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Montag, 21. Mai 2018

No Future in Riga? Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 2)


4. Festivaltag
Samstag, 21. April


ca. 12 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

NOVEMBER
Regie: Rainer Sarnet
Estland / Niederlande / Polen 2017
115 Minuten, DVD
Estland, so ungefähr im 19. Jahrhundert? Das Bauernmädchen Liina liebt den Bauernjungen Hans – doch der hat nur Augen für die traurige, schlafwandelnde Tochter des lokalen deutschen Gutsherren. Als ob das alles nicht schwierig genug wäre, tummeln sich noch sogenannte Kratts (beseelte Gegenstände), wahlweise nationalistische oder hormonstaugeplagte Landarbeiter, Walddämonen, wiederkehrende (aber gänzlich friedliche) Untote und die personifizierte Pest durch diese Geschichte.
© goEast Filmfestival
Erneut hatte ich Pech, diesen Film in schummeriger DVD-Qualität auf einem suboptimalen Bildschirm zu schauen, denn NOVEMBER ist zunächst einmal eine schier überwältigende Bildgewalt in Schwarzweiß! Überhaupt ist er ein überbordender Film: voller visueller Ideen, voller Nebenplots, voller humoristischer Einfälle, voller hemmungsloser Melodramatik – fast zu voll.
Steampunk trifft auf traditionelle estnische Folklore trifft auf eine übergroße melodramatische Liebesgeschichte trifft auf barock-grotesk-derben Humor mit Fäkalnote. Alles geht hier völlig informell, nahtlos, ohne sichtliche Brüche ineinander über. Bedrohliche Kratts, bestehend aus großen Sicheln und Heugabeln, marschieren wie Roboter durch die Landschaft, entführen Kühe und schmeissen diese durch die Luft. Nächtens besuchen die toten Verwandten die im Diesseits zurückgebliebene Familie, nehmen dann ein Dampfbad, bei dem sie sich in Hühner verwandeln. Die Bauern besuchen die Messe, doch die Hostien schlucken sie nicht, sondern spucken sie vor den Toren der Kirche gegen Bezahlung einem Schamanen in die Hand, der damit Walddämonen bekämpfen möchte. Der Walddämon, der nächtens immer an einer Wegkreuzung auftaucht und der für ein paar Tropfen Blut und die Seele einen Kratt belebt (Kratts sind nämlich nicht böse, sondern werden meist als Haushaltshilfen gebraucht) – dabei aber von den Bauern getäuscht wird, die unter der Hand Beeren zerdrücken, statt sich in den Finger zu schneiden. Während ein Landarbeiter aus Stuhl, Achselschweiß und Schamhaaren ein Liebesbrot bäckt (das geht allerdings gehörig schief!), entwickelt sich ein Schneemann-Kratt zu einem wahren Poeten, einem Dichter Venezianischer Liebestragödien bzw. zu einem Liebesgedicht-Ghostwriter für den verliebten Hans...
Jede Episode von NOVEMBER ist wunderbar gefilmt und doch schafft es der Film nicht wirklich, aus seinen Einzelteilen mehr als eine Summe zu bilden. Gleich zwei Personen, die den Film zwei Mal gesehen haben, meinten, dass sich dieser Eindruck bei wiederholter Sichtung noch verstärkt. Ja, NOVEMBER krankt ein wenig an Überambitionierung, will vielleicht zu viel auf einmal und seine fast zwei Stunden wirken letztlich zu lang, aber das ist doch Jammern auf relativ hohem Niveau. Ich habe während meines Aufenthalts in Wiesbaden viele tolle estnische Filme aus der sowjetischen Zeit gesehen – NOVEMBER ist sicherlich kein Meisterwerk, aber er bestätigt doch, dass das estnische Kino nach wie vor quicklebendig und spannend ist. Und vor allem ist Rainer Sarnet ein Name, den man sich merken sollte. Der Film hat jedenfalls den Hauptpreis der Jury beim diesjährigen Festivalwettbewerb gewonnen.


ORATORIUM PRO PRAHU („Oratorium für Prag“)
Regie: Jan Němec
Frankreich / USA / ČSSR 1968
26 Minuten, DVD
Dieser Film sollte eine Art Bestandsaufnahme der Tschechoslowakei im Prager Frühling werden. Doch dann marschierten sowjetische und Warschauer-Pakt-Einheiten in das Land ein...
© goEast Filmfestival
Wieder ein Film aus der kleinen Reihe zu „Prag 68“ (den ich wegen Terminkonflikten letztlich nicht bei einer richtigen Projektion sah). Die ersten zwei Drittel von ORATORIUM PRO PRAHU erzählen zunächst eine nicht völlig unkritische, aber doch recht optimistische Erfolgsgeschichte des Prager Frühlings. Begeisterung zunächst für die Abschaffung der Zensur im März. Dann aber auch ein Blick auf die zunehmenden größer werdenden gesellschaftlichen Forderungen, die noch viel mehr fordern (unter anderem wird, soweit ich mich erinnere, auch das Manifest der 2000 Worte erwähnt). Und vor allem einige sehr interessante Bilder einer höchst lebendigen alternativen Hippie-Kultur, die sich mit sozialistischer Kultur gewissermaßen verbindet: Blumenkinder, Jugendliche, die in Woodstock nicht weiter aufgefallen wären, helfen auf dem Acker bei einer Ernte mit.
Vom Stadtportrait wandelt sich ORATORIUM PRO PRAHU zu einem echten Kriegsfilm (was der Sprecher auch selbst explizit sagt). Eine eigentlich harmlose Fahrt durch die Gegend, auf der Suche nach weiteren Bildern für das Prag-Portrait, wird zum Schock, als erste Panzer durch die Straßen fahren. Dann die ersten Massenproteste. Schließlich Straßenschlachten und regelrechte Kriegsszenen. Aus einem Portrait des blühenden Prags wird eine Todeshymne. Eine Niederlage.

Es war sehr klug von mir, ORATORIUM PRO PRAHU direkt vor dem nächsten Film zu schauen. Was für ersteren als Niederlage endet, ist für letzterer der Beginn einer siegreichen Kehrwende und erfolgreichen Abwehr einer Katastrophe.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ („Tschechoslowakei, das Jahr der Herausforderungen“)
Regie: Anatolij Kološin
Sowjetunion 1969
68 Minuten, digital (tschechischsprachige Fassung)
Der Prager Frühling wurde im August 1968 durch den Einmarsch sowjetischer und Bündnis-Truppen abgewürgt. Der Film ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ erklärt, warum der Einmarsch richtig war.
Auf manche Filme habe ich mich ganz besonders gefreut – dass ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ allerdings eher ein Ausdauertest und eine Grenzerfahrung sein würde, war mir allerdings klar.
Formal gesehen funktioniert ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wie ein gnadenlos voran rückender, alles zermalmender sowjetischer Panzer. Die Erzählung: kapitalistisch-faschistische Verräter in der Tradition Hitlers haben sich die Tschechoslowakei gekrallt, um hier ein kapitalistisch-faschistisches System inklusive Todeslagern zu errichten, das Land dem Warschauer Pakt zu entreissen und an den Westen zu übergeben, während die Amerikaner sich an die Grenze heranmachten, um in den Bereich des Warschauer Pakts einzufallen – und als die Sowjetische Armee mit Bündnispartnern intervenierte, um Abhilfe zu schaffen, wurde diese von feigen Provokateuren hinterrücks angegriffen...
Nun... so ganz explizit sagt das der Film niemals, sondern er arbeitet (wie zum Beispiel die CSU, Vorsitzende „liberaler“ Parteien oder die Besorgti-Braunis) mit begrifflichen und visuellen Assoziationen, die nie wirklich ausgesprochen werden, die aber doch jeder verstehen soll. Die intellektuellen Vordenker des Prager Frühlings? Waren, so der Film, bestimmt wohlwollende Leute, die nur ein bisschen reformieren wollten. Wie ihr „liberalisierter Sozialismus“ aussehen sollte? An dieser Stelle werden kurz hintereinander Portraits der Reformvordenker montiert, als letzter Ota Šik – und danach folgen gleich Bilder von Nazi-Massenaufmärschen und KZ-Leichenbergen. Dies ist mir als ganz besonders abscheulich, geschmacklos und pietätlos in Erinnerung geblieben. Ota Šik, der Vordenker der Wirtschaftsreformen, war jüdischer Herkunft, kämpfte während des Weltkriegs aktiv gegen die Nazi-Besatzung, gehörte seit 1940 der Kommunistischen Partei an und war jahrelang im KZ Mauthausen inhaftiert. Er hatte mit anderen Worten wahrscheinlich mehr moralische Autorität und eine längere Zugehörigkeit zum Kommunismus als jene, die ihn ab 1968 diskreditierten.
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ ist praktisch in seiner ganzen Laufzeit so krude und so assoziativ in seiner Machart: er springt von Thema zu Thema, ohne wirklich irgendetwas abzuschließen. Das ist auch nicht nötig, wenn er die Zuschauer erst einmal völlig überrollt hat. Fast vollkommen pausenlos spricht eine ganze Horde von Off-Kommentatoren (jedes Mal, wenn irgendjemand zitiiert wird, kommt gefühlt eine neue Stimme), während eine irrsinnig schnelle Flut an Bildern den Betrachter zuschüttet. Es gibt hier keine Ruhepausen, keine Momente der Introspektion, keine einzige Sekunde Luft, in der man als Zuschauer mal kurz durchatmen könnte. In seiner solchen Intensität nicht fünf, zehn oder zwanzig, sondern fast 70 Minuten durchzuhalten, zeugt von einer gnadenlosen Konsequenz. Wer als Zuschauer danach nicht besiegt auf dem Boden liegt...?
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wurde als russischsprachiger Film für die Sowjetunion gedreht, doch es wurden dann auch Exportversionen in den entsprechenden Sprachen gezogen (unter anderem gab es auch eine deutsche Fassung für die DDR). Die tschechischsprachige Version, die wir sahen, war gemäß der Kuratorin wohl wesentlich „softer“ als die originale russische Version, sowohl, was den Textinhalt wie auch den Sprachton der Sprecher betrifft. Als etwas Weichgespültes habe ich den Film allerdings keineswegs empfunden.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

JAUSMAI („Gefühle“)
Regie: Almantas Grikevičius, Algirdas Dausa
Sowjetunion (Litauen) 1968
90 Minuten, DCP
Litauen während der Nazi-Besatzung: ein verwitweter Bauer flieht zusammen mit seinem Baby vor einer drohenden Konfiskation seines Viehs und landet im Haus seines Zwillingsbruders und dessen Frau – mit der er einst eine Affäre hatte...
© goEast Filmfestival
Ich erwähnte im ersten Teil meines goEast-Berichts einen besonders hölzernen Darsteller, der in meinen gesichteten litauischen Filmen immer wiederkehrte. Nun... Regimantas Adomaitis spielte jetzt in JAUSMAI nicht nur eine der vielen zweiten Geigen, sondern den fliehenden Bauern, die Hauptrolle. Ich könnte nichts Böses über ihn sagen: er hat halt ein nettes Gesicht, das er meist recht nett in die Kamera reinhält, das mich allerdings völlig kalt gelassen hat.
Wie überhaupt insgesamt JAUSMAI recht unbemerkt an mir vorbeigeflossen ist. Ohne tödliche Langeweile, aber auch definitiv ohne Höhepunkte, die einen hochrücken ließen. Früh im Film fährt der flüchtige Bauer zusammen mit seiner einzigen Kuh und mit einem Wehrmachtssoldaten in einem Boot über ein Stück Meer. Der Wehrmachtssoldat ist dem Litauer gefolgt, um ihn eigentlich aufzuhalten, aber so richtig viel Elan hat er nicht reingelegt: de facto ist er jetzt ein Deserteur. Zwei Männer, ein Baby und eine Kuh auf einem Boot – mit einem anderen Hauptdarsteller und vielleicht auch einem anderen Regisseur (warum nicht den Esten Kaljo Kiisk bei einem kleinen Ausflug nach Litauen) hätte ich wohl liebend gerne diese unglaubliche Situation in einem abendfüllenden Film gesehen. JAUSMAI hat daraus herzlich wenig gemacht. Später kommt also der Witwer mit seinem Baby an, der Wehrmachtssoldat verduftet und das ganze wird zum Gebrüder-Loveinterest-Zwist-Melodrama.
Nebst dem Herzschmerz-Plot gibt es auch noch Geschichten mit den lokalen Machthabern, von denen ich nicht sicher bin, ob sie Kommunisten sein sollten. Vielleicht wird die „Banalität“ von JAUSMAI hier gewissermaßen zu einer Stärke: wie in NIEKAS NENORĖJO MIRTI spielen lokale Handlungsmöglichkeiten eine größere Rolle als ideologische Grabenkämpfe.
Am Ende flieht der Witwer, trotz des Verbots der lokalen Machthaber (wahrscheinlich doch die Sowjetmacht), mit einem Boot... Schnitt. Texttafel „Zehn Jahre später“. Dann kehrt der Bruder nach 10 Jahren Lager zurück, um seinen Bruder und seine mittlerweile zu Teenagern angewachsenen Kinder zu besuchen. Ende. Punkt. Für einen Film mit dem Titel „Gefühle“ floß er doch recht unbemerkt an mir vorbei.


