Dienstag, 23. September 2014

Psychorama: Der subliminale Horror!

MY WORLD DIES SCREAMING (auch TERROR IN THE HAUNTED HOUSE)
USA 1958
Regie: Harold Daniels
Darsteller: Cathy O'Donnell (Sheila Wayne Justin), Gerald Mohr (Philip Justin), William Ching (Mark Snell), John Qualen (Jonah), Barry Bernard (Dr. Forel)

Das unheimliche Haus
Die in der Schweiz lebende junge Amerikanerin Sheila Justin, gerade frisch verheiratet, wird regelmäßig von einem immer gleichen Albtraum ... huch, was war das? Da ist etwas im Bild aufgeflackert, was da offensichtlich nicht hingehört. Man konnte es nicht erkennen, aber da war etwas. Merkwürdig. Nochmal von vorn: Sheila wird also regelmäßig von einem Albtraum heimgesucht. Sie wird wie magisch von einem unheimlichen, verlassenen alten Haus angezogen. Sie kann sich nicht erinnern, das Haus tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, aber sie hat es im Traum deutlich vor Augen, und es ist immer das selbe. Laut Schild war es früher von einer Familie Tierney bewohnt, aber jetzt steht es leer. Unter einem inneren Zwang geht Sheila in das Haus, die Treppe empor bis zum Dachboden, wo eine unsagbare Gefahr auf sie lauert ... und dann wacht sie schreiend auf. Nanu, es hat schon wieder geflackert. Sehr merkwürdig. Ein Psychiater, der Sheila in Hypnose versetzt, kann ihr nicht weiterhelfen. Aber vielleicht nützt es ihr ja, wenn sie wie geplant mit ihrem Mann Philip ins sonnige Florida zieht. Sheila hat seit ihrer Kindheit in einem Schweizer Sanatorium gelebt, aber jetzt ist sie körperlich gesund. Philip hat sie erst vor kurzem kennen- und liebengelernt.

Sheila und Philip
Doch in Florida wird alles noch schlimmer: Das Haus, das Philip schon vorab in einer einsamen Gegend gemietet hat, ist genau das Haus aus Sheilas Albtraum! Sie erstarrt in Panik und will sofort wieder weg, doch Philip weist das erstaunlich schroff zurück. Das Ehepaar trifft auf den verschrobenen alten Sonderling Jonah, der das Haus hütet, als einziger Mensch weit und breit, nur von einem unheimlichen weißen Hund begleitet. Jonah will die beiden vertreiben, doch Philip besteht darauf, das Haus gemietet zu haben. Er lässt sich schließlich doch von Sheila überreden, wieder abzureisen, doch welch Zufall, der Wagen springt nicht an. Im Motor fehlt ein Bauteil, offenbar gestohlen, während die beiden im Haus waren. Wer außer Jonah käme dafür in Frage? Doch später in der Nacht, als Sheila allein im Zimmer ist, entdeckt sie zufällig das fehlende Motorteil in Philips Koffer. Was führt er im Schilde? Noch eine Entdeckung macht sie in dieser Nacht: In einer Familienchronik liest sie, dass die Tierneys von einem Wahnsinn befallen waren, der sich von Generation zu Generation fortsetzte. Und als grausiger Höhepunkt hat der alte Großvater Tierney an einem Tag im Jahr 1939 auf dem Dachboden alle anwesenden Familienmitglieder mit einer Axt erschlagen, bevor er selbst tot zusammenbrach. Sheila dämmert langsam, dass sie schon als Kind an diesem Ort war, aber ihre Erinnerungen bleiben nebelhaft.

