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Sonntag, 1. Januar 2017

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt [und hier ist er schon]). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt [schon da], will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Samstag, 19. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 1

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

DAS STAHLTIER
Deutschland 1935/1954
Regie: Willy Zielke
Darsteller: Aribert Mog (Claaßen), Max Schreck (Cugnot), Laiendarsteller

ANN-KATHRIN KRAMER HAT NACH AHNENFORSCHUNG HERAUSGEFUNDEN
Leni Riefenstahl ließ meinen Onkel zwangssterilisieren
SCHAUSPIELERIN ANN-KATHRIN KRAMER ERFORSCHTE DAS LEBEN IHRES ONKELS, DER TEILTE EIN DUNKLES GEHEIMNIS MIT HITLERS LIEBLINGSREGISSEURIN

So vermeldeten Bild am Sonntag und Bild.de im März 2010. Besagter "Onkel" (der in Wirklichkeit Ann-Kathrin Kramers Großonkel war) hieß Willy Zielke, und er war der Regisseur des Films, um den es hier auch (aber nicht nur) gehen soll. Was war geschehen?

Das Stahltier

Zurück ins Jahr 1934: Willy Zielke unterzeichnet einen ungewöhnlichen Vertrag mit der Deutschen Reichsbahn. Im Dezember 1835 war die 6 km lange Eisenbahnstrecke Nürnberg-Fürth mit der Jungfernfahrt der "Adler" eröffnet worden. Aufgrund des bevorstehenden hundertjährigen Jubiläums waren für 1935 umfangreiche Feierlichkeiten geplant. Neben einer Ausstellung und einer Parade sollte es auch einen künstlerisch anspruchsvollen Jubiläumsfilm geben, der am Tag der Eröffnung der Ausstellung in einer Gala-Premiere vor geladenen Gästen in Nürnberg gezeigt werden sollte. Die Durchführung der Jubiläumsfeierlichkeiten, und damit auch die Herstellung des Films, wurde von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn an die Gruppenverwaltung Bayern übertragen, die eine gewisse föderale Selbständigkeit genoss. Mit der Regie des Films wurde Willy Zielke betraut.

Claaßen erhält einen Anruf

Zielke wurde 1902 als Sohn deutscher Eltern in Łódź geboren, das damals zum Zarenreich gehörte. Er studierte zwei Jahre Eisenbahn-Ingenieurwesen an der Universität Taschkent im heutigen Usbekistan, aber Anfang der 20er Jahre musste er die Sowjetunion verlassen und zog nach München. Dort studierte er Fotografie, beeindruckt von der avantgardistischen sowjetischen Fotokunst, und nachdem er die Meisterklasse absolviert hatte, wurde er schnell selbst Dozent an der Münchner Foto-Akademie und ein gefragter künstlerischer Fotograf im Stil der Neuen Sachlichkeit. Zu seinen Spezialitäten zählten kunstvoll arrangierte und fotografierte Glasobjekte, aber er beschäftigte sich auch mit Portrait- und Aktfotografie. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn als Fotograf zählt die Teilnahme an der Werkbund-Ausstellung "FiFo 1929" in Stuttgart. 1931/32 experimentiert er mit einer 16mm-Kamera, die der Foto-Akademie zur Verfügung gestellt wurde, und dreht in Eigenregie drei Kurzdokumentationen, die alle verschollen sind. Sein erster Auftragsfilm ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN entstand 1933 für ein Arbeitslosenheim der Firma Maffei. Der Film war zunächst sozialkritisch ausgerichtet und prangerte die Arbeitslosigkeit an, doch 1933 änderten sich bekanntlich die Zeiten. Das Arbeitslosenheim unterstand jetzt der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, und die wünschte eine andere Tendenz des Films, nämlich eine, die die "Errungenschaften" der Nazis bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit herausstellte. Zielke willigt ein - er stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber. Wie weit seine Sympathien dafür genau gingen, weiß ich nicht, aber man darf aus dem späteren Verbot von DAS STAHLTIER und Zielkes Zwangsunterbringung in der Psychiatrie keinesfalls den Schluss ziehen, er sei ein Gegner der Nazis gewesen. Zielke schneidet also ARBEITSLOS um, ändert den Schluss und verpasst dem Film den neuen Titel DIE WAHRHEIT. In den Schluss fügt Zielke ein dynamisch in Großaufnahme gefilmtes Treibrad einer Lokomotive ein. Bei den Dreharbeiten dazu lernt er Albert Gollwitzer kennen, den neuen Präsidenten der Reichsbahndirektion München. Gollwitzer, seit Oktober 1933 in seinem neuen Amt, war ein überzeugter Nazi - in seiner Antrittsrede ließ er verlauten, er "werde im Sinne Adolf Hitlers arbeiten und nicht rasten, bis nationalsozialistischer Geist die Reichsbahn in ihre letzten Winkel durchdringt". Gollwitzer war von der Szene mit dem Treibrad in DIE WAHRHEIT angetan, und er war es, der Zielke den Auftrag zum Jubiläumsfilm verschaffte.