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? („Ist es leicht, jung zu sein?“)
Regie: Juris Podnieks
Sowjetunion (Lettland) 1986
78 Minuten, DCP
Nach einem Konzert der später verbotenen Rockband Pērkons verwüsten einige Jugendliche auf der Rückfahrt nach Riga einen ganzen Zugabteil. Der einzige volljährige Verhaftete wird zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ausgehend von Interviews mit mehreren der Konzertbesucher zeichnet der Dokumentarfilm ein vielseitiges Portrait der lettischen Jugend zwischen Tschernobyl, Punk und Afghanistankrieg.
© goEast Filmfestival
Nē! – So lautet die Antwort auf die Titelfrage. Die Perestroika mag zwar begonnen haben, aber es ist verdammt schwer, anno 1986 in der Sowjetunion zu leben und dabei jung zu sein. Schwer, teilweise sogar regelrecht beschissen – aber nicht vollkommen hoffnungslos.
Fangen wir mit dem ersten an. Die Breschnew-Clique ist von einer reformbereiten Politikergeneration an der Spitze der UdSSR abgedrängt worden, aber auf lokaler Ebene tritt der sowjetische Staat weiterhin repressiv und intolerant gegenüber Abweichungen auf. Junge Männer werden, ohne eine große Wahl zu haben, in die Armee eingezogen (was das bedeutet, wurde im litauischen Dokumentarfilm VĖLIAVA IŠ PLYTŲ schon gezeigt) und dann auch nach Afghanistan in einen Krieg geschickt, an den niemand mehr glaubt. Delinquenten werden zu harter Zwangsarbeit verurteilt. Jugendliche, deren Kleidungs- und Frisurstil nicht „normgemäß“ aussehen, werden ruppig von Polizisten abgeführt.
Besonders in der zweiten Hälfte kehrt VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? immer wieder zu zwei jungen Afghanistan-Veteranen zurück. Für ein lettisches Publikum war es nichts Fremdes, aber gerade in Westeuropa ist es natürlich interessant, noch einmal explizit erwähnt zu bekommen, dass keineswegs nur Russen gekämpft haben und dass das Trauma von „Sovietnam“ auch in die Peripherie reichte. Einer der beiden Interviewten hat ein dauerhaftes Leiden am Bein davon getragen, aber beide sind auch seelisch vom Krieg markiert. Schwere Traumata sind nicht ersichtlich, aber beide erzählen, dass sie große Mühe haben, in ihren Alltag zurück zu kehren. In einem sehr emotionalen Moment trifft einer der beiden Veteranen einen Offizier aus dem Kriegseinsatz wieder und umarmt ihn stürmisch, weil er für ihn die einzig greifbare Bezugsperson geblieben ist.
Tschernobyl hängt ebenfalls über das Leben junger Letten, aber das wird nur kurz erwähnt. Die moralische Orientierungslosigkeit und die ökonomische Unsicherheit wiegen schwerer. Die Perestroika-Reformer mögen ein erhöhtes Tempo in Richtung kommunistisches Paradies eingeschlagen haben, aber die Bilder von Riga, die VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? präsentiert, sind von Verfall geprägt: marode Gebäude, ein trist-graues Stadtbild. Die Jugend möchte gerne einen guten Job, gutes Geld verdienen, Familien gründen – an Kommunismus glaubt niemand. Sie, von der man annehmen könnte, dass sie von der Perestroika profitieren könnte, wird zum ersten Opfer der drakonischen, aber völlig kopflos umgesetzten neuen Anti-Alkohol-Politik: des dionysischen Rausches weitestgehend beraubt flüchten die jungen Menschen zunehmend in die Drogensucht...
VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ist auch ein sehr düsterer, oft trostloser, trister, pessimistischer und harter Film – aber eben nicht nur. Regisseur Juris Podnieks spricht nicht über die Rigaer Jugend, und tatsächlich spricht er so gut wie gar nicht: der Film enthält keinen „neutralen“ Off-Kommentar, sondern ausschließlich die Stimmen der interviewten Jugendlichen und jungen Menschen (höchstens eine Zwischenfrage ist ab und an zu hören); er lässt seine Protagonisten selbst ihre eigene Geschichte erzählen. Das verleiht VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? große Unmittelbarkeit, Direktheit, Wärme und Intimität.
Und die Protagonisten lassen sich auch nicht entmutigen: wenn die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, ihrem Leben nichts bieten kann, dann holen sie sich ihr schönes Leben eben selbst. VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? beginnt mit einer feiernden Menge von Jugendlichen bei einem Rockkonzert, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass einige anwesende Erwachsene sauertöpfisch und zur Wache aufgestellte Polizisten skeptisch reinschauen. Im Publikum dieses Konzerts hat sich Podnieks einige der zentralen Protagonisten für seine Interviews ausgesucht: Stimmen, die immer wiederkehren. Und von dieser recht großen Veranstaltung wirft der Film einige Schlaglichter auf kleinere Subkulturen, damit viele verschiedene lettische „Jugenden“ portraitierend.
Die Punk-Subkultur florierte nicht nur in den großen russischen Städten Moskau und Leningrad, sondern ebenso in Riga. Auch auf den Straßen der lettischen Hauptstadt machen sich jugendliche Bürgerschrecks mit wildem Kleidungs- und Frisierstil dran, die wohldenkenden und gesetzestreuen Bürger (Bourgeois? in einem sozialistischen Land!) mit ihrem Aussehen zu schockieren, und ihre „No Future“-Parolen mit Graffiti an verfallende Häuserwände festzuhalten.
Im übertragenen und wörtlichen Sinne esoterischer geht es bei den Hare Krishnas zu, die sich in Privatwohnungen zu gemeinsamen Meditationen treffen. Im Gespräch mit einem Anhänger der Bewegung kommt es zum einzigen Moment, in dem der Interviewer ganz offen Skepsis und Misstrauen ausdrückt und nachfragt, ob der unbedingte Gehorsam zum Guru nicht vergleichbar ist zum Gehorsam der Nazis zum Führer und ob er (der junge Krishna-Anhänger) auch töten würde. Es gehört zum Stil des Films, dass der Interviewte dann doch das letzte Wort hat und glaubhaft betont, dass Mord nichts im Hare-Krishna-Glauben zu suchen habe.
Weniger „subkulturell“ zeigen sich die jungen Freiwilligen einer privaten, zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich das einfache (oder doch recht umfangreiche) Ziel gesetzt hat, liegen gebliebene Bauschuttruinen in Riga zu reinigen und damit die Stadt zu verschönern. Ebenfalls nichtstaatlich-alternativ bzw. privat haben sich einige junge Filmbegeisterte zusammen getan, um abseits des Studios einen Film zu drehen. Als Kulisse dient ein verschlungener, düsterer und sehr verfallener Keller, für eine andere Szene der Strand und das Meer. Gedreht wird auf 16mm (oder gar 8mm?), schwarzweiß, und das ganze wird offenbar ein Gruselfilm, leicht kafkaesk, leicht surreal, spontan und ohne Drehbuch, „on the fly“ gedreht. Wo der gezeigt werden soll, ist scheinbar unwichtig: der Dreh an sich ist das Abenteuer. Mit hoffnungsvollen Bildern (so der junge Underground-Regisseur selbst dazu) aus dem unbenannten Film – viele Komparsen, die bis zu den Knien im Wasser stehen und hinaus in das offene Meer blicken – endet VAI VIEGLI BŪT JAUNAM?
Je mehr ich über VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? nachdenke und schreibe, umso mehr schließe ich diesen Film ins Herz. Für viele mag es vielleicht öde klingen, seinen Samstag Abend damit zu verbringen, eine Dokumentation zu sehen über lauter anonymer Menschen, die von ihrem größtenteils tristen Alltag sprechen. Und dennoch war es bislang (abgesehen von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM im Jahr 2012) mein bislang tollster Samstagabend-Film beim goEast: zum Weinen, Lachen, Staunen, Lernen, Mitfühlen und Abrocken. Übrigens war der Film tatsächlich so etwas wie ein echter Blockbuster in der Sowjetunion: gemäß dem englischen Wikipedia-Eintrag sahen 28 Millionen Zuschauer diesen Film in den Kinos, und er wurde in 85 Ländern exportiert. Kein Wunder, dass VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ganze zwei Sequels nach sich zog, nämlich VAI VIEGLI BŪT...? („Ist es leicht ... zu sein?“) im Jahr 1997 und VAI VIEGLI...? PĒC 20 GADIEM („Ist es leicht ... 20 Jahre danach?“) im Jahr 2010. Beide Fortsetzungen, in dem einige der Interviewten aus dem ersten Film (nunmehr natürlich älter) erneut befragt wurden, hat Antra Cilinska inszeniert, die zunächst als Schnittassistentin Juris Podnieks' begonnen hatte. Juris Podnieks selbst starb im Sommer 1992 mit nur 42 Jahren bei einem Tauchunfall. Mit ihm verschwand wohl eine der interessantesten Figuren des lettischen Dokumentarfilms, ein Regisseur, der nicht nur über lettische Jugendliche, sondern auch über die letzten Veteranen der Roten Lettischen Schützen, Dirigenten, usbekische Demonstranten, armenische Erdbebenopfer, Tschernobyl-Heimkehrer, die baltische Folk- bzw. Protestlied-Bewegung oder über die Straßenkämpfe zwischen lettischen Unabhängigkeitsaktivisten und sowjetische Soldaten (dabei starben zwei Kameramänner der Filmcrew) Filme drehte. Podnieks wurde dank des durchschlagenden Erfolgs von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und durch Koproduktionsverträge mit dem britischen Fernsehen relativ wohlhabend und gründete noch in der späten Perestroika-Ära sein eigenes, unabhängiges Filmstudio, das er auch ausländischen Filmcrews zur Nutzung vermietete. Das Juris Podnieks Studio blieb auch nach seinem Tod bestehen und wird nun seit vielen Jahren von Antra Cilinska geleietet.
Und jetzt noch eine letzte kleine Bemerkung: Nach der Sichtung von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und damit auch der höchst interessanten Ausschnitte des Films, die einer der Interviewten drehte, hoffe ich sehr, dass es irgendwann bei einem zukünftigen goEast-Festival mal eine Retrospektive zum sowjetischen Underground-Kino der 1980er Jahre geben wird (ein Film von Evgenij Jufit wurde vor ein oder zwei Jahren gezeigt, doch leider zu einem Termin nach meiner Abreise).


