nichtsdestotrotz bemerkenswert. Erwähnt wurde bereits das Vogelgezwitscher in den Eingangsszenen, als James Clavering durch den Wald schleicht: das wirkt durch die Waldkulisse weniger befremdlich als in Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK (wo das Vogelgezwitscher besonders irritierend ist, weil: wo soll es denn Waldvögel in der nackten Steppe geben), aber dennoch extrem stilisiert. Als der Soldat unter den Trümmern begraben wird, kommt das entnervende Geräusch summender Fliegen hinzu: die Idylle der singenden Vögel war eine illusorische Idylle, jetzt übernehmen die Fliegen (die für Verfall stehen). Als der Soldat zunehmend verzweifelt und den Verstand verliert, kommt sein eigenes Stöhnen, schließlich sein Schreien hinzu.
Mit dem zunehmenden Wahnsinn löst sich ONE OF THE MISSING nach und nach auf. Zunehmend schnelle Schnittfrequenz und die verzweifelt „suchenden“ Point-of-View-Shots münden schließlich darin, dass sich die Kamera, den Soldaten im Visier, wild um die eigene Achse dreht. Die Bildauflösungen des späten, „abstrakt-impressionistischen“ Scotts, etwa in MAN ON FIRE und besonders in DOMINO, sind also wenn man will schon in ONE OF THE MISSING angelegt.
LOVING MEMORY
UK 1971
Regie: Tony Scott
Darsteller: Rosamund Greenwood (die alte Frau), Roy Evans (Ambrose), David Pugh (der junge tote Mann)
In LOVING MEMORY von 1971 ist ein anderer, späterer Film Scotts auch thematisch bereits vorweggenommen, aber dazu gleich mehr...
Ein tödlicher Unfall leitet eine außergewöhnliche Begegnung ein... |
Hier beginnt nun die rührend-traurige Beziehung zwischen dem toten Radfahrer und der alten Frau. Sie kann den jungen Mann von Anfang an gut leiden, denn er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit James! James ist ein Verwandter der älteren Dame (ob älterer Bruder, jüngerer Bruder oder gar Sohn, bleibt unklar) und sie lässt es sich nicht nehmen, ihrem „Gast“ vieles von James zu erzählen. Wie er in den Krieg zog (welcher Weltkrieg wird nicht klar: LOVING MEMORY spielt nicht in einer eindeutig bestimmbaren Zeit) und sein Flugzeug abgeschossen wurde – den Propeller des abgeschossenen Flugzeugs nahm der Kriegsversehrte dann mit nach Hause und hing ihn an der Decke der Dachkammer auf. Dann wurde James krank und starb schließlich. Die alte Dame sagt nicht sterben, sondern: „He slept for a long time before Ambrose took him up the hill.“ James lag also möglicherweise mehrere Tage tot im Haus, bevor er von Ambrose auf einem Hügel in der Nähe begraben wurde (offensichtlich ohne jegliche vorangehende Meldung an die Behörden).
Die alte Frau kümmert sich auf rührende Weise um ihren Gast: wäscht ihn, trinkt mit ihm Tee, sieht sich mit ihm alte Fotoalben an... |
...währenddessen arbeitet Ambrose tagsüber in einer Mine – und bereitet nach der Arbeit den Sarg für den Hausgast vor. |
LOVING MEMORY hatte wie Scotts erster Film seine Premiere am National Film Theatre in London und wurde darauf in die Kritikerwochen des Cannes-Festivals 1971 aufgenommen. Bei Filmfestivals lief er mit gutem Erfolg, kam in Großbritannien jedoch nicht in die Kinos. Die nekrophile Thematik des Films galt den hiesigen Verleihen wohl als zu heikel. Des weiteren war LOVING MEMORY mit seiner Laufzeit von 52 Minuten schwer vermarktbar: zu lang für einen Kurzfilm und zu kurz für einen „richtigen“ abendfüllenden Langfilm. Mit Ausnahme der englisch-sprachigen Episode L‘AUTEUR DE BELTRAFFIO (in der Rosamund Greenwood auch mitspielte) für die französisch-britische TV-Serie NOUVELLES DE HENRY JAMES im Jahr 1976 wandte sich Tony Scott für lange Zeit vom narrativen Film ab und drehte Werbespots für Scott Free Films. Sein nächster Kinofilm (und erster „abendfüllender“ Film), THE HUNGER mit David Bowie, Catherine Deneuve und Susan Sarandon, kam erst 1983 heraus – zugleich seine Eintrittskarte für Hollywood.
Der Arbeitstitel von LOVING MEMORY lautete EARLY ONE MORNING, und im Gegensatz zu ONE OF THE MISSING wirkte nun eine professionelle Filmcrew mit. Gefilmt wurde auf 35mm. Scott selbst übernahm wieder einen Teil der Fotografie, doch der überwiegende Teil wurde von Chris Menges gefilmt, der Ken Loachs KES fotografiert hatte und später in Großbritannien wie auch in Hollywood zum begehrten DoP wurde. Die Bilder von LOVING MEMORY sind schwelgerisch, nostalgisch, teilweise etwas überbelichtet, mit eher schwachen Kontrasten – sicherlich einer der Gründe dafür, weshalb der Film praktisch keinerlei Gedanken zulässt, dass man einem Horrorfilm oder etwas wirklich Bedrohlichem zuschaut. Nachdem der „Gast“ in dem Sessel in der Dachkammer installiert wurde, gibt es auch nur noch selten harte Schnitte, sondern fast nur noch Überblendungen, die eine Szene in die nächste sanft fließen lassen.
James' Geist beherrscht das Haus und die Gedanken der alten Dame. |
Irgendwie scheint es für die meisten Leute, die über den Film schreiben, völlig klar zu sein, dass die alte Dame und Ambrose Geschwister sind – ich sehe dafür im Film selbst keine konkreten Hinweise (sollte ich eine kleine Nuance in den Monologen bzw. in den Untertiteln verpasst haben, bitte ich das Folgende zu ignorieren oder zumindest nicht auf die Goldwaage zu legen). Auf Anhieb wäre es meiner Meinung nach tatsächlich naheliegend, die alte Frau und Ambrose als Ehegatten zu sehen – und James, von dem sie erzählt, als ihr verstorbener Sohn. Über direkte Verwandtschaftsverhältnisse spricht die alte Frau nur in Bezug auf „mom“ und „dad“, die sie kurz erwähnt, und die James auch kannte – aber keine Hinweise, dass es auch Ambroses und James‘ Eltern waren. So bleibt der einzige, aber nicht film-immanente Hinweis das Exposé, das Scott dem BFI Production Board mit dem Finanzierungsantrag vorlegte, und in dem es heißt, dass James der ältere Bruder von Ambrose und „Jessica“ (so der Name der Frau im Entwurf) gewesen sei. Das im Film wirklich festzumachen, scheint mir fast unmöglich, zumal LOVING MEMORY von jeglicher Zeit enthoben zu sein scheint. Die Handlung könnte in den späten 1930er ebenso angesiedelt sein wie in den späten 1950er Jahren. James‘ Geist, von dem die alte Frau geradezu beseelt ist, bleibt zeitlos: seine Fotografien sind irgendwie alt – aber wie alt? Der junge Mann, der James einmal war – wie alt wäre er in der Jetztzeit der Filmhandlung? Zeit ist in LOVING MEMORY, ebenso wie die verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren, relativ und auch dehnbar, teils aufgehoben. Dazu trägt auch bei, dass alles im Film zirkular zu verlaufen scheint: ein Kreislauf aus Tod, kurzzeitige Wiederauferstehung und Beerdigung. Manche Bilder und kleine Handlungen werden immer wieder reimhaft wiederholt: Ambrose, der eine Pendeluhr im Wohnzimmer aufzieht, die alte Frau, die eine alte Platte auflegt oder verträumt aus dem Fenster schaut, und natürlich ihre vielen „Gespräche“ mit dem Radler in der Dachkammer.
Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem toten jungen Mann... |
...variiert in DÉJÀ VU: Doug verliebt sich in die tote Claire am Autopsietisch, entwickelt eine Obsession für ihre Bilder und rettet sie schließlich mit einer High-Tech-Kamera. |
LOVING MEMORY ist als Hauptfilm zusammen mit ONE OF THE MISSING und Ridley Scotts BOY AND BICYCLE als Bonusfilme auf einer wunderschönen DVD-Blu-ray-Dual-Edition des British Film Institutes erschienen. Bild und Ton sind zumindest auf der DVD exzellent (die Blu-ray kann ich nicht beurteilen), aber trotzdem nicht zur Sterilität kaputt restauriert. Als Beigabe gibt es ein Booklet mit zwei Essays (über die frühen Filme von Tony und Ridley Scott sowie über deren Arbeitsbeziehung zum British Film Institute), aus denen ich einige Infos zu den Produktionsumständen entnommen habe. Das Büchlein wird mit einem Artikel aus dem Magazin „Time Out“ von 1970 mit einigen O-Tönen von Tony Scott sowie je einem Faksimile von Scotts Exposé zu LOVING MEMORY und einer Seite aus dem Drehbuch von BOY AND BICYCLE ergänzt.
DÉJÀ VU ist in vielen DVD-Editionen erhältlich. Egal welche Edition: ein Double-Feature mit LOVING MEMORY wird von mir wärmstens empfohlen!