Abstraktion durch mehrfache Überblendung

Zielke reichte ein Exposé ein, das von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn genehmigt wurde, und im Juli 1934 wurde der Vertrag unterzeichnet. Das Exposé sah für den Film drei thematische Teile vor: Geschichte der Eisenbahn, Herstellung einer Lokomotive, und eine "Fahrtsymphonie". Letzteres klingt an Walther (seit 1929 Walter) Ruttmanns Klassiker BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT von 1927 an, der das Genre der "Großstadtsymphonien" prägte. Tatsächlich gibt es darin auch schon eine "Fahrtsymphonie". Am Anfang dieses Films werden grafische balkenförmige Elemente in sich schließende Bahnschranken überblendet, dann braust ein Zug heran und fährt in einer dreiminütigen Sequenz durch Vorstädte in die Hauptstadt ein, wobei Ruttmann eine äußerst dynamische Montage einsetzt, unterstützt von der schnittgenauen, stakkatohaften Musik von Edmund Meisel (die seinerzeit zu polemischen Kontroversen führte). Mit der Geschwindigkeit des Zuges verlangsamt sich auch die Schnittfolge, aber zumindest die erste Minute dieser Sequenz kann als Prototyp dafür dienen, was Zielke für seine Fahrtsymphonie vorschwebte. Im Exposé wandte sich Zielke ausdrücklich gegen "die korrekten belehrenden Kulturfilme", stattdessen wollte er einen "absoluten Film" drehen. Das schien sich mit den Intentionen der Reichsbahn zu treffen, die einen künstlerischen Film wünschte. "Absoluter Film" war seit den 20er Jahren in etwa ein Synonym für das, was man heute als abstrakten Film bezeichnen würde. Dazu zählten grafisch-abstrakte Filme wie OPUS I bis OPUS IV von Ruttmann, RHYTHMUS 21 (aka FILM IST RHYTHMUS) von Hans Richter und DIAGONAL-SYMPHONIE von Viking Eggeling, aber auch Filme mit bis zur Abstraktion verfremdeten Realaufnahmen, wie BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger in Frankreich drehten, und selbst Filme, die man heute eher als dadaistisch oder surrealistisch bezeichnen würde, wie René Clairs ENTR'ACTE. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass die Bewegung an sich als Quintessenz der Kunstform Film verstanden wird. Die Herren von der Reichsbahn hätten eigentlich ahnen können, dass sich Zielkes Vorstellungen vielleicht doch nicht ganz mit ihren eigenen deckten.

Rangierarbeiter

Wie schon erwähnt, war es ein ungewöhnlicher Vertrag, den Zielke abschloss. Er war Produzent, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion, und er besaß volle künstlerische Freiheit, sogar das Recht auf den final cut. Wörtlich hieß es im Vertrag: "An dem Film darf ohne eine Zustimmung des Herrn Zielke eine Änderung nicht vorgenommen werden." Das bewilligte Budget betrug zunächst 50.000 Reichsmark, zuzüglich Sach- und Personalleistungen durch die Reichsbahn. Eine dieser Leistungen bestand darin, dass Zielke einen eigenen Aufnahmezug zur Verfügung gestellt bekam. Dieser bestand aus fünf Waggons: Ein Wohnwagen für Zielke und seinen Aufnahmeleiter Hubs Flöter (einer von Zielkes Schülern an der Münchner Foto-Akademie), ein weiterer für das restliche Personal, ein Waggon für die Filmgerätschaften, einer mit einem benzingetriebenen Stromgenerator für die Scheinwerfer, und schließlich ein offener Tieflader als "rollendes Stativ", mit dem Zielke weitgehend erschütterungsfreie Fahrtaufnahmen von einem tiefen Standpunkt aus machen konnte. Der Zug war weiß gestrichen und in Rot auf allen Waggons mit "TONFILM: DAS STAHLTIER" beschriftet. Auf seinen beiden größeren Fahrten von München aus (die erste nach Köln, Oberhausen und Kassel, die zweite nach Berlin) diente der Zug so auch als PR-Vehikel für die Dreharbeiten. Ein weiteres Privileg Zielkes war es, dass er für die eisenbahngeschichtlichen Episoden auf fahrtüchtige originalgetreue Nachbauten der historischen Lokomotiven zurückgreifen konnte, z.B. einen Nachbau der "Puffing Billy" aus dem Deutschen Museum in München.

Claaßen packt mit an und macht sich dreckig

Zielke gliederte seinen Film in eine Rahmenhandlung, in die sechs historische Episoden eingebettet sind, sowie in mehrere furiose Montage-Sequenzen. Nach der ruhigen Anfangssequenz, in der Aufnahmen von Schienen, Leitungen und sonstigem Bahngerät durch vielfache Überblendung zu quasi-abstrakten grafischen Mustern verschwimmen, geht es danach mit der ersten Montage-Sequenz so richtig los. Gewidmet ist sie der Herstellung einer Dampflokomotive - Punkt zwei in Zielkes Exposé. Es gibt keinen wohlgeordneten Ablauf zu sehen, sondern einzelne Stufen werden herausgegriffen - von der Stahlherstellung (gefilmt in einer Stahlhütte in Oberhausen) bis zur Endmontage einer Lok (gefilmt in den Henschel-Werken in Kassel) - und in geradezu dramatisch wirkenden Schnittfolgen montiert, akustisch untermalt durch die in diesem Abschnitt ziemlich brachiale Musik von Peter Kreuder, den Zielke als Komponisten für seinen Film gewinnen konnte. Heute kennt man Kreuder als Schöpfer von Schlagern ("Ich brauche keine Millionen"), Operetten- und leichter Filmmusik, aber damals war er auch in Jazz und Avantgardeklängen bewandert, und davon machte er im STAHLTIER gekonnt Gebrauch.

Rangierarbeiten: ENTHUSIASMUS (links oben), DAS STAHLTIER

Dann setzt die Rahmenhandlung ein. In seinem kleinen Büro auf einem Bahngelände in München brütet der junge Ingenieur Claaßen über technischen Zeichnungen, Formeln und Logarithmentafeln, hantiert mit Zirkel und Rechenschieber. Gespielt wird er von Aribert Mog, der heute nur noch wenig bekannt ist, obwohl er in durchaus erwähnenswerten Filmen Hauptrollen spielte, wie in Gustav Machatýs EKSTASE, seinerzeit ein Skandalfilm (wegen Nacktszenen von Hedy Lamarr, damals noch Hedy Kiesler), oder Frank Wisbars FÄHRMANN MARIA mit Sybille Schmitz. (Gustav Machatý war übrigens neben René Clair Zielkes Vorbild als Regisseur, wie er 1935 in einem Interview für eine Filmzeitschrift erzählte.) Mog war schon vor der Machtergreifung der Nazis Mitglied im antisemitischen "Kampfbund für deutsche Kultur" und in der gewerkschaftsähnlichen "Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation". Er fiel 1941 in Russland. - Claaßen erhält einen Anruf: Er wird zu einem mehrtägigen Praktikum auf einem Rangierbahnhof abkommandiert. Er freut sich über die Abwechslung und die frische Luft, und als krönender Abschluss winkt die Fahrprüfung auf einer Lokomotive. Claaßen gibt sich den Arbeitern gegenüber, mit denen er es jetzt zu tun hat, leutselig, doch die zeigen ihm zunächst die kalte Schulter. Aber er packt unaufgefordert mit an, und obwohl (oder vielleicht weil) er sich dabei ungeschickt anstellt, bricht er das Eis und wird in ihre Runde aufgenommen. Es gibt hier wieder eine kleinere Montage-Sequenz: Güterwaggons prallen beim Rangieren spektakulär aufeinander, wiederum eindrucksvoll akustisch untermalt, während die Arbeiter behände dazwischen herumspringen und die nötigen Handgriffe mit traumwandlerischer Sicherheit ausführen (umso schwerfälliger wirken die Darsteller bei ihren Dialogen). Gespielt werden die Arbeiter von Laiendarstellern, Arbeitern eines Bahnausbesserungswerks in München-Freimann, und in diesen Szenen sieht man, dass sie "vom Fach" sind. Für Bahnfremde wäre die Aufnahme dieser Szenen wohl lebensgefährlich gewesen.

Arbeitspause à la MENSCHEN AM SONNTAG

Aber der überwiegende Teil der Rahmenhandlung läuft ganz unspektakulär ab. Es werden alltägliche Aufgaben verrichtet, aber es wird auch ausgiebig Pause gemacht. Die Arbeiter sind keine arischen Helden der Arbeit, sondern Alltagstypen, die meisten nicht mehr ganz jung, mit Durchschnittsgesichtern, der eine ein dürrer Spargeltarzan, der nächste mit Zahnlücken, ein anderer mit Blumenkohlnase. Das Faulenzen, Brotzeitmachen und Herumjuxen an einem Teich wird von Zielke im Geist der Neuen Sachlichkeit dargestellt - Martin Loiperdinger, der einen lesenswerten Text über DAS STAHLTIER geschrieben hat (Quellen siehe Ende des zweiten Teils), vergleicht diese Szenen mit MENSCHEN AM SONNTAG (1930), wo man sich am Wannsee dem Nichtstun hingibt. Der "nationalsozialistische Geist", den Albert Gollwitzer in jedem Winkel der Reichsbahn walten lassen wollte, ist hierhin noch nicht vorgedrungen, und gerade deshalb vermitteln diese Szenen wohl einen realistischen Eindruck vom Alltag der Arbeiter. Überhaupt gibt es im ganzen Film außer einem "Heil Hitler!", als Claaßen zum erstenmal die Arbeiter begrüßt, keine Symbole des Nationalsozialismus zu sehen oder zu hören. Nun, einen kleinen "Ausrutscher" leistet sich Zielke aber doch: In einer Szene, in der Schienen verlegt werden, ist Claaßen mit nacktem Oberkörper und in heroisierender Untersicht gefilmt zu sehen - hier ist er plötzlich doch, der "arische Typus", wie er auch aus einem Film von Leni Riefenstahl stammen könnte, wenn auch nur für einige Sekunden. DAS STAHLTIER lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog, Aufnahme W. Zielke, links), DAS STAHLTIER

Bei verschiedenen Gelegenheiten erzählt Claaßen den Arbeitern Episoden aus der Frühzeit der Eisenbahn, und damit sind wir bei der Eisenbahngeschichte, Punkt eins in Zielkes Exposé. Es handelt sich um folgende Episoden:
Bauernaufstand von Caston Hill
1813 rotten sich abergläubische Bauern zusammen, um drei Landvermesser der Eisenbahn zu verjagen, weil sie fürchten, dass das neumodische "Teufelswerk" die Ernte und das Vieh bedroht. Zwei der Landvermesser suchen das Weite, der dritte bleibt standhaft, aber er wird verprügelt und muss versprechen, nie mehr Land zu vermessen.

James/John Waters
Der Ingenieur James Waters (bei Zielke, in Wirklichkeit John Waters) baut 1812 eine Lokomotive mit einem riesigen Schwungrad und einem komplizierten Zahnradantrieb. Doch die Konstruktion klemmt, das Gefährt will sich nicht in Bewegung setzen. Durch den eigenen Ehrgeiz und hämische Zuschauer unvorsichtig geworden, hantiert Waters so lange daran herum, bis es zur Explosion kommt. Obwohl ihm das Ding aus unmittelbarer Nähe um die Ohren fliegt, erleidet Waters in der Manier einer Slapstick- oder Comicfigur nur leichte Blessuren.

Puffing Billy
Die 1814 von William Hedley gebaute Lokomotive "Puffing Billy" verkehrte Jahrzehnte zuverlässig zwischen einer Kohlegrube und einem Hafen in Nordengland. Sie ist die älteste erhaltene Lokomotive überhaupt.

Cugnot
Der französische Artillerie-Offizier Nicolas-Joseph Cugnot konstruierte 1769 (bei Zielke 1770) einen mit Dampf betriebenen Wagen - eigentlich keine Lokomotive, sondern ein frühes Automobil. Das merkwürdige Gefährt setzt sich tatsächlich in Bewegung, doch eine Probefahrt endet im Debakel: Der schwer lenkbare Wagen rammt schnurstracks eine Kasernenmauer.

Rocket
Die von George und Robert Stephenson (bei Zielke einfach nur ein "Stephenson") konstruierte Lokomotive "Rocket" fuhr ab 1830 für die Liverpool and Manchester Railway, nachdem sie 1829 das Rennen von Rainhill gegen vier Konkurrenten für sich entschied. Doch der Triumph wurde von einer Tragödie überschattet: Bei der feierlichen Eröffnung der Strecke wurde ein Parlamentsabgeordneter aus Liverpool von der Rocket erfasst und tödlich verletzt.

Adler
Der Anlass des Films, und die einzige Episode, die in Deutschland angesiedelt ist. Doch auch die "Adler" ist eine englische Konstruktion von Vater und Sohn Stephenson, und der "Dampfwagenlenker" war ein Mr. William Wilson. Diese Episode endet nicht in einer kleineren oder größeren Katastrophe, sondern in allgemeinem Wohlgefallen.
Die Landvermesser von Caston Hill (l.o.), J. Waters (r.o.), Puffing Billy (mitte),
die Adler und ihr "Dampfwagenlenker" Mr. Wilson (unten)


An diesen Episoden, die ebenso wie die Rahmenhandlung im Norden Münchens gefilmt wurden, gibt es manches auszusetzen. Die Handlung ist jedesmal schlicht (was bei der Kürze von jeweils wenigen Minuten nicht verwundert), die Darsteller agieren entweder steif oder übertrieben, die Dialoge sind meist gestelzt, und ein Teil der Kulissen sieht schon sehr nach Sperrholz aus. Fast schon peinlich und unfreiwillig komisch wirkt es, wenn die Darsteller von Waters und Cugnot mit aufgesetztem englischen bzw. französischen Akzent sprechen. Cugnot wird übrigens von keinem Geringeren als Max Schreck gespielt, der sich durch die Hauptrolle in F.W. Murnaus NOSFERATU unsterblich machte. In den mir bekannten Filmographien Schrecks kommt DAS STAHLTIER nicht vor, er ist es aber wirklich. In den Credits am Anfang des Films wird von den Darstellern nur Aribert Mog genannt, aber in Zielkes Nachlass, der im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt wird, findet sich ein Foto von den Dreharbeiten, das Zielke und Cugnot auf einer Lokomotive zeigt, und das mit "Führerstand 18 507 mit Zielke und Max Schreck (Cugnot)" beschriftet ist. Somit ist DAS STAHLTIER einer der letzten Filme von Schreck, der im Februar 1936 starb. - Die historischen Episoden sind keineswegs durchgehend schlecht. Sobald keine Dialoge zu meistern sind, sondern die historischen Lokomotiven oder größere Menschenmassen bewegt werden, gelingen Zielke auch hier flüssige Sequenzen, und Kreuders Musik setzt einige eigenwillige Akzente. Dennoch sind dies die am wenigsten gelungenen Teile des Films. - Die historischen Szenen wurden Ende 1934 in einer Probevorführung vor Reichsbahn-Führungspersonal gezeigt, und Generaldirektor Julius Dorpmüller war davon beeindruckt. Das nutzte Zielkes Mentor Albert Gollwitzer zu einem Vorstoß: Auf seinen Vorschlag hin wurde Zielkes Budget von 50.000 auf 100.000 RM verdoppelt, und auch die vorgesehene Laufzeit verlängerte sich beträchtlich. Das wurde im Januar 1935 in einem Zusatzvertrag festgehalten.

Cugnots Wagen rammt eine Mauer

Am Ende der Rahmenhandlung steht Claaßens Fahrprüfung, und damit die "Fahrtsymphonie". Einen Fahrprüfer gibt es nicht zu sehen, und Claaßen selbst spielt eigentlich auch keine Rolle - im Mittelpunkt steht die Lokomotive (eine S 3/6 mit der Betriebsnummer 18 507, die Zielke zwei oder drei Monate zur Verfügung stand) und die Bewegung. Hier, im Bereich des "absoluten Films", war Zielke wieder voll in seinem Element. Die ca. fünfminütige Sequenz ist furios. Schon der Auftakt ist ein Knüller: Zielke montierte die Kamera direkt an einem Rad der Lokomotive, so dass sie sich zu drehen beginnt, sobald die Lok anfährt. So rotiert das Bild um die Sichtachse, immer schneller, denn die Lok nimmt schnell Fahrt auf, insgesamt ca. 15 mal, bevor umgeschnitten wird. Es gibt Nahaufnahmen der komplizierten und wuchtigen Antriebsmechanik der Dampflok, von Schienen und Weichen, über die die tief montierte Kamera hinweggleitet, und die schnell vorüberhuschende Landschaft, alles sehr dynamisch geschnitten. Im ersten Teil bilden reale Geräusche den Soundtrack, dann setzt wieder Kreuders Musik ein, rhythmisch stampfend die Dampfmaschine imitierend.

Cugnot (Max Schreck) und seine Frau, nochmals Cugnot - und ein Hauch NOSFERATU

Für den Film als das künstlerische Medium der Bewegung war die Eisenbahn schon immer ein dankbares Sujet. Während der in einen Bahnhof einfahrende Zug, den die Brüder Lumière 1895 filmten, kameratechnisch noch eine statische Angelegenheit war, montierte schon um 1898 Billy Bitzer, der spätere Kameramann von D.W. Griffith, seine Kamera auf den Kuhfänger an der Front einer Lokomotive. In Abel Gances monumentalem Epos LA ROUE von 1923 gibt es äußerst dynamisch geschnittene Eisenbahnszenen, einige Schnittfolgen dauern gar nur einen einzigen Frame. Nachdem dieser Film 1926 in Russland gezeigt wurde, beeinflusste er die sowjetischen Montagemeister um Eisenstein. Und dort - abgesehen von der erwähnten kurzen Sequenz am Anfang von Ruttmanns BERLIN - findet man am ehesten Vorbilder für die "absoluten" Teile von Zielkes Film, etwa bei Werken von Dsiga Wertow wie DER MANN MIT DER KAMERA und insbesondere DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS (1930), Wertows erstem Tonfilm. Darin gibt es Szenen aus einem Schwerindustrie-Revier, in denen Bild und Ton ähnlich auf den Zuschauer einprügeln wie Zielkes Sequenz der Stahlerzeugung in Oberhausen, es gibt Bilder, die durch mehrfache Überlagerung zu quasi-abstrakten Grafiken verschwimmen, und es gibt auch einige Eisenbahn-Szenen, die denen von Zielke ähneln, etwa Weichen, über die die knapp über dem Boden schwebende Kamera hinweggleitet. Insgesamt aber dürfte DAS STAHLTIER zumindest auf das Thema Eisenbahn bezogen bis dahin den Höhepunkt des absoluten Films dargestellt haben.

DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS

Gleichwertige Nachfolger sind ebenfalls dünn gesät. Der prominenteste dürfte Jean Mitrys PACIFIC 231 sein. Der zehnminütige Kurzfilm des Filmtheoretikers Mitry, eine seiner wenigen praktischen Arbeiten, zeigt die Fahrt eines von einer Dampflok gezogenen Zuges zwischen zwei Bahnhöfen in ähnlich "absoluter" Manier wie Zielkes "Fahrtsymphonie". In den Credits wird darauf hingewiesen, dass man den Film nicht als Dokumentation, sondern als Essay verstehen soll. Es gibt auch eine schnittgenaue Musik, ähnlich wie die von Edmund Meisel für Ruttmann und die von Kreuder für Zielke. Sie stammt vom schweizerisch-französischen Komponisten Arthur Honegger und trägt denselben Titel wie der Film. Allerdings wurde hier nicht die Musik zum Film geschrieben, sondern der Film zur Musik gedreht bzw. geschnitten, denn Honeggers Stück entstand bereits 1923 (kurz zuvor hatte Honegger auch die Originalmusik für Gances LA ROUE geschrieben).

Ein Bildmotiv, vier Filme: BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT (l.o.), ENTHUSIASMUS
(r.o.), PACIFIC 231 (l.u.), DAS STAHLTIER

Manches an PACIFIC 231 erinnert frappant an DAS STAHLTIER. Natürlich drängen sich bei solchen Filmen manche Bildideen auf, etwa, die Kamera unter einem der vorderen Puffer der Lok zu befestigen und sie so knapp über den Schienen hinweggleiten zu lassen, oder die Kamera zwischen oder knapp neben den Schienen einzugraben und den Zug darüber hinwegbrausen zu lassen. Dennoch frage ich mich, ob Mitry DAS STAHLTIER gekannt haben könnte, bevor er PACIFIC 231 drehte. Ausgeschlossen ist das nicht. Zielke wies Anfang der 50er Jahre darauf hin, dass eine Kopie von DAS STAHLTIER 1945 von französischem Militär bei Leni Riefenstahl in Kitzbühel beschlagnahmt und nach Paris gebracht worden sei (eine andere Kopie soll laut Zielke nach Russland gebracht worden sein). Das ist durchaus plausibel. Riefenstahl besaß in Kitzbühel ein Haus, das auch als Zweigstelle ihrer Riefenstahl Film GmbH diente. Es gab dort Räume mit Ausrüstung für Filmschnitt, -vertonung und -vorführung. Riefenstahl arbeitete dort 1945 an der Endfertigung von TIEFLAND, fernab vom Bombenhagel in Berlin (sie wurde aber bis Kriegsende nicht fertig, weshalb dieser Film erst 1954 herauskam). Im Sommer 1945 wurde das Anwesen mitsamt dem darin befindlichen Filmmaterial von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, Riefenstahl nach Deutschland ausgewiesen und die Filme 1946 nach Paris gebracht. Um 1953 wurde DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française aufgefunden, offenbar das bei Riefenstahl sichergestellte Exemplar. Jean Mitry wiederum war neben Henri Langlois und Georges Franju einer der Gründer der Cinémathèque. Er kannte sich dort also aus und könnte irgendwann zwischen 1946 und 1949 DAS STAHLTIER zu Gesicht bekommen haben. Belege dafür sind mir aber nicht bekannt. Neben PACIFIC 231 sind noch SNOW (1963), RAIL (1966) und LOCOMOTION (1975) erwähnenswert, die Geoffrey Jones für British Transport Films, die damalige Filmabteilung der britischen Eisenbahn, gedreht hat, und die ebenfalls sehr dynamisch und nach musikalischen Prinzipien geschnittene Eisenbahnaufnahmen zeigen. LOCOMOTION ist auch wie DAS STAHLTIER ein Jubiläumsfilm, entstanden zum 150. Jahrestag der Stockton and Darlington Railway, mit der 1825 die Passagierbeförderung per Eisenbahn begann.

Antriebsräder: BERLIN (l.o.), PACIFIC 231 (r.o.), DAS STAHLTIER (unten)

Aber DAS STAHLTIER in seiner Mischung aus Bestandteilen, die eigentlich nicht zusammenpassen, ist wohl einzigartig. Neue Sachlichkeit, "absoluter Film", historische Spielszenen, expressionistische Licht- und Schattenspiele mit verkanteter Kamera, eine fast surrealistisch anmutende Tagtraumsequenz Claaßens. Einige Autoren haben zu Recht Zielkes Montageprinzipien vom russischen Konstruktivismus abgeleitet, andererseits erinnert die Verherrlichung von Stahl ("Der Stahl, die Zukunft und die Kraft!" ruft Claaßen einmal fast hysterisch aus), von mechanisierter Bewegung und Geschwindigkeit auch an den italienischen Futurismus mit seiner Nähe zum Faschismus. Wie schon geschrieben, dieser Film lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen - "DAS STAHLTIER ist wohl der wundersamste Film, der im Dritten Reich gedreht wurde." (Martin Loiperdinger)

Claaßen hat ein fast erotisches Verhältnis zum Stahl

DAS STAHLTIER ist in einer Reihe mit dem Titel "Eisenbahn Nostalgie" auf DVD erschienen. Das weckte gewisse Befürchtungen bei mir, und die haben sich bewahrheitet. Die Herausgeber ließen es sich nicht nehmen, ein ca. 20-seitiges Booklet beizulegen - das ausschließlich Eigenwerbung, aber nichts über Zielke oder seinen Film enthält. Auch auf der DVD selbst findet sich kein Bonusmaterial, nur drei Minuten Trailer für andere Filme, also wieder Eigenwerbung. Und auch der Text auf der Cover-Rückseite lässt zu wünschen übrig. Da findet sich kein Wort über das Verbot des Films auf Betreiben der Reichsbahn - nur ein schwammiges "Und das, obwohl dieser Film seinerzeit gar nicht in die Kinos kam" -, über Zielkes Schicksal in der Psychiatrie oder über die spätere Verstümmelung des Films auf Betreiben der Deutschen Bundesbahn. Wollte man der Bahn als Lizenzgeber nicht auf die Füße treten? Unnötig zu erwähnen, dass auch eine Bildrestauration nicht stattfand, obwohl teilweise sehr starke Abnutzungsspuren dies nötig gemacht hätten. So erfreulich es ist, dass DAS STAHLTIER überhaupt auf DVD erhältlich ist, diese DVD ist eine kläglich vergebene Chance. BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT und DIE DONBASS-SINFONIE - ENTHUSIASMUS sind auf ausgezeichneten DVDs der Edition Filmmuseum erschienen (so macht man das richtig!), PACIFIC 231 ist beispielsweise auf dem US-DVD-Set "Avant-Garde 2: Experimental Cinema 1928-1954" enthalten, und die Filme von Geoffrey Jones sind beim British Film Institute auf der empfehlenswerten DVD "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" erschienen.

Fahrtsymphonie