5. Festivaltag
Sonntag, 22. April

11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

TLMOČNIK („Der Dolmetscher“)
Regie: Martin Šulik
Slowakei / Tschechien / Österreich 2018
113 Minuten, DCP
Der pensionierte slowakische Dolmetscher Ali Ungár (Jiří Menzel) fährt nach Wien, um dort aus Rache den ehemaligen SS-Sturmbannführer Kurt Graubner zu erschießen, der einst im Zweiten Weltkrieg unter anderem Ungárs Eltern ermorden ließ. Doch in der Wohnung trifft er nur dessen Sohn Georg (Peter Simonischek), der ihn darüber informiert, dass Kurt Graubner gestorben ist. Nach einigen Streitigkeiten brechen die beiden in die Slowakei auf, um die Tatorte des Vaters bzw. des Elternmörders zu erkunden.
© goEast Filmfestival
TLMOČNIK ist ein Wohlfühl-Film mit kleinen Holocaust-Spitzen. Wahrscheinlich könnte ich ewig schreiben, warum dieser Film verwerflich ist, weil er den Holocaust für ein relativ klischeehaftes Stück Gefühlsduselei missbraucht. Aber dagegen sprechen zwei Sachen: erstens seine deutlich erkennbare Ernsthaftigkeit oder besser gesagt, seinen erkennbaren guten Willen. Und zweitens die Tatsache, dass TLMOČNIK als reines Schauspielerkino fantastisch ist.
Ja, mehr als alles andere lebt TLMOČNIK von seinem großartigen Schauspieler-Duo Menzel und Simonischek. Der Österreicher hat sicherlich die einfachere und auch dominantere Rolle, denn sein Georg Graubner ist ein recht lauter und derber Bonvivant, der auch schon vor um vier gerne mal einen hebt, leichten Flirts nicht abgeneigt ist und überhaupt ein ziemlicher Spaßvogel ist (was ihm im Laufe des Films immer mehr vergeht – oder deckt sich nur eine Melancholie auf, die er schon immer hatte). Menzel als etwas steifer, pedantischer und gänzlich humorloser Dolmetscher hat die etwas unsichtbarere und weniger spektakuläre Rolle, die er mit viel Würde und leiser Melancholie spielt. Beide zusammen sprengen fast die Leinwand.
Da vergisst man auch gerne, dass TLMOČNIK eben doch ein recht einfach gestrickter Tränendrücker ist, das über den Holocaust und den Umgang mit ihm kaum etwas zu sagen hat und der dem Zuschauer an manchen Momenten etwas zu sehr mit seiner Rührmusik die Tränen aus den Augen prügeln wollte. Ein sehr starker Moment bleibt mir aber doch in Erinnerung. Ungár und Graubner besuchen auf ihrem Trip durch die Slowakei auch Ungárs Tochter. Bei einem Zweiergespräch sagt Georg, dass es bestimmt genau so schwer sei, Kind eines Holocausttäters wie Kind eines Holocaustopfers zu sein. Das kennt man sowohl aus gewissen deutschen Filmen wie auch aus manchen Debattenbeiträgen zur Geschichtskultur, diese Relativierung à la „Der Krieg war ja ganz schrecklich und eigentlich sind wir alle Opfer“. Ungárs Tochter lässt das Georg aber keineswegs durchgehen und befragt ihn in einem sehr scharfen Ton, ob er sein insgesamt behagliches Leben gleichsetzen will mit ihrem Leben im Wissen, dass fast ihre gesamte Familie kaltblütig ermordet wurde und ihrem Unwissen, ob ähnliches vielleicht nicht noch mal passieren oder wiederkehren könnte. Da bleibt der sonst eloquente Georg sprachlos...
Vielleicht werde ich meine Bedenken, TONI ERDMANN zu schauen (seit VICTORIA habe ich eine sehr heftige Grundskepsis gegen überhype-te deutsche Filme entwickelt), doch überdenken.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Filmblock „Pärn, Nukufilm & Co. – Kleines Estland, große Animation II“

AJA MEISTRID („Die Meister der Zeit“)
Regie: Mait Laas
Estland 2008
72 Minuten, DCP
Späte 1950er Jahre: Vor den Toren Tallinns entsteht im Studio Nukufilm eine besonders experimentierfreudige Keimzelle des Animations- und Stop-Motion-Films. An dessen Spitze stehen die Regisseure Elbert Tuganov und Heino Pars, die zu den Großmeistern des estnischen Animationsfilms avancieren.
Elbert Tuganov und Heino Pars, darstellt als Stop-Motion-Puppen
© goEast Filmfestival
Der höchst sympathische Mait Laas, der beim Screening anwesend war, den Film kurz einführte und nach dem Filmblock den Zuschauern ein unvergessliches Q & A bescherte, ist kein trockener Dokumentarist, sondern gewissermaßen ein „(Enkel)kind“ der beiden portraitierten Regisseure. Die klassischen Archivmaterialien, die man in so einem Portrait-Dokumentarfilm sieht, sind zwar auch vorhanden, aber immer wieder werden Animationsszenen eingefügt, teils gezeichnet, teils Stop-Motion mit Puppen.
Tuganov und Pars gründeten in den 1950er Jahren eine Abteilung für Animationsfilm innerhalb des offiziellen Tallinn-Filmstudios. Mit diesem hatten sie offenbar wenig zu tun, sondern bezogen eine Art Sommerhaus am Stadtrand der estnischen Hauptstadt, um sich dort ganz ihren filmischen Visionen bewegter Puppen zu widmen. Dort, so der Film AJA MEISTRID, entstand eine Kommunen-ähnliche Arbeitsgemeinschaft mit einem eingespielten Team aus fähigen und experimentierfreudigen Handwerkern des Animationsfilms. Eine Kommune mit zwei Gurus an der Spitze, von denen jeder allerdings völlig eigenständig (wenn auch mit geteiltem Personal) seine Filme drehte. Tuganov sei ein eher autoritärer und strikter Regisseur gewesen, während Pars mehr auf offene und demokratische Kooperation setzte – so einige ehemalige Mitarbeiter der beiden estnischen Filmpioniere im Interview.
Die 1960er und 1970er Jahre waren die große Zeit von Nukufilm. In den frühen 1980er Jahren floh Tuganov aus der Sowjetunion und blieb erst in Spanien, dann in Westdeutschland. Eine Schmutzkampagne gegen seine Person und Schikanen durch die Behörden (ich denke darin begründet, dass er einen großen Teil seiner Schullaufbahn in den 1930er Jahren in Deutschland absolviert hat) bewogen ihn zur Flucht. In den 1980er Jahren begann im estnischen Animationsfilm auch eine Art Revolte gegen die beiden „Überväter“: eine Gruppe von jungen Regisseuren wollten noch wesentlich experimentierfreudigere und radikalere Filme drehen – eine Art „nouvelle vague“-Rebellion gegen die „Qualitätsfilmer“ Tuganov und Pars (einige dieser Filme wurden in einem anderen Kurzfilmblock gezeigt, zu dem ich es terminlich aber nicht schaffte).


PARK
Regie: Elbert Tuganov
Sowjetunion (Estland) 1966
7 Minuten, DCP
Eine Stadt bekommt einen neuen Park. Die Wegführung, wie sie sich die Planer vorgestellt haben, wird allerdings von den Spaziergängern nicht genutzt. Ständig neue Baumaßnahmen führen zu mehr Verwirrung.
PARK ist kein Stop-Motion-Film, sondern ein klassischer gezeichneter Animationsfilm. Es ist ein Film darüber, wie Pläne zur Gestaltung des öffentlichen Raumes letztendlich durch den Eigensinn des Publikums ad absurdum geführt werden, weil dieses seine Bedürfnisse gegen die Pläne letztlich durchsetzt. Konkret: wenn die Spaziergänger im Park nicht den umständlich geschlungenen Weg nutzen wollen, sondern querein durch ein Wiesenstück laufen, dann werden auch die größten Verbotsschilder nicht dagegen helfen. Klingt sperrig? Ist es aber nicht: PARK ist ein kurzweiliger und witziger Film mit einem köstlichen Humor.

PARK
© goEast Filmfestival
NAEL: Nägel, die sich in der Öffentlichkeit prügeln, werden von der (magnetischen) Polizei abgeführt
© goEast Filmfestival

NAEL („Nagel“)
Regie: Heino Pars
Sowjetunion (Estland) 1972
8 Minuten, DCP
Nägel nageln sich gegenseitig, suchen Zärtlichkeit bei großen, strammen Hämmern, betrinken und prügeln sich hemmungslos oder versuchen, Zirkuslöwen zu bändigen (letzteres eine ganz schlechte Idee!)... 
Vielleicht mag das verblüffend klingen, aber die Protagonisten von NAEL sind tatsächlich... Nägel! In vier kurzen Vignetten (die allesamt von jeweils unterschiedlichen Animateuren gefertigt wurden – hier scheint der „demokratische“ Ansatz Pars' durchzublicken) und knapp 8 Minuten wird das ganze erzählerische, erotische und humoristische Potential ausgelotet, das in verbogenen Nägeln so steckt. Es ist eine schlichte Idee, die mit großer Konzentration kurz und knackig umgesetzt wird und sogar noch mehr als PARK universell verständlich ist: statt Worten gibt es suggestive Musik und passende Ambientegeräusche. Im Grunde gibt es nicht viel mehr zu sagen. Ich empfehle: anschauen, staunen, lachen!

Das anschließende Q & A mit dem Dokumentar- und Animationsfilmregisseur Mait Laas und dem Geschäftsführer des immer noch existierenden Nukufilm-Studios Andres Mänd gehört zu den schönsten, die ich je erlebt habe. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Mait Laas als ein unglaublich freundlicher, offener, begeisterter Mensch herüberkam: witzig und smart, dabei doch bescheiden. Er sprach auf Englisch, aber er hielt ein Büchlein in der Hand: wie er erzählte, ein Band von Goethe-Gedichten, das er am frühen Nachmittag in einer Rumpelkiste in der Nähe des Caligari-Kinos gefunden hat (eine Rumpelkiste, die ich nach TLMOČNIK auch durchwühlte). Das erklärte er dann mitten während des Gesprächs, und dann schlug er eine Seite auf und las ein ganzes Gedicht auf Deutsch vor. Was das Gedicht konkret mit dem estnischen Animationsfilm zu tun hat, könne er nicht sagen, aber Goethe wird es schon wissen, und außerdem könne es nicht schaden, bei einem Gedicht inne zu halten.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

511 PARIMAT FOTOT MARSIST („Die 511 besten Fotos vom Mars“)
Regie: Andres Sööt
Sowjetunion (Estland) 1968
15 Minuten, digital
Bilder aus Kaffeehäuser Tallinns, dazwischen manchmal ein Off-Kommentar mit astronomischen Betrachtungen.
Ich würd mal sagen: 15 % Prätention, 85 % toller Film.