Man beachte die Ratte - oder ist es ein Opossum? - im Mund dieses Herrn
Am nächsten Morgen erscheint Mark Snell, der von Jonah verständigte jetzige Besitzer des Hauses. Er trifft zunächst auf Sheila, bestreitet, das Haus vermietet zu haben, und fordert die sofortige Abreise des Paars. Aber als Philip hinzukommt, erweist es sich, dass er und Mark sich schon lange kennen. Und Sheila erfährt zu ihrer Verblüffung, dass Philip gar nicht Justin heißt, sondern Tierney, und dass er der Enkel des wahnsinnigen Mörders ist. In der nächsten Nacht spitzen sich die Ereignisse wieder zu. Will Philip im Stil eines Jack Torrance in SHINING das Werk seines Großvaters fortsetzen und neue Axtmorde begehen? Oder ist er vielleicht nur ein Schurke, der seine Frau im Stil von GASLICHT und MITTERNACHTSSPITZEN in den Wahnsinn treiben will? Es sei hier nur verraten, dass es keine übernatürliche Erklärung für die Geschehnisse gibt. Der Alternativtitel TERROR IN THE HAUNTED HOUSE, den der Film anlässlich einer Video-Veröffentlichung 1987 verpasst bekam, ist also nicht nur äußerst einfallslos, sondern auch irreführend. Ach ja: Auch in Florida hat es immer wieder geflackert.

Der merkwürdige Jonah ...
Eine übernatürliche Auflösung der Geschichte hätte schlecht dazu gepasst, dass MY WORLD DIES SCREAMING auf den damals allerneuesten Erkenntnissen der Wissenschaft aufbaute. Nun ja, mehr oder weniger. 1957 veröffentlichte der amerikanische Publizist Vance Packard sein Buch The Hidden Persuaders (dt. Die geheimen Verführer), in dem er sich kritisch mit modernen Methoden der Werbung und Beeinflussung und insbesondere mit der subliminalen Werbung auseinandersetzte - also mit Werbung in Film und Fernsehen, die so kurzzeitig präsentiert wird, dass sie zwar vom Auge erfasst, aber nicht bewusst wahrgenommen wird. Dabei bezog sich Packard auf die "Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie" des Werbefachmanns James Vicary, die in kürzester Zeit für weltweites Aufsehen sorgte. Danach soll die in Kinos für jeweils einige Sekundenbruchteile wiederholt in den Film eingeblendete Aufforderung, Popcorn und Cola zu bestellen, zu einer signifikanten Umsatzsteigerung der beiden Produkte geführt haben. Die allgemeine Aufregung um diese perfide Beeinflussungsmethode war groß. Vicarys Studie hatte allerdings einen klitzekleinen Schönheitsfehler: Sie existierte überhaupt nicht. Schon früh gab es Zweifel, und 1962 gab Vicary zu, dass er seine Ergebnisse frei erfunden hatte, um Werbung für sich und seine eigene Werbeagentur zu machen. Trotzdem gab es auch später noch Auseinandersetzungen um die subliminale Werbung, sowohl was die Wirksamkeit als auch was die ethische Vertretbarkeit betrifft.

... und sein unheimlicher Hund
1958 war der Hype noch auf dem Höhepunkt, und da blieb Hollywood nicht außen vor. Statt dem Zuschauer Kaufaufforderungen unterzujubeln, könnte man ihm ja auch Botschaften vermitteln, die die Wirkung des jeweiligen Films verstärken, beispielsweise einen Horrorfilm noch furchterregender machen. Es war keines der großen Studios, die diese aus heutiger Sicht eher dämliche Idee umsetzte, sondern eine Firma mit dem Namen Precon Process & Equipment Corporation, was wohl für preconscious processing (vorbewusste Verarbeitung) stehen sollte. MY WORLD DIES SCREAMING war der erste Film der Firma, und im Gegensatz zu den (vorgeblichen) Praktiken der Werbewirtschaft agierte man hier nicht im Geheimen, sondern hängte es an die große Glocke, was man da machte. Weil das mit einem griffigen Schlagwort am besten geht, erfand man dafür den Begriff "Psychorama", auch "Psycho-Rama" geschrieben. In der ursprünglichen Version von MY WORLD DIES SCREAMING wandte sich Hauptdarsteller Gerald Mohr vor und nach dem Film an das Publikum und erklärte, was da ablief. Dieser Vor- und Nachspann wurde bei der Neuveröffentlichung als TERROR IN THE HAUNTED HOUSE weggelassen, man kann sich aber eine ähnliche Einführung von Mohr zum Nachfolgefilm DATE WITH DEATH ansehen.

