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Sonntag, 27. August 2023

Endliche Ehen und unsterbliche Liebe: Bericht vom 9. Festival des italienischen Genrefilms Terza Visione


Mittwoch, 19. Juli 2023


ab 19:15 Uhr

Das 9. Terza Visione fing mit einem ungewöhnlichen Format an. Da ein Umstieg mit der Bahn auf der Herfahrt statt geplanten 9 Minuten schlussendlich 3 Stunden dauerte, verpasste ich den ersten Film des "inoffiziellen" Eröffnungstags, Dario Argentos L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO. Dafür gab es als Einstieg ein Regisseursgespräch im Foyer des deutschen Filmmuseums. Der Gast, ja Stargast, war... Dario Argento, der für zwei Tage in Frankfurt am Main verweilte, um die ihm gewidmete Retrospektive des Filmmuseum Frankfurt zu besuchen. Diese schloss sich in einem Synergieeffekt mit dem Terza zusammen.
Es war die zweite Gesprächs-Session, und Argento sprach unter anderem über die Zusammenarbeit mit Ennio Morricone (der Score zu seinem ersten Film L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO wurde von Morricone und einigen seiner engsten Mitarbeiter recht spontan improvisiert), darüber, wie er als Gast und stiller Beobachter im Haus des Drehbuchautors Sergio Amidei (u. a. ROMA, CITTÀ APERTA und PAISÀ) das "Handwerk" lernte (die Essenz liegt darin, dass das Autorenteam zunächst mit "Smalltalk" sich menschlich synchronisiert, bevor es an die "harte" Arbeit geht), über seine Einflüsse (im Gegensatz zur gestellten Frage eher seine auf andere Regisseure, und nicht umgekehrt), über seine besondere Wertschätzung für Michelangelo Antonioni, über seine Begegnung mit Rainer Werner Fassbinder (den er als schweigsamen, aber extrem nervösen Mann wahrnahm) und über sein erstes prägendes Kinoerlebnis (die Stummfilmfassung von "Das Phantom der Oper").

Wie jedes Jahr wurde auch dieses Terza exklusiv mit analogen Filmkopien bestritten, geliehen aus über einem Dutzend Institutionen aus sieben Ländern.


ab 21:00 Uhr

IL FANTASMA DELL'OPERA ("Das Phantom der Oper")
Regie: Dario Argento
Italien 1998
98 Minuten, OmU
Paris, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ein von Ratten aufgezogenes Findelkind haust in den Eingeweiden der Pariser Oper und meuchelt hier und da neugierige Kanalarbeiter weg. Das "Phantom" (Julian Sands – im Gegensatz zu anderen Varianten des Stoffs ohne Verstümmelung/Maske) verliebt sich dann aber in die Nachwuchssängerin Christine (Asia Argento) und ist nur allzu bereit, deren Karriere-Hindernisse aus dem Weg zu räumen...
Das gängige Narrativ zu Dario Argento ist, dass seine Regiekunst nach den 1980er Jahren einen allmählichen Niedergang erlebte, mit Variationen in der Frage, ob PHENOMENA und OPERA noch zu den "Guten" gehören. Wie schön, dass es mit Terza Visione auch immer den Blick über den Tellerrand gibt. IL FANTASMA DELL'OPERA, den ich 2019 beim Italo-Horrorfilmwochende in Nürnberg schon zum ersten Mal sah, erwies sich bei der Zweitsichtung sogar als etwas stärker als vor vier Jahren. Argento lehnte es im Filmgespräch zwar ab, ihn als "Liebesfilm" bezeichnet zu sehen, aber tatsächlich kommt er dem in Argentos Werk wohl am nächsten, gleichwohl es sicherlich keine besonders "gesunde" Liebe ist. Zumindest ist Christine hin- hergerissen zwischen einer "gesunden", gesellschaftlich respektablen aber offenbar eher sex- und keimfreien und zumindest bis zum letzten Drittel eher "kalten" Liebe zum Baron Raoul und der "ungesunden", gesellschaftlich verachteten, gefährlichen, latent von Gewalt geprägten aber eben auch extrem geilen und dreckig-animalischen Liebe zum Phantom.
Ein Liebesfilm steckt in IL FANTASMA DELL'OPERA, aber auch andere Atmosphären stecken drin: gerade in der Nebenfigur des operneigenen, unfassbar dreckigen und schmierigen Rattenjägers (gespielt von dem renommierten ungarischen Theaterschauspieler Bubik István) lebt Argento offensichtlich auch eine geheime Liebe zum Slapstick aus und erinnert daran, wieviel Humor er eben auch hat. Bubik wirft sich voll rein in die Rolle, und es macht unglaublich Spaß, die kleinen Subplots um den Rattenfänger zu sehen: Höhepunkt ist die Jungfernfahrt des steampunkig-retrofuturistischen Gefährts mit Staubsauger und rotierenden Klingen, das er durch die unterirdischen Gänge der Oper steuert, um diese von Ratten zu befreien. Diese Liebesgeschichte, und dann noch dieser Humor: das hat der Gorebauer-Fraktion unter Argentos Fans sicherlich nicht gefallen.
Noch weniger dürfte ihnen gefallen haben, wie sehr gerade im letzten Drittel und im Showdown sich ein Wille zum entfesselten Melodrama zeigt, der schon sehr faszinierend ist: mit der Verfolgungsjagd auf das Phantom, der inneren Zerrissenheit Christines zwischen ihren beiden Liebhabern und der anschwellenden Musik Morricones zielt Argento direkt auf Herz und auch auf die Tränendrüsen der Zuschauer. Der Showdown straft alle Lügen, die ihn nur als seelen- und emotionslosen Technokraten perfekt choreografierter Gewaltszenen sehen wollen.
Zwei Details hatte ich von der Nürnberger Sichtung vergessen: die extravagante und unfassbare Szene in dem Hallenbad-Edelbordell. Da scheint sich ein Stück Jess Franco oder Joe D'Amato in den Film reingeschlichen zu haben, wenn da halbnackte oder ganz nackte Männer und Frauen (und eine Trans-Frau? ich bin nicht mehr ganz sicher) in einem Luxusbad essen, trinken, turteln und sich vergnügen. Der Baron, der nach einer Abfuhr von Christine sich dort auf andere Gedanken bringen möchte, entpuppt sich als Verzichter, aber auch als ungehobelter Krawallmacher: als eine junge Dame, die sich "bocca di velluto" (Samt-Mund) nennt, ihm mit eindeutigen Zungenbewegungen eindeutige Zeichen macht, sieht der Baron plötzlich Christine das machen – eine zu wilde Vision für ihn, weshalb er dann als Party-Pooper anfängt, zu randalieren.
Ganz vergessen hatte ich auch die großbürgerlichen Creeps, die mit teuren Pralinen versuchen, die Aufmerksamkeit von ungefähr 10-jährigen Ballettschülerinnen zu gewinnen (der Film wendet hier für kurze Zeit die Mechanismen des Rape-And-Revenge-Genres an, als einer dieser Creeps eine Schülerin zu tief in die unterirdischen Gänge der Oper verfolgt und es dort vom Fantom heimgezahlt bekommt).
Die Vorstellung lief im Rahmen der Argento-Retrospektive, war zugleich aber auch eine Hommage an den viel zu früh, Anfang 2023 verstorbenen Julian Sands: ein faszinierender Darsteller, dem immer etwas Jungenhaft-Verträumtes anhängt. Scheinbar unpassend für gewalttätige Dämonenfiguren wie hier (oder als Warlock) – und dabei doch passend, seine Figuren immer leicht verundeutlichend, ihre dunkel-abgründige Romantik betonend.


Donnerstag, 20. Juli 2023


ab 13:00 Uhr

URLATORI ALLA SBARRA
Regie: Lucio Fulci
Italien 1960
83 Minuten, OmU
Die "Schreier" des Titels sind eine Gruppe von Rock'n'Rollern (Joe Santieri, Adriano Celentano, Mina): protegiert und gastlich empfangen von einem Senator a.D., angeworben von der Jeans-Industrie zu Werbezwecken, teils angefeindet und angeworben von einem quotengeilen TV-Produzenten – aber immer mit einem flotten Song in petto.

I brutos: Auftritt als ländliche Sängertruppe

Ursprünglich war Fulcis OPERAZIONE SAN PIETRO aka "Die Abenteuer des Kardinal Braun" programmiert: eine Heist-Komödie mit Heinz Rühmann, Lando Buzzanca, Jean-Claude Brialy und Edward G. Robinson (sic!). Ich bin nicht mehr sicher, warum die Kopie unpässlich war (starker Rotstich?), jedenfalls war angesichts der Fülle an gedrehten Filmen ein Ersatz aus Lucio Fulcis früher Komödienphase rasch zu finden. Zur Erinnerung: Der "Godfather of Italian Gore Cinema" hat wesentlich mehr Komödien als Horrorfilme in seiner Karriere inszeniert. In seiner Einführung betonte der (pausierende) Ex-Terza-Co-Organisator Christoph, dass die erste Werksphase sehr zu unrecht vernachlässigt oder gar als unwichtig abgetan wird: das Narrativ, Fulcis echte Bestimmung sei der Horror gewesen und alles vorher könne man skippen, sei komplett falsch. Komödien waren für den Drehbuchautoren, Regieassistenten und schließlich Regisseur Fulci knapp 15 Jahre lang das zentrale Metier, in dem er auch seine Meisterschaft entwickelte.
Der geneigte Terza-Stammzuschauer wusste davon bereits einen Teil und erinnerte sich wohlig an LE MASSAGGIATRICI bei der Festival-Ausgabe von 2018. URLATORI ALLA SBARRA war Fulcis dritter Film und war sicherlich nicht so großartig wie LE MASSAGGIATRICI, aber dennoch ein launischer Start in den "offiziellen" oder "Post-Argento-Besuch"-Teil des Terza Visione. Nach einem Prolog, der in zwei Minuten eine Kulturgeschichte des Schreiens humoristisch darlegt, geht es auch mit den ersten Musiknummern los. Adriano Celentano ist dabei (die Premiere knapp einen Monat nach LA DOLCE VITA, in dem er nur einen kurzen Cameo hatte) sowie Mina und Joe Sentieri, zu dieser Zeit wohl größere Stars als Celentano. Besonders bemerkenswert für Jazz-affine Zuschauer: in der Rolle eines dauermüden oder schlafenden Amerikaners, der Teil der musizierenden Jugendtruppe ist, gibt es den Trompeter Chet Baker zu sehen, schon offensichtlich stark lädiert von seiner Heroinsucht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass URLATORI ALLA SBARRA ein schöner Gute-Laune-Film ist, zu Weihen à la LE MASSAGGIATRICI reicht es nicht. Vielleicht zersplittert er sich zu sehr in zu viele Episoden mit zu vielen Figuren und Subplots. Joe Sentieri war so etwas wie eine der Hauptfiguren: ich finde ihn aber intuitiv irgendwie antipathisch, und dass er fünfzehn Jahre älter ist als sämtliche anderen Mitglieder der Jugendbande ist und man dies auch sieht, wirkt seine Figur bestenfalls unglaubwürdig, schlimmstenfalls leicht creepy. Eine viel bessere Hauptfigur wäre da Turi Pandolfini als alter Senator a.D. mit eindeutigen Sympathien für die "Urlatori" (er ist sowieso schwerhörig, da sollen sie doch ruhig lauter spielen), die er bei sich in der Wohnung beherbergt. Auf der Antagonisten-Seite gibt es Mario Carotenuto als schmierig-intriganter TV-Sender-Chef, der zuerst Stimmung gegen die "Urlatori" macht, bevor er herausfindet, dass er sie auch einfach kommerziell ausbeuten kann: eine Figur, die man zu hassen einfach nur liebt!
Am Ende ist URLATORI ALLA SBARRA vor allem eine schöne Nummern-Revue. Besonders hervorzuheben dürfte Minas Nummer "Whisky" sein, in der sie in einer stilisierten Bar voller geifernder Verehrer die Vorzüge des Trinkens besingt. Pastoraler wurde es bei einer anderen Nummer: ein Cameo der Sänger- und Komiker-Gruppe "I Brutos" (darunter ein junger Aldo Maccione), die bei einem Picknick der Urlatori auf dem Land als singende Schäfer zu sehen sind und mit ihrem eskalierenden Minenspiel den Saal in eine Raserei aus freudigem Toben und lauten Lachkreischern brachte.






ab 15:30 Uhr

METTI, UNA SERA A CENA (wörtlich: "Sagen wir mal, eines Abends beim Abendessen", im Programmheft: "Warum nicht eines Abends bei Tisch")
Regie: Giuseppe Patroni Griffi
Italien 1969
125 Minuten, OmU
Der Autor Michel (Jean-Louis Trintignant) schreibt gerade an einem neuen Stück: darin soll es um eine mögliche Affäre zwischen seiner Frau Nina (Florinda Bolkan) und seinem besten Freund Max (Tony Musante) gehen. Ohne Michels Wissen gibt es diese Affäre schon lange. Doch auch Max' ehemaliger Liebhaber Rick (Lino Capolicchio) kommt ins Spiel und beginnt eine Affäre mit Nina – während Michel mit der entfernten Bekannten Giovanna (Annie Girardot) ins Bett landet.
Über historische Erfolge und Misserfolge von Filmen nachzudenken, ist manchmal schon interessant, gerade auf einem Festival wie dem Terza Visione. 2022 stellte sich bei LE CINQUE GIORNATE die Frage, was wohl aus Dario Argento geworden wäre, wenn sein Slapstick-Komödien-/Period-Politdrama erfolgreich gewesen wäre und nicht ein fulminanter Flop. 2023 stellte sich für viele im Publikum wohl eher die Frage, wie der von Argento geschriebene METTI, UNA SERA A CENA einer der erfolgreichsten italienischen Filme von 1969 werden konnte (und ein Film, der gerade Dario Argento als Co-Autor zum heißesten Scheiß auf dem Kinoautorenmarkt werden ließ)? Dario Argento war schließlich damals ein Nobody und würde erst ein paar Jahre später ein Superstar des italienischen Kulturlebens werden. Das Theaterstück, auf dem der Film basierte, war auf den römischen Bühnen ein Hit, aber reichte es, um das Kinopublikum zu ziehen? Jean-Louis Trintignant dürfte zu dem Zeitpunkt der berühmteste Schauspieler des Casts gewesen sein, aber ein Massenpublikumsmagnet, gerade in Italien? Die deutsche Wikipedia erwähnt die Musik von Ennio Morricone als Faktor für den Erfolg...
Wie die Antworten auch immer lauten: METTI, UNA SERA A CENA wurde von einem bedeutenden Teil des Terza-Publikums als Flop des Festvials gesehen, und ich geselle mich durchaus dazu (gleichwohl ich prinzipiell ein Freund davon bin, das Terza Visione mit "Grenzgängern" am Rande des klassischen Genre-Kinos zu erweitern). Im Grunde erzählt der Film eine recht simple Vierer-Beziehungsgeschichte mit einem fünften Rad, der das Gefüge noch mehr durcheinander bringt. Mit an den großen Kinoerneuerungsbewegungen geschulten Erzählweise zerlegt der Film die Chronologie, um das ganze Stück für Stück zusammenzusetzen. Nicht per se völlig unspannend, aber tatsächlich bleiben sämtliche fünf Hauptfiguren des Films eher reine Drehbuch-Behauptungen, durch überlange und sehr steife Dialoge nur notbehelfsmäßig zusammengehalten, als dass echte Charaktere lebendig wurden. Die achronologische, elliptisch-puzzleartige Erzählweise lässt alles noch eher steifer und konstruierter wirken, als dass es Dynamik bringt. Dass hier (mit Ausnahme des fünften Rad am Wagens, des von Lino Capolicchio gespielten Künstlers) allesamt gutbürgerliche Figuren ihr Ennui zwei Stunden lang spazieren führen und über Probleme der Ehe sich sehr, sehr verbos austauschen, lässt auch nicht gerade große Gefühle zu, besonders nicht, weil der Erkenntnisgewinn der langen Dialoge eher minimal ist. Ein bisschen hat mich das strukturell an Roman Polanskis CARNAGE erinnert: ein theaterhaftes (weil zu sichtbar von einem Theaterstück adaptiertes) bürgerliches Selbstvergewisserungsdrama.
Faszinierend dabei ist, dass die fünf tollen Darsteller da wenig ausrichten konnten. Jean-Louis Trintignant trägt ja grundsätzlich immer ein wenig Ennui in seiner Mine mit sich – in den meisten Rollen schafft er es aber, das produktiv einzusetzen: nicht hier, wo er wirklich nur gelangweilt aussieht. Annie Girardot kämpft gefühlt die ganze Zeit gegen ihre schlecht geschriebene Figur und wirkt, als würde sie im falschen Film spielen. Lino Capolicchio, so wunderbar als Hobbyermittler in Antonio Bidos Venedig-Giallo SOLAMENTE NERO, wandelt wie ein aufgezogenes Stehaufmännchen durch den Film (aber sein gequälter Künstler, der viele Marotten hat, unter anderem eine Hakenkreuzfahne als Decke, ist schon ein sehr weinerliches Klischee). Nur Tony Musante und Florinda Bolkan ließen manchmal ihre Brillanz durchscheinen: wer beide aber in einer wirklich spektakulären, symbiotischen Chemie zusammen spielen sehen möchte, sollte lieber das wunderbare Venedig-Melodrama ANONIMO VENEZIANO mit den beiden als Protagonisten schauen.
Die Sichtungsumstände waren natürlich dem Film auch nicht sehr wohlgesonnen: die Kopie war mechanisch sehr mitgenommen (weil als Hit wohl extrem oft gespielt) und ein ziemliches Inferno aus Klebestellen und Fehlstellen. Die Live-Untertitelung hatte deshalb kaum eine Chance, über längere Zeit synchron zu bleiben, zumal angesichts des kaskadenartigen Schwalls an Dialogen: bei Rollenwechseln wurde zwei (oder drei?) Mal pausiert, um wieder Untertitelung und Film synchron zu bringen. Eine besonders dicke und/oder schlecht gemachte Klebestelle brachte dann auch die Kopie zum Stillstand: bei einem Einzelbild stehen geblieben, schmorte die Projektionslampe das stehengebliebene Einzelbild an, und nach der Manier von TWO-LANE BLACKTOP verbrannte ein Teil der Kopie vor unseren Augen – das Bild löste sich auf, und der entstehende Rauch war dabei deutlich auf der Leinwand mitprojiziert (und wirkte finster und bedrohlich). Als Sichtbarmachung von Materialität des Kinos (und ihrer Fragilität) war das ohne Zweifel ein besonderes Erlebnis. Es ist schon ein wenig schade, wenn dieser Vorfall quasi das Beste am Film war. Aber nein, so ganz stimmt das nicht, denn der große Show-Stehler des Films ist Ennio Morricones fantastischer Score, der aus einem wohl nur täuschend einfachen Motiv ein ganzes Gefühlsuniversum aufbaut (hier reinhören). METTI, UNA SERA A CENA war für diese Terza-Ausgabe allerdings auch der Startpunkt für eine ganze Reihe von Filmen, die problematische und krisenhafte Ehen thematisieren.


ab 20:00 Uhr

BUIO OMEGA (dt. Verleihtitel: "Sado – Stoß das Tor zur Hölle auf")
Regie: Joe D'Amato
Italien 1979
93 Minuten, OmU
Es war einmal in den Alpen... Francesco (Kieran Canter) ist unsterblich in seine Verlobte Anna (Cinzia Monreale) verliebt, doch diese ist leider allzu sterblich und erliegt einer akuten Erkrankung – möglicherweise von Francescos besitzergreifenden Haushälterin Iris (Franca Stoppi) mit der beauftragten Voodoo-Hexerei einer lokalen Hexe ausgelöst. Der leidenschaftliche Tierpräparator wendet seine Kenntnisse der Leichenkonservierung auf seine ausgegrabene Geliebte an. Doch allzuviele Menschen wollen das selige Liebesglück zwischen ihn und Anna stören und müssen deshalb ins Jenseits befördert werden...

Liebe bis zum Tod – und auch danach: Francesco rettet seine tote Geliebte aus dem Friedhof

BUIO OMEGA ist ein berühmt-berüchtigtes Artefakt der Zensurgeschichte, vielfach zensiert, verstümmelt, verboten, beschlagnahmt. Gegner sehen ihn als schlechten B-Movie-Splatter-Schund, die lautstärksten Befürworter hingegen waren hingegen jahrelang die Gorebauer-Fraktion.
Seine "Freigabe" aus dem Kerker der deutschen Video-Nasties (die Indizierung wurde im Frühjahr 2023 aufgehoben) bietet nun die Möglichkeit, sich etwas unaufgeregter diesem Stück Kino- und Zensurgeschichte zu nähern. Das Terza Visione war der ideale Rahmen, um BUIO OMEGA als das zu entdecken (für viele im Publikum auch: wieder entdecken), was er wohl im Grunde immer war: ein kleines Meisterwerk, gleichzeitig derangiert-abseitiger Horrorfilm und dunkelromantisch-morbider Liebesfilm.
Die wunderbare, längere Einführung von Terza-Co-Organisator Sven und Joe-D'Amato-Spezialist Arthur war für D'Amato-Junioren und Buio-Jungfrauen wie mich wahrscheinlich ebenso erhellend wie für größere Kenner des Films und seines Regisseurs und Kameramanns. Sven erhellte die Ursprünge des Stoffs im traditionellen Gothic-Horror und in der filmischen Vorlage IL TERZO OCCHIO mit Franco Nero, geschrieben und inszeniert von Mino Guerrini (dessen Remake BUIO OMEGA ist). Arthur verwies auf die vielfältigen Motive und Themen des Films: auf seine Qualitäten als emotional ergreifender Liebesfilm über eine bislang nicht "konsumierte" Liebe, auf seine Andeutungen von Klassenkampf, auf die Versuche des Protagonisten nicht im engeren Sinne nekrophil tätig zu werden sondern andere Personen als "Proxys" für den (ersten!) Sex mit der geliebten Anna zu benutzen, auf die "dynastische" Dimension der Geschichte im Rahmen eines Adeligenhauses, auf die Bedeutung der vielen im ganzen Haus verteilten ausgestopften Tiere, von denen zwei als "nicht-heimisch" hervorstechen, auf die eigensinnige Erzählstruktur, die den Zuschauer immer mehr dazu auffordert, Leerstellen selbst zu befüllen. Und was ich persönlich sehr hilfreich fand: der Hinweis, auf das Medaillon zu achten, das als einer von mehreren roten Fäden sich durch die Hälfte des Films zieht.
Sven und Arthur wiesen darauf hin, dass BUIO OMEGA ein untypischer Horrorfilm sei. Wahrscheinlich ist es eh richtiger, von einem Hybrid aus Horror-Schocker, schwelgerisch-verträumtem, zärtlichem Liebesfilm, schwarzer Komödie, absurder Groteske, rohem Sleaze, Essay über Adel und Dekadenz sowie berauschendem Melodrama zu sprechen. Das Herausragende dürfte wohl darin liegen, dass alle Elemente funktionieren. Wenn Francesco riesige Säureflaschen ("Salzsäure" und "Schwefelsäure" deutsch beschriftet) wie Penisverlängerungen vor sich haltend in die Badewanne schüttet, während Iris daneben die Leiche der unglücklichen Autostopperin in Stücke hackt, dann ist das in seiner schieren ekligen Bestialität so unfassbar wie grotesk. Wenn die Leichenrestepampe dann im Gartenloch verbuddelt ist und Iris in der Küche dann erst mal zwei Suppenteller aus dem Regal holt, zeigt sich BUIO OMEGA von seiner schwarzhumorigsten Seite (nach getaner Arbeit erst mal gut futtern!) – ein Lacher ging durch den Saal, der gleich im Halse erwürgt wurde, als dann Iris den liebevoll zubereiteten Gulasch auf eine so viehische Weise verschlingt, dass selbst Bud Spencer und Terence Hill im Vergleich wie feine Pinkel wirken. Auch das feierliche Verlobungsdinner mit den offenbar schwer inzestgestörten Familiengästen (einer nimmt sein Gebiss raus und säubert es mit dem Taschentuch) ist von einer Komik und einer wilden Bissigkeit, die Buñuels Bourgeoisie-Satiren hinter sich lässt. Daneben gibt es immer wieder die Momente, in denen Francesco in schwelgerischer Liebe selbstvergessen mit seiner (toten) Anna verbringt: liebevolle Blicke, kleine Gesten der Zärtlichkeit (ein schönes Detail: Iris, als sie der frisch verstorbenen Anna noch wohlgesonnen ist, lackiert ihr die Fingernägel). Irgendwo dazwischen Francesco, der sich von Iris in einem Moment verzweifelter Trauer die Brust geben lässt (ein Motiv, das auch in D'Amatos IL PIACERE wiederkehren würde) oder der zur rasenden Bestie geworden der Autostopperin anfängt, einzeln die Fingernägel auszureissen. Paradox eigentlich: D'Amato-typisch schreitet der Film in einem meditativen, kontemplativen Rhythmus vor sich hin – und ist doch auch eine wilde Achterbahn der Gefühle.
Dass BUIO OMEGA sich mit Filmen wie L'ANTICRISTO und COSA AVETE FATTO A SOLANGE? den Kameramann teilt, sieht man ihm auch an: er ist elegant fotografiert, in vielen Szenen hat er fast was von Postkartenmotiven – die idyllische südtirolische Berglandschaft voller satter Grüns, malerischer Panoramen, pittoresker Waldflecken und schmucken Häusern reibt sich wunderbar an den unfassbaren Vorgängen. BUIO OMEGA ist auch ein Film, der die Wirkmächtigkeit des Kuleschow-Effekts mithilfe einer toten Figur aufzeigt: während Anna im mütterlichen Bett regungslos liegt (sie ist ja schließlich tot!), macht sich Iris an Francesco ran und holt ihm einen runter, während Francesco eher von Annas Präsenz als von Iris Tätigkeiten wirklich angeregt wird; eine Montage von Anna, dann Francesco, der einen Orgasmus bekommt und dann wieder Anna lässt die Zuschauer glauben, dass die verblichene Geliebte von Francescos Höhepunkt zu einem seligen Lächeln gebracht wird. Pure Kinomagie.


ab 22:45 Uhr

EVA MAN
Regie: Antonio D'Agostino
Italien/Spanien 1980
78 Minuten, OmU
Eva (Eva Robin's) ist sowohl Frau als Mann – und daher die ideale Testperson für Professor Popovs (Ramón Centenero) neu konzipierten "Sexmaker", der das Lustempfinden auf Knopfdruck steigern kann. Doch auch üble Gangster haben es auf die Maschine abgesehen und wollen Eva entführen. Mit der Kampfbereitschaft Evas und ihrer wackeren Freundin Ajita (Ajita Wilson) haben die Böswatze allerdings nicht gerechnet!

Ajita und Eva beschützen gemeinsam den Sexmaker

Trans-Personen, die im italienischen Genre-Kino der 1970er Jahre marginalisiert waren (und eigentlich auch im internationalen Kino sämtlicher Couleurs), bekommen in EVA MAN eine liebevolle Bühne als zentrale Protagonistinnen, als positive Heldinnen, als charismatische Ikonen, als durchschnittlichen Sterblichen bei weitem überlegene Sex-Göttinnen.
EVA MAN ist ob seines niedrigen Budgets ein durchaus rumpeliger Film: im Gegensatz zu Eva, die sowohl als Frau wie auch als Mann bestens performt, funktioniert er nicht in all seinen Facetten. Der Versuch, einen SciFi-geprägten Thriller mit Gangster-Subplot zu erzählen, geht ziemlich gehörig in die Hose, denn für Spannung und Action und auch für solides narratives Erzählen hatte Antonio D'Agostino offenbar überhaupt kein Händchen. Da trübt der Film in teils sehr steifen Szenen mit Expositionsdialogen zum Füßeeinschlafen vor sich hin, und ein Portrait von Sigmund Freud an der Wand im Büro als Marker dafür, dass Professor Popov wirklich ein Wissenschaftler ist, versprüht zwar einen netten Charme, vermag den stocksteifen Erzählstil aber nicht wirklich zu kaschieren.
Als relaxter Sexfilm, als entspannter Abhängfilm und als filmische Bühne für die Style- und Sexikonen Eva Robin's und Ajita Wilson ist EVA MAN absolut großartig. Wenn beide in Zeitlupe, begleitet von einem loungigen Score des ehemaligen Morricone-Gitarristen und -Pfeifers Alessandro Allessandroni händchenhaltend und halbnackt durch einen mediterranen Garten Freudesprünge machen und dann in den Pool tauchen, um dort minutenlang voller Lebensfreude herumzutollen und zu planschen, dann ist der Film ganz bei sich.
Als Exploitationfilm ist EVA MAN von Didaktik und Thesenkino natürlich meilenweit entfernt und trotzdem hat er auch etwas Utopisches: die Art und Weise, wie er das (nicht nur) sexuelle Charisma seiner beiden Trans-Hauptdarstellerinnen feiert, so völlig unverkrampft und ohne jegliche thematische Schwere, dürfte zu dieser Zeit recht einzigartig gewesen sein. Die, die hier bloßgestellt und lächerlich gemacht werden, sind die transphoben Gangster und Handlanger. Der "Fiancé" Evas macht irgendwann nach zwei Dritteln der Laufzeit die Entdeckung, dass seine Geliebte einen Penis hat und von dem Dreier, den Ajita und Eva ihm vorschlagen, schreckt er zunächst zurück. "Kümmer du dich doch um die weiblichen Teile, dann kümmere ich mich um die männlichen" schlägt Ajita sinngemäß vor – und der "Fiancé" legt sein Zurückschrecken ab und gibt sich dann mit Eva und Ajita dem sinnlichsten und schönsten Sex im ganzen Film hin.


Freitag, 21. Juli 2023


ab 12:30 Uhr

LA CONTROFIGURA (wörtl. "Der Stellvertreter", "Der Double", dt. Verleihtitel: "Liebe ist wie ein Sturm")
Regie: Romolo Guerrieri
Italien 1971
89 Minuten, dF
Bei einem Urlaub in Nordafrika wollen sich Giovanni (Jean Sorel) und Lucia (Ewa Aulin) eigentlich entspannen. Doch der Architekt wird immer wieder von Eifersuchtsanfällen geplagt, wenn der hübsche Amerikaner Eddie (Sergio Doria) sich zu sehr in der Nähe befindet. Kurze Ruhepausen von seiner Eifersucht findet Giovanni in einer gewaltsamen Affäre mit Lucias Mutter Nora (Lucia Bosé). Zeichen eines drohenden, tödlichen Unheils kündigen sich an und verstärken sich nach der Rückkehr nach Rom.
Giallo ist eben auch viel mehr als Serienkiller mit schwarzen Lederhandschuhen – wie der herausragende LA CONTROFIGURA demonstrierte. Der Prolog* – Jean Sorel fährt in eine Garage, wird von einem Mann angeschossen, fällt in Zeitlupe um und beginnt sich zu erinnern – schafft eine erwartungsvolle Grundstimmung, aber besonders im ersten Drittel ist der Film vor allem erst einmal ein Ehekrisen-Drama, ausgetragen von Jean Sorel und Ewa Aulin an einem malerischen und einsamen marokkanischen Badestrand. Er, Giovanni, ist vor allem ein Arschloch, der seiner Frau die ganze Zeit versucht einzureden, dass sie dumm sei, sie, Lucia, vor allem eine Frau, die offenbar Mühe hat, ihren Urlaub in Präsenz eines solchen Mannes zu genießen (verständlicherweise). Taucht auf: ein mysteriöser und sehr attraktiver fremder Mann am Strand; eine anderes Ehepaar (Silvano Tranquilli und die wunderbare Marilù Tolo); und Lucias Mutter (Lucia Bosé). Das bringt nicht nur Jean Sorels Hormonhaushalt durcheinander (und offenbart seine rapey Tendenzen), sondern zersplittert auch den Film rasch in ein großes Puzzle aus Erinnerungs- und Fantasie-Fragmenten, das sich weder für chronologische oder geografische Kontinuität interessiert noch dafür, ob es sich um Realität, Erinnerung, paranoide Einbildung oder Wunschfantasie handelt.
Im Grunde genommen also etwa das, was METTI, UNA SERA A CENA auch macht, bloß als "richtiger" Genrefilm mit mehr nackter Haut, mehr Sex-Szenen und mehr blutiger und tödlicher Gewalt – und vor allem wesentlich virtuoser und fesselnder inszeniert. All das zusammengehalten von Armando Trovajolis wunderbarem Score, der im Gegensatz zu Morricones in METTI, UNA SERA A CENA nicht nur wunderschön ist, sondern auch dramaturgisch gekonnt eingesetzt: Trovajoli arbeitet mit einer Palette, die wunderschöne Lounge-Musik am Rand des Kitsches und verstörende Dissonanzen umfasst – beide Atmosphären kommen stellenweise gleichzeitig zum Zuge, um die unter der Idylle der nordafrikanischen Sonne lauernden Abgründe zu illustrieren. Jederzeit kann die Stimmung umkippen, genauso wie dissonante Klavierakkorde den sanft einlullende Lounge-Klangteppich "beschmutzen".
LA CONTROFIGURA dürfte wesentlich komplexer erzählt sein als METTI, UNA SERA A CENA, ohne dabei verkopft-bleiern zu wirken. Die Vorführung beim Terza hielt allerdings eine besondere Überraschung bereit: die letzten zwei Akte wurden vertauscht angeliefert und abgespielt, die puzzle-artige Struktur des Films wurde noch weiter aufgebrochen und durcheinander geworfen mit wohl einigen interessanten Effekten. Ein industrieller Ofen in einer Ziegelei wurde so sofort zum makabren Ort der Entsorgung einer Leiche – und war später "wieder" harmlos und doch "aufgeladen" bei der "normalen" Tagestätigkeit zu sehen (während in der richtigen Reihenfolge der Ofen zunächst als "trivialer" Produktionsort präsentiert wird, der später "produktiv" zur Leichenentsorgung verwendet wird). Eine oder zwei Sequenzen waren nun noch weniger klar als "Realität" oder "Fantasie" auszumachen. Der erste Aktwechsel führte ohne jegliche Exposition die Figuren Tranquillis und Tolos ein, so dass nicht nur ich, sondern viele andere Zuschauer das Gefühl hatten, hier bereits einen Akttausch schon erlebt zu haben – während der "wirkliche" Akttausch für mich und für viele andere zunächst unbemerkt blieb und erst aufgedeckt wurde, als dem "gefühlten" Ende des Films (rein visuell, ohne die Musikbegleitung, nur als kurze Schwarzblende ohne "Ende"-Einblendung oder Credits bemerkbar) mehr Film folgte.
*Interessantes Detail: die gezeigte deutsche Kopie enthielt im Vorspann nur den deutschen Titel des Films "Liebe ist wie ein Sturm", sämtliche Credits fehlten komplett. Es scheint so, als hätte man im Kopierwerk vergessen, die deutschen Credits einzufügen, was dazu führte, dass wir eine etwa dreiminütige, ungeschnittene Einstellung auf die Motorhaube eines fahrenden dunkelblauen Citroën DS sahen, mit zahlreichen Spiegelungen vorbeirauschender Gebäude auf der Motorhaube und mit Armando Trovajolis meisterhafter Musik untermalt.


ab 16:00 Uhr

UN AMORE (wörtlich: "Eine Liebe", dt. Verleihtitel: "Junge Haut")
Regie: Gianni Vernuccio
Italien/Frankreich 1965
95 Minuten, OmU
Antonio (Rossano Brazzi), ein wohlhabender Architekt, der auch jenseits seines 40. Geburtstags noch bei Mutti lebt, verliebt sich in die Tanzschülerin Laïde (Agnès Spaak), die er über ein... Institut zur Anbahnung von Bekanntschaften kennenlernt. Als Antonio mehr als nur eine Gelegenheitsbekanntschaft will, wird es kompliziert, denn Laïde scheint mehr als nur einen Verehrer zu haben.

Laïde und Antonio: kein Traumpaar

 
UN AMORE ist eine Variation des Themas "Junge Frau verführt reiferen Mann in die Narrerei". Ich muss zugeben, dass mich der Film ein bisschen kalt gelassen hat. Das Terza Visione ist aber zum Glück auch ein Ort des vielseitigen Austauschs und beim anschließenden Gespräch am geselligen Abendessentisch eines Frankfurter Apfelwein-Restaurants erläuterte ein Co-Zuschauer in sehr schlüssigen Argumenten, warum er den Film so toll fand:
Zunächst war da einmal die Stärke, dass der Film seinen Figuren viel Raum zu Ambivalenzen lässt, wenig Schwarzweiß und dafür viele Grauschattierungen lässt: UN AMORE ist kein Film über ein Flittchen, das einen armen alten Herrn ins Verderben führt noch ein Film über einen alten Wüstling, der ein unschuldiges Mädchen verführt – beide durchleben eine Dynamik von Situationen, die für beide Unangenehmes beinhaltet. Es ist auch ein Film, der letztendlich nicht an eindeutigen Klärungen interessiert ist: wieviel von dem, was Laïde Antonio auftischt, wirklich wahr oder erlogen ist, interessiert ihn weniger als tatsächlich das fragile Gefüge ihrer Beziehung, und wie beide FIguren mit der Situation umgehen. Dabei hat UN AMORE besonders ein Talent für Situationen der "social akwardness": die Silvesterfeier im Dreier mit Laïde, ihrem "Cousin" Marcello (Gérard Blain) und ihrem "Onkel" Antonio nimmt in ihrer Schmerzhaftigkeit fast schon Züge eines schwarzen Horrorfilms an.
Dann ist UN AMORE auch ein wirklich toll fotografierter Film. Besonders hervorstechend sind Visionen und Träume Antonios, bei denen Figuren durch ein komplett mit weißem Licht durchflutetes Nichts wandeln und Gegenstände (etwa die Armlehne eines Stuhls) nur sichtbar werden, wenn sich Antonio im dunklen Anzug davor platziert.
UN AMORE ist auch ein Film der vielen kleinen Ideen – und hier etwas, was ich schon während des Films super fand: Laïde lässt Antonio für ein Mittagessen einfach stehen, und übergibt ihren kleinen Schoßhund in seine Obhut, damit sie sich mit ihrem "Cousin" Marcello vergnügen kann. Antonio ist also versetzt worden für das Mittagessen. Dann halt eben Mittagessen mit dem Hund So sitzt er dann auch einsam in einem Restaurant, auf einem Stuhl neben ihm das Schoßhündchen. Ein extravagant großes Steak wird vom Kellner auf einem mobilen Grill fertig gebraten: Antonio gönnt sich offenbar was Schönes. Das Steak wird auf ein Teller gehievt, und das Ganze dann dem Schosshündchen vor die Nase platziert. Der Hund ist mit dem Stück Fleisch, das etwa zwei mal so breit ist wie er selbst, sichtlich überfordert.


ab 20:00 Uhr

PIZZA CONNECTION
Regie: Damiano Damiani
Italien 1985
116 Minuten, dF
Der Mafia-Hitman Mario (Michele Placido), der als Tarnung einen Pizzaladen in New York führt, bekommt den Auftrag, in der alten Heimat, in Palermo, einen Staatsanwalt zu ermorden. Dort versucht er, seinen jüngeren Bruder Michele (Mark Chase) für seinen Attentatsplan zu rekrutieren.

Brüder und Rivalen beim Männlichkeitstest: wird Michele auf das Pony schießen?

 

Nachdem ich mit UN AMORE nicht so ganz warm geworden bin, hielt sich meine Begeisterung bei PIZZA CONNECTION leider noch etwas mehr in Grenzen. Allerdings bin ich generell eher nicht ein guter Ansprechpartner, wenn es um italienische Polizei- und Mafiafilme der 1970er geht, die Subgenres des italienischen Genrekinos, mit denen ich wahrscheinlich im Allgemeinen am wenigsten anfangen kann (auch wenn ich wohl gerade die sehr "extremen" Vertreter goutiere: sei es Deodatos UOMINI SI NASCE POLIZIOTTI SI MUORE, Fulcis LUCA IL CONTRABBANDIERE oder Bianchis QUELLI CHE CONTANO).
PIZZA CONNECTION hat sich für mich wie ein wenig gelungener Hybrid aus melodramatischem Familien-Drama und ultratrockenem Mafia-Procedural angefühlt. Angereichert mit einigen rohen Sleaze-Spitzen (der Subplot um die Zwangsprostitution von Micheles Teenager-Liebe durch ihre drogenverseuchte Familie) für den Melo-Teil und sehr arm an Action-Attraktionen für den Procedural-Teil (um nicht zu sagen, dass da teilweise sogar durch Ellipsen bewußt alle Thrills abgeblockt werden). Beide Hauptfiguren haben mich auch eher kalt gelassen.
Sehr bizarr: der Prolog und der Epilog spielen beide in New York City. Und beide dürften wohl meine liebsten Teile des Films sein, vielleicht, weil beide Teile für sich kleine geschlossene Perlen des Spannungskinos sind, mit jeweils einem Auftragsmord, der langsam vor unseren Augen vorbereitet und durchgeführt wird.


ab 22:45 Uhr

STRIDULUM (US: THE VISITOR, dt. Verleihtitel: "Die Außerirdischen")
Regie: Giulio Paradisi
Italien/USA 1979
101 Minuten, EF
Das Böse from outer space versucht, die Erde zu knechten. Barbara (Joanne Nail) kann das Böse vererben, ohne selbst böse zu sein, und deshalb soll Raymond (Lance Henriksen), deren Lebensgefährte, Manager eines Basketball-Teams und Henchman des irdischen Stakeholders (Mel Ferrer) der außerirdischen Macht, mit ihr den Antichristen zeugen. Dieser soll zusammen mit seiner bereits achtjährigen großen Schwester Katy (Paige Conner), einem echten Satansbraten vor dem Herren, das auf Geburtstagsfeiern schon für makabre "Unfälle" sorgt, das Böse in der Welt verbreiten. Doch Jerzy Colsowicz (John Huston), der nicht aus Warschau oder Krakau kommt, sondern von den außerirdischen Absolut-Guten, steigt auf die Erde hinab, um gegen das Böse zu kämpfen, unter anderem mit der Unterstützung von Barbaras Haushälterin (Shelley Winters).

Katy: Süßes Gesicht, mörderische Absichten

 
Ein sehr bizarrer Cocktail aus Star-Power (John Huston, Mel Ferrer, Lance Henriksen, Shelley Winters, Glenn Ford, Sam Peckinpah, Franco Nero), Rip-Off-Elementen (THE EXORCIST, THE OMEN, ROSEMARY'S BABY, CARRIE, THE FURY, CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und Strukturelemente der Polit-Paranoia-Thriller der 1970er Jahre stecken drin), einem faszinierend teurem Look (in dem Film steckte wohl viel mehr Geld drin als bei den meisten anderen Filmen dieses Terzas), völlig wahnsinnigen Ideen (u. a. Franco Nero als Jesus-Double from outer space mit einer knallgelben Wikinger-Damenperücke) und einer kompletten Ungerührtheit dabei – ja, das mögen vielleicht etwas zu viele Zutaten sein, damit das wirklich rund wird, aber faszinierend war STRIDULUM doch auf jeden Fall.
Die wirklich hart verstrahlten Elemente konzentrieren sich vornehmlich auf den Prolog. John Huston als eine Art Gottfigur beschwört Wolken in einer Art Outer-Space-Wüstenlandschaft und erzählt dann einer Gruppe von glatzköpfigen Kindern in weißen Uniformen (sie sollen "gut" sein, sehen aber eher wie eine Gruppe von gehirngewaschenen potentiellen Selbstmord-Attentätern aus) eine komplizierte Geschichte über den Kampf zwischen Gut und Böse, die wohl nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch niemand sonst im Saal im Detail verstanden hat, weil sie so verschlungen-verzweigt und mit unzähligen Namen vollgestopft war. Das darauffolgende Basketballspiel, bei dem Barbara und Katy sowie Raymond eingeführt werden, ist da wieder etwas weltlicher und baut sehr geschickt eine sehr ominöse Spannung auf: dass Katy das vorher von Huston beschworene Böse ist, wird an ihrem Blick klar. Die Auflösung, der Twist der Szene allerdings ist wieder... bizarr? Mel Ferrer wird dann später als weltlicher Vertreter des intergalaktischen Bösen präsentiert – als Vorsitzender einer Gruppe ominöser Geschäftsmänner, die Lance Henriksen in einem riesigen, prunkvoll-pompösen Verschwörungsgruppen-Saal erwarten und von ihm fordern, endlich Barbara zu begatten, damit das Böse sich potenzieren kann.
"Ripoffs" haben oft den Vorteil, dass sie ihren Stoff komplett verdichten können, bis es anfängt zu krachen. Das würde es am übernächsten Tag bei LADY TERMINATOR zu sehen geben, wo die Südseekönigin auf Rachefeldzug jeglichem Terminator das Fürchten lehren sollte und auch hier ist es so: Paige Conners Katy lässt Damien aus THE OMEN (oder auch die bereits besessene Regan aus THE EXORCIST) im direkten Vergleich wie ein süßes kleines Kind wirken, dem man den Kopf tätscheln und einen Keks in die Hand drücken möchte. STRIDULUM ist Terrorkinder-Kino der Extraklasse und das ist vielleicht der klarste rote Faden des Films. Katy sagt nicht nur zu Polizisten (gespielt von Glenn Ford) liebreizende Sätze wie "Go fuck yourself", schlägt nicht nur ihrer Mutter vor, "mit Raymond Liebe [zu] machen, damit ich bald einen kleinen Bruder bekomme" (und schleicht sich dafür zu später Stunde an das mütterliche Bett), sondern schlägt auch ganz alleine eine Bande von Halbstarken auf einer Mall-Schlittschuhbahn, lässt einige von ihnen gar durch die Fenster nahe gelegener Restaurants krachen.
Es gibt etwa 15 bis 20 Minuten vor Ende die vielleicht merkwürdigste Szene im ganzen Film, ganz ohne extravagante Dekors und total verrückten Ideen: es ist einfach nur ein etwas längerer Dialog zwischen John Huston und Shelley Winters. Hier kommt raus, dass die Haushälterin offenbar durchaus irgendwie mit den Kräften des Guten verbündet ist. Ein etwas überraschender Twist, aber das ist es nicht: der Dialog zwischen Huston und Winter ist von einer fast jenseitigen Zärtlichkeit, eine elektrisierende Chemie ist spürbar, als würden sich hier zwei austauschen, die schon seit Jahrzehnten intim sind. Sie sprechen ziemliche Banalitäten, die irgendwie von Abschied handeln, aber durch die Präsenz und das Mimenspiel der beiden Darsteller wird hier fast eine Art romantischer Sub-Liebesfilm innerhalb des Films angedeutet. Andere Co-Zuschauer sahen darin sogar ein Verhandeln von Altern im Hollywood-Starsystem. Wie dem auch sei: auf eine eigensinnige Weise war diese nur scheinbar banale Szene wohl der magischste Moment von STRIDULUM.


Samstag, 22. Juli 2023


ab 14:00 Uhr

LA CORONA DI FERRO ("Die eiserne Krone")
Regie: Alessandro Blasetti
Italien 1941
109 Minuten, OmU
Der mittelalterliche Tyrann Sedemondo (Gino Cervi) versucht nach seinem Putsch die Territorien zu konsolidieren und muss dabei sowohl eine legendäre Krone wie auch seinen eigenen kleinen Sohn in eine weit entfernte Todesschlucht verbannen. Die Krone ist tief versunken und der kleine Junge totgeblaubt – doch dieser kehrt 20 Jahre später als junger Mann (Massimo Girotti) zurück, um an einem Tournier zur Verlosung der Hand von Sedemondos Tochter teilzunehmen.
LA CORONA DI FERRO wurde vor der "großen" Ära des italienischen Genrekinos produziert, die im Mittelpunkt des Terza Visione steht. Ein Vorläufer des Peplums mit einigen Motiven des Mantel- und Degenfilms und einigen mystisch-mythologischen Fantasy-Elementen – das ganze vornehmlich als Mittelalter-Schlachten-Epos, der seine Entstehungszeit in der faschistischen Ära zwar nicht ganz zu verstecken vermag, andererseits viel Pathos und Pomp durch lockere Verspieltheit, Freude an witzigen Ideen, purem Quatsch und einer Begeisterung für schiere Schauwerte zu vermeiden weiß.
 Skepsis und Freude hielten sich bei mir etwas die Waage. Trotzdem die Erzählung wahrscheinlich nicht sonderlich kompliziert sein sollte, wirkte sie für mich verwirrender als manch ein verschlungener Giallo. Viele Texttafeln (grafisch schön aufbereitet als aufgeklapptes Buch, um die märchenhafte Stimmung zu betonen) arbeiteten manchmal sehr oberflächlich, manchmal überakribisch detailliert Exposition ab. Die Dramaturgie des Films navigierte sehr brüsk zwischen harten Ellipsen und vielen Szenen, die mühsam (aber nicht immer schlüssig) eine Brücke zwischen verschiedenen Sinneinheiten bilden sollten. Kurz: ich hatte große Mühe, der Geschichte zu folgen – dadurch aber auch viel Muße, um mich an den vielen schönen Setpieces zu erfreuen. LA CORONA DI FERRO war schon ein "Blockbuster", ein Prestige-Projekt der Zeit und das viele Geld, das in diesen teuren Film gesteckt wurde, sieht man ihm auch durchaus an: opulente, detailreiche, glitzernd-verführerische Set-Designs, denen dem Ton des Films entsprechend weniger daran gelegen ist, ein "realistisches" Bild des Mittelalters zu zeichnen als viel mehr eine kleine Traumwelt zu erschaffen.
Auf der Schauspielerseite auch ein wenig Ambivalenz. Einerseits fand ich den Haupthelden, Arminio, gespielt von Massimo Girotti, eine ziemlich nervtötende Figur und auch die Königin eher blass gespielt von Elisa Cegani. Aber das macht nichts, wenn dafür Gino Cervi (bekannt als Peppone aus den französisch-italienischen Don-Camillo-Filmen mit Fernandel) den König Sedemondo als ruppig-rabiaten und unkultivierten Raufbold spielt, der ständig seine Umgebung mit der Beschimpfung "bestià" bedachte (beispielsweise seine Dienerschaft "Dammi da bere, bestià!" anschnauzend, wenn er zwischendurch jetzt, sofort (!) saufen möchte). Und eine noch bemerkenswertere Darstellung gibt es von Luisa Ferida als militante Kämpferin und "henchwoman" Tundra, die in langen Stiefeln und kurzen Hotpants eine Prise Domina und eine Messerspitze Femme Fatale in ihre Figur bringt. Was für eine wunderbare alternde Grande-Dame hätte sie in der Giallo-Welle der späten 1960er und frühen 1970er werden können, aber sie wurde 1945 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Opfer einer summarischen Hinrichtung durch anti-faschistische Partisanen.


ab 16:30 Uhr

NEROSUBIANCO ("Attraction")
Regie: Tinto Brass
Italien 1969
76 Minuten, dF
Barbara (Anita Sanders) wird am Hyde-Park von ihrem Ehemann Paolo aus dem Auto gelassen. Während er noch Geschäfte machen muss, wird ihr Spaziergang durch Swinging London zu einem wilden Trip zwischen Sex, Pop und Politik.

Ein kurzes Cameo des Regisseurs: Tinto Brass als Gynäkologe

 
Mit NEROSUBIANCO feierte das Terza in seiner neunten Ausgabe seine Tinto-Brass-Premiere, und zwar nicht mit einem seiner erotischen Werke der mittleren oder späten Phase, sondern mit einem Film aus seiner frühen Phase, als er noch der experimentellen, avantgardistischen Seite des europäischen Neue-Welle-Kinos nahe stand. Ein Grenzgänger-Film also am Rande dessen, was man noch Genre-Kino (ja gar narratives Kino) nennen kann, eine knapp 80-minütige "Psychedelic Pop Art Experience", wie ein Filmplakat versprach. Ein Film, der wohl leider bei einem großen Teil des Terza-Publikums durchfiel.
Eine gewisse Neigung für Experimentalfilm dürfte wohl nicht schaden, um NEROSUBIANCO zu goutieren. Es ist ein harter, wilder und mit schwindelerregender Intensität geschnittener Ritt durch Swinging London, durch Popart- und Comic-Bilder, durch krieseliges Dokumentar-Found-Footage, begleitet von einem kakophonischen Sound-Design und tranceartige Voiceovers, die ab und zu Platz machen für Song-Einlagen der Band Freedom.
NEROSUBIANCO ist wie gesagt am Rande dessen, was man noch narrativer Film nennen kann, aber Spuren von roten Fäden gibt es dennoch. So steckt auch (schon wieder!) ein Ehekrisen-Drama in diesem Film: Barbaras Ehe mit Paolo ist offenbar erkaltet, nicht unbedingt in abgründige Untiefen als vielmehr in gelangweilte Routine gefangen. Der Spaziergang durch Swinging London bietet ihr die Möglichkeit, mal abseits ihrer Routine nach Eindrücken und Inspirationen zu suchen.
NEROSUBIANCO ist tatsächlich eher eine "Experience" als ein "normaler" Film. Ich bin gerne mit Barbara durch Swinging London gebummelt und habe mich gerne von dem Bilder- und Sound-Strom mitreissen lassen, besonders auf einer großen Kinoleinwand. An vieles kann ich mich schon nicht mehr genau erinnern, dafür ist der Film auch viel zu voll und dicht, aber das ist okay. Wenn Godard sich etwas mehr für nackte Haut, Sex und Erotik interessiert hätte und ein bisschen mehr Spaß und Jux in ihm gesteckt hätte, dann hätten manche seiner Filme vielleicht so aussehen können wie NEROSUBIANCO.


ab 20:00 Uhr

BLINDMAN ("Blindman, der Vollstrecker")
Regie: Ferdinando Baldi
Italien/USA 1971
102 Minuten, dF
Ein blinder Revolverheld (Tony Anthony) ist hinter einer Gruppe von 50 "Mail Order Brides" her, die er zu ihrer Bestimmung eskortieren muss und die ihm von mexikanischen Militärs und amerikanischen Banditen abgeknüpft wurde.

Auch ohne Augenlicht schlägt sich der Revolverheld gegen Banditen und Militärs

 
Wie einst PER UN PUGNO DI DOLLARI sich vor dem japanischen Kino verbeugte (wobei das japanische Vorbild selbst von Dashiell Hammett inspiriert wurde), so transponierte BLINDMAN nun die Figur des blinden Samurais in den wilden Westen. So wie mein Verhältnis zu Leones erstem Western 2017 (kurz vor meinem ersten Terza) erkaltete, konnte ich mich für BLINDMAN leider nicht wirklich erwärmen. Die Titelfigur hat mich weitestgehend kalt gelassen: ob es an der Art, wie die Figur geschrieben war (über weite Strecken scheint der Film mit seiner Blindheit nichts anzufangen) oder am Darsteller (und Co-Produzent und Co-Autor) Tony Anthony selbst lag, der für mich merkwürdig blutleer wirkte – ich bin mir unschlüssig. Auch die Erzählweise des Films, die sich für mich ein bisschen zu sehr wie "Und dann passiert das, und dann das, und dann das, und dann das..." anfühlte, hat mich nicht wirklich mitgerissen. Ist der ganze Film zu zynisch-ironisch-distanziert und hat mich deshalb kaum involviert? Die Mail-Order-Brides schienen mir fast vollkommen belanglos in der Erzählung zu sein, wie ein Element, das halt so im Drehbuch steht – ebenso gut hätte es auch eine Viehherde oder irgendein seltenes Gewehr oder ein Goldschatz sein können. Oder für den Hofbauer-Kongress-Stammgast: das hätte auch eine zünftige Geschichte über Zwangsprostitution im sleazigen Wilden Westen (statt in einer europäischen Großstadt im sleazigen Noir-Ambiente) sein können, aber dann halt nicht (und wozu dazu den blinden Revolverhelden)... Und Ringo Starr als Bruder des Hauptbösewichten scheint mir auch leicht verschenkt.
Nun, irgendwie nicht mein Film, auch wenn das eher Jammern auf hohem Niveau ist: er plätscherte nett vor sich hin. Es gibt jedoch ein kleines Detail, das ich gerne besonders hervorheben möchte. Von dem Gebrüder-Duo der Bösewichte wird knapp nach der Hälfte einer von Blindman getötet. Als der Bruder zusammen mit seinen Schergen die Leiche entdeckt, folgt keine formelhafte Beschwörung von Rache, sondern ein emotionaler Moment der Trauer. Ein Mann hat hier seinen Bruder gewaltsam verloren, ist davon sichtlich gerührt und diese Rührung überträgt sich auch auf seine Schergen und auf die Zuschauer: für eine kurze Zeit steht der Film hier still und räumt der Trauer Platz ein. Das wird mir wohl länger im Gedächtnis bleiben als sämtliche Schießereien und Kämpfe und erzählerischen Wendungen und Kniffe.


ab 22:30 Uhr

PROFUMO (dt. Verleihtitel: "Lorenza")
Regie: Giuliana Gamba
Italien 1987
98 Minuten, OmU
Lorenza (Florence Guérin) hat genug davon, von ihrem allumfassend besitzergreifenden Ehemann Guido (Luciano Bartoli) sexuell erniedrigt und terrorisiert zu werden. Sie flieht und startet ein neues Leben mit dem Gärtner Eddie (Robert Egon Spechtenhauser). Als Guido gewaltsam gegen das frischverliebte Paar vorgeht, täuscht Lorenza ihren Tod vor und heckt einen Racheplan aus, bei dem sie Guido von seinen eigenen Methoden kosten lässt.
PROFUMO war nicht nur für mich eines der großen Highlights des Terza Visione 2023. Mit dem 1980er-Sleaze-Saxofon-Thema (interessante Variation: Altsaxofon statt dem üblichen Tenor-Saxofon – und später davon wieder eine Variation mit Bassklarinette) verführte mich der Film schon, bevor überhaupt das erste Bild zu sehen war und führte uns dann nach den Credits in ein bizarr-groteskes Bordell, bei dem die Grenzen zwischen Kundin / Prostituierte, Security-Angestellter / Freier, Vergewaltigung / Rollenspiel, Körper / Gegenstand ins Strudeln gebracht wurden – ein absolut meisterhafter Prolog, der bereits viele Themen und Motive des Films enthält und in ein... nun, schon wieder, Ehe-Drama führte (und den thematischen roten Faden dieses Terzas seit METTI, UNA SERA A CENA fortspann).
Besonders spannend erscheint mir, wie der Film mit seinen Sets umgeht, man könnte sagen: neureich-dekadenter 80er-Barock, mit Inneneinrichtungen, die allesamt sehr teuer, dabei aber auch erstickend, leblos, leer, seelenlos, minimalistisch um des Minimalismus willen aussehen, hermetisch gegen Tageslicht abgeschirmt, reduziert auf totale Funktionalität (in Guidos riesigem Arbeitszimmer gibt es praktisch nur einen riesigen Schreibtisch mit einem Computer drauf, daneben steht ein Fernrohr, mit dem er die Nachbarn bespannt) oder auf reine Repräsentation (eine Hotel-Lounge mit schweren, erstickenden Teppichen und überteuerten Designer-Möbeln). Lorenza wandelt in ihrem Zuhause und in ihren Hotels durch kalte Landschaften, die sehr gut dem emotionalen Zustand ihrer Ehe entsprechen. Befreiung gibt es hier teilweise am Strandhaus, an dem sie vor ihrem Ehemann entfliehen kann und eine Affäre mit dem tollpatschigen aber süßen Junior-Hausmeister und -Gärtner anfängt, aber wahrscheinlich nur, weil mehr Sonnenlicht zu sehen ist, wenn sie und ihr Toyboy am Strand auf dem nassen Sand Sex haben.
Ich verdanke PROFUMO auch, dass ich in meinem Leben nie wieder eine Dose Coca-Cola mit unschuldigen Augen werde sehen können. Es fängt harmlos an: Lorenza und Edward, am Rand des Pools am Strandhaus, schütteln die Dosen und spritzen sich gegenseitig mit Cola voll, aber die phallische Dose und vor allem ihr Inhalt werden danach von Lorenza auf sehr kreative Weise in ihr Liebesspiel eingebaut. Da kann Christie aus NINJA III: THE DOMINATION ihren V8-Tomatensaft einpacken! Es wird geträufelt und geleckt, dass einem Sehen und Hören vergeht und die Kinnlade runterklappt. Und dann verschwimmen – wie im Prolog angekündigt – wieder die Grenzen und Zehen nehmen die Funktion von Penissen ein...
Motive aus Filmen wie Lucio Fulcis furiosem Melodrama am Rande des selbstzerstörerischen Wahnsinns IL MIELE DEL DIAVOLO, Brian De Palmas Meditation über Voyeurismus und die Inszenierung von Verführung als Performance BODY DOUBLE und Yves Boissets genre- und gender-fluiden Identitäts-Psychogramm LA TRAVESTIE waren für mich bei PROFUMO spürbar: allesamt Filme, die ich letztes Jahr zum ersten Mal gesehen habe, auf unterschiedliche Weisen (aber stets sehr hohem Niveau) für meisterhaft halte und in deren Reihe ich jetzt ohne zu zögern PROFUMO stellen würde. Eine Frau, die von einer latent gewalttätigen Beziehung in die Enge getrieben wird; die performative Inszenierung von Körpern zur Irreleitung sehgieriger Voyeure; das geschlechtsübergreifende Spiel mit verschiedenen Identitäten.
Besonders letzteres führt in der zweiten Hälfte des Films zu schier unglaublichen Momenten, als Lorenza das Geschlecht "wechselt" und sich mit Kurzhaar-Perücke und Maßanzug als Yuppie inszeniert (die Ähnlichkeit mit Nicole aus Boissets LA TRAVESTIE war verblüffend) und Edward mit ein bisschen Makeup und Stöckelschuhen in eine passende "Trophy-Wife" verwandelt wird – und beide ihre Performances zunächst in der Öffentlichkeit ausprobieren, bevor sie dann auch gewalttätigen Sex (Lorenza nimmt Edward hart von hinten) hinter der Gaze des Vorhangs proben, der für Fernrohr-Voyeure das Spektakel verundeutlicht und umso anregender macht.
Die überaus charismatische Florence Guérin legt hier nicht weniger als eine Jahrzehnt-Performance ein und hat weit mehr als ein schönes Äußeres zu bieten. Schade, dass ein Großteil des damaligen (und wohl auch heutigen) Publikums niemals auf die Idee käme, Schauspieltalent in einem kostengünstigen Sexfilm zu sehen. Und wie gut, dass es da eben Terza Visione gibt. Oder kurz: gemeinsam mit BUIO OMEGA war PROFUMO der große, alles überragende Höhepunkt dieses Terzas.


Sonntag, 23. Juli 2023


2022 wurde beim Terza Visione der "internationale Tag" eingeführt: gezeigt wurden Genrefilme nicht-italienischer Produktion. Der Blick "über den Tellerrand" soll die Perspektiven auf das italienische Genrekino erweitern und die transnationalen Verflechtungen des Genrekinos im internationalen Kontext verdeutlichen. Also gewissermaßen den Dialog zwischen Subgenres eines einzelnen Landes erweitern zu einem Dialog des Genrekinos jenseits von Ländergrenzen.
Als Anhänger der Programmierung von italienischen "Grenzgängern" (also Filmen am äußersten Rande dessen, was noch "Genrekino" genannt werden kann) fand ich die Idee schon letztes Jahr sehr schön und gelungen. Dieses Jahr wurde das allerdings sogar noch weiter getoppt, angefangen mit einem "Übergangsfilm", nämlich einer italienischen Bearbeitung der US-amerikanischen Version eines japanischen Films...



ab 12:45 Uhr

GODZILLA
Regie: Luigi Cozzi, Ishiro Honda, Terry Morse
Italien/Japan/USA 1977
97 Minuten, OmU
Am 6. August 1945 wird Hiroshima durch die Atombombe zerstört. Knapp zehn Jahre später ist es ein ungeheuerliches Monster, das Tokyo zerstört. Und der amerikanische Journalist Steve Martin (Raymond Burr) muss das hilflos mit ansehen.

Raymond Burr als ultimative Popart-Ikone des Reaction-Shots

 
GODZILLA, auch als "Cozzilla" bezeichnet (die für den Film geschaffene Produktionsfirma trug tatsächlich diesen Namen), ist ohne Zweifel die bizarrste Entdeckung des diesjährigen Terzas. Luigi Cozzi, großer Liebhaber von US-Monsterfilmen der 1950er Jahre, wollte nach dem großen Erfolg von KING KONG 1976 aus diesem etwas Kapital schlagen und eigentlich "nur" irgendeinen Monsterfilm neu verleihen. Es wurde GODZILLA, doch statt des originalen japanischen Films wurde die US-amerikanische Version genommen, die nachgedrehte Szenen mit Raymond Burr enthielt. Aber ein Schwarzweiß-Film im Jahre 1977 wieder in die Kinos zu bringen, das ging doch nicht – außerdem war der mit 80 Minuten zu kurz. So schnitt Cozzi dokumentarisches Material zu den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki in den Film, dazu noch ein paar Schnipsel aus weiteren japanischen Monsterfilmen und hier und da noch Second-Unit-Material aus anderen Filmen (u. a. aus Frankenheimers THE TRAIN) und in einem umständlichen Verfahren (wohl teilweise mit Einzelframe-Bearbeitungen) wurden mit Gel gefärbte Schablonen genutzt, um aus dem Schwarzweißfilm einen "Farbfilm" zu machen. Und das ganze für den italienischen Markt noch italienisch synchronisiert, zumindest die meisten Szenen – aber nicht alle: einige japanische Dialoge sind unbearbeitet im Film verblieben.
Ein Kommerzprojekt also, das sich vom Erfolg von KING KONG ein schönes Scheibchen abschneiden wollte und die Kolorierung als Prozess mit dem klangvollen Namen "Spectorama 70" vermarktete... und das aus heutiger Sicht eher teilweise wie abstrakte Videoinstallationskunst aussieht. Oder wie das Programmheft beschrieb: wie ein "postmoderner Experimentalfilm".
Luigi Cozzis GODZILLA hat wohl viele Zuschauer im Publikum ganz fürchterlich gelangweilt, und ich kann durchaus verstehen, warum das so ist. Auch die Aussage "Muss ich mir niemals wieder antun" kann ich ein Stück weit nachvollziehen. Mich hat der Film allerdings vollkommen fasziniert. In seiner Einführung erwähnte Sven den Gedankengang, dass GODZILLA in dieser Fassung quasi zu den Ursprüngen des Kinos als Jahrmarktattraktion zurückkehrte. Tatsächlich hatte der Film ein komisches Feeling: teilweise wie ein Artefakt des Ur-Kinos in seinen ersten 20 Jahren; teilweise sehr in seiner Entstehungszeit verankert mit dem Disco-gefärbten Elektroscore (von Vince Tempera und Fabio Frizzi); teilweise wie ein undefinierbares retrofuturistisches Etwas, das unaufhaltsam vor sich hinwaberte und den Zuschauer wahlweise K.O.-mäßig langweilte oder unaufhörlich hypnotisierte.
Die Kolorierung sieht eben nicht aus wie eine Stummfilm-Virage, mit einer einheitlichen Farbe, sondern unterschiedliche Areale des Bilds werden mit gelben, oder grünen, oder blauen, oder magentafarbenen, oder roten Schattierungen eingefärbt, teils einzeln, teils mit drei oder vier Farben gleichzeitig. Das Verfahren führte auch zu einem leichten Schärfeverlust der einzelnen Bilder, machte sie noch etwas weicher. Traumartiger auch: GODZILLA scheint man weniger zu sehen als zu träumen. Auch wenn stellenweise die Einfärbungen dramaturgischen Rahmenbedingungen folgten (ein sagen wir mal teilweise gelblich eingefärbtes Bild wird teilweise in Blau eingetaucht, nachdem eine Figur in einem Raum den Lichtschalter ausknipst) – den größten Teil der Laufzeit tut sie es nicht! Jedes einzelne Bild wird hier zu einem Ereignis gemacht (an dieser Stelle frage ich mich, ob Andy Warhol wohl GODZILLA gemocht hätte) und das machte für mich den Film so spannend: jede nächste Szene, jedes weitere Bild war potentiell eine Überraschung. Verblüffend sind nicht die Bilder mit ihrem Inhalt an sich, sondern eher, dass halbwegs vertraute Bilder mit bekannten Monsterfilmmotiven derartig verfremdet werden (durch die Kolorierung, durch den Score, durch die italienische Synchro), dass etwas komplett Neues entstand, das wesentlich weiter geht als nur elektronische Musik zu einem Stummfilm, sondern vielleicht eher vergleichbar ist mit Bill Morrisons Collagen degradierter alter Filmkopien. Es zählt natürlich für alle Filme, die beim Terza liefen, aber für diesen Film wohl noch mehr: es ist ein Werk, das man definitiv im Kino auf einer guten 35mm-Kopie sehen sollte.
Der Film nimmt durchaus Gesten eines engagierten Plädoyers gegen die Atombombe ein – er tut es mit diskutablen Mitteln, die man je nach Neigung als völlig geschmacklos oder sehr interessant ansehen kann, denn der Prolog zerrt den Subtext des originalen GODZILLA gnadenlos in den Scheinwerfer: eine Einblendung datiert uns auf den 6. August 1945, es folgen dokumentarische Bilder des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, inklusive materiellen Zerstörungen und auch Bildern von Schwerverletzten und Leichen, das ganze mit einem Score untermalt, der hybrid zwischen Disco und Industrial schwankt. Der Begleittext im Programmheft spricht von "Mondo-Qualitäten", in der Einführung zum Film wurde die Lust an Gewalt erwähnt. Im Kontext der 1970er Jahre sprechen wir von einer Zeit, in der Bilder von Hiroshima und Diskurse um Hiroshima eher Teil von Subgruppen (Friedensbewegung) oder von "intellektuelleren" Kunstformen (sagen wir dem Autorenkino) waren, und nicht etwas, was in den Mainstream der Popkultur vorgedrungen war.
Und dazwischen Raymond Burr, in der amerikanischen Fassung von GODZILLA so etwas wie der "kulturell nähere" Erzähler, der wahrscheinlich auch dort schon viel vor sich hin starren musste: hier wird er zu einer Pop-Art-Ikone des Reaction-Shots. (Oder zum Meta-Kommentar über die amerikanische Präsenz in Zeiten der Atombombe und des Kalten Kriegs, wie andere Zuschauer danach meinten). Tokyo wird von einem Monster in kleine Stücke kaputt gehauen und getreten, ein Liebes-Dreieck mit großem Melo-Einschlag entfaltet sich vor seinen Augen zwischen zwei japanischen Männern und einer Frau, aber er kann nur fassungslos da stehen und starren, während gelbe, blaue, magentafarbene Schleier ihm durch das Gesicht flimmern.
Der Film endet mit der mahnend-fragenden Einblendung "Fine?" über einem knallroten Bild. Die Antwort war auf gewisse Weise "ja". Am Ende des Kassensturzes war der Film mittelmäßig erfolgreich in Rom und Mailand: kein Flop, aber auch kein richtiger Hit. Cozzi hat mit GODZILLA ein komplett eigenes Subgenre geschaffen – und dessen (wahrscheinlich) einziger Vertreter. Ruggero Deodatos LA MOGLIE DI FRANKENSTEIN, Lucio Fulcis DEVIAZIONE PER L'INFERNO, Umberto Lenzis LA COSA DA UN ALTRO MONDO, Alberto De Martinos IL PENSIONANTE – das wäre doch was gewesen! Später machte wenigstens Dario Argento IL FANTASMA DELL'OPERA, aber der war "nur" ein "normaler" Film.


ab 16:30 Uhr

COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT ("Wie wäre es mit Spinat?")
Regie: Václav Vorlíček
ČSSR 1971
86 Minuten, OmU
Zemanek und Liška sind kleine Fische, die in ihrer Fabrik für organisierte Schieber einmal zu oft stehlen, einige Zeit absitzen und dann schon an den nächsten Coup gelangen: ein Ganove (Jurai Herz, der Regisseur von DER LEICHENVERBRENNER), der auf Friseur umgesattelt ist, möchte eine für die Rinderzucht konzipierte Verjüngungsmaschine als Verjüngungskur für zahlungskräftige Kunden missbrauchen. Leider hat die Verjüngungskur ungeahnte und schwere Nebenwirkungen, wenn die bestrahlten Subjekte vorher Spinat gegessen haben...

Der Geist eines hungrigen Säuglings im Körper einer Erwachsenen in einem Nobel-Restaurant: das kann nicht gut gehen!

 
Wer sich schon immer gefragt hat, wo der Missing Link zwischen Howard Hawks' MONKEY BUSINESS und HONEY, I SHRUNK THE KIDS liegt: in der Tschechoslowakei, genauer gesagt im Barrandov-Filmstudio!
COŽ TAKHLE DÁT SI ŠPENÁT war der Ersatzfilm für den ursprünglich geplanten PANE, VY JSTE VDOVA! ("Mein Herr, Sie sind eine Witwe!") des gleichen Regisseurs (Václav Vorlíček, Regisseur des in Deutschland berühmten Märchenfilms DREI HASELNÜSSE FÜR ASCHENBRÖDEL) und des gleichen Drehbuchautors (Miloš Macourek), deren siebenter gemeinsamer Film. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 1966 und konnten nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nahtlos weiterarbeiten, um populäre Komödien zu drehen.
Aller Anfang ist schwierig, und so begann "Wie wäre es mit Spinat?" auch eher zäh, mit einer eher schwerfälligen Exposition, die die beiden kleinen Betrüger Liška und Zemanek erst einmal in den Knast bringt, um sie dann auf ihrer neuen Arbeit auf eine Verjüngungsmaschine treffen zu lassen. Daneben werden auch die anderen Charaktere, darunter die Chefin einer argentinischen Rinderzuchtfarm auf Geschäftsreise, eher wenig elegant in den Film geführt. Dann aber fängt es an, für die Figuren richtig schief zu laufen – und der Film selbst beginnt, Fahrt zu nehmen. Nach einer geruhsamen Nacht neben der geliebten Frau bzw. Freundin wachen unsere beiden Gauner als Kinder auf: sie werden nun von Kinderdarstellern gemimt, die von den ursprünglichen Darstellern synchronisiert werden – kleine Jungs also, die mit röhrenden Stimmen und erwachsenem Jargon sprechen.
Im letzten Drittel gewinnt der Film eine Dynamik, eine Beschleunigung, schließlich eine Rasanz, ein Niveau an totaler Eskalation der Gags und der puren Action und der Lust an Chaos und Zerstörung, die sich durchaus mit Hollywood und Hawks messen können. Das Set: Eingangsbereich, Speiseaal und Küche eines Prager Hotels. Die Protagonisten: die zwei nunmehr gealterten Ganoven, ein körperlich aber geistig nicht gealterter weiblicher Säugling, ein jähzorniger Koch und viele Gäste. Die Action: eine komplette Verwüstung des Speisesaals und der Küche, mit Verfolgungsjagden über und unter die Tische, mit Verschüttung und Verschmierung unzähliger creme-haltiger Saucen und Desserts, mit einer obsessiven Jagd nach den letzten Resten von Spinat (notfalls auch vom Jackett-Rücken am Träger, der eben in einen Spinatbottich gefallen ist, abzukratzen und abzulecken), Verwechslungen von bratfertigen Lämmern und Säuglingen und dazwischen werden noch Leute geschrumpft. Eine filmische Lachexplosion erster Güte!


ab 20:00 Uhr

PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN ("Lady Terminator")
Regie: Tjut Djalil
Indonesien 1989
82 Minuten, EF
Es gelingt einfach keinem Mann, die Südseekönigin zu befriedigen. Deshalb murkst sie jeden Sexpartner ab. Nur einer schafft es, ihr die Schlange zwischen den Beinen zu entwinden und daraus einen Dolch zu zaubern. Die Südseekönigin nimmt übel und schwört Rache für in 100 Jahren. Ihr Fluch fällt auf eine Doktorandin der Anthropologie (Barbara Anne Constable), die vom Geist der Königin besessen wird und in den Straßen Jakartas ein Blutbad nach dem anderen veranstaltet. Können der Polizist Max und die Sängerin Erica sie stoppen?

In rasender Zerstörungswut durch Jakarta: Barbara Anne Constable als "Lady Terminator"

 
LADY TERMINATOR gehörte mit seinem verheißungsvollen Plakat ("She mates. Then she terminates" plus Barbara Anne Constable mit großer Wumme gleich fünf mal) und seinem eher exotischen Ursprungsland zu den heiß erwarteten Filmen des internationalen Tags. Die Versprechen wurden mehr als eingelöst: in kompakten, knapp 80 Minuten dürfte der Film mehr knallige Action und blinde Zerstörungswut auffahren als die kompletten sechs Teile von TERMINATOR zusammengenommen – und dazwischen auch mehr ruppigen Sleaze. Die Szene, als die Titelheldin (ja-ja, eigentlich Antagonistin) in ein Polizeirevier einfällt und es Raum für Raum, Korridor für Korridor, Stockwerk für Stockwerk in nicht weniger als eine monströse Schlachteplatte kaputt und tot schießt, war alleine schon der Eintritt wert. Der Film weiß dann auch ganz genau, was er an der charismatischen Barbara Anne Constable hat, die er in ihrer leider einzigen Filmrolle leicht von unten gefilmt in eine Action-Ikone verwandelt, in eine tödliche Göttin der Zerstörung. (Als sie noch nicht besessen ist, mimt sie die tollpatschige, leicht naive Anthropologie-Doktorandin. Nach ihrer Inbesitznahme durch die Südseekönigin ist sie eine komplett andere Person. Bei aller Action ist LADY TERMINATOR zumindest für die Hauptfigur auch Schauspielerkino, gleichwohl Max' Christopher J. Hart wie ein Jeff Daniels mit eingefrorenem Gesicht und vergessenem Text wirkt).
Der internationale Anspruch der Produktion zeigt sich nicht nur in den Darstellern, mit einigen anglo-amerikanischen Protagonisten sowie rein indonesischen Side-Kicks und Komparsen, sondern auch in einigen geschickt eingefügten Second-Unit-Shots von New York (man sieht die Twin-Towers), die die geografische Verortung verundeutlichen: die Discos, Malls, Hinterhofgassen, Straßen und mehrspurigen Schnellstraßen scheinen aber offenbar alle in (Süd)ostasien zu liegen – ihre kalte Großstadtdschungel-Anonymität bilden den idealen Boden für rasante Verfolgungsjagden zu Fuß und mit dem Auto.
Faszinierend ist auch, dass PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN (also wörtlich "Die Rache der Südseekönigin") kein reiner TERMINATOR-Ripoff ist, sondern eher Motive aus James Camerons Film in eine mythologische Horror-Märchengeschichte einbaut. Und die ersten paar Minuten erinnern dann auch eher an Softerotik-Sleaze-Hobel italienischer Provinienz als an US-SciFi-Action der Zeit: glitschig-schmieriger Sex, fotografiert in edel glitzernden (aber doch sichtbar billigen) Dekoren, mit einem bösen Ende für den von der Südseekönigin berittenen Mann, der seinen Penis von der Schlange abgebissen bekommt, die sich in ihrer Vagina befindet und dem dann nichts anderes bleibt, als sich selbst mit Blut voll zu spritzen (same procedure as 100 years ago, als dann die besessene Anthropologin schmierige Hotelbedienstete und in Punk-Klamotten gekleidete Halbstarke verführt).
Wenn eines, dann zeigt LADY TERMINATOR dass gutes Exploitationkino international ist. 34 Jahre, eine bewegte Zensurgeschichte mit leicht ummontierter internationaler Fassung und 11.000 Kilometer zwischen Jakarta und Frankfurt am Main ändern nichts daran, dass der Film an diesem Sonntagabend sich ganz direkt in die Herzen des Publikums hineinballerte.


ab 22:15 Uhr

LE FRISSON DES VAMPIRES ("Das Schaudern der Vampire" aka "Sexual-Terror der entfesselten Vampire")
Regie: Jean Rollin
Frankreich 1971
95 Minuten, OmU
Isla und Antoine haben frisch geheiratet und möchten die Cousins der Braut in deren Schloss besuchen. Gerüchte über deren Tod erweisen sich als falsch – oder auch nicht: die beiden Exzentriker sind Vampire geworden und ihr vampiristisches Entourage übt auf Isla einen wesentlich größeren Reiz aus als die Aussicht auf den Vollzug der ersten Ehenacht mit ihrem Gemahl.

Das Brautpaar und die Dienerinnen der Vampire

 
Die letzten Terzas endeten immer auf einer jenseitigen Note: Fulcis L'ALDILÀ und QUELLA VILLA ACANTO AL CIMITERO 2021 und 2019. Dieses Jahr wurde der Ausklang mit Jean Rollin weitergeführt, nachdem LA ROSE DE FER 2022 das Terza im Jenseits eines Friedhofs beziehungsweise am jenseitigen Strand von Pourville beendet hatte. Einen Friedhof gibt es auch in LE FRISSON DES VAMPIRES und er endet auch am Strand von Pourville.
Rollin ist gewissermaßen der Ozu des europäischen Vampirfilms: ein Teil seiner Filme mit ihren vielen ähnlichen Vampir-Titeln wirken zusammengedacht fast wie ein einziger Film, und so hat mich das letzte Drittel von LE FRISSON DES VAMPIRES, den ich 2018 kennengelernt habe, merkwürdig auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich wohl Teile mit dem Ende (oder zumindest längeren Passagen) von LE REQUIEM DES VAMPIRES verwechselt habe. So fühlte ich mich im letzten Drittel "wie im falschen Film" – letztendlich ein Meckern auf sehr hohem Niveau, das bestätigt, dass ich LE FRISSON etwas weniger mag als REQUIEM und ihn in Kenntnis von mittlerweile ein paar Rollins nicht mehr zu den Tops zähle.
Aber es ist natürlich immer noch Rollin. Über LE REQUIEM DES VAMPIRES schrieb ich einst: "Karge französische Landschaften, in denen die Figuren ganz klein und verlassen erscheinen; leicht verfallene, mystisch aufgeladene Friedhöfe; ein Schloss, das man ohne Mühe als denkmalgeschütztes historisches Gebäude identifizieren kann, das aber Rollin mit der Kamera in eine Art Paralleldimension hebt. Abgesehen von einem Klecks Kunstblut hier und da und einer gelegentlichen Beleuchtung in Primärfarben entfaltet sich Rollins Vampirmär völlig ohne Spezialeffekte, denn für den Franzosen ist das Kino selbst der Spezialeffekt." Und wo merkt man letzteres besser als in einem Kino?
Völlig außerweltlich war Rollin dennoch nicht. Ihn als politischen Regisseur zu bezeichnen, würde wohl nicht vielen auf den ersten Blick einfallen, aber LE FRISSON DES VAMPIRES zeigt wieder seine Sympathie für die Verstoßenen, die Freaks, die Außenseiter, die Marginalisierten, die außerhalb der gängigen gesellschaftlichen und sexuellen Normen stehen, während die spießigen, geradlinigen Alpha-Männchen mit ihren kleinbürgerlichen und engstirnigen Vorstellungen als Antagonisten wirken – und auch mal bloßgestellt und ins Lächerliche gezogen werden, etwa in der fantastischen Bibliotheksszene, in der Antoine wie von unsichtbarer Hand die ganzen Bücher über den Kopf geworfen bekommt. LE FRISSON DES VAMPIRES war auch der ideale Abschluss für das Thema, das sich, angefangen mit METTI, UNA SERA A CENA, durch das ganze Festival zog: Ehe in der Krise. Denn Rollin erzählt hier auch die Geschichte einer dysfunktionalen Ehe und einer Frau, die außerhalb dieser pappigen und unwürzigen Ehe und ihrer Restriktionen (Antoine ist furchtbar besitzergreifend, auch wenn er seine "erste Nacht" nicht bekommt) von den köstlichen Früchten des nicht-heteronormativen Sex, des Vampirismus und des Lebens außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kostet.
Des weiteren schrieb ich über Rollin einmal: "Seine Filme fließen wie Träume vorbei. An nicht alles kann man sich erinnern und wenig scheint vernünftig zu sein – aber nach dem Aufwachen scheint die Realität noch etwas öder, und mit dem nächsten Schlaf lockt eine süße Versuchung!"
Und ich bin sicher: das nächste Terza wird mit vielen weiteren süßen Versuchungen locken!

Ende am Strand von Pourville

 

Sonntag, 13. Februar 2022

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 2)

 Was bisher geschah... Erster Teil des Festivalberichts hier



Freitag, 27. August 2021


ab 20.00 Uhr



BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA ("Bonnie und Clyde auf Italienisch")

Regie: Steno

Italien 1983

89 Minuten, dF

Der tollpatschige Scherzartikelverkäufer Leo (Paolo Villaggio) und die extrem kurzsichtige Bahnhofansagerin Rosetta (Ornella Muti) werden bei einem Banküberfall als Geiseln entführt, befreien sich durch Zufall und nehmen die Beute mit. Durch eine Verwechslung werden sie für die Haupttäter gehalten und sind fortan auf der Flucht.

Durch eine freundliche Leihgabe bin ich 2019 an FANTOZZI geraten, der berühmten italienischen Kultkomödie mit Paolo Villaggio um den tollpatschigen und von Pech verfolgten kleinen Angestellten Fantozzi (die über die folgenden 25 Jahre ganze neun (sic!) Folgefilme, alle mit Paolo Villaggio nach sich zog). Mit dem Komödienspezialisten Luciano Salce (IL FEDERALE, LA VOGLIA MATTA, SLALOM, BASTA GUARDARLA hatten mir in unterschiedlichem Maße alle gefallen) konnte doch eigentlich nichts schief gehen. Nach 20 Minuten war ich vollkommen am Boden zerstört, bereit, auf Knien robbend um Gnade zu winseln – und brach den Film ab (etwas, was ich nur sehr, sehr selten mache). Der Komiker Paolo Villaggio (der auch Autor der Romanvorlage und Drehbuchautor war) und ich werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Der grobe Klamauk stört mich weniger als die misanthropische Schadenfreude, die die Grundlage für die meisten Gags bildet.

Eine ganz so harte Herausforderung wie FANTOZZI war BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA nicht, immerhin gab es Ornella Muti zu sehen, und durch das Drehbuch ein gewisses Roadmovie-Feeling, das immerhin alle paar Minuten ein neues Setting brachte (andererseits die deutsche Synchro, die gerade bei Klamaukkomödien noch mal 385 Schippen drauflegt).

Die Gelegenheiten, bei denen ich allenfalls leicht lächelte, waren in anderthalb Stunden an einer Hand zu zählen. Dem Vergnügen der anderen Leute im Publikum sollte und soll das natürlich keinen Abbruch tun: BONNIE E CLYDE ALL'ITALIANA fand viele begeisterte Zuschauer und viele laute und herzliche Lacher.


Nach diesem Stahlbad war ich bereit für einen knüppelharten und ruppigen Frauenknastfilm aus den schmutzigsten Untiefen der Schmier-Hölle... und bekam nicht nur den schönsten Tscherkassky-Film des Wochenendes, sondern auch ein großes Highlight unter den abendfüllenden Vorstellungen des diesjährigen Terza.



ab 22.30 Uhr


THE EXQUISITE CORPUS

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2015

18 Minuten

Eine Frau liegt am Strand und kämpft mit ungeheuren Gefühlen...

Der rauschhaft-wahnwitzige Höhepunkt unter den Tscherkassky-Filmen des langen Terza-Wochenendes. Tscherkasskys Filme beginnen oft schon auf einem sehr hohen Intensitätsniveau, das sie dann noch etwas fester zurren. THE EXQUISITE CORPUS hingegen fängt langsam, sehr langsam, geradezu meditativ an. Mit verfremdetem Material aus einem US-amerikanischen Nudistenfilm der frühen 1960er Jahre führt er uns zunächst zusammen mit einem Pärchen an einen sonnendurchfluteten Badestrand, und dann, nach und nach mit steigernder inhaltlicher und auch inszenatorischer Intensität, in die Gefühlswelten und erotischen Fantasien der Frau, in den puren Cine-Sex, in den Kino-Orgasmus...


THE EXQUISITE CORPUS nutzte unter anderem Filmmaterial aus Andrea Bianchis berüchtigen (und vom Hofbauer-Kommando zurecht sehr geschätzten) Exorzisten-Ripoff-Sexfilm MALABIMBA – und hatte dadurch einen natürlichen Querbezug zum "Hauptprogramm". Dass er auch noch der traumhaft perfekte Vorfilm für einen der Höhepunkte des Festivals sein sollte, war natürlich die Krönung.




PRIGIONE DI DONNE ("Frauen im Zuchthaus")

Regie: Brunello Rondi

Italien 1974

84 Minuten, dF

Die französische Studentin Martine (Martine Brochard) ist zur falschen Zeit am falschen Ort, als sie bei einer Razzia in Italien festgenommen und wegen untergeschobener Drogen zu einer harten Gefängnisstrafe verurteilt wird. Zusammen mit der charismatischen Susan (Marilù Tolo) und anderen Zellengenossinnen wehrt sie sich gegen das repressive Regime im katholischen Gefängnis. 

Wer einen ruppigen Exploitation-Sleaze-Hobel erwartet hat – ja, auch das ist PRIGIONE DI DONNE, aber eben nur in Teilen. Er ist ebenso ein politisch engagiertes Sozialdrama, eine Charakterstudie über weibliche Solidarität, ein zorniger, ungezügelter Wutschrei gegen die Institution der katholischen Kirche und eigentlich gegen alle repressiven Autoritäten, ein empathisches Melodrama über tragische Schicksale, ein quasi-soziologischer Blick auf Gewaltstrukturen und kollektive Gewaltsozialisation, ein gefühlvolles und berauschtes Bildgedicht. Auf jeden Fall ein unfassbarer und unfassbar großartiger Film. Schon der Vorspann mit Blick auf den entvölkerten Gefängnistrakt wirft einige Erwartungen über Bord und eröffnet große Horizonte: Albert Verrecchias auf Zithern gespielte Titelmelodie klang für mich intuitiv irgendwie "griechisch", auf jeden Fall aber trotz einem Hauch Melancholie auch eher heiter, beschwingt – keineswegs aber Musik, die man in einem voraussichtlich recht düsteren Frauenknastfilm erwarten würde (die Zither-Musik taucht später intradiegetisch wieder auf: als Platte, die von den Nonnen aufgelegt wird für die Hofspaziergänge).

Mein Sitznachbar für diesen Film sagte mir kurz vor Filmbeginn, dass er ein wenig Befürchtungen hege: den Trailer, den er vorab gesehen hatte, ließ einen sehr steifen, statischen Film erwarten. Seine Befürchtungen (das bestätigte er mir danach auch) wurden weggesprengt: PRIGIONE DI DONNE ist ungemein dynamisch gefilmt und geschnitten, er schert sich nicht darum, Ordnung in seine Handlung zu schaffen, sondern taucht mit seiner neugierigen Handkamera immer tief ins Getümmel des Frauenknasts im Aufruhr. Zahlreiche Szenen wirken in ihrem "Chaos" durchaus "fellinesk" – da Regisseur Brunello Rondi zu den Stammdrehbuchautoren Federico Fellinis gehörte und damit zu den Co-Erschaffern dessen, was man gemeinhin "fellinesk" nennt, ist das auch nicht wirklich verwunderlich.


Oben: Martine und Susan
Unten: das Gefängnis wird von Nonnen mit eiserner, gnadenloser Hand geführt, was die Insassinnen zur Rebellion bringt

NELLA CITTÀ L'INFERNO, der beim 5. Terza lief, war in narrativer Hinsicht wahrscheinlich ein Bezugspunkt für PRIGIONE DI DONNE (sicherlich auch, weil Castellanis Film so einige ständig wiederkehrende Eckpunkte des Frauenknast-Subgenres vorwegnahm): da ist die unschuldig verurteilte, auch in ihrem Habitus unschuldige junge Frau, die in die Hölle des Gefängnisses kommt (Giulietta Masina – Martine Brochard); die alteingesessene und mit allen Knastregeln vertraute, charismatische Altinsassin (Anna Magnani – Marilù Tolo), die zunächst die Neue veräppelt, dann aber unter die Fittiche nimmt; der Fall von der Unschuld der unschuldigen Neuen (Masina kommt raus, gerät auf die schiefe Bahn und kehrt abgebrüht in den Knast zurück – Brochard überwindet ihre "zivilisierten" Hemmungen und beginnt selbst, brutale Gewalt für ihre Zwecke einzusetzen).

Dennoch liegen auch die Unterschiede auf der Hand: NELLA CITTÀ L'INFERNO ist ein Schicksalsmelodrama, der vom Fatalismus des Film Noir gar nicht so weit entfernt ist. PRIGIONE DI DONNE ist hingegen vor allem auch politisches Anklagekino im Genregewand und in einer besseren Welt würde man ihn mit Elio Petris und Damiano Damianis wesentlich berühmteren Polizeifilmen und Politthrillern in einem Atemzug nennen. Exekutive und legislative Gewalten kommen hier ebenso schlecht weg wie kirchliche Autoritäten (das Gefängnis des Films wird von Nonnen geleitet!) oder die Sensationspresse, die aus der Ferne den Aufstand im Knast voller Erwartungen auf Blutvergießen gierig beobachtet und filmt. Fatalistisch wird der Film deshalb nicht: vielmehr erschafft er eine Art kleine Utopie in der Freundschaft einiger Frauen, die sich gegen die Gewalt in einer hoffnungslosen Situation wehren.

In einer so repressiven, von kirchlichen Verzichtspredigten geprägten Umgebung wird Sexualität zu einem Schutzschild, zu einer Angriffswaffe, zu einer Fluchtmöglichkeit. Den fürchterlichen Schmerzensschreien einer verblutenden, von den Nonnen hilflos gelassenen Co-Gefangenen entkommt Martine in nächtlicher Selbstbefriedigung. Das demonstrative Masturbieren vor den Nonnen, die gerade Duschaufsicht haben oder vor den männlichen, bewaffneten Wachen, gehört hingegen zu den scharfen Waffen der weiblichen Häftlinge. Letzteres eine geradezu halluzinatorischer Moment: Marilu Tolo entblösst sich leicht und beginnt sich vor dem Wärter zu streicheln, geilt ihn sichtlich auf und endet das ganze mit einer lauten und wüsten Schimpftirade gegen ihn. Und schließlich am Ende der "zärtliche Vierer", als Susan, Martine und zwei weitere Frauen aus Susans Bande, die allesamt als Rädelsführerinnen des Aufstands auf ein abgelegenes Inselgefängnis gebracht worden sind, auf Vorschlag Susans "eine gute Zeit verbringen" und ihrer Zelle zusammen Sex haben. Der Film zerfällt... nein, zerfließt hier in seiner Montage komplett, die Bilder ekstatischer Gesichter überlagern sich mit Impressionen reissender Meereswellen... Ein Bildgedicht nicht unähnlich dem, den die Terza-Zuschauer knapp 80 Minuten vorher in Peter Tscherkasskys THE EXQUISITE CORPUS sahen. Im zweiten Filmprogramm dieses Terza-Abends hat sich aber auch wirklich alles zusammengefügt! 

Ohne zu einem Thesenfilm zu werden macht der Film ganz deutlich, dass seine Sympathien bei den gefangenen Frauen liegt: bei der zunächst unschuldigen Martine, bei der mit allen Wassern gewaschenen Susan, bei den kleinkriminellen Insassinnen, bei den politischen Insassinnen. Dabei bleibt PRIGIONE DI DONNE doch auch unsentimental, ganz ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Zorn ist oft ungerecht, und affektive Gewalt gegen repressive Strukturen trifft physisch als Erstes Individuen, im Zweifelsfall unschuldige Leute. Als Martine langsam Gewalt als Handlungs- und Kommunikationsoption für sich entdeckt, wendet sie das dann auch gegen die Frau an, die sie vermeintlich verraten hat: eine Frau, die sich nicht so verhält, als wäre sie intellektuell besonders raffiniert bzw. in irgendeiner Weise verantwortungsbewusst. Beim großen Gefängnisaufstand schnappt sich eine Gruppe von Gefangenen dann auch eine junge Nonne, die im Laufe des Films mehrmals als sichtlich angewidert von der strukturellen Gewalt gegen die Inhaftierten gezeigt wurde – ausgerechnet sie wird dann geschlagen, getreten, zur peinlichen Demütigung ausgezogen.



Das Herz von PRIGIONE DI DONNE ist das Duo aus Martine Brochard und Marilù Tolo und die sich entwickelnde Freundschaft zwischen ihren beiden Figuren. Rondis Film ist auch auf gewisse Weise ein Female-Buddy-Movie. Beide Charaktere (dramaturgisch ähnlich wie in NELLA CITTÀ L'INFERNO) sind zunächst gegensätzlich und nähern sich zunehmend an: die Unschuldige verliert ihre Unschuld, die Alteingesessene offenbart Verletzlichkeiten hinter ihrer harten Art. Brochard ist schauspielerisch ganz solide, aber es ist Marilù Tolo, die die Leinwand geradezu sprengt mit ihrer charismatischen Präsenz. Doch auch als Ensemblefilm macht PRIGIONE DI DONNE einiges her, denn nicht nur die zentralen Nebenfiguren, die Mitglieder von Susans Prison-Gang, sind toll besetzt (nach den Regeln des Exploitationkinos natürlich auch mit jüngeren, attraktiven Frauen, deren Kleidung eher locker sitzt), sondern auch dialogfreie Randfiguren, andere Insassinnen des Knasts: vielfach auch ältere Frauen mit markanten, kantig-faltigen Gesichtern, von denen jedes eigene Geschichten erzählt (vielleicht auch nach den Rezepten von Fellini-Filmen, in denen jede noch so "unwichtige" Nebenfigur eine eigene "Charakterfresse" ist).

PRIGIONE DI DONNE ist wie erwähnt alles andere als statisch, sondern ein sehr dynamischer, bildgewaltiger Film, teils regelrecht "dreckig" gefilmt, wie aus der Hüfte geschossen wirkend, voller assoziativer Montagen, mit wilder Handkamera, die um das Geschehen wahlweise rast oder gar mit einzelnen Figuren sogar tanzt. Es ist ein Film, der dramaturgisch im positiven Sinne sehr "uneben" ist: der Ausbruch der großen Revolte ist kein Kulminationspunkt einer lang vorbereiteten und brodelnden Entwicklung, sondern eher spontan, den zufälligen Umständen geschuldet. Ebenso endet der Film weniger als dass er abrupt abbricht: Martine wird scheinbar so willkürlich entlassen wie sie inhaftiert wurde.

Trotz kurzer Laufzeit ein großer Film, mit einem klaren Verstand im Kopf, einer geballten Wut im Bauch und dem Herz am rechten Fleck. Ein Meisterwerk.



Samstag, 28. August 2021


ab 13.00 Uhr



TRAIN AGAIN

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2021

20 Minuten

Eine Zugfahrt, die ist lustig...

Deutschlandpremieren sind beim Terza keine absolute Seltenheit, denn immer wieder liefen bei diesem Festival Filme, die auch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Kinopremiere tatsächlich zum ersten Mal in Deutschland im Kino liefen. TRAIN AGAIN war nun aber eine brandaktuelle Deutschlandpremiere mit Peter Tscherkasskys neuestem Film: eine Montage mit Filmmaterial zu Zugfahrten, Schienen, Bahntunnels, Lokomotiven. Wie von Tscherkassky gewohnt eine sehr rasante Fahrt.



PER SALVARTI HO PECCATO ("Für dich hab ich gesündigt")

Regie: Mario Costa

Italien 1953

79 Minuten, dF

Elenas (Milly Vitale) und Guidos (Pierre Cressoy) kleiner Sohn ist schwer krank und braucht eine Bluttransfusion seines Vaters – seines leiblichen Vaters wohlgemerkt! Und das ist nicht Guido, sondern der verurteilte Straftäter Carlo (Frank Latimore), mit dem Elena während des Kriegs schlief, um Guido vor einem Exekutionskommando zu retten.

Was sich in der Synopsis vielleicht als Vorgänger der Kindersterbe-Melodramen-Welle der 1970er Jahre liest (der Startschuss L'ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA und ein großer Höhepunkt des Trends, QUESTO SI CHE È AMORE, liefen bereits beim Terza), erwies sich dann doch als relativ generisches und zumindest für mich nicht sonderlich mitreissendes oder träneninduzierendes Melodrama.

Melodramen gelten als Filme, in denen Frauen sehr viel heulen, aber in PER SALVARTI HO PECCATO ist es eher so, dass Männer "rumheulen", sich selbst ständig bemitleiden und allgemein überhaupt übelnehmen – also zumindest Guido, der eigentlich während des ganzen Films nur rummault, seinen eigenen todkranken Sohn stellvertretend für seine Ehefrau für ihren "Ehebruch" abstraft, indem er ihm Küsse und Umarmungen verweigert und zwischendurch auf seiner harten, langwierigen Arbeit als leitender Angestellter einer Zeitung Druckentwürfe mit einem Zweisekundenblick abnimmt. Tja, Männer, zarte Mimöschen...

Elena hingegen rettet nicht nur ihren Ehemann vor den Henkern, "organisiert" völlig selbständig den biologischen Vater im Gefängnis, stellt sich mit dessen Mutter gut, besucht in jeder freien Minute ihren Sohn, zumindest in den freien Minuten, die ihr harter Job als Opernsängerin zulässt. Das ist überhaupt interessant: ihr Opernsänger-Job wird tatsächlich nicht weiter thematisiert in einer Zeit, in der verheiratete Frauen besonders in Filmen eher als Hausfrauen zu sehen waren.

Ebenso überhaupt nicht weiter thematisiert (vielleicht ein Problem der deutschen Synchronisation?) ist die Frage, welche Rollen Guido und Carlo im Weltkrieg spielten. War Carlo bei den Faschisten und Guido bei den Partisanen? Oder vielleicht umgekehrt (was eigentlich noch wesentlich interessanter wäre)? Oder waren beide auf der "gleichen Seite"? Diese Fragen sorgten nach dem Film im Hof der Karlsruher Schauburg noch für einigen Diskussionsstoff. Eine Antwort gibt es bis heute nicht...


...dafür ging es mit dem nächsten Film dann tatsächlich zurück in den Zweiten Weltkrieg. Zu den Deutschen allerdings. Oder besser gesagt zu einem einzelnen deutschen Soldaten.



ab 15.45 Uhr


FLASHBACK

Regie: Raffaele Andreassi

Italien 1969

106 Minuten, OmU

Italien, gegen Ende der deutschen Besatzung im Frühling 1944: der Wehrmachtsoldat Heinz (Fred Robsahm) wird von seiner Einheit als Wache auf einem hohen Baum zurückgelassen. Am nächsten Morgen sind alle seine Kameraden verschwunden, Ruhe ist in das Umland eingekehrt und das naheliegende Dorf ist völlig menschenverlassen. Nachdem er einige Tage seinen Posten diszipliniert gehalten hat, klettert Heinz schließlich vom Baum herunter, beginnt, die umliegende Landschaft und das verlassene Dorf zu erforschen und wird nach und nach von Erinnerungen überwältigt.

Vor dem Hauptfilm lief der historische Kinotrailer von Antonio Pietrangelis IO LA CONOSCEVO BENE. Christoph erklärte, dass dies ein Grenzgängerfilm sei, bei dem er und Andi schon länger überlegt haben, ihn beim Terza zu zeigen. FLASHBACK war bei dieser Ausgabe also der Film, der die Grenzen des Konzepts "Festival zum italienischen Genrefilm" auslotete. Er gilt als einziger Spielfilm des relativ obskuren Raffaele Andreassi (der zugleich auch Autor, Kameramann und Cutter des Films war), der vor allem im Dokumentarkurzfilm (sowie im Journalismus und in der Lyrik) zuhause war. Weniger als klassischer Kriegsfilm entwickelt sich Andreassis Werk als eine Meditation über den Krieg, über das Verhältnis von Krieg, Mensch und Natur: ein fast dialogfreies Einpersonen-Freiluftkammerspiel und ein Film, von dem ich mal behaupten würde, dass er in dieser Form ziemlich singulär ist.

Tatsächlich "passiert" zunächst erst einmal wenig: ein Soldat sitzt auf einem Baum, beobachtet die Umgebung, isst von seiner Verpflegungsration, schläft, langweilt sich und hadert damit, ob er runterklettern darf und kann oder nicht. Nach dem Runtersteigen vom Baum ist er nicht wesentlich weiter, sondern befindet sich immer noch in einem menschenleeren Nirgendwo, ist auf sich allein gestellt, ja eigentlich komplett auf sich selbst zurückgeworfen und beginnt dann eben, sich zu erinnern.

Es fängt mit Erinnerungen an Treffen mit seiner Verlobten an, die schließlich langsam übergehen in etwas erotischere Gefilde. Mit einem Stück Kreide malt er die Umrisse einer nackten Frau auf einen Felsen und schmiegt sich an die Zeichnung. Erinnert sich an ein Schäferstündchen bei einer Prostituierten. Im verlassenen Dorf verwandelt sich Eros aber allmählich in Thanatos, erotische Begierden weichen den Erinnerungen an die Verbrechen, an die er als Soldat beteiligt war: eine Hinrichtung von Partisanen; ein Überfall auf ein italienisches Bauernhaus mit der Massenvergewaltigung einer jungen Frau. Heinz bricht im Angesicht der Erinnerungen, die ihn heimsuchen, nach und nach zusammen.

Ein Soldat läuft durch eine menschenverlassene Berglandschaft... Das ist der Hauptbestandteil von FLASHBACK, der über weite Strecken ein sehr ruhiger, meditativer Film ist, in dem nicht besonders viel "passiert". Der Beginn, mit dem Soldaten, der einschläft und dann später wieder aufwacht und alle Menschen um ihn herum sind verschwunden, suggeriert eine Art Rip-van-Winkle-Geschichte: was ist, wenn Heinz nicht nur das Ende des Zweiten Weltkriegs verschlafen hat, sondern vielleicht das Ende jeglicher Zivilisation – also sozusagen der letzte Mensch auf der Welt ist... Gerade das erste Drittel suggeriert manchmal, dass wir uns in einer Art Parallelwelt befinden und dass nicht nur die Front sich 20 Kilometer weiterbewegt hat. Als Heinz eine bereits nicht mehr ganz so frische, aber doch eindeutig als deutschen Soldaten identifizierbare Leiche bei einem Bergbach entdeckt, zerstäubt sich dieser Eindruck ins Nichts und schafft wieder eine konkrete Jetzt-Welt. Vielleicht ist es besser so?

FLASHBACK ist auch ein Film über die sprichwörtliche "Banalität des Bösen": Heinz ist kein böser Mensch, sondern im Gegenteil ein eher schüchtern wirkender, eher sympathischer junger Mann mit einem sanften Gesicht und schönen Augen, qua Dramaturgie des Films erst einmal auch der Sympathieträger. Der Film offenbart uns nach und nach in Heinz' eigenen, alptraumhaften Erinnerungen, dass Heinz nicht nur ein hübscher junger Mann, sondern auch ein Mörder und Vergewaltiger ist, eines von vielen kleinen Rädchen, die die Maschinerie von Kriegsverbrechertum aufrecht erhalten. Ein "ganz gewöhnlicher Mann" (im Sinne Christopher Brownings) in der Maschinerie einer faschistischen Armee.

Gesprochen werden in FLASHBACK zwei (auf gewisse Art drei) Sprachen: die deutschen Soldaten zu Beginn sprechen Deutsch, ebenso wie Heinz, wenn er alleine mit sich selbst laut spricht. Seine inneren Monologe hingegen erklingen auf Italienisch (teilweise übersetzt er damit allerdings das, was er laut sagt). Gegen Ende, als Heinz aus der Ferne Bauern beobachtet, kommt noch ein emilianischer Dialekt hinzu. Wie befremdlich musste der Film einem italienischen Publikum 1969 wirken. Umgekehrt befremdlich wirkte dann der Film auch vor einem deutschsprachigen Publikum 2021: Beim Terza lief FLASHBACK größtenteils im originalen Deutsch ohne Untertitel, hochitalienische Worte (also Heinz' innerer Monolog) wurden live untertitelt, die emilianischen Wortfetzen wurden nicht übersetzt (weil extrem schwer übersetzbar ohne Kenntnisse des Emilianischen – wahrscheinlich sind sie zum Verständnis im engeren Sinne unwichtig).

Später im Innenhof des Kinos schnappte ich von einem Co-Zuschauer auf, dass der Film seinen Bildern nicht zu 100 Prozent vertraue: tatsächlich gibt es so einige Doppelungen zwischen Heinz gesprochenen deutschen Monologen und seinen italienischen inneren Monologen. Vielleicht waren letztere eine Art "Ersatz" für Untertitel für das italienische Publikum? Ja, FLASHBACK wagt den Schritt zum kompletten Verzicht auf das gesprochene Wort nicht, aber ich denke trotzdem, dass er einen wesentlich weiteren Weg geht als viele "klassischere" Kriegsfilme.

Ich bin nicht völlig restlos weggeblasen worden von FLASHBACK, halte ihn aber dennoch für einen der interessantesten Filme des Terza-Programms 2021. Immer wieder muss Terrence Malicks (meiner Meinung nach völlig überschätzter – zumal ich die frühere Verfilmung des gleichnamigen Romans bevorzuge) THE THIN RED LINE als Paradebeispiel des atypischen, kunstvollen Kriegsfilms, der den entfremdeten und/oder traumatisierten Krieger und die unberührte Natur philosophisch zusammen konfrontiert, herhalten. Manche halten ihn für den ersten Film, der so etwas probiert, aber natürlich gab es vorher schon solche außergewöhnliche Kriegsfilme wie Elem Klimovs IDI I SMOTRI (1985), Cornel Wildes BEACH RED und Miklós Jancsós CSILLAGOSOK, KATONÁK (beide 1967), Oleksandr Dovženkos ARSENAL (1929), die so etwas gemacht haben. FLASHBACK könnte man vielleicht in dieser Reihe von Filmen aufzählen – er wäre da in passender Gesellschaft.


Die Spannweite des Festivals: "naive" und "leichte" Genrefilme neben dem Genrekino der "großen Namen" (Fulci, Argento, Bava) neben ruppiger, harter Kost für Hartgesottene neben ultraklassischen, klar Umrissenen Genres neben völlig unerforschten oder vergessenen oder gerne unterschlagenen Subgenres neben Grenzgängern an der Schnittstelle zwischen Genre- und Avantgarde-Kino... genau diese Vielfalt ist das Wunderbare am Terza Visione und wurde in diesem Jahr, nicht zuletzt dank des verlängerten und erweiterten Programms, besonders gut repräsentiert. Einige Feedbacks zu FLASHBACK waren offenbar wenig begeistert. Ich meinerseits kann Andi und Christoph nur immer wieder danken, diese sie diese sehr vielfältigen Programme INKLUSIVE dieser Grenzgänger (in den letzten Jahren gehörten Cavallones SPELL (DOLCE MATTATOIO) und Questis ARCANA dazu) zusammenstellen.



ab 20.00 Uhr


ROMA COME CHICAGO ("Mord auf der Via Veneto")

Regie: Alberto De Martino

Italien/Frankreich 1968

104 Minuten, dF

Mario (John Cassavetes) und Erico (Nikos Kourkoulos) überfallen zusammen eine Poststation. Während Mario kurz darauf von der Polizei gefasst wird und sein Doppelleben als Räuber seiner Frau offenbaren muss, plant der Hitzkopf Erico zunehmend brutale Überfälle.

John Cassavetes in einem italienischen Gangsterfilm, das klingt wie Ostern und Weihnachten zusammen. Und wenn dann noch Luigi Pistilli eine Nebenrolle spielt, kann eigentlich nichts schief gehen!

Nun... schief gehen wäre der falsche Begriff, aber ROMA COME CHICAGO hat mich nicht wirklich begeistert. Nach einer sehr starken ersten Hälfte driftete er meiner Meinung nach in ein Gefühl von Plotanhäufung: dann passiert noch das, dann kommt das etc. – so dass der Film in der zweiten Hälfte etwas an mir vorbeiplätscherte. Poliziesco-Einerlei würde ich, der Polizeifilme nicht gerade zu seinen liebsten Italo-Genres zählt, das nennen. Erschwerend kam hinzu, dass Cassavetes im zweiten Drittel gefühlt komplett aus dem Film verschwindet und der weniger charismatische Nikos Kourkoulos zur Hauptfigur wird. Das ist natürlich alles Jammern auf einem ganz respektablen Niveau. ROMA COME CHICAGO ist kein schlechter Film, und gerade in den letzten 10 Minuten drückt er noch mal ordentlich auf die Tube mit einer sehr denkwürdigen Autoverfolgungsjagd durch eine Kiesgrube.

Zu den schönsten Momenten zählen zweifelsohne die Rückblenden im ersten Drittel des Films: die Erinnerungen Marios, wie er seiner künftigen Frau einst den Hof machte, wie sie zusammen ausgingen und sich verliebten. Gefühlvolle Szenen, die sowohl der Mario-Figur wie auch der Ehefrau nicht nur Charaktertiefe verliehen, sondern auch eine emotionale Fallhöhe schaffen.

Zu erwähnen sind natürlich wieder die vielen Querverbindungen und Kreuzverweise, die auf so einem Terza-Visione-Festival entstehen. Der Sohn von Mario heißt wie das schwerkranke Kind in PER SALVARTI HO PECCATO Luigino. Als sein Vater in den Knast kommt und seine Mutter darum kämpft, mit der neuen Situation zurecht zu kommen, wird er in ein Pensionat gesteckt, und empfangen wird er von... Nonnen – Figuren, die nach PRIGIONE DI DONNE nichts Gutes für den Kleinen erwarten lassen!



ab 22.30 Uhr



ULTIMO MONDO CANNIBALE ("Mondo Cannibale 2: Der Vogelmensch")

Regie: Ruggero Deodato

Italien 1977

91 Minuten, dF

Die Forscher Robert (Massimo Foschi) und Rolf (Ivan Rassimov) verunglücken mit ihrem Flugzeug mitten im Urwald. Robert wird von einem Kannibalenstamm gefangengenommen. Eingesperrt in einem Käfig wird er Zeuge gewaltsamer Rituale.

ULTIMO MONDO CANNIBALE habe ich im September 2018 bei einem Screening in Wolfsburg in Anwesenheit des Regisseurs gesehen. Der Film beeindruckte mich damals mit seiner formalen Radikalität: nach Beginn der Gefangenschaft Roberts gibt es kaum noch Dialoge und stattdessen wird fast alles rein visuell und ohne jegliche Erklärung erzählt; es gibt keine Rahmenhandlung, keine Unterbrechnung von Roberts qualvoller Gefangenschaft, keine "reliefs" in irgendeiner Art.

Irgendwie hat sich dieser Eindruck bei der Zweitsichtung etwas relativiert: die Exposition des Films fühlte sich doch verhältnismäßig lang und verbos an, genauso erschien mir jetzt der Mittelteil um Roberts Martyrium viel kürzer und das Wiederauftauchen von Rolfs Figur  hatte ich als später im Film in Erinnerung. Interessanterweise bestätigten mehrere andere Zuschauer das Gefühl, den Film wesentlich dialogärmer und mit einem längeren Mittelteil in Erinnerung gehabt zu haben.

Um jetzt nicht den Eindruck eines Jammer-Samstagabends entstehen zu lassen: ULTIMO MONDO CANNIBALE ist nach wie vor ein herausragender Film, der in teils jenseitigen Bildern von der Begegnung des "zivilisierten" Menschen mit roher Gewalt handelt (und von der Entdeckung der eigenen Gewalttriebe im inneren Selbst) und erzählerisch tatsächlich von verblüffender Geradlinigkeit und Schnörkellosigkeit ist. Besonders hervorzuheben ist die Darstellung von Massimo Foschi, der mit wahrlich vollem Körpereinsatz die Wandlung vom zivilisierten Forscher zum verrohten Instinktbündel durchmacht (er ist während eines großen Teil des Films komplett nackt). Wie er einen Gegner tötet, anschließend diesem den Bauch aufschneidet, ein Organ entnimmt, reinbeisst und mit völlig irren Augen auf seine Verfolger blickt, um sie abzuschrecken, ist schon eine Wucht.



Sonntag, 29. August 2021


ab 13.00 Uhr


OCEANO ("Abenteurer der Südsee")

Regie: Folco Quilici

Italien 1971

95 Minuten, dF

Szenen aus dem Alltag und den eher ungewöhnlichen Abenteuern des Polynesiers Tanai: im Austausch mit europäischen Südseeaussteigern, in Bedrängnis durch einen Stamm von Kannibalen, im Kampf mit Haien.

Folco Quilicis L'ULTIMO PARADISO von 1955 bezeichnete ich in meiner Besprechung vom 6. Terza als "sanft", "familienfreundlich", "kindergerecht", als fernen Verwandten von Disney-Dokumentarfilmen. Ich schrieb auch, dass Quilici sich in einer Ahnenreihe zwischen Flaherty, dem italienischen Neorealismus auf der einen Seite und dem Mondo-Film auf der anderen Seite stellte. Nun... bis OCEANO vergingen 16 Jahre, darunter etwa 10 Jahre Mondo-Film – und das sieht man auch deutlich. Irgendwo in den 16 Jahren und 9 Filmen zwischen L'ULTIMO PARADISO und OCEANO wurde verbrannte Erde hinterlassen: von der Naivität und Fröhlichkeit des ersteren ist keine Spur mehr zu sehen, stattdessen eine ungezügelte Wildheit, ein Pessimismus, der stellenweise zum Nihilistischen neigt, ein Hang zu roher, nackter Gewalt – alles auch widerspiegelt in einem Inszenierungsstil, der weiterhin sehr impressionistisch ist, sich aber vom Ruhig-Gediegenen zum Stakkatoartigen, Dreckig-Unsauberen gewendet hat.

OCEANO schließt dann auch den Missing-Link zwischen ethnografischem Dokumentarfilm, Neorealismus, Mondo-Film und Kannibalenfilm. In einer Episode wird Tanai auf einer Insel von einem feindseligen Stamm gefangen genommen und in einen Käfig eingesperrt. Die feindseligen Stammesmitglieder haben offensichtlich die Absicht, ihn zu töten (vielleicht sogar zu verspeisen?), aber bevor sie das tun, lassen sie ihn im Käfig etwas schmoren (ein weibliches Mitglied des Stamms hat Mitleid mit ihm und versorgt ihn verbotenerweise mit Essen und Trinken) und zwingen ihn, bei "barbarischen" Ritualen als Augenzeuge mitzuwirken. Vor seinen Augen wird ein Hausschwein mit einer Keule zu Tode geprügelt (keine Simulation, sondern eine On-Screen-Schlachtung). Schließlich wird er doch befreit und kommt in seinen Abenteuern weiter, aber sämtliche Zuschauer bei diesem Terza wußten, was sie da sahen: fast eins zu eins eine Konstellation, die es gestern auch bei Deodatos ULTIMO MONDO CANNIBALE zu sehen gab. (Hier wieder die Demonstration, wie viele filmhistorische und teils anekdotische Verknüpfungen, Referenzen, Querverbindungen man an einem konzentrierten, langen Festivalwochenende schließen kann: auch wenn manche in CANNIBAL HOLOCAUST eine Satire auf den Mondo-Film sahen, so war Deodato ein großer und erklärter Bewunderer von Jacopetti und Prosperi – dass er vielleicht auch Quilicis Filme gesehen hatte, wäre durchaus möglich).

Mit L'ULTIMO PARADISO teilt sich OCEANO die impressionistische, nur wenig an linearer, klarer Dramaturgie interessierte Erzählweise – ja der Film ist sogar noch ellipstischer, teilweise regelrecht mysteriös in seinen vielen Wendungen, seinen oft nur angedeuteten Episoden. Der Film beginnt damit, dass Tanai eigentlich von US-amerikanischen Polarforschern am Polarkreis kurz vor dem Erfrieren gerettet wird (der Beginn des Films ließ mich zunächst für einige Minuten denken, dass die Kopie eines falschen Films lief) und anschließend von dort in einem Kanu wieder Richtung Heimat in Polynesien paddelt, ohne, dass sein Ankommen gezeigt wird: der Film springt dann einfach zur nächsten Episode, die dann schon in der Heimat angesiedelt ist und greift die angedeutete Rahmenhandlung nie wieder auf.

Wer wie in L'ULTIMO PARADISO einen Wohlfühl- und Postkarten-Südseefilm erwartet, wird aber nicht erst bei der Kannibalenszene brutal auf den Boden zurück gekegelt: die satten Blaus und Grüns weichen größtenteils eher gedeckten Grau- und Brauntönen. Immer wieder regnet es durch trüb-graue Wolken; oder aber die Sonne scheint so erbarmungslos, dass das Gras der Inseln zu hellbraunen Flächen austrocknet.

Auch der Protagonist ist kein braver Postkartenjunge, mit dem man mitfiebert. In einem der schockierendsten Momente des diesjährigen Terza (bei dem immerhin ADDIO ZIO TOM und ULTIMO MONDO CANNIBALE liefen!) steigert sich Tanai in einen regelrechten Blutrausch hinein. Ein Hai hat sein Kanu angegriffen: in Reaktion darauf geht er Muränen fischen, um mit deren Gift seine Haiharpune zu benetzen. Er richtet in einer stakkatoartig montierten Szene ein regelrechtes Muränenmassaker an und reiht auf einer Leine die getöteten Tiere zu einer makabren Trophäenreihe.

So unruhig und ruhelos wie der Protagonist ist auch die Inszenierung: der impressionistische, aber gediegene, tatsächlich ein wenig an Disney erinnerende Stil von L'ULTIMO PARADISO ist nicht nur einer elliptischeren Struktur gewichen, sondern auch zahlreichen harten Schwenks, Reißzooms, Stakkato-Montagen: OCEANO wirkt zwischendurch verblüffend "dreckig" (dadurch aber auch immer wieder umso verblüffender und erstaunlicher).

Zwei Frischvermählte, die im blauen Wasser um einen phallusförmigen Totem schwimmen – so endete L'ULTIMO PARADISO. Das Ende von OCEANO ähnelt hingegen einer bitteren Apokalypse: Dokumentarbilder von Atombombenpilzen, die polynesische Inseln verwüsten und vernichten, gefolgt von Wochenberichtaufnahmen, in denen vertriebene, auf neue Inseln angesiedelte Bewohner, deren Heimat weggebombt wurde, dazu gezwungen werden, der französischen Metropole herzlich für die neue Heimat auf neuen Inseln zu danken. Vielleicht das finsterste Filmende von allen Filmen bei diesem Terza (dessen Abschlussbilder im allerletzten programmierten Film immerhin eine Vision aus der Hölle bereithalten!).

Wahrscheinlich sind es die zahlreichen, immer wieder unfassbaren Härten, die die Momente der Menschlichkeit in OCEANO umso mehr hervorstechen lassen. Tanai landet unterem auf der Osterinsel, die geografisch zu Polynesien, politisch und sprachlich aber zu Chile gehört. Die Bewohner sprechen nur Spanisch, verdienen ihren Lebensunterhalt als reitende Viehtreiber. Der Fischer trifft also auf Cowboys. Beide verstehen kein einziges Wort voneinander. Doch beide nähern sich auch trotz der Sprachbarriere an, und Tanai wird herzlich von den polynesischen Cowboys zum Essen eingeladen. Ein geradezu utopischer Moment.

Auf einer anderen Insel trifft Tanai auf einen europäischen Aussteiger (ein Däne, wenn ich mich richtig erinnere?). Besonders bemerkenswert war die Ähnlichkeit der Person (ob es ein Darsteller oder ein echter Aussteiger ist: schwer zu sagen) mit Fritz Lang – also ein Fritz Lang nicht im steifen Anzug und mit Monokel, sondern oberkörperfrei mit Handtuch um die Hüften und ohne Monokel am Auge. Der Aussteiger lebt alleine und nutzt einige Sachen, die er von einem gesunkenen europäischen Schiff in der Nähe nimmt. Darunter befindet sich ein Radio und wenn ich mich richtig erinnere, belehrt er Tanai, dass Radio ohne Batterien (und ohne Funktionen) besser sei. Jedenfalls verstehen sich die beiden – wieder allen Sprachbarrieren zum Trotz – sehr gut, bevor es für Tanai und uns wieder mit weiteren Episoden weitergeht.

Trotz der vielen harten Schocks, des Pessismus, der größtenteils eher gedeckten und bewußt "unschönen" Farbpalette ist OCEANO immer noch ein unglaublich schöner Film, voller beeindruckender und verblüffender Bilder, die in manchen Momenten geradezu wahnwitzige kleine Details offenbaren. Eine Möglichkeit, auf hoher See nicht zu verdursten, besteht darin, eine ganz bestimmte Fischart zu fangen, den Fisch an einer bestimmten Stelle anzustechen, dann auszudrücken – und das herausfließende Wasser ist dann tatsächlich "süß" (also nicht salzhaltig). Tanai fängt einen dieser Fische, füllt damit einen Schöpflöffel auf. Wer genau hinblickt, sieht nicht nur, wie klar das Wasser einerseits ist, sondern auch einen leichten, irisiert-schimmernden Fettfilm auf dem Wasser. Zur Schönheit des Films trägt natürlich auch nicht zuletzt der Score von Ennio Morricone bei: das Hauptthema erinnert in den ersten zwei Tönen zu Beginn ein wenig an das "Ecstasy of Gold"-Thema aus IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO, nur etwas langsamer gespielt (und natürlich mit anderem Verlauf). Eine sehr schöne musikalische Veredelung eines sehr außergewöhnlichen Films. Denn für den Fall, dass dies nicht wirklich deutlich geworden ist: mir hat OCEANO sehr gut gefallen! Ein oft ruppiger, störrischer, auf keinen Fall stromlinienförmiger Film, der gerade im Kontrast zum schönen, aber eben "nur schönen" L'ULTIMO PARADISO hervorsticht.



ab 15.30 Uhr


L'AMORE DIFFICILE ("Erotica")

Regie: Luciano Lucignani, Sergio Sollima, Alberto Bonucci, Nino Manfredi

Italien/BRD 1962

120 Minuten, dF

"L'avaro" – "Der Hausfreund" (Lucignani): Der Rechtsanwalt Tullio (Vittorio Gassman) bandelt mit der Ehefrau (Nadja Tiller) eines reichen Klienten an...

"Le donne" – "Der Junggeselle" (Sollima): Der Junggeselle Antonio (Enrico Maria Salerno) möchte gerne mit einer seiner Freundinnen ans Meer fahren. Nach einigen Fehlstarts und Missverständnissen wird seine Begleiterin Valeria (Catherine Spaak), die ihn mit der Offenbarung ihrer Jungfräulichkeit und ihrer Lust auf eine "kosmetische Behandlung" mächtig ins Schwitzen bringt...

"Il serpente" – "Der Ehemann" (Bonucci): Hilde (Lilli Palmer) und Hans (Bernhard Wicki), fahren im Urlaub durch das italienische Hinterland. Während der trockene und steife Professor sich nur für Ausgrabungsstätten interessiert, gräbt die Gemahlin immer tiefer in den Stätten ihrer Begierde...

"L'avventura di un soldato" – "Der Soldat" (Manfredi): Ein Soldat (Manfredi) und eine Witwe (Fulvia Franco) in einem Zugabteil. Genug erotische Spannung, um die ohnehin heiße Sommerluft zum Explodieren zu bringen. Und ein halbes Dutzend weitere Co-Passagiere im gleichen Abteil...

Um mal aus einem späteren Film zu paraphrasieren: Italienische und italienisch co-produzierte Episodenfilme der 1960er Jahre sind wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt. Da kann zum Beispiel "nichts" dabei sein, wie im überaus zähen LE STREGHE (trotz Visconti, Pasolini und De Sica), oder eine Perle unter Durchwachsenem wie in HISTOIRES EXTRAORDINAIRES (mit Fellinis wunderbarem "Toby Dammit") oder ein Wunderwerk und kleines Schmuckstück wie in LE FATE (jeweils Antonio Pietrangelis "Fata Marta" und Luciano Salces "Fata Sabina"). L'AMORE DIFFICILE dürfte aber bislang mein Höhepunkt in diesem formal definierten Subgenre sein.

Ich könnte nicht behaupten, dass mich Lucignanis "L'avaro" begeistert hat. Natürlich kann man mit Vittorio Gassman nicht viel Falsches machen, vor allem, wenn man ihn mit Nadja Tiller zusammenbringt. Aber abgesehen von einem flüchtigen, zumal "ereignislosen" Moment des intimen Einverständnisses auf der Terrasse zwischen den beiden (während im Salon der Ehemann-Hausherr mit seinen Notaren-Kompagnons Karten spielt und trinkt) ist mir wenig im Gedächtnis geblieben.

Ein wenig besser war dann Sergio Sollimas erster, wenn auch nicht abendfüllender Kinofilm "Le donne", denn auch hier gilt, dass man mit den beiden Hauptdarstellern Enrico Maria Salerno und der wunderbaren Catherine Spaak erst mal nichts Falsches machen kann. Hinzu kommt, dass die Atmosphäre eines warmen, schönen, sommerlichen Wochenendnachmittag geradezu zum Greifen in den Bildern eingefangen wird – besonders, als es dann ans Meer geht. Inhaltlich geht es dann schon ganz schön pikant und leicht schmierig zu, wenn die beiden in einer Art codiertem Dirty Talk ("kosmetische Behandlung") über Sex sprechen.

Zur Hälfte des Films schien mir klar: das ist der ideale Film zum sanften Entspannen an einem ruhigen Sonntagnachmittag im Kino, bevor es dann Abends wieder etwas ruppiger zugeht – aber ein Höhepunkt des Terza wird es wohl dann nicht. Weit gefehlt! Mit dem einzigen Kinofilm-Regie-Credit des Schauspielers Alberto Bonucci brach der helle Wahnsinn aus: Szenen einer sexlosen Ehe, bei der die Frau mit zunehmend ausgefalleneren Methoden ihre Mitmenschen um erotische Stimuli bittet... Aber zunächst einmal fängt es mit zwei Touristen im Auto in der italienischen Provinz an (VIAGGIO IN ITALIA grüßt ein wenig). Während Ingrid Bergman allerdings beim Besuch der süditalienischen Sehenswürdigkeiten fast weinend zusammenbrach, gerät Lilli Palmer beim Anblick der weitläufigen Ruine eines Tempels in Ekstase, lockert ihr Kleid, kippt um und bekommt offenbar einen Orgasmus (der ihren Hunger allerdings nur sehr kurz stillt). Ihr Taumel wird durch die Bilder, durch eine wilde Montage auf die Zuschauer übertragen: ein ganz großer Moment des diesjährigen Terza! Völlig im Delirium kommt sie allmählich zu sich, und erschrickt ob der Schlange, die neben ihr liegt – doch es war nur ihr lederner Gürtel, den sie in ihrem Taumel weggeworfen hatte (daher der italienische Originaltitel).

Nach einer Autopanne winken die beiden Eheleute ein LWK herbei. Doch es gibt nur einen Platz zwischen den beiden Fahrern. So bleibt Steif-Professor beim kaputten Wagen, während die deutsche Frau zu den zwei italienischen Fahrern in die LWK-Fahrkabine steigt – und die beiden während der ganzen Fahrt wild anbaggert, sei es durch Ausziehen der Jacke, durch Strecken der Arme mit "zufälligen" Berührungen, durch suggestive Blicke und Worte. Hilft alles nichts: die Fahrer laden die Professorengattin pflichtschuldig im nächsten Dorf ab. Der anschließende Verlauf des Films lässt heutzutage einen ideologisch etwas fahlen Beigeschmack: sie beschuldigt bei der örtlichen Polizei die beiden Männer der Vergewaltigung, um die Aufmerksamkeit ihres Gatten wieder zu bekommen – was ihr schlussendlich gelingt. Letztendlich interessiert sich der Film allerdings kaum für die Lastwagenfahrer oder für legale Fragen. Am Ende bleibt nur eine vor unersättlicher Lust fast zerfließende Lilli Palmer!

Mit "L'avventura di un soldato" des Regisseur-Autor-Darstellers Nino Manfredi wurde es dann in jeglichem Sinne noch glühend heißer... und zutiefst poetisch. Wenn Buster Keaton sich mehr für Erotik interessiert hätte (zumal: Erotik in Zügen!), dann wäre vielleicht so etwas rausgekommen. Rein visuell ohne Dialog (ich bin verwirrt: in der IMDb steht, dass Manfredi die Dialoge geschrieben hat, obwohl ich mich nicht an gesprochene Worte erinnern kann – vielleicht einige Plaudereien der Co-Passagiere?) erzählt Manfredis Episode von der langsamen, sehr langsamen Annäherung eines Soldaten an eine junge Witwe in einem Zugabteil, in dem die beiden nebeneinander, aber nicht alleine sitzen. Augen, die zur Seite blicken und schauen möchten, ohne selbst beobachtet zu werden. Eine Hand, die ganz langsam in Richtung des begehrten Knies rutscht. Ein scheues Beobachten der Reaktionen des Gegenübers. Ein Tanz der Verführung mit der Geschwindigkeit von vielleicht einem halben Zentimeter pro Sekunde, dabei aber in der brütenden Sommerhitze des Zugabteils genauso schweißtreibend wie ein "richtiger" Tanz. Und am Ende alles genauso flüchtig wie der Luftzug einer Tanzbewegung...



ab 20.00 Uhr


I PALADINI – STORIA D'ARMI E D'AMORI ("Das Duell der Besten")

Regie: Giacomo Battiato

Italien 1983

100 Minuten, dF

Irgendwo in Europa zur Zeit der Kreuzzüge: eine jungen Christin erhält eine Weissagung, dass sie sich in einen Mauren verlieben wird, der aber von einem Christen getötet werden soll. Die Weissagung nimmt ihren Weg...

Stell dir vor, der Spätteenager-Cast einer Serie à la BEVERLY HILLS 90210 würde in einem italienischen Ripoff von Paul Verhoevens FLESH & BLOOD (der allerdings erst zwei Jahre später entstand!) mitspielen: zumindest in Sachen sleazy Sex und bloody Gore werden da durchaus Assoziationen an den Mittelalterfilm des großen Niederländers wach. Statt des charismatischen Rutger Hauer gibt es aber tatsächlich eine Gruppe von verblüffend persönlichkeitslosen Darstellern, die größtenteils so aussehen, als würden sie im falschen Film agieren. Die aussehen, als hätte man sie in eine leere Landschaft ausgesetzt und dort in Mittelalterrüstungen wie bestellt, aber nicht abgeholt stehen gelassen. Und die sich dann gegenseitig massakrieren oder lüstern übereinander herfallen müssen...

Dass Figuren als Individuen völlig egal erscheinen, merke ich einige Monate später nach Sichtung des Films: ich kann mich kaum noch an einzelne Protagonisten erinnern, sondern nur noch an Körper in einer Landschaft. Gebirgskämme, ausladende grüne Wiesen, nebelige Wälder und Strände. Natürlich auch einige exzentrische Rüstungen von Böswatzen (darunter ein offensichtlich aus Ostasien stammender Ritter in einer bizarren Ninja-Samurai-Kreuzritter-Hybridrüstung). Und an das Liebemachen auf einem riesigen Teppich aus orangen- und kastanienfarbenem Laub.

I PALADINI ist ein geisterhafter Film: er spielt in völlig entvölkerten, öden Landschaften, in dichten, herbstlichen Wäldern, in praktisch menschenleeren Kriegercamps am nebeligen Strand. Der deutsche Titel (von einigen Co-Zuschauern gerne während des ganzen Festivals erwartungsvoll und etwas scherzhaft als "Duell der Bestien" angeteasert), der eine Geschichte zweier Figuren erwarten lässt, ist auf gewisse Weise passender als der italienische Titel, der etwas Episches verspricht: wenn fünf FIguren gleichzeitig im Bild zu sehen sind, dann ist das schon viel.

Auch wenn im "Filmbeobachter" zu lesen war "Deutlich trägt der Film die negativen Züge einer Billigproduktion" – das Tolle an I PALADINI ist, dass er sein "Scheitern" am Epischen, seine befremdliche Entvölkerung von einer Schwäche in eine Stärke umwandeln kann. Statt wie eine "Billigproduktion" auszusehen (die er sicherlich auch war) schafft er durch seine Leere eine merkwürdig abstrakte Stimmung mit vielleicht leichten Anklängen an postapokalyptische Filme (MAD MAX, MAD MAX II und ESCAPE FROM NEW YORK, alles auch recht "entvölkerte" Filme, lassen grüßen). Ich glaube mich zu erinnern, dass vielleicht zwei Szenen in einem windschiefen Zelt spielen – ansonsten ist I PALADINI ein ausgesprochener Outdoor-Film und vermeidet so die Enge eines Studiosets, die man aus manchen "Billigproduktionen" kennen mag.

Auch ein gutes Mittel gegen die Enge kann natürlich Cinemascope sein, und die eleganten, rauchigen (und ja, bisweilen an Kitsch grenzenden) Bilder, die Kameramann Dante Spinotti zaubert, sind absolut fantastisch anzusehen (Spinotti arbeitete in Italien mit Aldo Lado, Liliana Cavani, Salvatore Samperi und Ermanno Olmi zusammen, bevor er in den USA u. a. fünf Filme für Michael Mann, darunter MANHUNTER und HEAT, sowie Curtis Hansons L. A. CONFIDENTIAL fotografierte). In der Videoauswertung wurden die Bildkompositionen von I PALADINI dann auch auf Vollbild massakriert und so erlebte der Film in einer selbsterfüllenden Prophezeiung das Schicksal vieler "Billigfilme". Und konnte nun auf der riesigen Cinerama-Leinwand in Karlsruhe endlich wieder seine volle, berauschende Pracht entfalten. Das Mittelalter-Fantasy-Genre ist nicht gerade eines, womit man mich à priori hellauf begeistern kann, insofern ging ich ohne große Erwartungen in den Film – und erlebte eine wirklich sehr schöne Überraschung!


Mittlerweile weniger überraschend, aber immer noch fähig zur Überrumpelung und Überwältigung war dann der letzte Film des Terza, inszeniert vom inoffiziellen heiligen Schutzpatron des Festivals... Vorab aber ein Film des diesjährigen Co-Schutzpatrons! 



ab 22.30 Uhr


OUTER SPACE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 1999

10 Minuten

Home-Invasion, Tscherkassky-style...

Tscherkassky verfremdet Material aus Sidney J. Furies Horrorfilm THE ENTITY zu einer Art abstrakten Home-Invasion-Thriller, mit flirrenden Bildern, einer schreienden Tonspur – wieder ein Überwältigungserlebnis der besonderen Art auf dieser riesigen Cinerama-Leinwand. Und inhaltlich kein schlechter Vorfilm zu einem Horrorfilm.




...E TU VIVRAI NEL TERRORE! L'ALDILÀ ("Die Geisterstadt der Zombies")

Regie: Lucio Fulci

Italien 1981

88 Minuten, dF

Die New Yorkerin Liza (Catriona MacColl) erbt in New Orleans ein Hotel, in dem einst in den 1920er Jahren ein Künstler von einem Lynchmob ermordet wurde. Es ereignen sich zunehmend bizarre und schreckliche Dinge: Menschen verschwinden genauso wie Teile von Gebäuden oder kommen auf schreckliche Weise um, Totgeglaubte tauchen auf.

Über Fulcis regelbrechenden und die Grenzen des explizit Zeigbaren verschiebenden Horrorfilm ist schon viel Kluges geschrieben worden, ich belasse es bei einigen Bemerkungen.

Die an diesem Abend gezeigte Kopie enthielt in einem Punkt den "director's cut": den Prolog des Films, in dem wir die Ereignisse beobachten, die möglicherweise zur Verfluchung des Ortes oder vielleicht gar der ganzen Welt führen (ein Künstler, der schreckliche Höllenvisionen malt, wird von einem Lynchmob überfallen, gekreuzigt und mit gelöschtem Kalk überschüttet), gibt es in mehreren Farbvarianten, nämlich in Farbe oder in Schwarzweiß oder in Sepia. Letzteres war gemäß der Ankündigung Christophs auch Lucio Fulcis bevorzugtes Farbschema und in Sepia waren die ersten Minuten dann auch zu sehen.

In der Kopie, die ich 2019 in Nürnberg beim Italo-Horror-Wochenende sah und die mir den Film nach einer enttäuschenden Erstsichtung auf einer gammeligen DVD-Edition "öffnete", war, soweit ich mich erinnere, der Prolog in Schwarzweiß (?), aber wegen der mechanischen Schädigung und den Klebestellenmassakern der Kopie auch unvollständig (sämtliche Credits fehlten glaube ich). In Karlsruhe entfaltete ...E TU VIVRAI NEL TERRORE! L'ALDILÀ in einer vollständigen Kopie seine ganze Kraft: der Künstler hat sich eben aufgelöst, von einem barbarischen Mob brutal ermordet, eine junge Frau liest parallel aus einem Weissagungsbuch, sie löst sich in einer Stichflamme auf, die aufschreiende Titelmusik leitet den Vorspann ein: Gänsehaut, die noch mehrere Minuten nach Ende der Credits hielt...



Ob die angehäufte Festivalmüdigkeit der ideale Zustand oder eher hinderlich war zur Rezeption dieses Films, der gleichzeitig pures Atmosphärenkino und audiovisueller Terroranschlag auf Augen und Ohren ist, sei dahingestellt. Ich glaube, ich hätte diesen (Alp)traum von einem Film gerne in einem etwas fitteren, rezeptiveren Zustand als nach fünf Tagen Festival gesehen, weil er als luzider Traum wohl noch wirkungsmächtiger sein dürfte (so wie ich ihn denke ich 2019 in Nürnberg erlebte). Sicher ist nur, dass die riesige Cinerama-Leinwand in Karlsruhe gerade einigermaßen groß genug ist für Fulcis entfesselte Bilderwelten: von den extremen Closeups auf Augen bis hin zum ikonischen Tableau auf dem Lake Pontchartrain Causeway mit Geistermädchen und ihrem Schäferhund.


Nachdem wir vor einigen Tagen entspannt durch ein sonniges Rom fröhlich tänzelten, endeten wir nun als bis in alle Ewigkeiten Verdammte in der alles verschlingenden Hölle am Ende der Welt und am Ende aller Zeiten.


18 Filmblöcke, mit noch viel mehr vielfältigen, verschlungenen Pfaden durch die italienische (und teils auch österreichische und niederländische) Kinogeschichte auf einer der wohl schönsten Kinoleinwänden Deutschlands. Danke an alle, die diese tolle Reise Ende August 2021 ermöglicht haben!