VIIMNE RELIIKVIA („Die letzte Reliquie“)
Regie: Grigori Kromanov
Sowjetunion (Estland) 1970
86 Minuten, HD-File
Während der Livländischen Kriege im späten 16. Jahrhundert: der adelige Hans möchte die schöne Agnes heiraten, doch die Kirche fordert, dass er eine Reliquie, die ihm sein Vater auf dem Totenbett vermacht hat, der Kirche überlässt, um die Hochzeit genehmigen. Agnes wird von Aufständischen entführt, genauer gesagt: von dem wackeren Reiter Gabriel (mit dem die Entführung eher zur Flucht wird). Die Reliquie kommt dabei auch abhanden, und einige intrigante Klerikale, der hoffnungslos verliebte und trottelige Hans sowie der hundsgemeine Ivo von Schenkenberg versuchen, Agnes und die Reliquie wieder zu bekommen. Agnes wiederum hat sich in Gabriel verliebt und macht mit den Aufständischen gemeinsame Sache. 
© goEast Filmfestival
Hui... das klingt alles fürchterlich kompliziert. Ist es irgendwie auch, aber angesichts des völlig entfesselten Kintopps, das VIIMNE RELIIKVIA auf den Zuschauer loslässt, ist die Frage nach der titelgebenden letzten Reliquie irgendwie auch die letzte, die sich der geneigte Zuschauer stellt. Bauernaufstände, Klassenfragen, antikirchliche Untertöne... bla bla bla... VIIMNE RELIIKVIA ist in erster Linie pures Attraktionskino, ein rasanter Genrefilm, der sich genüsslich in seinen stolz ausgestellten Schauwerten suhlt. Abenteuerfilm, schenkelklopfende Screwball-Komödie, garstiger Rachethriller, Gothic-Castle-Gruselfilm, Blockbuster-Actionspektakel, ein bisschen Nunsploitation – alles da, was Kino-Auge und Kino-Herz begehren.
Wirklich angefangen zu lieben habe ich den Film wohl, als Gabriel und die eher volens als nolens „entführte“ Agnes nach ihrem ersten gemeinsamen Tag auf der Flucht bei einem Gasthof ankommen. Agnes verkleidet sich mehr oder minder (eher: minder) erfolgreich als Mann, um ungesehen zu bleiben. Die beiden setzen sich an einen Tisch und werden bedient. Der vorherige Austausch der beiden machte klar, dass sich da zwei offenbar ganz gern haben und sich bereits vorsichtig beschnuppern. Aber Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Nun: zum Abendessen gibt es eine große Lammkeule für beide – so fein, dass es da Teller und Besteck gäbe, ist der Gasthof nicht. Jeder muss jeweils die Keule in die Hände nehmen und reinbeissen, um dann während des Kauens und Schmatzens die gegenübersitzende Person mit den Augen zu verschlingen. Irgendwann hält Gabriel Agnes die Keule hin, und sie beugt sich vor und beisst genüsslich rein. Mit welch gierigen Augen und hemmungsloser Laszivität sie das tut, das muss man schon selbst gesehen haben, um diesen absolut unfassbaren Moment zu glauben.
Ab diesem Zeitpunkt gab es für mich kein Halten mehr. Und tatsächlich auch keine Gründe zum Halten, denn kleine Ideen und große Schauwerte geben sich die Klinke. Ausgedehnte Prügeleien, bei denen sich zwischendurch gefesselte Beteiligte auch wieder befreien, um dann gleich wieder mit brennenden Fackeln zu werfen. Das ausgeklügelte Rohrpostsystem, das sich die kirchlichen Intriganten, der Abt und die Äbtissin, so eingerichtet haben, dass ihnen die Nachrichten auf das Schachfeld fällt. Der trottelige Hans, der trübsalblasend in seinem Badezuber sitzt und vor den Augen des Dienstmädchens ganz freudig erregt aufspringt, als er erfährt, dass er doch Agnes heiraten kann. Agnes, die von den Schergen des Superschurken Ivo von Schenkenberg (allein dieser Name: so deutsch, so böse!) festgehalten wird und mit Sklavin der Bande die Kleidung tauscht, um sich davon zu machen: mit einem Schleier vorm Gesicht ist sie getarnt, der Rest ist in einem äußerst knappen Leder-Outfit, der auch Barbarella passen würde, voll und ganz den Blicken der Bewacher (und ja: des geneigten männlichen Zuschauers) ausgesetzt. Diese völlig wahnwitzige Verfolgungsjagd mit Kutsche und Pferd, die jedem angehenden Actionregisseur als Musterbeispiel für Raum- und Tempogefühl dienen könnte. À propos Raumgefühl: die verschlungenen Labyrinthe des Klosters, voller geheimer Falltreppen, versteckter Türen und beweglichen Gittern, durch die sich gegen Ende ein halbes Dutzend Figuren gegenseitig verfolgen – ein kleines Meisterstück. Wenn wir schon in einem Kloster sind, fehlt nur noch eine Nonnenauspeitschung. Ah... Moment: die gibt es ja! Wenn die Äbtissin die nackte Agnes auspeitscht, ihr dann die Peitsche hinwirft und dazu auffordert, es selber zu machen, weht ein kleiner Hauch Jess Franco durch diese sowjetische Produktion.
Man könnte VIIMNE RELIIKVIA vorwerfen, dass er nur die Summe seiner Teile ist, dass er relativ beliebig einen kleinen Knaller nach dem anderen reiht. Im Angesicht eines der mitreissendsten unter den „reinen“ Unterhaltungsfilmen, die ich je beim goEast-Festival gesehen habe, werde ich diesen Vorwurf ganz bestimmt nicht erheben.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VELNIO NUOTAKA („Die Teufelsbraut“)
Regie: Arūnas Žebriūnas
Sowjetunion (Litauen) 1973
78 Minuten, DCP
Ein gefallener Engel taucht in einem litauischen Dorf des 19. Jahrhunderts auf und sorgt dort für erotischen Trubel, dionysischen Wahnsinn und endlose Gesangseinlagen...
Jenseits des Eisernen Vorhangs (aus osteuropäischer Sicht) gab es JESUS CHRIST SUPERSTAR. Diesseits sahen die Zuschauer VELNIO NUOTAKA. Da ich selbst das Rock-Musical über den revolutionären Prediger nicht gesehen habe, aber zumindest zwei Musikfilme eines sehr exzentrischen britischen Regisseurs kenne, würde ich es so formulieren: die erste halbe Stunde von VELNIO NUOTAKA lässt die Musikfilme Ken Russells wie trockenen Neorealismus aussehen.
VELNIO NUOTAKA beginnt im Himmel (gefilmt wurde in einer alpenartigen Berglandschaft – vielleicht im Kaukasus?): Gott, der ein wenig verschlafen auf seinem Thron sitzt, gibt eine Audienz vor seinen Engeln, aber die haben eigentlich nichts anderes im Kopf, als sich auf das in der Nähe stehende, üppige Buffet zu stürzen. Das tun sie dann auch, und einige Engel fangen dann auch an, sich gegenseitig zu befummeln (völlig unabhängig vom Geschlecht übrigens – auch zwei männliche Engel streicheln sich gegenseitig). Gott ist davon angefressen (also: dass seine Engel überhaupt das Buffet vor Ende der Audienz stürmen – nicht die gleichgeschlechtlichen Streicheleinheiten) und lässt einen großen Teil der Bande auf die Erde fallen. Von hier folgen wir nun einem rothaarigen, teuflischen Engel, der ein klein wenig an Gene Wilder in seiner Willy-Wonka-Rolle erinnert...
Vieles, was ab da passiert, konnte ich mir nur sehr intuitiv erschließen. VELNIO NUOTAKA enthält keine einzige gesprochene Dialogzeile: sämtliche Worte werden gesungen und damit auch in lyrische Phrasen verpackt, und die Untertitel waren teils erheblich schneller als ich. Ob die etwas ältere (vielleicht Anfang bis Mitte 40) Frau, an die sich der gefallene Engel ranmacht, die ältere Schwester der jungen Heldin (Anfang 20) oder doch ihre Tante bzw. die Schwester des Müllers ist? Sicher ist nur, dass die junge Protagonistin tendentiell eher auf den wackeren, bärtigen Wandergesellen (Regimantas Adomaitis nun schon zum dritten Mal) steht – der allerdings durch die Intrigen des gefallenen Engels, und durch die Intervention einiger gefallener weiblicher Engel in flammend orangefarbenen Röcken immer wieder den Weg zu seiner Liebsten „verpasst“. Etwa in der Mitte des Films geht der gefallene Engel noch einen (für ihn selbst) unglücklichen Deal mit einem Besucher aus der Dorfkneipe ein.
Aber das ist irgendwie alles nicht so wichtig, denn VELNIO NUOTAKA ist eine audiovisuelle Wucht, die ihresgleichen sucht. Die grandiose Nutzung des Cinemascope-Formats, die extrem starke Farbdramaturgie, schwankend zwischen natürlicher Belichtung in den Freilicht-Szenen und expressionistischem Licht bei den Innenszenen, die mitreissende Musik, die durch die Zuordnung einzelner Themen zu Figuren durchaus eine erzählerische Funktion einnimmt – das alles macht VELNIO NUOTAKA ziemlich großartig. Vor allem ist es aber ein absolut kompromissloser Film: es gibt nichts, was den Gesamteindruck irgendwie verwässern würde.
Einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Film leistet Viačeslavas Ganelinas bzw. auf russisch (und international unter diesem Namen auch berühmter) Vjačeslav Ganelin. Ganelin war von Haus aus nicht Filmkomponist, sondern Jazzpianist, der 1968 das Ganelin Trio gründete und mit dem Schlagzeuger Vladimir Tarasov (Vladimiras Tarasovas) und dem Saxofonisten Vladimir Čekasin (Vladimiras Čekasinas) einen der wildesten und experimentellsten Free Jazz in Europa spielte. Das hört man erst mal nicht so deutlich heraus: der Score ist größtenteils eher im Rockig-Poppigen anzusiedeln. Und doch sind viele Lieder durchaus auch ein bisschen „off“. Merkt man die besondere Sensibilität eines Komponisten, der eigentlich nicht im Musical zuhause ist? Jedenfalls ist Ganelin wahrlich eine tour de force gelungen. Er ist nicht weniger als Regisseur Arūnas Žebriūnas (vorher ein Spezialist für Kinderfilme bzw. Filme mit Kinderprotagonisten) als Erschaffer von VELNIO NUOTAKA zu sehen. 
Dass der Film nicht in den höchsten Pantheon meines diesjährigen goEas-Festivals kommt, hängt damit zusammen, dass ich mich an seine ausgestellten Exzesse (dazu gehört auch, dass zwischendurch Szenen abbrechen, und dann noch ein zweites Mal abgespielt werden) irgendwann „gewöhnt“ habe und dass sich dann eine gewisse Monotonie einstellte, weil der Film kaum „Luft“ ließ. Als er schließlich für etwa 10 Minuten innerhalb einer kleinen Kammer verblieb, in einer vergleichsweise sehr statischen Szene, erschien mir das dann eher öde als wie eine willkommene Ruhepause. Das klingt erst mal sehr negativ, aber ich glaube, dass VELNIO NUOTAKA mich letztlich überwältigt und überfordert hat. Er ist und bleibt ein absolut außergewöhnlicher Film, den ich erst mal setzen lassen muss und den ich gerne einmal wieder sehen werde.


6. Festivaltag
Montag, 23. April

ca. 10 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

BUDAPEST NOIR
Regie: Gárdos Éva
Ungarn 2017
95 Minuten, DVD
Ungarn, Ende der 1930er Jahre: das Horthy-Regime drängt immer weiter nach rechts, Pfeilkreuzler spielen sich in der Öffentlichkeit zunehmend aggressiv auf. In dieser Atmosphäre versuchen ein Reporter und eine Fotografin, den mysteriösen Mord an einer Prostituierten aufzuklären.
© goEast Filmfestival
Manchmal bin ich doch ein sehr simpel gestrickter Mensch: selbstverständlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich einen Titel wie BUDAPEST NOIR lese und natürlich will ich diesen Film unbedingt gucken. Wahrscheinlich würde ich auch TALLINN NOIR, RIGA NOIR, VILNIUS NOIR, BELGRAD NOIR, BUCHAREST NOIR, WIESBADEN NOIR und vielleicht sogar APOLDA NOIR oder GROßSCHWABHAUSEN NOIR anschauen.
BUDAPEST NOIR ist durchaus ein netter Film, aber leider ist das vielleicht auch seine Schwäche, weil ein film noir doch eigentlich nicht nett sein sollte. Die Hauptfigur, Reporter Gordon Zsigmond, ist gleich auf den ersten Blick als archetypischer noir-Detektiv erkennbar: kettenrauchend, mit coolem Mantel und einem schicken Hut versehen, einem steifen Drink um 10 Uhr morgens nicht abgeneigt, den Zyniker raushängend, um damit seinen eigentlich weichen Kern zu verstecken. Kolovratnik Krisztián macht den Gordon schon ganz gut, aber ein Bogart ist er nun auch gerade nicht.
Die Idee, einen period-noir in der Ära des bereits stark rechtsradikalisierten Horthy-Regimes anzusiedeln, ist sehr interessant, bleibt aber größtenteils nur Staffage, von ernsthafter Auseinandersetzung mit der faschistischen Ära und dem ungarischen Antisemitismus kann kaum die Rede sein. Vielleicht sehe ich das zu negativ: das autoritäre Regime, das im Hintergrund seine Fäden zieht, die Pfeilkreuzler, die Cabarets stürmen und die Kommunisten, die mit eher ruppigen Methoden gegen den Staat kämpfen – sie alle werden als genuin ungarisch gezeigt. Das ist im Ungarn der Orbán-Ära vielleicht schon eine ganze Menge.
Weder großer Ärger, noch große Freude kamen bei mir auf. Das period-Setting ist nett, die Hauptfigur schnüffelt ein bisschen in Budapester Hinterhöfen herum, zwischendurch gibt eine kleine Autoverfolgungsjagd durch enge Gassen. BUDAPEST NOIR wirkt über weite Strecken wie ein etwas gediegener 08/15-TV-Krimi, den man nebenbei (für manche Leute: beim Bügeln) gucken kann. Oder ist das der Einfluss dieser ganzen gehype'ten „Qualitätsserien“? Das Ende des Films deutet – nachdem die Geschichte akurat und fein säuberlich abgeschlossen wurde – weitere Abenteuer (bzw. Folgen) mit dem Journalisten und Hobby-Detektiven Gordon an. „Boykottieren“ würde ich sie keineswegs, wirklich brauchen täte ich sie – zumindest in dieser lediglich „netten“ Form – allerdings nicht...

Sonntag, 13. Mai 2018

Let's Twist Again in the Soviet Steppe: Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 1)


Russland und die Sowjetunion – beides galt für die kalten Krieger dies- wie jenseits des Eisernen Vorhangs, für antikommunistische Hexenjäger und russisch-nationalistische Sowjet-Führer, als Synonym. Dass die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung nicht russisch war, wurde gerne unter den Teppich gekehrt.
Beim goEast wird nichts unter den Teppich gekehrt, sondern gerne der Blick auf Peripherien gelenkt. Dieses Jahr ging die filmische Reise bei der Symposiums-Retrospektive in die sogenannten baltischen Staaten: nach Litauen, Lettland und Estland. Der Schwerpunkt lag auf Filme der 1960er bis 1980er Jahre, mit wenigen Ausflügen in die postsowjetische Zeit. In verhältnismäßig wenigen Screenings entspannte sich ein Panorama wunderschöner, wahnsinniger, poetischer, mutiger, witziger und zorniger Filme.

Aber erst einmal Zwischenstationen in Polen und in Ungarn.


1. Festivaltag
Mittwoch, 18. April

21.30 Uhr, Caligari FilmBühne

TWARZ („Fratze“)
Regie: Małgorzata Szumowska
Polen 2018
91 Minuten, DCP
Der Metal-Fan Jacek arbeitet auf einer Baustelle zur Errichtung der weltgrößten Jesus-Figur. Eines Tages hat er einen Unfall, der ihn schwer entstellt zurücklässt. Nach einer Gesichtstransplantation kehrt er in sein Dorf zurück, wird von seiner Verlobten verlassen und von seiner Umgebung immer mehr als Außenseiter behandelt.
Das Arbeiten mit Unschärfen (die Teilblindheit des Protagonisten widerspiegelnd)
ist hier deutlich zu sehen.
© goEast Filmfestival
Etwas ist faul im Staate Polen... Wie bereits Agnieszka Hollands und Kasia Adamiks POKOT, der letztes Jahr beim goEast lief, zeichnet auch Małgorzata Szumowskas TWARZ ein trostloses Bild vom zeitgenössischen Polen, mit etwas subtileren, allerdings auch weniger spektakulären Mitteln. Im Kern ist TWARZ ein relativ ruhig erzähltes Sozialdrama, dessen märchenhafte Elemente (Spuren von Frankenstein, wenn man so will) eher unterschwellig als offenbar sind. Der Realismus wird dadurch gestört, dass die Cinemascope-Bilder von Anfang an viele Unschärfebereiche haben: nur etwa ein Drittel ist scharf zu sehen. Das sieht ziemlich interessant aus, und soll den Zuschauer wohl auch in das Sichtfeld des Protagonisten einfühlen lassen (beim Unfall wird auch eines seiner Augen schwer verletzt, und tränt fortan permanent). Das ergänzt sich mit den Einengungen, die die natürliche Umgebung des Schauplatzes physisch und vor allem geistig seinen Protagonisten auferlegt: Höhepunkte des sozialen Lebens sind die regelmäßigen Gottesdienste, Hauptarbeitgeber des Orts ist die katholische Kirche, die den Bau der riesigen Jesusstatue organisiert hat (aber nicht bezahlt – das wurde er durch Spenden), wenn dort irgendetwas schief läuft, werden die Roma dafür ausgeschimpft, ab und zu gibt es Familienfeste (bzw. -besäufnisse), wo die neuesten rassistischen Witze ausgetauscht werden, bisweilen gibt es eine triste Dorfdisco und wer davon spricht, vielleicht mal nach England zu gehen, wird angeschrieen, weil Polen ja ausschließlich nach Polen gehören. TWARZ ist vielleicht noch hoffnungsloser als POKOT, denn in letzterem wehrt sich jemand gegen den Status Quo.
TWARZ ist sicherlich kein schlechter Film, aber mich hat er trotzdem nicht vollends überzeugt oder wirklich mitgerissen.
Der polnische Originaltitel bedeutet übrigens ganz neutral „Gesicht“. Für den internationalen Markt wurden teils die pejorative Bezeichnungen („Mug“ oder eben „Fratze“) genommen. Hintergrund, so Hauptdarsteller Mateusz Kościukiewicz im anschließenden Q & A, war die unmittelbare Reaktion Jerzy Skolimowskis, der nach einer privaten Sichtung des fertigen Films spontan die polnische Entsprechung von Fratze als Titel vorschlug.


2. Festivaltag
Donnerstag, 19. April

10.15 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

AURORA BOREALIS
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 2017
104 Minuten, DVD
Die Ungarin Olga lebt und arbeitet in Wien. Als ihre Mutter Maria in Ungarn in ein Koma fällt, reist sie mit ihrem Sohn an und entdeckt nach und nach verschüttete Familiengeheimnisse, die in den sowjetisch besetzten Sektor Wiens kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führen.
© goEast Filmfestival
Liebend gerne hätte ich AURORA BOREALIS im Kino gesehen, doch leider sollte er erst am Montag Abend, also nach meiner Rückfahrt, laufen. Mészáros Márta ist schließlich seit dem letzten goEast keine Unbekannte mehr für mich. Thematisch kommt der Film wohl dem „Tagebücher“-Zyklus sehr nahe, insofern hier wieder das Historische und Politische mit dem Privaten und dem Gegenwärtigen verknüpft wird.
AURORA BOREALIS beginnt mit einer anonymen Geburt: eine hochschwangere Frau schleppt sich durch einen Korridor, während im Hintergrund eine andere Frau ein Kind gebärt, kippt schließlich um und bereitet sich selbst, einsam, auf die Geburt vor... Diese dramatische Geburt oder Doppelgeburt und vor allem ihre Umstände prägt im weiteren Verlauf des Films drei Generationen von Ungarn und führt die Protagonisten von Budapest über Wien bis in das Gebiet Murmansk im russischen Norden. AURORA BOREALIS setzt sich in drei Zeitebenen, drei Orten und vielen Figuren, deren Namen und Identität teilweise unklar sind, nach und nach wie ein Puzzle der Erinnerungen zusammen.
Sehr bemerkenswert ist, wie kalt und grau der Film farblich wirkt: die zeitgenössischen und die historischen Wien-Szenen wirken trostlos, fast monochrom. Kontrapunktisch warm und sommerlich präsentieren sich hingegen die Szenen im stalinistischen Ungarn. Immer wieder kehrt der Film zu einer Rückblende zurück: Maria, die mit ihrem Verlobten Ákos, einem verfolgten Adeligen, in einem Teich Liebe macht. Momente, die in strahlenden Sonnenstrahlen getaucht sind.
Es geht in AURORA BOREALIS um den stalinistischen Terror der frühen 1950er Jahre in Ungarn, um Flucht aus der Diktatur, um Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten im besetzten Österreich, um den stalinistischen Terror der sowjetischen Besatzer in Wien, der sich gegen die eigenen Leute, aber auch deren (österreichische) Liebste richtete. Und natürlich geht es auch um Liebe, die nationale Grenzen überwindet, um Freundschaft, um die Schwierigkeiten, Familientraumata innerhalb der eigenen Familie zu bewältigen, um entfremdete Verwandtschaftsbeziehungen. Beide Seiten ihrer Geschichte verbindet Mészáros auf meisterliche Art, so dass niemals der Eindruck entsteht, ein politisch-historisches Thesenwerk oder ein einfaches Rührstück mit period-Einschlag zu sehen. Im Gegenteil: ein starker Film, der die Handschrift einer echten Altmeisterin trägt. Im Kino ist er bestimmt noch besser.


13.30 Uhr, Caligari FilmBühne

NIPERNAADI
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1983
89 Minuten, DCP
Estland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Toomas Nipernaadi treibt sich durch die Dörfer, spielt ahnungslosen Bauern üble Streiche, versucht, diverse Bauernmädchen zu verführen und landet schließlich in einem abgelegenen Strandhaus.
Irritierend künstliche Beleuchtung im natürlichen Setting
© goEast Filmfestival
NIPERNAADI ist ein schwieriger, sehr schwieriger Film. Zumindest mich hat er vollkommen ratlos und verwirrt zurückgelassen. Angekündigt wurde er als eine Art estnische Kreuzung aus Baron Münchhausen und Casanova, aber die Keckheit, Lebensfreude und Beschwingtheit, die man mit diesen Figuren vielleicht in Verbindung bringen könnte (Fellinis schaurig-morbide Interpretation des Casanova mal außen vor gelassen), findet man hier nicht.
Der Film arbeitet oft mit visuell sehr extremen Kontrasten zwischen der realistischen Landschaft (zweifelsohne wurden viele Szenen in der freien Natur gedreht) und einer merkwürdig künstlichen Beleuchtung: immer wieder werden die Gesichter der Protagonisten von der Seite leicht rötlich angestrahlt. Die Natürlichkeit der Bilder wird gestört, ohne in eine echte Künstlichkeit überzugehen (außer gegen Ende) und so entsteht etwas Undefinierbares, Einzigartiges, Verwirrendes. Das zieht sich durch den ganzen Film und charakterisiert ihn auch insgesamt.
Die Handlung kohärent wiederzugeben erscheint mir fast unmöglich. Der Film beginnt damit, dass Toomas Nipernaadi vom Tod einer alten Frau in einem Bauernhaus erfährt, dort hin radelt und die drei trauernden jungen Söhne davon überzeugt, ihm die Verwaltung des Guts zu überlassen. Nipernaadi inszeniert dann eine missverständliche Situation, die die drei Brüder dazu bringt, das Haus nieder zu brennen – dann geht Nipernaadi seines Wegs weiter. Die Episode wirkt wie eine Art absurder Witz ohne echte Pointe. Wer jetzt erwartet, dass der Film sich als eine Abfolge von kleinen Episoden entwickelt (und das habe ich ehrlich gesagt ein bisschen getan), wird vollkommen auf falschem Fuß erwischt werden. Die junge Frau, der er in der ersten Episode den Hof gemacht hat, lässt er offenbar links liegen, um im nächsten Dorf dann mit der Tochter der Gutsbesitzer anzubandeln – und schließlich doch mit dem etwas zersausten, pummeligen Dienstmädchen abzuhauen. Oder doch mit der Gutsbesitzertochter? Beide weibliche Figuren tauchen in keiner Szene gemeinsam auf, und beim Weiterziehen mit Nipernaadi scheinen beide zu einer Art „Synthese“ verschmolzen zu sein... Wurden sie etwa von der gleichen Darstellerin gespielt?
Irgendwann lässt Nipernaadi auch dieses Mädchen links liegen, freundet sich mit einem Holzfäller an und übernachtet schließlich in dessen Strandhütte. Und beide warten darauf, dass die Verlobte des Holzfällers zurückkommt. Als diese zurückkommt, geht der Holzfäller und Nipernaadi bleibt. Hier wandelt sich NIPERNAADI visuell. Nur noch wenig freie Natur, sondern ein Kammerspiel in einer leeren Hütte, irritierend überbelichtet, mit Schnitt-Gegenschnitt-Dialogen zwischen Nipernaadi und der Verlobten des Holzfällers, beide in die Kamera schauend. Draußen ist vielleicht die Apokalypse ausgebrochen, oder wir befinden uns doch im Jenseits: die karge Strandlandschaft mit dem weißen Sand wird dermaßen surreal überbelichtet gefilmt, dass wir uns kaum noch in der richtigen Welt wähnen...
Ich scheitere. Ich kapituliere. NIPERNAADI ist, obwohl er chronologisch erzählt wird, nicht weniger verwirrend als Alain Robbe-Grillets L'HOMME QUI MENT, den ich am nächsten Tag sah. Nein: verwirrender, denn bei Robbe-Grillet fand ich zumindest Ansatzpunkte von Interpretation, und visuell durchaus eine gewisse vertraute Tradition Neuer Wellen. NIPERNAADI erscheint mir völlig eigensinnig und einzigartig. Ich weiß nur, dass ich größtenteils sehr fasziniert war. Der einzige Orientierungspunkt, der darauf hinwies, dass ich möglicherweise eben ein verkapptes Meisterwerk gesehen hatte, kam knapp fünf Stunden später, als ich einen weiteren Film Kaljo Kiisks sah. Aber dazu weiter unten mehr...


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

NIEKAS NENORĖJO MIRTI („Niemand wollte sterben“)
Regie: Vytautas Žalakevičius
Sowjetunion (Litauen) 1966
107 Minuten, DCP
Litauen, 1947: offiziell ist das Land zwar schon „sowjetisiert“, tatsächlich aber sind auf dem flachen Land die Inseln sowjetischer Herrschaft sehr isoliert. Die sogenannten Waldbrüder kämpfen einen Guerillakrieg gegen die kommunistische Macht. In einem Dorf wird wieder einmal ein Vorsitzender des Dorfsowjets von den Partisanen ermordet. Dessen vier Söhne schwören Rache und sind wild dazu entschlossen, mit den Waldbrüdern in ihrer Region Schluss zu machen. Sie zwingen einen ehemaligen, amnestierten Waldbruder, das vakante und hochgefährliche Amt zu besetzen. Intrigen, Verrat, doppelte Spiele und Kämpfe folgen...
© goEast Filmfestival
Die Eingangsszene von NIEKAS NENORĖJO MIRTI ist ein großes Versprechen. Kontrastreiches Schwarzweiß, Cinemascope, karger Raum einer Bauernhütte mit einem Schreibtisch, an dem ein älterer Mann sitzt. Die Kamera nähert sich ganz langsam dem Schreibtisch, während sich der Mann eine Pfeife anzündet und zwischendurch kurz nach einer Pistole greift, deren Lauf er (glaube ich) kurz in die Flamme hält. Dann der erste Schnitt, jetzt sieht man ihn von hinten – und ein Schuss fällt. Der Mann fällt tot um. Einige Männer dringen in den Raum, schleifen den noch blutenden Leichnam vom Schreibtisch weg und verbrennen die Papiere, die sich darauf befinden. Toll. Beste Szene des Films!
Im Programmheft wurde NIEKAS NENORĖJO MIRTI als „roter baltischer Western“ bezeichnet. Olaf Möller bezeichnete das in seiner Einführung als Quatsch und nannte den Film einen „Nachkriegs-Actionfilm“. Gegen beides hätte ich nichts einzuwenden gehabt, aber letztlich hab ich von beidem recht wenig gefühlt.
Gerade die Actionsequenzen waren für einen „Actionfilm“ recht rar, denn von ihnen gab es im Grunde nur zwei: einen Hinterhalt in einer Mühle, bei dem sich viele einzelne Gegner gegenseitig ausschalten, aber ohne, dass wirklich ganze Gruppen aufeinandertreffen und der finale große Shootout im Dorf. Beide Szenen lesen sich hier ganz nett, aber sie schienen mir chaotisch, inkohärent, ohne Raumgefühl und Gespür für Timing inszeniert zu sein. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Darsteller der vier Söhne, die sich für die Ermordung ihres Vaters rächen wollen, recht hölzern und charismafrei waren. Den hölzernsten von ihnen sah ich (leider) noch in zwei weiteren litauischen Filmen während des Festivals.
Ein gänzlich anderes Format war hingegen Donatas Banionis, der den unfreiwilligen Dorfsowjetvorsitzenden spielt. International bekannt ist er als Hauptdarsteller in Konrad Wolfs GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS und Andrej Tarkovskijs SOLJARIS. Vor allem er hielt mein Interesse an NIEKAS NENORĖJO MIRTI aufrecht, denn sein Spiel war der komplexen Figur des amnestierten Waldbruders, unfreiwilligen Sowjetbeamten und Doppelagenten der Waldbrüder durchaus gewachsen.
Als Western oder Actionfilm scheint mir NIEKAS NENORĖJO MIRTI wenig zu taugen. Als komplexes Melodrama über Intrigen und Verrat scheint er mir interessanter. Die Waldbrüder werden keineswegs verteufelt, während die Sowjetmacht amorph wirkt und überhaupt nicht klar rüberkommt, warum sie die bessere Alternative sein sollte. Ideologie (ob sowjetischer Kommunismus oder litauischer Nationalismus) scheint jedenfalls kaum eine Rolle zu spielen, denn dafür sind sämtliche Charaktere zu stark von anderen Zwängen eingeengt: persönliche Loyalitäten, Eifersuchtsgefühle (drei Männer streiten sich um einen Love Interest), purer Rachedurst oder das verzweifelte Lavieren zwischen dem zeitgleichen Druck der Sowjetmacht und der Waldbrüder. Diese Zwänge spürbar zu machen, das macht NIEKAS NENORĖJO MIRTI doch recht gut.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

PURVA BRIDĒJS („Der Sumpfwater“)
Regie: Leonīds Leimanis
Sowjetunion (Lettland) 1966
85 Minuten, HD-File
Lettland, Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Stallbursche Edgar liebt das Dienstmädchen Kristina, doch ihr Liebesglück steht unter keinem guten Stern. Kristinas Mutter hegt eine starke Abneigung gegen Edgar, der gerne mal einen über den Durst trinkt, Karten spielt oder auch mal das Mobiliar der Dorfkneipe auseinander nimmt. Deswegen und auch wegen seiner Frechheit macht sich Edgar beim Gutsverwalter unbeliebt, der anfängt, Intrigen zu spinnen. Derweilen wirbt ein junger Emporkömmling um die Hand Kristinas, die durchaus für eine Vernunftsehe dieser Art offen ist.
Ein Running Gag im Film: die Tochter des deutschen Gutsherren möchte gerne in Ruhe
Klavier spielen und schließt immer wieder das Fenster, wenn draußen die Bauern zu viel
Krach machen
© goEast Filmfestival
Gegen period-Melodramen habe ich eigentlich nichts, aber PURVA BRIDĒJS war dann doch in vielerlei Hinsicht nicht so meins. Das Hauptproblem war ganz offensichtlich, dass mir die Hauptfigur, und das ist leider Edgar, gänzlich zuwider war. Was man etwas poetisch als rebellisches Aufbegehren bezeichnen könnte, ist im Grunde das Verhalten eines rüpelhaften Dorf-Prolls, dessen intellektuelle Fähigkeiten und emotionales Einfühlungsvermögen etwa so groß wie der Inhalt eines kleinen Schnapsglases sind. Wenn Edgar die Einrichtung der Dorfkneipe zerstört und Fenster einschlägt, weil ihm die zwei eben getrunkenen Biere zu Kopf gestiegen sind, dann wirkt das mitnichten heldenhaft und verwegen, sondern nur eben nur asozial. Dass er zwischendurch Katrin mal nach einer langen Verfolgung durch das Herrenhaus de facto vergewaltigt, verleiht ihm keine Sympathiepunkte: zwar könnte man irgendetwas wegen „Frauenbild“ in den 1960er Jahren oder gar über das Frauenbild der dargestellten Zeit was argumentieren – Edgar bleibt ein musterhaft schmieriges Arschloch. In einem Blog-Kommentar mit gänzlich anderem Kontext benutzte einmal jemand den Begriff der „Date-Rape-Fresse“: den muss ich mir jetzt für Edgar borgen. Und wenn der gute Edgar dann noch seiner Kristina ewige Liebe und sowie Enthaltsamkeit von Glücksspiel und Alkohol verspricht, nur um etwa zwei Filmminuten (und wahrscheinlich nicht einmal 60 Minuten „echter“ Zeit in seiner Welt) darauf seinen Wochenlohn beim Kartenspielen in der Kneipe zu versaufen und dabei die Kellnerin mit Hundeblicken und sich verselbständigenden Händen zu bedrängen, dann konnte ich wirklich nicht anders, als innerlich dem Gutsverwalter viel Glück bei seinen Intrigen gegen den Stallburschen zu wünschen.
Der bürgerliche Emporkömmling, der ein schönes Gut sein Eigen nennen kann, sollte sicherlich erst einmal eher als negative Figur wirken, aber letztendlich ist er ein gediegener, freundlicher, unaufdringlicher Mann, der in seinem Werben um Kristina stets sehr zurückhaltend wirkt. Die Idee, dass eine Frau ihn nicht nur des Geldes und des sozialen Aufstiegs wegen statt des Dorfrüpels heiraten möchte, scheint nicht völlig abwegig. Daher erschien es mir am Ende ganz besonders dämlich, dass sie in den letzten Schritten vor dem Hochzeitsaltar inne hält und doch zu Edgar geht. Der Film konzipierte das als einen überwältigend-emotionalen Höhepunkt, aber ich stellte mir schon vor, wie im imaginären Sequel Edgar seine Kristina in deren Hochzeitsnacht völlig betrunken zu Tode prügelt, und dann – sich ihres Tods nicht bewußt – in die Dorfkneipe zum Kartenspielen geht.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

HULLUMEELSUS („Wahnsinn“)
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1968
79 Minuten, HD-File
Im Nazibesetzten Estland 1943: das Land ist für „judenfrei“ erklärt worden, und jetzt machen sich die Nazis dran, Geisteskranke zu ermorden. Eine Irrenanstalt wird besetzt, die Insassen sollen zu einem „Waldspaziergang“ hinausgeführt und getötet werden. Doch ein Gestapo-Offizier stoppt das ganze: er will einer anonymen Denunziation folgen, der zufolge sich ein britischer Spion unter den Patienten befindet. Zunächst als Arzt, später als Patient getarnt, will er den Spion entlarven – doch der Wahnsinn greift immer mehr um sich...
© goEast Filmfestival
Ein Film, so Samuel Fuller, sollte den Zuschauer vom ersten Bild an bei den Eiern packen und bis zum Ende nicht mehr loslassen. HULLUMEELSUS hat das auf jeden Fall bei mir geschafft. Fuller hier zu erwähnen, erscheint mir zumal sehr sinnvoll, da Kiisks Film möglicherweise eine gewisse Ähnlichkeit zu SHOCK CORRIDOR (den ich aber bisher leider noch nicht gesehen habe) aufweisen könnte: Schauplatz Irrenanstalt, ein „Normaler“ ermittelt Undercover unter den Patienten... Bloß, dass HULLUMEELSUS innerhalb einer Filmindustrie entstanden ist, die noch erheblich weniger Freiheit bot als Hollywood.
Ein idyllisches Fleckchen am Waldrand, mit einem großen Gebäude auf einer Anhöhe, doch die Idylle wird  durch ein Schild gestört, auf dem in großen Buchstaben „JUDENFREI“ prangt und natürlich durch eine Einheit deutscher Soldaten, die durch das Bild stiefelt und dann auch bald in die Irrenanstalt einmarschiert. Manche der Patienten beachten die Soldaten nicht, doch einer von ihnen heftet sich ihnen gleich an die Fersen und äfft in hysterisch-überdrehter Art die Bewegungen des voranschreitenden Offiziers nach. Irgendwann zwischendurch stolpert der Patient in einen Gartenteich, aber beim Stillgestanden steht er wassertriefend wieder neben dem befehlsgebenden Offizier und vermasselt ganz ordentlich das seriöse Bild, das die deutschen Soldaten von sich geben möchten. Ein unangenehmer und trotzdem fast zum Schreien komischer Moment. HULLUMEELSUS ist auch eine sehr schwarze Komödie.
Über 500 Patienten befinden sich in der Anstalt, und Windisch, der Gestapo-Offizier, der sich erst einmal als Arzt getarnt hat, geht deren Akten durch und beschränkt den Kreis seiner Verdächtigen auf etwa ein halbes Dutzend. Da ist ein deutscher Soldat, der innerhalb seiner Truppe Amok gelaufen ist und danach desertierte. Des weiteren verdächtigt Windisch auch einen Mann, der sich für einen römischen Cäsar hält: angezogen in einer selbst gefertigten Toga stolziert er arrogant durch die Anstalt, beschimpft jeden, der ihm nicht sofort zu Diensten ist und spricht sehr rasch Todesurteile aus – so auch gegen den in Weiß bekittelten Windisch, der von dieser Vorstellung paradoxerweise vollkommen schockiert ist (obwohl nach Ende seines Auftrags selbstverständlich alle Patienten ermordet werden sollen). Hinzu kommt noch ein Schriftsteller, der unter starken Halluzinationen und vor allem unter einer Schreibblockade leidet, und davon überzeugt ist, vom Teufel besessen zu sein. Windisch verdächtigt auch einen Mann mit schwerer Amnesie, der aus einem jüdischen Ghetto kommt, aus dem man ihn rausgeholt hat, weil er wohl nicht jüdisch ist (der aber vielleicht auch ein geretteter Jude ist). Die Verdächtigen-Riege wird von einer Frau abgerundet: eine schwer paranoide und nymphoman veranlagte Berufsdenunziantin, die fürchterliche Angst vor Spionen hat und Windisch immer wieder zu verführen versucht.
HULLUMEELSUS konzentriert die Handlung zwar größtenteils auf diese Personen, nebst dem Direktor der Anstalt, der im Gespräch mit Windisch immer wieder seine humanistischen Ansichten über die würdige Behandlung kranker Menschen durchklingen lässt. Die erste Hälfte des Films ist dann auch eine Art Abfolge von Befragungsszenen mit Windischs Hauptverdächtigen. Aber auch zwischendurch sieht man immer wieder eine ganze Riege von Charakteren. Einer, der im Garten endlos im Kreis um einen Springbrunnen läuft und dabei Mundharmonika spielt (dargestellt von Regisseur Kaljo Kiisk persönlich), inspiriert den Film gewissermaßen zu seinem bizarr-faszinierenden Soundtrack aus elektronisch verfremdeten Akkordeonklängen. Ein älterer Herr fragt den „neuen Arzt“ immer wieder beim Vorbeigehen, ob er ihn nicht bereits schon einmal gesehen habe. Abseits sitzt ein Mann auf einem Fußboden mit schwarzweißen Kacheln und spielt völlig selbstvergessen mit sich selbst Schach.
Nach den Einzelbefragungen, die nichts ergeben haben, weil die einen die Anspielungen auf eine Zusammenarbeit mit der englischen Regierung überhaupt nicht verstanden, die anderen hingegen viel zu bereitwillig alle möglichen abstrusen Beschuldigungen gedankenlos zugaben, bekommt Windisch eine neue Idee: er will alle Verdächtigen in einen Raum bringen und ihnen so lange Alkohol einflößen, bis der Schuldige sich im Rausch verplappert. Das ganze tarnt Windisch als feierlichen Umtrunk, und hier löst sich der Film für mehrere Minuten fast komplett auf. Die manische Überdrehtheit der Patienten erreicht ungeahnte Höhepunkte, während sich der Raum auch nach und nach ändert: der recht sterile, krankenhaustypische weiße Raum wird farblich dunkler, die Wände verwandeln sich in grobe Holzlatten und wir sehen, dass das ganze ein riesiger Käfig geworden ist, der draußen im Freien steht.
Nicht nur den Zuschauer zu überraschen, sondern ebenso visuelle Stilbrüche beherrschte Kaljo Kiisk auch schon fünfzehn Jahre vor NIPERNAADI sehr gut. Die eher klassische Inszenierung mit flüßigen, eleganten Kamerafahrten lässt HULLUMEELSUS zwischendurch unvermittelt fallen, um das Treiben in holprig-nervöser Handkamera festzuhalten und ruckartig in Gesichter reinzuzoomen. Ein Wechselbad aus elegischen Bildern und einem „dreckigen“, experimentellen Stil, der mich ein wenig an Brynych erinnert hat (besonders die Kombination aus Handkameraschwenks und Zooms).
HULLUMEELSUS ist stellenweise urkomisch, manchmal so grausig wie ein Horrorfilm, er ist kafkaesk und grotesk, dabei auch von großer Poesie. Er wird in keiner einzigen Sekunde banal. Mein persönlicher Festivalsliebling und schon jetzt einer der allerbesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Unglaublich!


3. Festivaltag
Freitag, 20. April

16.00 Uhr, Apollo-Kino

O SLAVNOSTI A HOSTECH („Vom Fest und den Gästen“)
Regie: Jan Němec
ČSSR 1966
68 Minuten, DCP
Nach einem ausgelassenen Picknick im Wald werden einige Menschen von einer Bande festgehalten, die eigene Vorstellungen von Picknick und Feiern haben...
Die Ankündigung der Moderatorin war verunsichernd: irgendetwas mit Bild und Ton und Untertitel, die nicht synchron seien? Nun tatsächlich: das Bild der digitalen Kopie war super, der Ton war auch durchaus synchron mit den Bildern – allerdings waren die Untertitel zeitversetzt und wurden etwa zwei Minuten zu früh angezeigt (der Abstand wurde mit zunehmender Laufzeit immer größer). Das führte dazu, dass man als Zuschauer gewissermaßen alles „im Voraus“ denken musste, was, gelinde ausgedrückt, suboptimal war, zumal O SLAVNOSTI A HOSTECH ein extrem dialoglastiger Film ist. Totalausfälle bei Filmprojektionen: diese unschöne Tradition des goEast setzt sich fort!
Als ich schließlich den Kinosaal nach etwa 40 Minuten verließ, sah ich, dass doch erstaunlich viele Zuschauer weiter verharrten. Verstanden möglicherweise einige Tschechisch auch so? Vielleicht hätte ich länger durchgehalten, aber die extrem enge Zeittaktung mit dem nächsten Film gab den Ausschlag, rauszugehen und in gemütlichem Schritt (zumal bei einer unangenehmen, fast sommerlichen Hitze) zum Murnau-Kino zu gehen. Second Run hat O SLAVNOSTI A HOSTECH auf DVD veröffentlicht, er ist also nicht grundsätzlich für mich „verloren“. Und der nächste Film war in der Tat eine absolute Wucht!


17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

235 000 000
Regie: Uldis Brauns
Sowjetunion (Lettland) 1967
106 Minuten, 35mm
235 Millionen Menschen leben in der Sowjetunion. Der Film portraitiert sie beim Aufwachsen, Heiraten, Tanzen, Feiern, Arbeiten, Entspannen...
235 000 000 war eigentlich ein Auftragsfilm anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution, aber davon ist verhältnismäßig wenig zu sehen, oder zumindest nicht in einer Weise, die man erwarten würde. Auftragsfilm für ein Revolutionsjubiläum – das klingt erst einmal nach einem stocksteifen Dokumentarfilm, in dem ein Off-Kommentator dem Zuschauer langweilige Statistiken über das Wachstum der Schwerindustrie und Landwirtschaft reinprügelt, während Bilder von gestählten Arbeitern zu sehen sind, die mit geschmolzenem Metall irgendetwas Großartiges gießen. Tatsächlich ist 235 000 000 ein dialog- und kommentarloses Bildgedicht über die ominösen 235 Millionen Bewohner der UdSSR, und in erster Linie eine hymnische Feier der Menschen, des Lebens, der Freude am Leben. Wenn filmische Stadtsinfonien bestimmte Städte feiern, dann ist 235 000 000 wohl als Menschensinfonie zu bezeichnen.
Menschen bei Alltagshandlungen, Menschen beim Feiern, viele Gesichter, viele Augenpaare: das steht im Mittelpunkt des Films. Es gibt lange Montagesequenzen mit Menschen, die über die ganze Sowjetunion verteilt ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, zum Beispiel, sich bei Hochzeitsfeiern zu amüsieren. Mehrere Dutzende Hochzeitsfeiern kommen hintereinander, und das Bild, das 235 000 000 von der UdSSR zeichnet, ist über weite Strecken nicht russisch. Zu sehen gibt es viele „exotisch“ aussehende Zeremonien aus der Peripherie: aus dem Kaukasus, aus Zentralasien, aus nordrussischen indigenen Regionen, wahrscheinlich auch aus Gebieten mit koreanischen Minderheiten. Ich schreibe „exotisch“ in Anführungszeichen, weil der Film radikaldemokratisch in seiner Annäherung an alle gezeigten Menschen ist: niemand wird exotisiert.
Wie der Film mit dem Verhältnis von Mensch und Staat umgeht, zeigt sich vielleicht in den Bildern eines hochoffiziellen Parteitags (oder einer ähnlichen Veranstaltung: mangels Off-Kommentar oder Zwischentitel konnte ich vieles nicht präzise einordnen – aber für das Verständnis des Films ist das auch unwichtig). Ja, 235 000 000 zeigt Bilder von der Sitzung selbst, mit formeller Begrüßung der Delegierten (Breschnew ist da auch kurz zu sehen), und den gefüllten Plenarsaal. Viel lieber und länger verweilt er danach im Vorraum bei der Pause und beobachtet die Delegierten und die Gäste bei informellen Gesprächen und beim Entspannen. Darunter findet sich auch ein älterer Herr, bei dem die Kamera länger verweilt: er hat es sich in einem Sessel gemütlich gemacht, ab und zu greift er in das Schälchen auf dem Beistelltisch und wirft sich genüsslich dann eine Erdnuss in den Mund. 235 000 000 ist keineswegs ein subversiver Film: vielmehr anerkennt er die Sowjetunion als eine Normalität – eine Normalität, die es Menschen erlaubt, sich richtig zu entspannen und es der Kamera ermöglicht, den Blick auch länger einfach mal schweifen zu lassen.
Der Blick auf die Menschen – und die Blicke der Menschen. Die Kamera beobachtet die Gesichter, oft in Nahaufnahme, und die Gefilmten blicken zurück. Vielleicht ist 235 000 000 einer der unvoyeuristischsten Filme überhaupt, weil er dazu einlädt, die Barriere zwischen den Beobachtern und den Beobachteten einfach aufzulösen.
Drei große Höhepunkte für mich... Ein Pferderennen in einer Steppenlandschaft zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann (Teil einer Hochzeitszeremonie?), wobei die Dame haushoch gewinnt. Zweifelsohne eine der dynamischsten reinen Actionszenen, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Ein traditioneller Tanz, ebenfalls in einer nicht-russischen Region (Zentralasien oder vielleicht der hohe Norden?): die offensichtlich bestens gelaunten Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich zu einer Handtrommelmusik, doch der Film unterlegt die Szenen kontrapunktisch mit einem fetzig-jazzigen Bläserscore – ein kleiner Twist in der sowjetischen Steppe. Und schließlich die Kamera, gerichtet auf die Stirn einer jungen Frau mit einem zeremoniellen Kopftuch – mit einem langsamen Schwenk senkt sich die Kamera zu den Augen, die das ganze Cinemascope-Bild ausfüllen.
Im letzten Drittel gibt es eine Art Bruch in der Tonalität, weil eine längere Abfolge von Militärparaden, von Kampfflugzeugen, Panzern und Armeemanövern zu sehen ist. Musste hier ganz konzentriert der Auftrag des Films „abgearbeitet“ werden? Wer die Soldatenparade durchhält, wird danach wieder mit feiernden Sowjetbürgern in Zivil „belohnt“. Beziehungsweise mit feiernden Menschen, denn 235 000 000 zeigt in erster Linie Menschen, keine Sowjetbürger.
235 000 000 ist einer der berühmtesten Filme der „Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms“, einer losen Filmbewegung, die Dokumentarfilme mit rein visuellen Mitteln zu produzieren versuchte (manchmal auch bezeichnet als „Baltische Neue Welle“). Der Hauptregisseur Uldis Brauns war eine Schlüsselfigur dieser Bewegung, ebenso wie der Drehbuchautor Herz Frank (bzw. Hercs Franks). Ābrams Kleckins wirkte ebenfalls an der Produktion des Films mit: er ist nach Wiesbaden zum Screening angereist und berichtete danach, dass 235 000 000 ein voll und ganz ein kollektiver Film sei und erst nach etwa der fünften Sichtung wirklich seine volle Wirkung entfalten würde. Als Co-Regisseurinnen erwähnt IMDb noch Biruta Veldre und Laima Žurgina. Meiner Meinung nach eine wohl genau so zentrale Rolle wie die Regisseure, Kameraleute und Autoren spielt der Komponist Raimonds Pauls. Der Film benutzt eher selten den natürlichen Ton, sondern ist fast durchgehend mit einem extrem abwechslungsreichen Score aus Orchester-Jazz, Piano-Jazz, klassischen Streichern (die ein zwischendurch wiederkehrendes Leitmotiv spielen), rockigen Nummern und elektronischen Ambiente-Sounds. Der Score interagiert wie in einem Paartanz mit den Bildern: manchmal geben die Bilder vor, wie sich die Musik entwickelt, manchmal ist es die Musik, die die Wegmarken für die Bilder setzt.
235 000 000 existiert bzw. existierte in drei verschiedenen Schnittfassungen. Es gibt eine Art Ur-Fassung von 130 Minuten, aber die ist höchstwahrscheinlich verschollen. Die Version mit 106 Minuten, die beim goEast lief und mit einer wunderschönen 35mm-Kopie zu den schönsten (und glücklicherweise pannenfreien) Projektionen dieses Jahr gehörte, war wohl eine Festival- bzw. Vorpremierenfassung. Im Kino wurde der Film schließlich in einer Länge von knapp unter 80 Minuten ausgewertet. Vielleicht waren zensurbedingte Schnitte enthalten, aber wahrscheinlicher ist es, dass der Film so besser „vermarktet“ werden konnte bzw. für publikumsfreundlicher gehalten wurde.


19.45 Uhr, Murnau-Filmtheater

Kurzfilmprogramm „(Post-)sowjetischer Dokumentarfilm“

SENIS IR ŽEMĖ („The Old Man and the Land“)
Regie: Robertas Verba
Sowjetunion (Litauen) 1965
20 Minuten, DCP
Portrait eines über 80-jährigen Bauern, der von seinem Alltag und dem Lebensweg seiner Söhne erzählt.
Zweifelsohne ein schöner Film, aber mir ist nicht besonders viel Erwähnenswertes in Erinnerung geblieben.


KELIONĖ ŪKŲ LANKOMIS („A Trip Across Misty Meadows“)
Regie: Henrikas Šablevičius
Sowjetunion (Litauen) 1973
10 Minuten, DCP
Vom Alltag eines Stationsvorstehers auf dem Land.
Auch hier: ein schöner Film, aber keine großen Erinnerungen. Vielleicht, weil der nächste Film alle anderen des Blocks geradezu verblassen ließ?


VĖLIAVA IŠ PLYTŲ („The Brick Flag“)
Regie: Saulius Beržinis
Sowjetunion (Litauen) 1988
30 Minuten, DCP
Der litauische Rekrut Artūras Sakalauskas, der als Bewacher in einem Gefangenenkonvoi abkommandiert ist, tötet bei einem Amoklauf acht Menschen. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ untersucht dieses schockierende Ereignis und enthüllt, dass Sakalauskas Opfer systematischer Misshandlungen durch seine Kameraden und Offiziere war.
© goEast Filmfestival
Zwei Jahre Perestroika und keine Hoffnung in Sicht...
Der Sachverhalt scheint erst einmal deutlich: ein Soldat läuft Amok. Ein Verrückter wohl – der dann nach der juristischen Untersuchung in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Film macht nach und nach deutlich, dass hier überhaupt nichts einfach ist, sondern dass der Amoklauf das Symptom eines heruntergekommenen Systems ist. Artūras Sakalauskas, soviel wird rasch klar, wurde von seinen Armeekameraden und seinen Vorgesetzten systematisch gequält, psychologisch bedrängt, physisch misshandelt, gar regelrecht gefoltert. Und er war keineswegs der einzige. Im Film werden Rekruten befragt, die relativ nonchalant von gängigen Foltermethoden in der Roten Armee berichten, inklusive ihren verniedlichenden Bezeichnungen. Ein weit verbreitetes Phänomen, geradezu eine Tradition: Ranghöhere quälen Rangniedere, dienstältere Rekruten quälen neu hinzugekommene Rekruten, nicht-russische Rekruten werden in der Regel wesentlich schneller zu Opfern.
Die Eltern der Rekruten, die Artūras erschossen hat, werden befragt, und plötzlich wähnt man sich nicht in der vermeintlich progressiven Perestroika-Ära, sondern in der tiefsten Stalin-Zeit: den Sakalauskas müsste man unverzüglich wie einen Hund erschießen und nicht in einer Psychiatrie verwöhnen (wie es in sowjetischen Psychiatrien aussah, möchte man sich eigentlich nicht ausmalen). Dass ihre Söhne in Misshandlungen verwickelt waren, seien Lügengeschichten. Und wahrscheinlich sei der Sakalauskas ein finnischer Spion, der den Zug in Richtung Finnland entführen wollte. (Heute würden diese Leute das nicht in die Kamera sagen, sondern wohl bei facebook posten.)
Auch Offiziere der Roten Armee werden interviewt. Ihrer Meinung nach hätte sich Artūras auf dem korrekten Dienstweg über die Misshandlungen beschweren müssen. Und der hätte beinhaltet, dass er sich an seinen direkten Vorgesetzten, also einem Offizier, der ihn selbst misshandelte, wandte. Stattdessen beschwerte sich Artūras in seiner Kaserne bei wesentlich höherrangigen Offizieren – die seine Klagen ignorierten. Ein gewisses Umdenken findet ansatzweise statt, insofern über eine „unabhängige“ Beschwerdestelle für Soldaten nachgedacht wird.
Eine Lösung findet der Film schließlich in diesem Gewühl nicht. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ ist eine schonungslose Anklage, die den Zuschauer nach einer halben Stunde völlig verstört, entmutigt, niedergeschlagen und hoffnungslos entlässt. Während des Vorspanns liest der Off-Kommentator mit zorniger Stimme eine Liste aller litauischer Rekruten, die während ihres Armeedienstes getötet wurden oder zu Tode gequält wurden oder aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben. Es sind gut zwei Dutzend Namen.
VĖLIAVA IŠ PLYTŲ erschien 1988, und ich vermute, dass ein solch heftig anklagender Film, der keinen Zweifel daran lässt, dass die präsentierten Probleme mit dem sowjetischen Regime an zu tun haben, nicht viel früher hätte erscheinen können. Saulius Beržinis blieb auch nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Litauens Dokumentarfilmregisseur, betätigte sich aber auch in einem anderen Feld, nämlich der intensiven Erforschung des Holocaust in Litauen. Er war Mitbegründer des Unabhängigen Litauischen Holocaust-Archivs, sammelt bis heute Dokumente und Zeugenaussagen und dreht Dokumentarfilme über dieses Thema. Da seine Arbeit beinhaltet, dass er unter anderem über litauische Nazi-Kollaborateure und Holocaust-Mittäter forscht (von denen manche nach der Unabhängigkeit offiziell zu Freiheitskämpfern erklärt wurden), macht er sich im zeitgenössischen Litauen nicht überall Freunde.


RUDENS SNIEGAS („Autumn Snow“)
Regie: Valdas Navasaitis
Litauen 1992
16 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes im ersten Winterschnee...
In eisig kalten, gnadenlos statischen Tableaus wird der Schneeeinfall in einem Dorf festgehalten. Das ist kein ermutigender, schöner, erhebender Anblick, zumal alle Häuser völlig hoffnungslos verfallen sind. Das brutal kontrastierte Schwarzweiß des Films hebt die Stimmung auch nicht. Eine Anklage gegen den großen „Fortschritt“, den über vierzig Jahre Sowjetherrschaft brachten?


ANTIGRAVITACIJA („Antigravitation“)
Regie: Audrius Stonys
Litauen 1995
20 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes... – zum Zweiten!
Durch die Reihenfolge der Filme wirkte ANTIGRAVITACIJA wie ein strukturelles Remake von RUDENS SNIEGAS, mit dem Unterschied, dass die Kamera sich oftmals bewegte und dass sie zwischendurch leicht exzentrische und ungewöhnliche Positionen einnahm (zu Beginn etwa schwebt sie etwa 10 bis 15 Meter über dem Boden, den Blick senkrecht darauf gerichtet).


22.30 Uhr, Apollo-Kino

L'HOMME QUI MENT („Der Mann, der lügt“)
Regie: Alain Robbe-Grillet
Frankreich / ČSSR 1968
95 Minuten, DCP
Boris Varissa (Jean-Louis Trintignant) wird während des Zweiten Weltkriegs offenbar in einem Wald erschossen – oder auch nicht. Er kehrt in ein Dorf ein und beginnt, widersprüchliche Geschichten über seine Tätigkeiten und die des lokalen Widerständlers Jean Robin zu erzählen. Oder ist er selbst Jean Robin?
© goEast Filmfestival
L'HOMME QUI MENT lief in der Filmreihe zum 50. Jahrestag des Prager Frühlings. Er war, so die Ankündigung, die erste französisch-tschechoslowakische Koproduktion. Gedreht wurde er in der Slowakei, und gezeigt wurde eine slowakischsprachige Kopie (die meisten Angaben, die ich im Netz finde, weisen Französisch als Originalsprache aus). Die französische nouvelle vague besucht also die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings...
Ich habe von Robbe-Grillet bisher nur L'ÉDEN ET APRÈS (ebenfalls tschechoslowakisch koproduziert) gesehen und weiß über die strukturelle Komplexität von Alain Resnais' L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (dessen Drehbuch Robbe-Grillet verfasste, den ich allerdings immer noch nicht gesehen habe) bescheid. Nun, L'HOMME QUI MENT ist auch ein Film, in dem Realität, Traum, Fantasien und Obsessionen ohne jegliche Vorwarnung ineinander übergehen, in dem die puzzle-hafte Form vollkommen überhand nimmt über jegliche klassische Erzählkonvention, indem Regisseur und Cutter zu eigenen Protagonisten mit einem undurchdringlichen Eigensinn werden. Das ist gleichermaßen „anstrengend“ wie auch absolut faszinierend.
Die Bedeutung des Films zu entschlüsseln, erscheint wahrscheinlich nicht nur mir als schwierig, gar fast unmöglich. Dennoch, einige Zeichen gibt es. Intuitiv würde ich allerdings sagen, dass L'HOMME QUI MENT wohl doch mehr ein französischer Film ist denn ein echtes Dokument des Prager Frühlings, und er vielleicht vom Umgang mit der Résistance in Frankreich handelt, darüber, wie ein Mythos der Résistance aufgebaut wurde, gemäß dem der Widerstand gegen die Nazibesatzung und das Vichy-Regime ein Massenphänomen war – und sich kritisch dagegen positioniert. Vielleicht wäre es interessant, L'HOMME QUI MENT zusammen mit Jean-Pierre Melvilles L'ARMÉE DES OMBRES zu sehen, einem Film, der wahrscheinlich noch „schwieriger“ ist, weil viel weniger spielerisch und der ebenso davon handelt, wie die Résistance eine auf sich zurückgeworfene Parallelwelt bildete. Um den Bogen noch mal ein Stück weiter zu spannen, mit Paul Verhoevens ZWARTBOEK (hier natürlich nicht für Frankreich, sondern für die Niederlande) könnte man L'HOMME QUI MENT auch im Doppelpack mal sehen: auch in Verhoevens Film geht es um uneindeutige Identitäten im Anti-Nazi-Widerstand.
L'HOMME QUI MENT ist tatsächlich ein sehr spielerischer Film, der sich von seiner eigenen, zersplitterten Form mitreissen lässt, und zwischendurch wird er fast slapstickhaft: Der Protagonist erzählt einmal eine völlig wahnwitzige Geschichte darüber, wie er Jean Robin mithilfe eines Heuwagens aus einer Festungshaft gerettet hat, aber das ganze wird vom Protagonisten (bzw. Trintignant) für einige Minuten fast mit einem Lachen im Gesicht gespielt, das Bild scheint (in meiner Erinnerung zumindest) einen Tick zu schnell zu laufen, in großen comichaften Gesten wird der deutsche Wachmann K. O. geschlagen.
Ja, L'HOMME QUI MENT ist vielleicht doch „einfacher“ als NIPERNAADI. Ein sehr guter Film ist er auf jeden Fall. Die letzte halbe Stunde war leider für mich angesichts der fortgeschrittenen Zeit und vor allem des fortschreitenden Verfalls meiner Tagesform geradezu quälend. Als 18- oder 20-Uhr-Film wäre er vielleicht besser geeignet gewesen.


Im bald folgenden zweiten Teil meines Berichts zum diesjährigen goEast-Festival geht es dann unter anderem um estnische Walddämonen, Rigaer Punks, brünstige Nägel, liebreizende frühneuzeitliche Adelsdamen im Barbarella-Outfit und zynische Budapester Hobby-Detektive...