Gefälliges Spiel mit Licht und Schatten
Wie oben im Text schon angedeutet, sind die eingeblendeten Bilder und Texte in MY WORLD DIES SCREAMING nicht wirklich subliminal. Man erkennt zwar nicht, was es ist, aber auf YouTube (und wie man liest, auch auf DVD) bemerkt man sehr deutlich, dass da plötzlich etwas ist, was da nicht hingehört. Mag sein, dass es im Kino etwas weniger auffällig ist, aber für den bewussten Verstand wirklich unsichtbar ist es sicher auch dort nicht. Dazu müsste sich die Zeitspanne im unteren Millisekundenbereich bewegen, aber ein Kinobild dauert halt nun mal 1/24 Sekunde. Mit einem normalen Kinoprojektor geht das nicht schneller - man müsste zusätzlich spezielle Geräte einsetzen, sogenannte Tachistoskope. Aber das war natürlich nur in der Forschung, aber nicht im kommerziellen Kino-Einsatz tragbar. Auch aus einem anderen Grund war der Einsatz der Technik bei MY WORLD DIES SCREAMING eher unorthodox: Die eingeblendeten Bilder sind teilweise eher bescheuert als furchterregend - die hier präsentierten Beispiele sprechen für sich. Man fragt sich ohnehin, wie weit die Macher des Films überhaupt an die Wirkung ihrer unterschwelligen Bilder glaubten. Dass "Psychorama" eine Werbemasche war, ist klar, aber war es nur das? Oder war man bei Precon Process & Equipment von der Wirkung der "revolutionären Technik" überzeugt? Der Film selbst gibt darauf keine Antwort, aber die Firma entwickelte anscheinend auch Gerätschaften zur Umsetzung der Technik, und Hal Becker und Robert Corrigan, offenbar die Vordenker (und vielleicht Besitzer) von Precon Process & Equipment, veröffentlichten auch ein Buch zum Thema (Corrigan, R.E. / Becker, H.C.: Subliminal communication processes. Status and possibilities. New Orleans: Precon Process and Equipment Corp. 1958). Wie auch immer - die Masche lief sich schnell tot. 1959 produzierte die Firma noch den schon erwähnten Nachfolgefilm DATE WITH DEATH (wieder mit Harold Daniels als Regisseur und Gerald Mohr in der Hauptrolle, aber ohne Cathy O'Donnell), und das war es dann. Dennoch lebte die Idee gelegentlich wieder auf - man denke an den Penis in FIGHT CLUB.


Ich möchte MY WORLD DIES SCREAMING nicht schlechter machen, als er ist. Die Story ist nicht sehr originell, aber auch nicht wirklich schlecht, und Cathy O'Donnell und Gerald Mohr bieten in ihren Rollen durchaus ordentliche Leistungen. Mohr war ein grundsolider und umfassend gebildeter Schauspieler mit vielen Film- und später vor allem Fernsehrollen, und er war ein gefragter Radiosprecher mit mehr als 500 Auftritten. Seine Schauspielerlaufbahn begann er in New York in Orson Welles' Mercury Theatre (bei TOO MUCH JOHNSON hat er aber anscheinend nicht mitgespielt). Cathy O'Donnell hat weit weniger Rollen vorzuweisen, aber darunter befinden sich Hochkaräter wie THE BEST YEARS OF OUR LIVES von William Wyler (der kurz darauf ihr Schwager wurde), THEY LIVE BY NIGHT von Nicholas Ray, THE MAN FROM LARAMIE von Anthony Mann und als ihr letzter Kinofilm BEN HUR. Auch Regisseur Harold Daniels kann nur ein schmales Œuvre vorweisen, aber ohne für mich erkennbare Highlights (ich kenne aber außer MY WORLD DIES SCREAMING nichts davon). Ein Pluspunkt des Films ist die gelungene Kameraarbeit von Frederick E. West, der kompetent mit Licht und Schatten umgeht. Nichts Spektakuläres, nichts, was man nicht auch in vielen anderen Horror- (und älteren Noir-)Filmen sehen kann, aber gediegenes Handwerk. - Die 1987 auf Video veröffentlichte leicht gekürzte Fassung des Films gibt es auch auf DVD und auf YouTube.

Die Firma, die den Film auf Video herausbrachte, fügte subliminale Werbung
für sich selbst hinzu. Woher sie diese Idee nur hatten?

Samstag, 6. September 2014

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich seiner Aussage nach nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als Geschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf (so die offizielle Version - mehr dazu unten im Update). Wie jedermann einschließlich Welles selbst (oder doch nicht?) glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kops übernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hier überzeugt habe.

ZWEITES UPDATE: Wie der Welles-Experte Joseph McBride in diesem Artikel berichtet, hat sein spanischer Kollege Esteve Riambau in diesem August etwas Licht in die Frage gebracht, wie TOO MUCH JOHNSON überlebt haben könnte. Laut einem spanischen Zeitungsartikel von 1970 und Auskunft von Juan Cobos, der Welles' Regieassistent beim in Spanien gedrehten FALSTAFF (1965) war, gab es zwar ein Feuer in der Villa (die während einer längeren Abwesenheit von Welles von dem Schauspieler-Paar Robert Shaw und Mary Ure gemietet war), aber das war schnell gelöscht und betraf nur einen Raum, während die Filmrollen sicher im Keller lagerten. In seinen späteren Erzählungen hat Welles das Ausmaß des Feuers also stark übertrieben. Es scheint nun, dass Welles selbst, der 1969/70 einige Zeit in Rom arbeitete, die Filmrollen dorthin mitgenommen haben könnte (von wo sie später über Vicenza nach Pordenone kamen), sei es, um den Film fertig zu schneiden (vielleicht, um ihn Cotten zu schenken), sei es, um ihn vor neugierigen Filmhistorikern zu verbergen, die an der von ihm selbst lange verbreiteten Legende rüttelten, CITIZEN KANE sei sein erster Film gewesen (Welles war auch gar nicht froh, als McBride 1970 den lange verschollenen THE HEARTS OF AGE in einem Archiv aufstöberte). Welles könnte die Filmrollen in Rom zurückgelassen haben, als er etwas überstürzt abreiste, nachdem seine Affäre mit Oja Kodar bekannt wurde und ihm die Sensationspresse auf den Fersen war. Jedenfalls scheint Welles auch schon über TOO MUCH JOHNSON (wie über diverse andere Aspekte seines Lebens und Schaffens) ein Gespinst aus Legenden gestülpt zu haben, in dem sich auch seriöse Institutionen wie das George Eastman House und die National Film Preservation Foundation verfingen und deshalb teilweise falsche oder widersprüchliche Informationen verbreiten. Nach Rücksprache mit dem italienischen Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, der auch mit Pordenone verbunden ist, verlegt McBride die eigentliche Entdeckung und Identifizierung der Filmrollen auf Ende 2012. Das ist auch plausibler als eine Entdeckung schon 2008 (wie sie in den meisten Berichten behauptet wird), denn in diesem Fall hätte die Restaurierung nicht nur fünf Jahre gedauert, sondern auch ebenso lange geheim gehalten werden müssen (die Presse berichtete erst 2013 über die Wiederentdeckung). Nur langsam lichten sich die Nebel um TOO MUCH JOHNSON, und manches wird wohl für immer ein Mysterium bleiben.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint