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Dienstag, 2. Januar 2024

2023 im persönlichen Rückblick


 

Und wieder ein Jahr vorbei... Mit vielen schönen




Festivals und Filmwochenenden

Über den wunderbaren 20. Hofbauer-Kongress im Januar habe ich bereits hier geschrieben: tried & tested, bekannt und immer wieder wunderschön. Eine Premiere für mich war 2023 der Besuch des Technicolor-Festivals in der Schauburg in Karlsruhe: der Kinosaal mit der riesigen Cinerama-Leinwand, viele bekannte Gesichter und eine unschlagbare Verköstigung mit Frühstück, Kaffeepausen und Abendessen (und eine größere Runde Freibier mit einer lokalen Brauerei an einem Abend) machten dies zu einem wunderschönen verlängerten Pfingst-Wochenende – und natürlich die tollen Filme: die stark geschnittene Wiederaufführungsfassung von GIÙ LA TESTA hat mir noch mal gezeigt, wo das eigentliche Herz des Films liegt, das Double-Feature aus JAWS und MORTE À VENEZIA war verblüffend stimmig (beide morbid-maritim und mit einer korrupten lokalen Verwaltung, die etwas Störendes – hier ein mörderischer Hai, dort eine Cholera-Epidemie – zu vertuschen versucht). Auch über das 9. Terza Visione, diesen wunderschönen cineastischen Kurzurlaub in Italien, habe ich schon geschrieben.

Zum Frankfurter Filmmuseum zog es mich dann wieder Ende September zur Mini-Retrospektive "Pre-Code Musicals Maudits", die sich gefloppten, genre-hybriden Musicals der Pre-Code-Ära widmete, mit MADAM SATAN von Cecil B. DeMille (eine Ehefrau versucht ihren untreuen Ehemann bei einer wilden Party als Femme Fatale verkleidet "zurück" zu verführen – aber dann gibt es eine Zeppelin-Katastrophe), I AM SUZANNE von Rowland V. Lee (eine verunglückte Tänzerin verliebt sich in einen Puppenspieler, der eine verstörende fetischistische Beziehung zur Puppen-Version seiner Geliebten entwickelt), IT'S GREAT TO BE ALIVE von Alfred L. Werker (nach einer für Männer tödlichen Pandemie wird ein letzter überlebender Mann von allen Frauen der Welt heiß begehrt) und MURDER AT THE VANITIES des langjährigen DeMille-Mitarbeiters Mitchell Leisen (ein Serienmörder versetzt eine Revue-Premiere in Angst und Schrecken). Eine wirklich entgrenzte "wilde Sause" der Freizügigkeiten (so viele so extrem kurze Miniröcke habe ich in dieser Ballung selten gesehen) und der totalen Unfassbarkeiten, bevor der "Code" den Stecker zog.

Wieder nach Italien (bzw. zur Nürnberger Filiale im KommKino) ging es zum Italo-Cinema-Wochenende im Oktober, wie 2018 mit Giallo-Schwerpunkt. Leider auch eine Schau des Materialverfalls, mit vielen rotstichigen, komplett entfärbten, teils in den Aktenden materiell komplett zerstörten und unabspielbaren Kopien. Die ab Samstag 16 Uhr drei aufeinanderfolgenden Filme hatten zum Glück alle Farbe und gutes Material, und zwischen dem Giallo-Gothic-Horror-Klamaukkomödien-Hybrid TUTTI DEFUNTI... TRANNE I MORTI von Pupi Avati und dem als Giallo getarnten entschleunigten Sleazer cum Kinski LA BESTIA UCCIDE A SANGUE FREDDO von Fernando Di Leo lief passenderweise in der Prime-Time das große Tier-Giallo-Meisterwerk UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE in strahlendem Technicolor.

Wenige Wochen später dann wieder Nürnberg, diesmal zum Karacho-Festival des Actionfilms. Mehr bekannte Titel denn je (ROBIN HOOD, THE FRENCH CONNECTION, DEATH WISH 3, LICENCE TO KILL, STRIKING DISTANCE), aber auch schöne Überraschungen aus den Philippinen und aus der Reservekiste für nicht rechtzeitig gelieferte Kopien. Ein besonderer Schmankerl, der den Blick jenseits der klassischen Regisseurs- oder Darsteller-Perspektiven erweiterte, waren die zwei Einführungen zur Musik von Michael Kamen (ROBIN HOOD, LICENCE TO KILL). Und bei aller Liebe zu Kongress und Terza: sehr schön bei Karacho (auch, wenn es in einer idealen Welt anders sein sollte) ist auch die stets kleine, gemütliche, intime Publikumsrunde.

Noch kleiner, gemütlicher und intimer ging es dieses Jahr auch beim Filmarchäologen-Symposium zu (ich war einer von zwei extern Angereisten). Auch hier keineswegs zulasten der Veranstaltungsqualität, im Gegenteil (und einen Tisch im Restaurant zu finden bei dieser Anzahl ist auch gleich viel einfacher!). 

Als unterjährige Reihe ein stetiger Begleiter meines Filmjahres war das 35mm-Kino des Film e.V. Jena. Mein erster Miyazaki (SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI – SPIRITED AWAY) habe ich bei einer Kindervorstellung (mit einigen ob des verblüffenden Gore- und Splatter-Content des Films recht eingeschüchterten sehr jungen Co-Zuschauern) erleben dürfen. Meine Entfremdung von Kubrick schreitet zwar immer weiter voran (wie ich bei THE KILLING und A CLOCKWORK ORANGE gemerkt habe), nur 2001: A SPACE ODYSSEY scheint davon nicht tangiert zu sein: interessanterweise gab es eine Roadshow-Kopie mit Prolog-Musik (ca. 8 Minuten Ligeti mit Schwarzbild) und Intermission (Penderecki mehrere Minuten lang über die Einblendung "Intermission"). Die Mini-Retro zum asiatischen Arthouse-Kino umfasste Zhang Yimous verblüffend dreckig-naturalistisches Dorfdrama und Filmdebüt HONG GAO LIANG – RED SORGHUM und Kurosawas bizarr-exzentrisches Epos bzw. Nicht-Epos RAN als Höhepunkte. Doch die großen Highlights kamen dann im Herbst in der Reihe "Auto & Geschwindigkeit": eine die Großartigkeit dieses Films noch mal unterstreichende Projektion von Tarantinos DEATH PROOF in einer kristallinen Kopie, eine Sonderveranstaltung in 16mm mit Wim Wenders IM LAUF DER ZEIT (der Slowburner der Reihe), John Carpenters wunderbarer CHRISTINE, eine interessante Wiederentdeckung eines Films, den ich bei der Erstsichtung halb verschlafen hatte und der trotz schwerer Verregnung und Braunstich nun gerade im Kino voll einschlug (VANISHING POINT) und last but not least der Höhepunkt, die Gottwerdung der Reihe, das Kino-Erlebnis des Jahres, TWO-LANE BLACKTOP.

Auch eine schöne unterjährige Filmreihe gab es im Leipziger LURU-Kino zu sehen: "LURU Archive" zeigte in sonntäglichen Double-Features Schätze aus dem Kopienarchiv des Kinos. Mitgenommen habe ich das Doppel über schwierige Liebe mit dem Melodrama auf dem schwedischen Dorf HON DANSADE EN SOMMAR (Arne Mattson: Schweden 1951) und dem Mafia-Drama LA MOGLIE PIÙ BELLA (Damiano Damiani: Italien 1970), das urbane Neo-Noir-Doppel mit dem überaus faszinierenden Rape-and-Revenge-Kracher LIPSTICK (Lamont Johnson: USA 1976) und dem "nur" okayen Polizei-Actionfilm NIGHTHAWKS (Bruce Malmuth: USA 1981) sowie das italienische Sleaze- und Exploitation-Doppel mit Ruggero Deodatos fiesem Home-Invasion-Schocker LA CASA SPERDUTA NEL PARCO und Marcello Andreis etwas zerfahrenem, dafür aber mit Joe Dallesandro umso mehr charismatisch besetzten urbaner Gang-Film IL TEMPO DEGLI ASSASSINI.

Und last but not least fand das 23. Internationale Jenaer Kurzfilmfestival cellu l'art mit meiner Wenigkeit als Teil des Orga-Teams statt. Ein auszehrendes, nervenaufreibendes, ultrastressiges – aber eben am Ende auch sehr belohnendes Event. Besonders stolz bin ich nicht nur darauf, ein 35mm-Programm aus dem Archiv des KommKinos nach Jena gebracht zu haben, sondern auch auf das von mir kuratierte Special zu erotischen Kurzfilmen weiblicher Regisseure (das vor einem aus allen Nähten platzenden ausverkauften Kinosaal stattfand). Nicht organisatorisch beteiligt war ich an der Programmsektion, die dieses Jahr wohl der Höhepunkt war: der Länderschwerpunkt Estland. Zwei historische Programme zum estnischen Animationsfilm der 1950er bis 1980er auf 35mm, ein Programm zum zeitgenössischen estnischen Animationsfilm (inklusive einer Deutschlandpremiere) und ein Kinderprogramm mit Filmmix aus über über sechs Jahrzehnten. Besonders erwähnenswert finde ich


EINE MURUL – BREAKFAST ON THE GRASS (Priit Pärn: Sowjetunion [Estland] 1987)

Priit Pärn gehörte zu den jungen Rebellen der frühen 1980er Jahre, die vom "familienfreundlichen" Animationsstil der Überväter Elbert Tuganov und Heino Paars die Schnauze voll hatten. EINE MURUL ist sichtlich ein Perestrojka-Film, weil Pärn hier dem Zuschauer mit einer unglaublichen Wut die Verrohung des Alltags in der Sowjetunion in grotesken Bildern vor die Füße kotzt: Strafgefangene werden durch graue Straßen geprügelt, Schwarzhändler zwingen Frauen zur Prostitution, in Ämtern wird brav nach Hierarchie immer weiter nach unten getreten, Frauen werden zu Gebärmaschinen degradiert und verlieren dabei wörtlich das Gesicht. Eine finstere, apokalyptische Vision, von galligem Humor durchzogen.
Etwas weniger finster-nihilistisch ging es in Pärns AEG MAHA – TIME OUT (Sowjetunion [Estland] 1984) zu, in dem eine Katze in einer Art infernalischem Perpetuum-Mobile der stressigen Alltagsroutinen gefangen ist, sich in einem Nervenzusammenbruch in eine grotesk-surreale Traumwelt flüchtet – und dort wieder in eine infernalische Stressmaschine gerät.


KOERKORTER – THE DOG APARTMENT (Priit Tender: Estland 2022)

Willkommen zurück zur Apokalypse, diesmal postsowjetisch: ein Wasteland mit grotesk entstellten Figuren, eine hündische Wohnung die bereit ist ihre Mieter zu fressen, eine surreal-absurde Tagesroutine um die Brötchen bzw. Würstchen zu verdienen. Und dazwischen ein poetischer Ballett-Tanz, "Schwanensee", inmitten eines Kuhstalls. (Zu sehen in der arte-Mediathek bis Dezember 2024)




Ekstatische Kinoerlebnisse der Extraklasse mit alten Bekannten


BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven: USA/Frankreich 1992)

7. Februar 2023, Kino am Markt: auf einer großen Leinwand sind die Closeups auf die Wortgefechts-Duelle zwischen Sharon Stone und Michael Douglas noch mal erotischer! "Nicky! Nicky..."


TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman: USA 1971)

22. November 2023, Schillerhof, 35mm: gesehen in der wahrscheinlich einzigen erhaltenen 35mm-Kopie in Europa. Das Sound-Design ist im Kino wirklich der Wahnsinn. Aber auch die Textur der Bilder kam in der Kopie besonders schön zum Tragen (die schöne Struktur von Warren Oates' farb-wechselndem Pullover!). Das legendäre Ende analog zu sehen ist natürlich atemberaubend. Totales Kino!




Spezialkategorie Film & Whisk(e)y


Nur ein Symbolbild: Charlotte Ramplings Figur trinkt Vodka (und guter Whisky gehört natürlich in Nosing-Gläser)

UN TAXI MAUVE (Yves Boisset: Frankreich/Irland/Italien 1977)

Boissets erster "unpolitischer" und "unproblematischer" (also: ohne schwierige Zensurgeschichten oder Morddrohungen) Film. Als Irland-Film enthält er zahlreiche Szenen mit Whisky-Genuss, die zugegeben sehr anregend auf mich gewirkt haben. Am gleichen Abend probierte ich dann mit einem Whisky-erprobteren Freund im Café Central zwei Whiskies – und habe mich seitdem langsam vom Gelegenheitsprobierer zum Single-Malt-Scotch-Liebhaber entwickelt. In Hommage an die genuss-induzierende Wirkung von UN TAXI MAUVE hier eine  kleine Nicht-Filmliste:


Lagavulin 16

Ardbeg Uigeadail

Laphroaig PX Cask

Oban 14

Glenmorangie Nectar d'Or




Tops aktuelle Filme 2023


PACIFICTION (Albert Serra: Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022)

Benoît Magimel, ehemals so was wie ein Beau des französischen Kinos, schlurft als französischer Hochkommissar Polynesiens durch die schummerigen Nachtclubs, schaut immer entweder leicht verkatert oder besoffen aus der Wäsche, während ihm die Gerüchte um eine mögliche Wiederaufnahme der Atombombenversuche immer mehr um die Ohren fliegen. Knapp drei Stunden lang schlurfen wir in einem unklaren, trance-artigen Dämmerzustand mit ihm durch diesen Film: wie ein Paranoia-Thriller à la Jacques Rivette, der von Edward Hopper fotografiert wurde – mit Polynesien-Motiven statt Americana.


EO (Jerzy Skolimowski: Polen/Italien 2022)

EO ist ein wenig der Film, der AU HASARD BALTHAZAR hätte werden können, der Film, der wahrhaftig radikal den Esel zum wirklichen Protagonisten macht. Und zwischendurch einfach mal dessen Träumen und Visionen (?) folgt, wenn wir durch einen blutrot gefärbten Himmel fliegen, vorbei an den Windrädern und beginnen, uns dabei im Kreis umzudrehen (dieser experimentelle Einschub ist im Kino von schwindelerregender Unfassbarkeit). Oder in einem inzestuösen Subplot Isabelle Huppert als dominante Mutter Geschirr zertrümmern lässt.


PEARL (Ti West: USA/Neuseeland 2022)

Wenn Douglas Sirk einen Slasher inszeniert hätte... so ungefähr lautete die Anteaserung bei West-Bewunderern im Vorfeld des Kinostarts. Alternativ könnte man aber auch sagen: was, wenn Dorothy in Kansas hätte bleiben müssen? PEARL ist wie eine Variation von WIZARD OF OZ als Origin-Story einer Serienkillerin erzählt, mit den Mitteln eines Technicolor-Melodrama. Neben der anbetungswürdigen Farbfotografie ist es – mehr noch als im Vorgänger X – die Hauptdarstellerin (und Co-Autorin und Co-Produzentin) Mia Goth und ihre komplexe Darstellung der Titelfigur, die PEARL zu einem Original macht: ihre Pearl ist natürlich auch eine derangierte Psychopathin, aber eben auch eine junge Frau mit großen Träumen, die in einem von der Spanischen Grippe gelähmten Kleinstädtchen bei streng-protestantischen deutschen Eltern vor sich hin trüben muss.               


THE FABELMANS (Steven Spielberg: USA 2022)

Auf eine gewisse Weise fühlt sich THE FABELMANS wie eine Variation von A.I. – ARTIFICIAL INTELLIGENCE an: wo dort ein Roboterjunge unbedingt ein richtiger Junge werden wollte, um mit seiner "Mutter" ins Bett zu gehen, versucht hier ein richtiger Junge ein Filmemacher zu werden, um mit seiner Mutter nur mittels des Medium Film ins Bett gehen zu müssen. Es ist einer der großen Momente dieses unrunden und doch durch und durch faszinierenden Films, wenn Mitzi Fabelman beim Camping im semidurchsichtigen Nachthemd von den Autoscheinwerfern beleuchtet tanzt und von drei Männern lustvoll beobachtet wird: von ihrem Ehemann, der sie anschaut; von ihrem Geliebten, der sie anschaut; und von ihrem Sohn Sammy, der sie... filmt!
In PEEPING TOM greift der Serienkiller-Filmemacher Mark Lewis bei einem Spaziergang mit der Nachbarstochter intuitiv an seine Hüfte, wo üblicherweise seine Kamera hängt, um ein sich küssendes Paar im Park zu filmen (seinem Date zuliebe hat er auf die Mitnahme der Kamera verzichtet). Hier in THE FABELMANS beobachtet Sammy einen epischen Streit zwischen seinen Eltern – und fängt dann prompt in seinem Kopf an, sich vorzustellen, wie er das mit seiner Kamera filmen und zusammenschneiden würde. Hier wie dort zwei Menschen, die mit der Welt hadern und versuchen, sie mittels von Filmemachen zu interpretieren, zu verstehen, zu exorzieren (auch wenn Sammys Filmemachen weniger tödlich ist als Marks).
In einem sehr interessanten Artikel auf dvdclassik argumentiert Claude Monnier, dass das kommerzielle Kino Steven Spielbergs von kommunikationsunfähigen Figuren bevölkert ist, die von ihren Obsessionen zerfressen werden. Was in anderen Filmen vielleicht nur versteckt mitschwingt, wäre in THE FABELMANS der eigentliche Text. Es ist faszinierend, dass THE FABELMANS eben keine Geschichte NUR über die Wunder des Filmemachens ist (das ist sie auch, und die Offenbarung der Pistolenschüsse-Spezialeffekte in Sammys Schüler-Amateur-Kriegsfilm ist wirklich großartig – zumal Sammy hier auch kurz einen Draht zu seinem kunstfeindlichen, aber technikaffinen Vater findet), sondern auch über die Gefährlichkeit und die Abgründigkeit von Filmemachen, über das Kino als Waffe: eine Erkenntnis, die Sammy selbst machen muss, als er beim Schneiden seines Urlaubsfilms merkt, dass er ohne Absicht die verheimlichte Affäre seiner Mutter mit "Onkel" Bennie gefilmt hat.


DOGMAN (Luc Besson: Frankreich 2023)

DOGMAN ist der erste Besson-Film seit ANGEL-A (2005), den ich gesehen habe, insofern erzähle ich möglicherweise gleich Quatsch: er wirkt wie der Film eines Altmeisters, der sich von der Last befreit hat, irgendetwas zu drehen, was "gefällt", und stattdessen mit Sachen rumspielt, an denen er sichtlich Spaß hat. Ein verständnisvolles psychologisches Drama, ein quatschiger Tierfilm, ein kindskopfiger Heist-Movie, ein fetziges Drag-Queen-Musical (die Drag-Interpretationen von Édith Piaf ("La foule") und Marlene Dietrich ("Lili Marleen") sind große Höhepunkte), voyeuristisch-schmierig-sadistische White-Trash-ploitation, ein latent verstörender Serienmörder-Thriller, kathartische Action mit Schießereien, das Empowerment eines körperlich behinderten Transmenschen und vor allem ein hemmungslos in großen Emotionen badendes Melodrama – das alles steckt in DOGMAN drin. Die Rahmenhandlung ist das Gespräch zwischen dem Protagonisten in U-Haft und einer Polizeipsychologin und die Rückblendenstruktur fliegt dem Film in ihrer erratischen Erzählweise fast um die Ohren: man kann dem Film bei seiner eigenen Entstehung fast zusehen, doch am Ende muss ich sagen ist er eben tatsächlich mehr als nur die Summe disparater Einzelteile – Caleb Landry Jones hält das alles mit seinem mysteriösen, androgynen Charisma zusammen.


AS BESTAS (Rodrigo Sorogoyen: Spanien/Frankreich 2022)

STRAW DOGS bzw. das ganze Backwood-Genre in einer interessanten Neu-Interpretation und Variation: ein französisches Bauern-Ehepaar wird in einem galizischen Bergdorf von zwei Brüdern in der Nachbarschaft angefeindet und zunehmend bedroht, weil sie Ausländer sind und weil sie gegen ein lokales Windradprojekt gestimmt haben, das finanzielle Entschädigungen gebracht hätte. Sorogoyen, geübt im Polizeifilm (QUE DIOS NOS PERDONE) und im Korruptions-Politthriller (EL REINO), beherrscht meisterhaft die Mittel des langsamen Spannungskinos, um die Eskalationsschraube Stück für Stück anzuziehen und mit Entspannung oder plötzlichen Gewaltausbrüchen zur arbeiten. Bemerkenswert ist auch, wie Antoine, dank Denis Ménochets bulligem Äußeren, zunächst klar im Zentrum steht, seine Frau Olga (Marina Foïs) sich aber Stück für Stück zur zentralen Figur entwickelt.
Als eine Art spanischer, zeitgenössischer Heimatfilm-Thriller interessanterweise fast zur Hälfte französischsprachig, scheint der Film sich dennoch nach und nach zu einer Art Reflektion über das Leben nach dem Spanischen Bürgerkrieg zu entwickeln.


INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY (James Mangold: USA 2023)

Im Laufe der drei-parteiigen Tuk-Tuk-Verfolgungsjagd durch die Straßen von Tangier bin ich von meinem Kinositz aufgesprungen und habe mit einem Freudeschrei die Arme siegend nach oben gestreckt. Man könnte auch sagen: INDIANA JONES AND THE DIAL OF DESTINY hat mir zwischendurch schon mordsmäßig Spaß gemacht! Es ist kein perfekter Film und nicht alle Einfälle (Personal-Recycling aus früheren Filmen und De-Aging) sind gelungen. Als bislang längster Indiana-Jones-Film fühlte er sich trotzdem angenehm kurzweilig an. Das große Highlight war für mich am Ende Phoebe Waller-Bridge als Indianas Patenkind, die leichte Katherine-Hepburn-Vibes versprüht (und genau so "hard-talking" wie sie ist) und den wohl besten Indy-Sidekick der ganzen Reihe abgesehen von Sean Connery spielt (und auch die beste und komplexeste Frauen-Figur in der Reihe). 


ROTER HIMMEL (Christian Petzold: Deutschland 2023)

"Die Arbeit lässt es nicht zu!" Und deshalb nimmt Leon aka Thomas Schubert übel und zieht die spritzig-frische Rohmer'ianische Sommerkomödie mit seiner Arschlochigkeit runter – oder wenn man möchte: hoch. Für mich nicht das große Highlight in Petzolds Filmografie (PHOENIX und seine Fernseh-Polizeifilme stehen bei mir deutlich drüber) – aber nachdem mir TRANSIT und UNDINE nur so-la-la gefallen hatten, war ROTER HIMMEL doch überraschend vergnüglich.


von 2022 noch nachgeholt:

BENEDETTA (Paul Verhoeven: Frankreich/Belgien/Niederlande 2021)

Der Körper und die Lebenssäfte Jesu in einer sehr interessanten Variante des katholischen Glaubens neu gefeiert! Mit einer passend zu ihrer Rolle ikonisch spielenden Virginie Efira.




Tops 15 der Erstsichtungen 2024 (nach Sichtungsreihenfolge geordnet)


DIE DRESSIERTE FRAU (Ernst Hofbauer: BRD 1972)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #1 – erster Kinofilm des Jahres, erster Knaller. Gesehen beim 20. Hofbauer-Kongress.


ANGEL (Robert Vincent O'Neil: USA 1983)

Was auf den ersten Blick wie Teenager-Straßenstrich-Sleaze aussieht (und stellenweise natürlich auch ist), entpuppt sich rasch als Film mit einer fast unendlichen Zärtlichkeit für seine Charaktere am Rand der respektablen Gesellschaft im Großstadt-Moloch Los Angeles: die Titelfigur selbst (tagsüber Molly genannt und Schülerin und De-facto-Waise), aber auch der Transvestit Mae, seine beste Freundin, die burschikose exzentrische Künstlerin Solly, der Straßen-Cowboy Kit. Gescheiterte Menschen nach bürgerlichen Maßstäben, die in gemeinsamer Solidarität ein bisschen Glück suchen.


Oben: Thelonious Monk; eine eis-essende Journalistin
Unten: zwei gutgelaunte Freunde im Publikum; Dinah Washington freudestrahlend nach einem geglückten Vierhände-Solo mit ihrem Vibrafonisten

JAZZ ON A SUMMER'S DAY (Bert Stern, Aram Avakian: USA 1959)

Von Jazz-Möchtegerne-Puristen verurteilt, weil der experimentelle Inszenierungsansatz des Films sich selten komplett nur auf die Musiker fokussiert, ist JAZZ ON A SUMMER'S DAY eben nicht nur ein "schnöder" Konzertfilm, sondern ein ganzheitliches Portrait des Newport Jazz Festival 1958. Jimmy Giuffre, Anita O'Day, Louis Armstrong, Dinah Washington, Thelonious Monk, Mahalia Jackson und Chuck Berry (unter anderen) mögen die "Hauptdarsteller" sein, aber gerade der Blick auf die Zuschauer und die Bewohnerinnen und Bewohner Newports macht den Film ganz besonders. Meine Lieblinge: zwei Freunde, die im Partner-Look zum Festival gekommen sind, einen Heidenspaß haben, sich unterhalten (und dann merkt man vielleicht auch, dass einer weiß und der andere schwarz ist).


L'ANNONCE FAITE À MARIE (Alain Cuny: Frankreich/Kanada 1991)

Die einzige Regiearbeit Alain Cunys (womit er sich unter anderem bei Charles Laughton, Leonard Kastle, Akramzadeh, Aleksandr Askol'dov einreiht) ist eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des katholischen Autors Paul Claudel: eine ausgestoßene Lepra-Kranke lässt das verstorbene Kleinkind ihrer Schwester in einem Wunder wiederauferstehen. Ein kürzlich wiederentdeckter "film maudit", ein visionäres und vollkommen singuläres Werk, das schwer zu beschreiben ist: Vergleiche mit Bresson wurden gezogen (Bresson auf LSD würde es besser treffen), aber der strukturelle Vergleich mit Laughton – als unklassifizierbares Unikum – ist passender. Ein Mittelalter-Film mit einem stark verfremdeten und ironisierten Period-Setdesign (ein Maneki-neko ist in einer Szene zu sehen), in Tableaus gefilmt, zwischendurch von experimentellen Montagen durchbrochen, mit trance-artig agierenden Darstellerinnen und Darstellern.


RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO (Renato Polselli: Italien 1973)

Als "primitiven Expressionisten" habe ich Renato Polselli einmal bezeichnet. Im dritten Film, den ich von ihm sehe, geht er am weitesten: ist das noch hysterisch-psychotische Exploitation oder schon reines Avantgarde-Kino? Die Handlung spielt in einem Schloss im titelgebenden 13. Jahrhundert, und in der Jetztzeit, schwarze Messen werden im Folterkeller zelebriert, eine mondäne Party wird gecrasht, Figuren werden gnadenlos in einer der beiden Zeitebenen abgemurkst, um später wieder quicklebendig aufzutauchen, sämtliche Charaktere agieren wie am Rand eines Nervenzusammenbruchs oder kurz vor einem Amok-Lauf. Der Soundtrack enthält ein Klavier, das nicht "normal" auf den Tasten gespielt wird: der Pianist kratzt über die Saiten mit den Fingern. So ist auch der ganze Film inszeniert.


HÄXAN (Benjamin Christensen: Schweden/Dänemark 1922)

Avantgardistische Horrorfilme, zum Zweiten. HÄXAN wirkt ein wenig wie der erste Torture-Porn-Horrorfilm, der erste Mondo-Film, der erste Essay-Film (und Polsellis psychotisch-sexuelle Cine-Hysterie scheint er stellenweise auch vorwegzunehmen). Es ist mir ein wenig ein Rätsel, warum dieser Film NOSFERATU nicht den Rang als ultimativen Horrorfilm der 1920er Jahre abgeknüpft hat, wahrscheinlich steht ihm seine verblüffend transgressive Natur (Kinderschlachtungen, Folterungen, Menschenverbrennungen, sadomasochistische-lustvolle Selbstauspeitschungen, grotesk entstellte Figuren etc.) im Wege?


JEANNE DIELMAN, 23, QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (Chantal Akerman: Belgien/Frankreich 1975)

Ein obsessiver Film über obsessive Alltagsrituale. Und wie das Leben ins Schwanken gerät, wenn diese Rituale gestört werden. Das letzte Drittel, als Jeannes Routinen zunehmend harsch gestört werden, hat etwas von einer schwarzen Komödie: gerade dieser Moment, wenn sie sichtlich aufgelöst darüber ist, dass ihr Stammplatz im Café besetzt ist... Zunächst bin ich aber vor Verblüffung fast bis zu Decke gesprungen, als Jeanne am dritten Tag vergisst, den Deckel auf ihre Sparschwein-Ersatz-Terrine zurückzustellen. Ein großartiger Film über Zeit, Dauer, Weile, der sich wie ein Alterswerk eines über viele Jahrzehnte gereiften Regisseurs anfühlt (und doch von einer 25-jährigen Kino-Rebellin inszeniert wurde). Und natürlich Delphine Seyrig...


BUIO OMEGA (Joe D'Amato: Italien 1979)

Ein dunkel-romantischer Film über eine unsterbliche Liebe bis zum Tod – und darüber hinaus. Gesehen und bewundert beim 9. Terza Visione.


PROFUMO (Giuliana Gamba: Italien 1987)

Ein außergewöhnlicher Film über eine Ehekrise, mit einer Anleitung, wie man mit einer Dose Coca-Cola sein Liebesleben bereichern kann. Der große Überraschungs-Hit des 9. Terza Visione.


MALIZIA (Salvatore Samperi: Italien 1973)

Trotz des Titels (nicht ein italienischer Mädchenname, sondern "Bosheit" / "Hinterlistigkeit" / "Heimtücke") bis heute verblüffend eintönig in der Schublade "commedia sexy" eingeordnet. Die Komödie ist auch ein Teil des Films, aber er ist auch eine sehr finstere Studie über die dunklen Seiten der Sexualität im Spiegel von Klassenunterschieden. Wie der Teenager und Unternehmersohn Nino dem Dienstmädchen Angela nachstellt, ist oft nicht lustig, sondern hat eher etwas Psychotisches. Der Film ist in vielen Momenten passenderweise auch wie ein Psycho-Thriller inszeniert (gegen Ende gibt es Passagen wie aus einem Horrorfilm). Dieser Atmosphären-Mix aus lustig und unbehaglich, entspannt und beängstigend, lieblich-zärtlich und brutal-sadistisch, zusammen mit der unvergesslichen Musik Fred Bongustos und Laura Antonellis und Alessandro Momos Präsenz machen das perverse Katz-und-Maus-Spiel MALIZIA zu einem weiteren Meisterwerk des damals gerade einmal 29-jährigen Salvatore Samperi.


HERZKÖNIG (Helmut Weiß: Deutschland – französische Besatzungszone 1947)

Meine Vermutung, geäußert bei der Besprechung von CHEMIE UND LIEBE, dass zwischen 1945 und 1949, im Interregnum zwischen Nationalsozialismus und doppelter deutscher Staatsgründung, so etwas wie ein "pre-code-Zeitalter" des deutschen Kinos schlummert, scheint sich hier zu bestätigen (und Hans Nielsen ist auch wieder dabei). In einer Königsdiktatur wird ein verbotener Schriftsteller, der dem König zum Verwechseln ähnlich sieht, als Hochzeits-Double für den (wieder einmal) hoffnungslos besoffen irgendwo herumstreunenden Potentaten rekrutiert. Den Hinweis des Polizeipräsidenten und des Innenministers, gefälligst nach dem Essen Ohnmacht vorzutäuschen, ignoriert er – und gönnt sich lieber sehr gerne die Hochzeitsnacht mit "seiner" Angetrauten. Ein Feuerwerk von geschliffenen Dialogen, begnadet inszenierten Verwechslungen und ein wahrhaft vergnügliches Dauerfeuer an teils nur sehr leicht verschleierten Anzüglichkeiten und Doppeldeutigkeiten.


UNA FARFALLA CON LE ALI INSANGUINATE (Duccio Tessari: Italien/BRD 1971)

Explodierende Cine-Emotionen zu Tschaikowskis erstem Klavierkonzert #2 – "Ein Engel mit blutigen Flügeln" (wörtlich, deutsche Titel "Das Messer" oder "Blutspur im Park") tarnt seine extreme Emotionalität zunächst mit den Mitteln eines minutiösen, fast obsessiv in Details selbstvergessenen Police-Procedurals und einer längeren Gerichtsszene, doch es hilft nicht: die angestaute Verzweiflung, Schwermütigkeit, Melancholie, die unterdrückten Triebe, die Abgründe hinter der bürgerlichen Fassade, die Perversionen und der Wahnsinn werden sich Bahn brechen. Dazu gibt es nicht nur wie gesagt Tschaikowskis berühmter erster Satz des ersten Klavierkonzerts, sondern auch einen verzweifelt-melancholischen Score von Gianni Ferrio (Kostprobe hier), den wunderbaren Silvano Tranquilli als ruhelosen Polizeiinspektor, Helmut Berger als psychisch labilen Konzertpianisten und die pittoreske (und doch leicht gothisch-bedrohlich gefilmte) Altstadt von Bergamo als Kulisse.


L.A. WARS (Tony Kandah, Martin Morris: USA 1994)

Eine wunderschöne Perle aus der verbeultesten Grabbelkiste des 1990er-Direct-to-Video-Schlock (bei mir: im Regal für ausländische Editionen in einem Nürnberger Laden für gebrauchte Schallplatten, CDs, DVDs und Blu-rays als preisgünstige, offiziell OOP-Vinegar-Syndrome-Ausgabe). Eine ziemlich unoriginelle Undercover-Cop-among-Gangsters-Geschichte, aber mit so viel Druck auf der Tube inszeniert, dass es die hellste Freude ist. Der No-Name-Hauptdarsteller Vince Murdocco wirkt mit seiner leichten Verträumtheit ein wenig wie die Pfennigfuchser-Variante von Michael Dudikoff mit sehr gutem Preis-Leistungs-Verhältnis, wird von einer ganzen Riege an großartigen Nebendarsteller-Charakterfressen begleitet (besonders Johnny Venokur als sadistischer Handlanger und eine sehr charismatische Femme-Fatale-Henchwoman) und wandelt durch ein verblüffend elegant fotografiertes L.A. – warm sonnengebadet bei Tage, melancholisch neonlichter-beleuchtet bei Nacht.


HARDCORE (Paul Schrader: USA 1979)

Paul Schraders zärtlich-melancholischer Hassliebesbrief an seinen eigenen calvinistischen Hintergrund schickt George C. Scott vom oberflächlich aufgeräumten, übersichtlichen, konfliktlosen Paradies für Mittelstandsunternehmer Grand Rapids in das oberflächlich chaotische, apokalyptische, unmoralische und konfliktzerfressene Porno-Moloch Los Angeles – nachdem dieser eine cineastische Epiphanie hatte, als er seine verlorene Tochter in einem Pornofilm vorgeführt bekommen hat (eine schauspielerische und inszenatorische Tour-de-Force, wenn Scott sich zunehmend auflöst und er schließlich in seinem Zusammenbruch erleuchtet wird, weil kein Film mehr durch den Projektor läuft und nur noch die Projektorlampe alles gleißend bestrahlt). Scott verliert sich, findet fast schon so was wie Spaß, sich als schmieriger Porno-Casting-Agent zu verkleiden – und wirkt doch wie ein obsessiv suchender Odysseus, weil vielleicht auch echte Menschen mit echten Träumen in Los Angeles wohnen (es ist wahrscheinlich das gleiche Los Angeles wie in ANGEL), und Grand Rapids (schon rein etymologisch suggeriert) natürlich auch Abgründe hat. Wenn die calvinistische Lehre sagt, dass jeder einen vorbestimmten Platz hat, dann gibt es für den Vater möglicherweise auch keine Rückkehr: Grand Rapids ist am Ende für immer verloren.




Einige weitere schönen Neuentdeckungen 2024 (chronologisch nach Premiere innerhalb von Themen geordnet)


Auf Reisen


LES CHEMINS DE KATMANDOU (André Cayatte: Frankreich/Italien 1969)

Ein desillusionierter 68er auf der Flucht vor der Polizei flieht nach Nepal, um dort seinen halbseidenen Vater wiederzufinden und verliebt sich in eine Aussteigerin (Jane Birkin) – und gerät in eine infernalische Drogen-Höllle. Für mich die bessere Version von MORE: stark und kontrolliert inszeniert und dabei doch auch erzählerisch stellenweise fast anarchisch frei (ein Subplot um den Raub einer heiligen Tempelstatue ist fast ein Mini-Heist-Movie im Film).


SANATORIUM POD KLEPSYDRĄ (Wojciech Jerzy Has: Polen 1973)

Bruno Schulz' extrem komplexe, verschlungene, in alle möglichen Richtungen explodierende Prosa ist auf klassische Weise kaum verfilmbar – stattdessen hat Has tatsächlich den Geist, den Flow von Schulz adaptiert zu einem abenteuerlichen, fordernden und faszinierenden zweistündigen audiovisuellen Bewußtseinsstrom.


THE AMUSEMENT PARK (George A. Romero: USA 1975)

Der wiederentdeckte Industriefilm Romeros: eine Auftragsarbeit über Achtsamkeit gegenüber alten Menschen, die von einem christlichen Verein bestellt und nach Fertigstellung erschrocken in den Giftschrank verbannt wurde. Der grausige Horrortrip eines Rentners durch die Hölle eines Vergnügungsparks dürfte die Auftragsgeber nicht nur inhaltlich abgeschreckt haben: statt eines erbauenden Films gab es einen Avantgarde-Horrorfilm, denn Romeros experimentelle Ader, besonders beim Schnitt, kommt hier so stark wie allenfalls noch bei THE CRAZIES zum Tragen.


ROADGAMES (Richard Franklin: Australien 1981)

Wenn der Serienmörder-Thriller auf das Roadmovie im Outback trifft – oder der wunderbare Stacy Keach als Mensch, der einen Truck fährt, auf Jamie Lee Curtis, die in Trucks trampt. Ein sehr schöner Slowburner, der sich ganz auf Keachs Lächeln verlassen kann, wenn grad nicht die Spannungsschraube zugedreht wird.


BOCKSHORN (Frank Beyer: DDR 1984)

Zwei Jugendliche trampen durch ein mysteriöses Land, in Richtung Westen, hin zum Meer – und begegnen Seelenverkäufern, streng-religiösen Bauern, wie Babies sprechende Propheten, bedrohlichen Serienmördern und Schickimicki-Punks auf der Suche nach der nächsten großen Sause. Die erste in den USA gedrehte DEFA-Produktion ist ein Kinnladen-Klapper erster Güte: ein entfesselter surreal-poetischer Roadmovie, dessen Ursprung man nicht in einem eingemauerten Staat vermuten könnte. Gesehen als "Zeitfüller" zwischen zwei "Pre-Code Musicals" im Frankfurter Filmmuseum: wie passend für einen Film, der sich wie die "Pre-Code-Variante" eines DDR-Films anfühlt (oder wie eine Vorwegnahme der wahnsinnigen Filme, die zwischen 1989 und 1991 bei der DEFA produziert wurden).


SPEED (Jan de Bont: USA 1994)

In seiner Struktur (Hochhaus / Straße mit Bus als das längste Segment / U-Bahn) ein kleines, köstliches Triptychon der Action-Setpieces – und effiziente Arbeitsteilung: Keanu Reeves und Sandra Bullock lenken am Lenkrad, Dennis Hopper dreht am Rad.



In der Liebe


JIGOKUMON (Kinugasa Teinosuke: Japan 1953)

Der erste im Ausland bekannte japanische Farbfilm wirkt in der ersten Hälfte fast schon psychedelisch in seinen explodierenden Farben: passend zur Geschichte eines Mannes, der in seiner Obsession zur Frau eines anderen Mannes komplett den Bezug zur Realität verliert und die Welt wohl nur noch durch einen (offenbar farbengestörten) Schleier des Wahnsinns sieht.


SOROK PERVIJ (Grigorij Čuchraj: Sowjetunion 1956)

Die Liebesgeschichte zwischen einer Scharfschützin der Roten Armee und einem gefangenen weißen Offizier ist in einem Wüsten-Kriegsfilm bzw. -Roadmovie eingebettet und ist vor allem farbdramaturgisch ein absoluter Hingucker: in seinem Erstling scheint Grigorij Čuchraj den Farbfilm quasi neuerfinden zu wollen. Bei seinem berühmtesten Film (BALLADA O SOLDATE) fehlten mir persönlich nicht nur wortwörtlich, sondern auch metaphorisch die Farben, aber sein ČISTOE NEBO über die Liebe einer Arbeiterin zu einem Flieger, der nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zum Opfer des stalinistischen Terrors wird, schlägt in eine ähnliche Kerbe und sei deshalb hier auch erwähnt.


FRANÇOISE OU LA VIE CONJUGALE (André Cayatte: Frankreich/Italien/BRD 1964)

Der weibliche Teil von André Cayattes Ehe-Diptychon LA VIE CONJUGALE entfaltet seine ganze Kraft besonders, wenn man ihn nach dem männlichen Teil JEAN-MARC sieht. Wo JEAN-MARC "nur" ein ausgezeichnetes Ehedrama und Portrait eines sozial engagierten Anwalts (teilweise ein idealisiertes Selbstportrait Cayattes?) ist, wirkt FRANÇOISE in seiner Thematisierung von (struktureller) sexueller Übergriffigkeit, aber auch von unbezahltem "Rückenfreihalten", den Ehefrauen für Ehemänner leisten fast schon proto-feministisch. Er ist auch zackiger, pointierter, erzählerisch freier inszeniert als der männliche Teil. Und wieder ein Beweis, dass Cayatte eine Wiederentdeckung wert ist.


LE CHAT (Pierre Granier-Deferre: Frankreich/Italien 1971)

Ein emotionaler Torture-Porn über eine extreme Hassliebes-Beziehung zweier Menschen, die nur noch sich selbst haben (na ja, und natürlich die Katze), während Paris um sie herum gentrifiziert wird. Fantastische Musik von Philippe Sarde – die bei der Montage mit den beiden Protagonisten, der Abrissbirne und den Katzen auf dem Klettergerüst emotional besonders stark einschlägt (hier eine Impression dieses halluzinatorischen Moments).


ROAD TO NOWHERE (Monte Hellman: USA 2010)

Monte Hellmans letzter abendfüllender Film, persönlicher "Achteinhalb", ein autobiografischer gefärbter Film, der Hellmans Affäre mit Laurie Bird beim Dreh von TWO-LANE BLACKTOP verarbeitet: ein Regisseur dreht einen Polit-Thriller über eine reale, brisante Korruptionsaffäre, in der eine mysteriöse Exil-Kubanerin involviert war und verliebt sich in seine Hauptdarstellerin, während die realen Ereignisse beginnen, den Dreh zu überschatten. Trotz seiner extremen Verschlungenheit (Rahmenhandlung, Ausschnitte aus dem Film, Dreh-Impressionen und -Proben gehen komplett nahtlos ineinander über) ein Film von einer verblüffenden Klarheit und Einfachheit: eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann, einer Frau und dem Kino. Der Titel ist dabei nicht als nihilistisch und zynisch zu verstehen, sondern als Ausdruck einer totalen (und in dieser Konsequenz sehr radikalen) Offenheit: es gibt kein festes Ziel.


Bei Verbrechern und Mördern


L'ARGENT (Marcel L'Herbier: Frankreich 1928)

Wenn ich mich recht erinnere eine eher langweilige Geschichte – aber mit seiner extravaganten, experimentellen, ja stellenweise ekstatischen Inszenierung verwandelt L'Herbier das in einen fesselnden Film. Wenn Brigitte Helm dabei ist, kann da eh wenig schief gehen.


MURDER AT THE VANITIES (Mitchell Leisen: USA 1934)

Ein Lieblingsfilm von Hugh Hefner (der die Restaurierung und die Erstellung einer neuen 35mm-Kopie finanziert hat!). Ein Mörder treibt sein Unwesen hinter den Kulissen einer Revue-Premiere und prägt damit den hybriden Charakter des Films als Krimi/Thriller und als Musical. Die Musical-Nummern gehen mit ultra-knappen Kostümen und schlüpfrig-gewagten Inhalten (ein Songtitel lautet "Sweet Marijuana") komplett in die Vollen: die letzte Sause, bevor ein paar Wochen nach der Premiere der "Production Code" endgültig verschärft wurde. Duke Ellington hat ein Cameo mit seinem Orchester, das die Band der Nummer vorher an die Wand spielt, bis eine Frau auf die Bühne stürmt und eine Dutzend-Reihe von Tänzern mit einer Maschinenpistole niedermäht. Alles ziemlich unglaublich.
Mitchell Leisen, langjähriger Set-Designer von Cecil B. DeMille, wurde gleich von zwei Drehbuchautoren, mit denen er später zusammengearbeitet hat, und die später berühmtere Regisseure wurden, runtergeputzt (nämlich von Preston Sturges und Billy Wilder), was seinem Ruf wohl nicht gut getan hat – offensichtlich zu Unrecht. 


LA CONTROFIGURA (Romolo Guerrieri: Italien 1971)

Giallo als wildes, paranoides Puzzle-Spiel. Gesehen beim Terza Visione.


UNE JOURNÉE BIEN REMPLIE (Jean-Louis Trintignant: Frankreich/Italien 1973)

Ein Giallo (es ist ja eine italienisch co-finanzierte Produktion, Bruno Nicolai hat die Musik geschrieben und der verrückte vollständige Titel "Une journée bien remplie ou Neuf meurtres insolites dans une même journée par un seul homme dont ce n'est pas le métier" erinnert an ähnlich verrückte lange italienische Titel) als dadaistische Farce: ein Bäcker bricht eines morgens auf, um an einem Tag neun bestimmte Menschen kaltblütig zu ermorden bzw. sorgfältig choreografiert hinzurichten. Autor und Regisseur Trintignant (er hat ein kleines Cameo als Theater-Regisseur) schickt Jacques Dufilho auf einen mörderischen Trip, der in seiner extremen Reduktion fast schon ein alles zersetzendes Konzentrat des Serienkillerfilms ist, in seiner Abstraktion das Experimentelle streift (einige sehr wilde Montagen sorgen für heruntergeklappte Kinnladen) – und trotzdem bleibt der Ton dabei immer scherzhaft und komödiantisch. Bin sehr gespannt auf Trintignants zweiter Film als Regisseur!


THE PARALLAX VIEW (Alan J. Pakula: USA 1974)

Ein eiskalter Film (der abrupte Schnitt auf die Leiche im Leichenschauhaus am Anfang – puh!). Der Paranoia-Thriller als unausweichlicher Alptraum. Nach der Vorstellung in der Karlsruher Schauburg beim Technicolor-Festival gab es zum Glück Freibier für die Dauerkarteninhaber, um etwas runterzukommen.


DOG DAY AFTERNOON (Sidney Lumet: USA 1975)

Ein Klassiker, den ich schon seit Jahren sehen wollte (besonders, weil er einer der meistgenannten Filme in Lumets Buch "Filme machen" ist). Nach einer überbordenden Liebeserklärung an New York City im Prolog ein verblüffend nüchtern, fast semi-dokumentarisch inszenierter Heist-Movie ohne große "knallige" Attraktionen – und dennoch keineswegs spröde, sondern involvierend, menschlich und emotional.


SCRUBBERS (Mai Zetterling: UK 1982)

Missverstanden und unterbewertet als vermeintlicher Abklatsch von Alan Clarkes Jugendknastfilm SCUM ist SCRUBBERS vor allem ein wunderbarer Vertreter des Frauenknastfilms. Der Blick der schwedischen Regisseurin und Autorin Mai Zetterling ist so einfühlsam und verständnisvoll wie realistisch und ohne Illusionen ob der menschlichen Schwächen. "Jede hat ihre Gründe" ist im Knast natürlich eine Spur härter als bei einer Lustpartie im Schloss.


PEMBALASAN RATU PANTAI SELATAN aka LADY TERMINATOR (Tjut Djalil: Indonesien 1989)

The Terminator to terminate'em all! Gesehen beim internationalen Tag des Terza Visione.


TOUTES PEINES CONFONDUES (Michel Deville: Frankreich 1992)

Ein Korruptionssumpf-Krimi, wo der Teufel im Detail liegt: Gruppen-Pinkeln um die feine Limousine, die bunten Cocktails die die kleine Wirtstochter den beiden Kontrahenten mitten in einer ernsten Auseinandersetzung bringt weil sie eben bunter sind, die fußfetischistischen Einlagen.
Michel Deville, dessen experimenteller Polit-Thriller LE DOSSIER 51 mich letztes Jahr begeistert hat, ist eh ein Toller. Seine manchmal leicht surreale Erotik-Komödie LA LECTRICE (1988) mit Miou-Miou als Titelheldin in literarischer Verführungsmission und NUIT D'ÉTÈ EN VILLE (1990), sein One-Night-Stand-Zweipersonen-Kammerspiel mit Jean-Hugues Anglade und Marie Trintignant möchte ich hier auch noch explizit lobend erwähnen.


DIGGSTOWN aka MIDNIGHT STING (Michael Ritchie: USA 1992)

Gerade in den ersten zwei Dritteln gefühlt unpassend zu einem Festival des Actionfilms (der Film war der Ersatz für einen nicht rechtzeitig im deutschen Zoll abgefertigten Rennrad-Sportfilm), sondern eher eine Art schwarze Komödie über eine korrupte Stadt, die von einem kriminellen Unternehmer (Bruce Dern – loved to hate him!) mit eiserner Hand regiert wird und von einem windigen Gauner (James Woods – loved to hate him too!) herausgefordert wird, den Rekord eines lokalen Boxers, der 10 Einheimische hintereinander geschlagen hat, mit seinem eigenen Kämpfer (Louis Gossett Jr. – mit Haaren zunächst für mich nicht erkennbar!) zu brechen. Atmosphärisch komplett all over the place zwischen schwarzer Gaunerkomödie, Southern Gothic, ultrafinsterem Polit-Thriller, Klamauk-Spitzen und am Ende einem verblüffend brutalen, brachialen, schmerzhaften Boxerfilm erzählt DIGGSTOWN fast komplett plotbefreit, nur mit seinen Figuren: Dern und Woods liefern sich ein Duell der Schmierigkeit, Arroganz und Niedertracht, die Menschlichkeit, Melancholie und Gebrochenheit gibt es bei den Nebenfiguren. Bizarr und sehr faszinierend.


THE THOMAS CROWN AFFAIR (John McTiernan: USA 1999)

Ein auf jeglicher Ebene vergnüglicher Film, bei dem das Katz-und-Maus-Spiel (im Original, wenn ich mich richtig erinnere, schon eher distanziert-spröde) wirklich komplett in die Vollen geht. Ich denke vielleicht zu schmutzig, aber da gibt es natürlich diese "verschleierte" Natursekt-Einlage (Pierce Brosnan kniet unterwürfig vor Rene Russo und empfängt einen Flüssigkeitsstrahl) – zumindest aber die Karibikreise zum Luxus-Bungalow: Thomas Crown beugt sich mit offenem Hemd über ein Gericht, das er gerade kocht, ein bisschen Gemütlichkeitsplauze hängt über den Hosenbund, Catherine Banning huscht oben ohne vorbei und gibt ihm einen Po-Klaps. Ja, Katz-und-Maus-Spiel nicht als Trockenübung, sondern als sinnliches Vergnügen zum Fallenlassen!


THE CAT'S MEOW (Peter Bogdanovich: USA/Deutschland/UK 2001)

Eine kleine Yacht-Spritztour mit William Randolph Hearst und Charlie Chaplin – was kann da schon schief gehen? Zum Glück sehr vieles!


LES MISÉRABLES (Ladj Ly: Frankreich 2019)

Die Langfilmversion des gleichnamigen Kurzfilms mit größtenteils der selben Kern-Crew, der alle Qualitäten beibehalten hat und aus einem kurzen Schlaglicht eine dichtere und breitere Impression macht (die Eskalationsschraube allerdings weiter anzieht): ein toller Polizeifilm, wo die Ambivalenzen der Polizeiarbeit auf die undurchdringbare Komplexität der Cité treffen.



Familie, Nachbarn und andere Gestörte


WO DER WILDBACH RAUSCHT (Heinz Paul: BRD 1956)

Der Heimatfilm als Film Noir und Horrorfilm über dörfliche Niedertracht. Gesehen beim Hofbauer-Kongress.


BOOM! (Joseph Losey: UK 1968)

Mit SKIDOO (Preminger) und THE LEGEND OF LYLAH CLARE (Aldrich) reiht sich BOOM! in eine Kollektion angeblicher "Total-Entgleisungen" großer Studio-Regisseure anno 1968 ein. Richard Burton zieht ein Katana und fuchtelt damit im Kimono gekleidet auf einer Balustrade rum, während Elizabeth Taylor schreit, keift und rum-taylort. Einer ihrer Hüte sieht aus wie aus einer Junkie-Müllhalde zusammengeklaubt. Und wenn sie zwei Minuten lang dem Publikum ins Gesicht hustet, sieht das auf einer 17 Meter breiten Cinerama-Leinwand schon sehr beeindruckend aus. Wie bei den erstgenannten sieht man dabei die ganze Zeit einen inszenatorisch komplett kontrollierten Film (das Gerücht, Losey sei während des Drehs dauerhaft unkontrolliert besoffen gewesen, scheint totaler Quatsch zu sein – unkontrolliert war er ganz bestimmt nicht). Unglaublich.


LA MANDARINE (Édouard Molinaro: Frankreich/Italien 1972)

Nach dem Sex schläft er (Philippe Noiret) entspannt ein, sie (Annie Girardot) aber geht hinunter in die Hotelküche und veranstaltet dort mit den Resten ein veritables kleines Fressgelage. So beginnt diese heitere Hotel-Komödie, die komplett plotfrei, leicht wie eine Wolke vor sich hin spaziert, weil wir nur einigen Figuren dabei folgen, wie sie mit ihren kulinarischen und sexuellen Gelüsten umgehen, wie sie tanzen und spazieren und Spaß haben (und na gut: manchmal auch, wie sie versuchen, mit Eheproblemen umzugehen).


MAA ON SYNTINEN LAULU (Rauni Mollberg: Finnland 1973)

Das Kino Finnlands außerhalb der Kaurismäki- und Unterkühlte-Nordeuropäer-Klischeekiste-Komfortzone ist offenbar eine wahre Fundgrube: "Die Erde ist ein sündiges Lied" ist weniger die in der Synopse erzählte Liebesgeschichte zwischen einer Finnin und einem Samen als eher das impressionistische Stimmungsportraits eines Dorfs nach dem Weltkrieg und dessen Zyklen von Geburt, Sex, Trunksucht und Tod. Der Naturalismus des Films ist von einer verblüffenden Krassheit und erreicht bei der realen Onscreen-Schlachtung und -Zerlegung eines Rentiers fast eine halluzinatorische Qualität. Film als ein sinnlicher, reißender, gefährlicher Strudel!


CHOCOLAT (Claire Denis: Frankreich/BRD/Kamerun 1988)

Impressionistische Kindheits-Erinnerungen an Episoden in der afrikanischen Halbwüste. Keine Idealisierung, keine Romantisierung, keine Verklärung, aber auch keine echten Konflikte, sondern immer nur ein leichtes Dauer-Unbehagen.


DEMAIN ON DÉMÉNAGE (Chantal Akerman: Frankreich/Belgien 2004)

Wie würde es also aussehen, wenn eine Avantgardistin und Rebellin des europäischen Autorenkinos eine spritzige Komödie über eine schreibblockierte Sexbuchautorin dreht, in deren Wohnung aus heiterem Himmel die überdominante Mutter einzieht? Leicht off-beat (ein Double-Feature mit einem Helge-Schneider-Film wäre wohl interessant), aber absolut vergnüglich.


ROIS ET REINE (Arnaud Desplechin: Frankreich 2004)

Eine Mini-Retrospektive zu Arnaud Desplechin bereitete mir vor allem im "großen" Desplechin-Amalric-Zyklus viel Vergnügen, also: COMMENT JE ME SUIS DISPUTÉ... (MA VIE SEXUELLE), ROIS ET REINE, UN CONTE DE NOËL, JIMMY P. (PSYCHOTHÉRAPIE D'UN INDIEN DES PLEINES), LES FANTÔMES D'ISMAËL (in TROIS SOUVENIRS DE MA JEUNESSE spielt Amalric zwar auch mit, aber den würde ich nicht zu den Guten zählen, und in LA SENTINELLE ist er wirklich nur in einer Mini-Rolle zu sehen, der ist aber auch toll). Ich habe etwas Mühe, die Details vieler der Filme auseinanderzuhalten, weil Mathieu Amalric und Emmanuelle Devos meistens mitspielen, ein Teil der Figuren jüdisch ist und sich mit jüdischer Identität auseinandersetzt, psychologische oder psychiatrische Behandlung immer wieder eine zentrale Rolle spielt, der Vornamen Ismaël und der Nachname Vuillard immer wieder vorkommen (aber es sind nicht die gleichen Figuren) und die nordfranzösische Stadt Roubaix als Heimatstadt immer wieder Handlungsort ist.
Daher: ROIS ET REINE als Stellvertreter für Desplechins nicht unbedingt konsistent großartiges, aber über weite Strecken faszinierendes Kino mit Mathieu Amalric als schauspielerisches Herz und emotionale (manchmal auch: emotional gestörte) Seele. Besonders schön: der Subplot um die Freundschaft / Liebe zwischen Amalrics Ismaël und der Co-Patientin "La chinoise" in der Psychiatrie.
Eine weitere ehrenvolle Nennung spreche ich hiermit noch für LES FANTÔMES D'ISMAËL aus, der quatschkopfigste, verrückteste, aber auch zärtlichste Desplechin-Amalric-Film (der leider von der französischen Filmkritik unverständlicherweise verrissen wurde).





Mit dem Zweiten sieht man besser

DEATH WISH 3 (Michael Winner: USA 1985)

Gesehen als "Midnight Nasty" bzw. Spätschienen-Film beim Karacho. Beim ersten Mal (auf einem kleinen Röhrenfernseher in der WG eines Freundes) ist er etwas an mir vorbei getrübt. Auf großer Leinwand entfaltet er sein ganzes anarchisches, zersetzerisches, krankes, gestörtes Potential: ein Meisterwerk des totalen Over-the-Top-Unfassbarkeitskinos. Eine Extrem-Satire über entfesselte kleinbürgerliche Mordlust. Da ist natürlich Paul Kersey, der seinen besten Anzug anzieht, um bei den netten Nachbarn von nebenan Kohl zu essen, sich zwischendurch höflich entschuldigt, aufsteht, seine Serviette säuberlich zusammenfaltet und niederlegt, rausgeht, zwei Gang-Mitglieder draußen vor seinem Auto niederknallt und dann seelenruhig zurückkehrt, um seinen restlichen Kohl gentleman-like aufzuessen. Die völlig wahnsinnige Szene mit Eis-Essen, um die Schulter baumelnde Kamera und die zur Elefantenjagd konzipierte Monsterpistole. Dann der Showdown, der wie eine ausgelassene Kindergeburtstagsfeier gefilmt ist, mit Blutbad und Massaker statt Limonade und Topfschlagen. Überhaupt die Inszenierung, die immer leicht off ist und den Film immer wieder auflaufen lässt: DEATH WISH 3 enthält den wahrscheinlich unromantischsten, widerwärtigsten Kuss der Filmgeschichte, wenn kurz, bevor sich die Lippen treffen, auf ein extrem unvorteilhaftes Closeup von Charles Bronsons runzelig-faltigem Schnurrbartmund geschnitten wird.




Mit diesem letzten Bild im Kopf...

wünsche ich allen Leserinnen und Lesern von Whoknows Presents ein schönes Jahr 2024!



Sonntag, 19. November 2023

Heiße Leidenschaften, schwitzende Körper und unerhörte stille Örtchen

Bericht vom 20. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos 


5. Januar 2023 – Beginn des ersten Nürnberger Hofbauer-Kongresses seit Januar 2020. Vorfreude besonders hoch – und wieder mal nicht zu hoch, sondern völlig berechtigt, denn der erste Film, gleich eine Huldigung an den Namenspatron der Veranstaltung, war ein absoluter Knaller, ein wilder Ritt durch zahlreiche Genres innerhalb der Klammer Reportfilm, eine Kino-Offenbarung.



Donnerstag, 5. Januar 2023



ab 15:00 Uhr


HK-Teaser: MAN & WOMAN & ANIMAL. Geschlechterfragen im Spiegel des 70er-Populärkinos


DIE DRESSIERTE FRAU

Regie: Ernst Hofbauer

BRD 1972

35mm, dt. OV

DIE DRESSIERTE FRAU nimmt Esther Villars antifeministisches Buch "Der dressierte Mann" und Hannelore Schütz' und Ursula von Kardorffs Replik "Die dressierte Frau" als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen in Form eines Reportfilms mit vielen kleinen Episoden.



Zwischen den schwierigen Debatten über Geschlechterbeziehungen wird auch Motorrad gefahren

In meinem lediglich fünften (und vorerst auch bester) Hofbauer zeigt sich der gebürtige Wiener wieder einmal als begnadeter formaler Könner, der aus praktisch jeder Szene ein bestaunenswertes Ereignis voller liebevoller oder skurriler Details und voller pfeffriger Energie zaubert.

Man bestaune nur einmal die Episode mit dem Konfirmandenunterricht, bei dem der lehrende Priester im Klassenzimmer stets so gefilmt wird, dass rechts im Hintergrund ein großes Kruzifix ragt und links ein Poster, das offenbar zum Biologieunterricht dient und unzählige Fische abbildet. Beim Gegenschnitt sieht man dann die Klasse mit den Jungs und Mädels, die sich lautstark und teils sehr vulgär streiten, während im Hintergrund durch die Klassenzimmerfenster ersichtlich ist, dass draußen gerade leise der Schnee rieselt. Vulgarität und Poesie, Derbes und Erhabenes stehen in DIE DRESSIERTE FRAU stets nahe beieinander.

Da gibt es die Episode mit dem Paar, das in der Wohnung lautstark Sex hat, die Nachbarin so stört, dass sie es sich noch lautstärker mit dem Vibrator selbst besorgen möchte, um es den Nachbarn heimzuzahlen – doch oh weh, der Vibrator fällt aus. "Wenn's Gerät ist im Eimer, kommen Sie zu Heimer!" liest die Frau in einer Werbeanzeige für einen Elektriker und ruft dort an – bloß dass der diensthabende Elektriker der Mann im Nebenzimmer ist, der nun die Gelegenheit hat, sich einen kleinen Seitensprung zu gönnen. Warum ein elektrisches Gerät nehmen, wenn es auch ein richtiges Gerät gibt? Ja, Hofbauer zeigt sich hier nicht nur als Meister des Schmiers, wenn die zweite Sexrunde von allerlei Wortwitzen zu Lötstellen und Wackelkontakten begleitet wird, er zeigt hier schon, dass er auch Ansätze zum Slapstick hat...

... die er dann in der großen "Eierszene" vollkommen aufblühen, eskalieren und explodieren lässt! Im weiteren Verlauf des Kongresses blieb diese eines der meistdiskutierten Highlights unter dem Publikum. Wir haben ein Ehepaar, das sich immer streitet, weil er ihr keine Spülmaschine kauft (Hausarbeit – das ginge doch in zwei Stunden pro Tag). Davon hat sie eines Tages die Schnauze voll und verlässt ihn, während er derweilen in seinem eigenen Dreck versinkt, größtenteils in Gesellschaft eines Kumpels, der den Dreck noch potenziert. Als die Ehefrau viele viele Tage später dann doch ihre sehr spontane Rückkehr ankündigt, ist für die beiden Männer klar: die paar dreckigen Teller und das bisschen Schmutz auf dem Boden kriegen sie schon alsbald weg. Was darauf folgt ist nicht weniger als die systematische, restlose Verwüstung der kompletten Wohnung, als beide Männer versuchen, "aufzuräumen": Eimer mit Seifenwasser werden umgeworfen, Porzellan so staubfein zerschlagen, dass es mit dem Staubsauger weggesaugt werden kann, Hosen werden mit dem Bügeleisen durchgeschmort, fliegendes Geschirr lässt Trennfenster zwischen Wohnzimmer und Küche bersten. Das ganze endet schließlich damit, dass der Kumpel, sich an der Gardinenschnur festhaltend, aus dem Fenster im zweiten Stock hängt, hungrig ist und von Rühreiern mit Speck schwärmt, während das Ehepaar (sie ist mittlerweile zurückgekommen und musste schon erste Schneisen der Verwüstung konstatierten) in der Küche hockt, sich etwas befummelt, während die auf dem wackeligen Küchenschrank liegenden Eier Stück für Stück auf ihre Köpfe fallen und platzen.

Diese explosive Lachsalve war aber keineswegs der Höhepunkt von DIE DRESSIERTE FRAU, denn Hofbauer hat seinen Sirk genau studiert und kann auch Melodrama, in einer Episode um einen Konzertpianisten, der sich eine Geliebte in einer separat bezahlten Wohnung hält und irgendwann von seiner Ehefrau zur Rede gestellt wird. Der berühmte erste Satz von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert zieht sich als Leitmotiv durch diese Episode. Von zwei Streits mit Geliebter und Ehefrau aufgebracht, fährt sich der Pianist halsbrecherisch ins eigene Verderben: Unfall auf der Straße, Explosion des Autos... mit lauttönender Tschaikowski-Begleitung verschwimmen einzelne Bilder der Episode in einer wilden Montage mit einer animierten Partitur, die sich über die Mehrfachbelichtungen legt. Der erste große Wow-Moment des Kinos dieses Jahr.

Hofbauer kann auch beklemmend, in der Episode, die auch in dem Film direkt als jene der "sexuellen Hörigkeit" betitelt wird: eine Frau himmelt ihren Liebhaber (und dessen sehr bizarr vorstehendes Kinn) an, wird aber von ihm verächtlich, sogar übergriffig behandelt. Nachdem er ihr nach dem Sex, beide nebeneinander im Bett liegend, sehr kalkuliert "nebenei" offenbart hat, dass er nächste Woche heiraten wird, ist sie sichtlich schockiert. Weinend, von seelischem Schmerz sichtlich gequält beginnt sie, ihn zu reiten, und die Kamera weicht nicht von ihr, die sich mit Sex versucht zu betäuben, während sie eigentlich verzweifelt – eine quälend lange, unglaublich abgründige und finstere Einstellung.

Ohne Hofbauer als heimlichen Feministen zu bezeichnen, aber es doch manchmal verblüffend, wie "progressiv" manch vermeintlich "reaktionäre" Sexfilme sind: Frauen sind hier über weite Strecken die mutigen, regelbrechenden und tragischen Figuren, und Männer die feigen, spießigen und schuftig-niederträchtigen Figuren. Vor allem charakterisiert DIE DRESSIERTE FRAU Strukturen von Machtgefällen und Ungleichheit wahrscheinlich wesentlich treffender als so manch ein wohlwollender und "seriöser" Film.

Das Ende mit einem quasi-mustergültigen "gleichberechtigen Ehepaar" nimmt auf gewisse Art und Weise die "triviale" Auflösung von Monty Python's MEANING OF LIFE vorweg: irgendwie liegt es auf der Hand, dass das Leben angenehmer und einfacher wird, wenn man respektvoll und liebevoll miteinander umgeht, jeder mal ein bisschen was für den Haushalt tut und es im Bett um Liebe, Respekt, gemeinsames Lachen und Blödeln geht.



ab 17:00 Uhr


BIRDIE

Regie: Hubert Frank

BRD 1971

35mm, dt. OV

Ein Computer, der dafür programmiert ist, den idealen Partner aufgrund eines ausgefülllten Fragebogens zusammenzubringen, "matcht" die Teenagerin Birdie mit dem Fotografen Frank (oder vielleicht ist das ganze doch nur ein Werbe-Gag oder ein übler Witz von Franks Zeitungsredaktion). Frank, der gerne ein freies Leben führt, ist davon gar nicht begeistert, doch er hat nicht mit Birdies Hartnäckigkeit gerechnet, die mit allen Mitteln versucht, ihn zu verführen.

Als Teil der Hommage des Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt lief BIRDIE als eine von mehreren kleinen "Sensationsfunden": der Film wurde wohl kurz nach der Premiere vom Distributor Paramount einkassiert und in den Giftschrank eingesperrt. Die gezeigte Kopie war dann auch quasi ungespielt (aber leider rotstichig).

Ob die Liebesgeschichte zwischen einer Teenagerin und einem Anfangdreißiger als zu "heikel" galt, oder die zerfahrene, launig-anarchische Erzählweise des Films (so eher die Vermutung eines Co-Zuschauers) den Film in den Giftschrank brachte, sei dahingestellt. Insgesamt kommt der Film wenig zotig daher, sondern eher wie die bundesdeutsche Variante einer Neo-Screwball-Komödie: er würde eigentlich ganz gut in ein Double-Feature mit WHAT'S UP, DOC? passen (ohne jedoch das irre Gag-Tempo, den treibenden Drive und die exquisite Chemie der beiden Hauptdarsteller aus Bogdanovichs Film zu erreichen).

BIRDIE war ohne Zweifel ein schöner kleiner Gute-Laune-Film, angenehme anderthalb Stunden Filmspaß – höchstens leicht getrübt davon, dass die Titelprotagonistin stellenweise in ihrem obsessiven Bestreben, mit Frank anzubandeln, durchaus Züge einer bedrohlichen, psychisch labilen Stalkerin an den Tag legt (was der Film offenbar nicht beabsichtigt und auch nicht weiter verfolgt) und dass Frank-Darsteller Walter Wilz mit seinem Bart eine irritierende Ähnlichkeit mit Robert Hossein hatte (aber eben nicht Robert Hossein war). Ansonsten ist der Film eine schöne Explosion unzähliger kleiner Einfälle, die meisten schwungvoll inszeniert, viele witzig, vielleicht nicht alle ganz so gelungen. Eine ausgedehnte Schachpartie Birdies mit einem Hund in ihrer Pension bleibt mir als kleiner, "unscheinbarer" Höhepunkt im Gedächtnis. Und der leicht durchgeknallte Filmemacherkollege von Frank, der immer wieder mit verrückten Einfällen um die Ecke kommt und irgendwann seine Idee von Aufklärungsfilmen für den Tiermarkt pitcht ("Wieviele Orgasmen pro Tag braucht ein Hund, um glücklich zu sein?").


BIRDIE war der erste Teil einer kleinen Hommage dieses Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt (der mit Hubert Frank das Drehbuch schrieb). Schmidt war eingeladen, hatte zugesagt, musste leider aufgrund von Krankheit kurzfristig seine Anreise absagen.



ab 21:00 Uhr


GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2020

digital, dt. OV

Einige Episoden aus dem Leben junger Frauen in München.

Hofbauer-Kommandant Andi erklärte in seiner Einführung, dass Eckart Schmidt in den 2010er Jahren eine Art Renaissance erlebte und bis heute eine extrem produktive Schaffensphase führt, mit weit über Hundert Filmen, meist sehr spontan und kostengünstig digital gedreht.

Ich kann nicht behaupten, dass mich GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL wirklich begeistert hat, aber der Film hat in seinen besten Momenten die rohe Energie einer Art von Filmemachen, bei der der Prozess wichtiger ist als das Endergebnis und die Sorglosigkeit eines Altmeisters, der die Regeln "guten Filmemachens" mit Schmackes über Bord geworfen hat, um das Kino oder zumindest sich selbst neu zu erfinden (eine Parallele wären wohl die späten digitalen Filme Giulio Questis).

Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Schauspielstudentinnen. Die erste Episode dreht sich um eine junge Frau, die sich in der Münchener Innenstadt in einem Monolog zunehmend in Rage redet und von diffusem Weltschmerz allmählich ein Vergewaltigungstrauma aufarbeitet. Es ist die vielleicht schlüssigste Episode des Films, von großer emotionaler Intensität und mit nur wenigen Schnitten gedreht: am späten Nachmittag gedreht bricht die Dämmerung allmählich ein, das Licht ändert sich Stück für Stück, die Straßenlaternen werden irgendwann eingeschaltet.

Die Performances werden auf verschiedenen Straßen und Plätzen Münchens ausgetragen, dadurch schafft der Film einen Sense of Place, weil jeder Moment auch eine "Dokumentation" Münchener Straßenimpressionen ist. Kleine "spontane" Elemente im Hintergrund machen das ganze in den besten Momenten besonders lebendig: ein Bäckereiplakat, das ein Brot mit 92% Dinkelanteil als "nussig & saftig" anpreist; Obdachlose im Gespräch bei spirituösen Getränken auf einer Parkbank im Hofgarten; ein "Achtung: Dachlawine"-Schild beim Dianatempel; eine lebhaft-laute Kindergartengruppe, die im Hintergrund im gemächlichen Tempo eine Straße überquert; unzählige Passanten, die manchmal teilnahmlos vorbeilaufen, manchmal aber auch in die Kamera schauen.

Die klassisch-erzählerischen Elemente von GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL sind vielleicht weniger gelungen als die impressionistisch-poetischen: einige der ziellos mäandernden Monologe (darunter bei einem Spaziergang durch den sonnengefluteten Hofgarten) sind wesentlich mitreissender als einige der längeren Dialoge am Telefon oder der Zwei-Personen-Dialogimprovisationen.



ab 23:55


HK-Teaser: WET BODIES – DER GANZ HEISSE WORKOUT aka #SPÜF: Der sportliche Überraschungsfilm


Vor der Anmoderation wurde zwecks Aufwärmung ein kleiner Musik-Clip digital kredenzt, nämlich "Upside Down" von Vanessa (hier zu sehen, zu bewundern)


PERFECT

Regie: James Bridges

USA 1985

35mm, engl. OV mit finn. & schwed. UT

Adam (John Travolta), Reporter für Rolling Stone, recherchiert einen Artikel über einen inhaftierten Geschäftsmann, der in eine Mafia-Drogengeschichte (möglicherweise auch mit politischem Sprengstoff) verwickelt ist. Als zweite Story arbeitet er nebenbei an einem Artikel über ein Fitness-Studio, das sich auch als idealer Treffort für Singles vermarktet. Verliebt in die Aerobic-Trainerin Jessie (Jamie Lee Curtis) verliert er langsam die Aufmerksamkeit für seine "Haupt-Story".


Aus den End-Credits (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)

Der erste Film des Tages mit einem klassischen, durchstrukturierten Drehbuch (was vielleicht nicht ideal für Mitternacht war). Oder: Was wäre eigentlich passiert, wenn Alan J. Pakula oder Brian De Palma (letzterer bei BLOW OUT, auch mit Travolta) bei ihren finsteren Paranoia-Thriller-Geschichten... in ein Fitnessstudio gegangen wären?

Der dubiose Geschäftsmann McKenzie und das Fitness-Studio "Sport Connection" (mit der heißen Aerobic-Trainerin Jessie) laufen für Adam größtenteils parallel. Ab und zu nur kreuzen sich die Geschichten, wenn Travolta das heiße Vorspiel mit Curtis und ihrem Tutorial über das Aufwärmen der Muskeln und die erhöhte Blutzirkulation unterbricht, weil er ein Telefonat mit einem Interviewangebot erhält. Zwei Filme laufen also parallel in diesem gleichen Stück Zelluloid – irgendwie bizarr, befremdlich und um halb zwei Uhr morgens nicht ganz schlüssig. Im Nachhinein fügt sich das aber zusammen, und PERFECT erzeugt fast schon ein authentisches Gefühl für die "Abgehacktheit" des Arbeits- und Lebensalltags eines Journalisten, der natürlich mehr als ein Thema auf einmal beackert und irgendwann bei zwei sehr unterschiedlichen Geschichten den Kopf verliert.

PERFECT begibt sich zwischendurch auch auf eine Nebenstraße mit einem längeren Subplot um die Fitness-Studio-Stammkundin Linda, die hinter ihrem Rücken als "The most used piece of equipment at Sport Connection" betitelt wird. Adam interviewt sie in einem Male-Stripper-Club, begleitet sie dann auf einer Geburtstagsfeier, die dann auch aufgrund von zu vielen Drogen und Schnaps eskaliert. Linda war vorher so etwas wie die etwas durchschnittliche Besucherin von Sport Connection, die den Club wirklich als Treffbörse nutzen möchte – und wird in dem ihr gewidmeten Nebenpfad des Films zu einer wahrhaftig tragischen Figur, die verzweifelt nach menschlicher Wärme sucht und deswegen davon träumt, sich ihr Gesicht bei einer ästhetischen OP von einem kalten Skalpell bearbeiten zu lassen. Düsteres gibt es sicherlich bei McKenzie-Geschichte (gefühlt dem ungefilmten vierten Teil von Pakulas Paranoia-Zyklus), aber hier bei Linda blickt PERFECT auf die ganz finstere Seite des Reaganomics-Selbstoptimierungswahns.

Der unvergessliche Höhepunkt von PERFECT und sicherlich der Hauptgrund, warum dieser Film bei einem Hofbauer-Kongress lief, ist aber die schier U-N-F-A-S-S-B-A-R-E Aerobic-Trainings-Montage-Sexersatzszene, mit einem verschwitzten, voll Wunder, Freude, Anstrengung und Geilheit völlig gesichtsentgleisten John Travolta in (let's say: gemächtbetonten) kleinen Trainingsschlüppis, der in einer größeren Gruppe von Teilnehmnerinnen und Teilnehmern laszive Beckenbewegungen selig grinsend durchführt, während ihn aus einiger Entfernung Jamie Lee Curtis als Gruppentrainerin, die die Bewegungen und den Rhythmus vorgibt, ihn mit feurigen Blicken und nicht-hörbarem, aber dennoch auch ohne Worte spürbarem Dirty Talk anfeuert. Das ganze auf großer Leinwand und in Scope (hier ein Ausschnitt auf Youtube, leider im falschen Bildformat: totale Unfassbarkeiten ab 2:03)! Wow!


Der angeteaserte ganz heiße Workout (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)




Freitag, 6. Januar 2023


ab 12:30 Uhr


LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2019

digital, dt./engl./ital. OV

Impressionen aus dem zeitgenössischen Leben junger Frauen in Nürnberg, Frankfurt, Berlin und München, erzählt mit mythologischen, fantastischen, politischen und dadaistischen Backstories.

Die erste Stunde des Films hat mich ehrlich gesagt komplett abgehängt. Lange monologisierende Episoden mit jungen Frauen, die durch die genannten Städte laufen, mit jeweils etwas anderem Fokus hier und da: in Nürnberg geht es in die mythologisch-fantastische Richtung, in München leicht historisierend (der Hauptteil spielt an bei einem Münchner Prachtbauwerk aus dem 18. Jahrhundert, das ich nicht mehr benennen kann) in Berlin wird es irgendwie politischer, weil da gleich auch noch eine Demo mitgefilmt wird.

Wie bereits weiter oben erwähnt: ich glaube Eckhart Schmidts neuere Filme sprechen ich am meisten in den Momenten an, in denen sie sich ganz in ihren experimentellen Ansatz reinwerfen und die letzten Überreste klassischer Narration hinter sich lassen. In LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE passierte für mich dann die Magie in den letzten zwei Episoden (Berlin und Frankfurt?): die letzte Episode, bei der die junge Dame durch einen Innenhof (einen Schulinnenhof?) wandelt, habe ich als leichtfüßigen, für Quatschiges offenen, von Narrationsballast komplett ungebundenen Filmspaziergang empfunden.



Ab 14:45 Uhr


HK-Teaser: Ein saftiges Sittenbild aus Edos Opiumhöhle


PORUNO JIDAIGEKI: BOHACHI BUSHIDO ("Boachi Bushido: Code of the Forgotten Eight")

Regie: Ishii Teruo

Japan 1973

35mm, jap. OV mit engl. UT

Der Selbstmordversuch des Ronins Shino (Tanba Tetsuro) schlägt fehl, als er vom Clan der Bohachi gerettet wird. Die Bohachis leiten Edos Rotlichtviertel mit eiserner Hand und Terror und können Shino als Handlanger gut gebrauchen. Der findet schnell Geschmack an den sexuell-gewaltsamen Terror-Methoden der Bohachi.


Kampfsequenz im Prolog (hier in Farbe)


Ein ordentlicher Tritt ins Schienbein alles Anständigen, eine comichafte, psychedelische Feier von sexuellen oder mindestens stets sexuell konotierten Gewaltexzessen. Ein Herzstück des Films sind sicherlich die in Manier einer Trainings-Montage dem Neuankömmlich Shino erzählten Codizes der Bohachis, die ein wenig aussehen wie ein Regelwerk, das der Marquis de Sade bei einem imaginären Japan-Urlaub den Oberzuhältern von Edo geschenkt hätte: Verrat, Missgunst, bestialische Folter, sexuelle Unterwerfung und Erniedrigung.

Ishii drückt schon ordentlich auf die Tube, auf dass der geneigte Kongressbesucher stets etwas zu bestaunen hat. Ich kann nichts anderes sagen: ich hatte schon Spaß. Wirklich nachhaltig wirkte das ganze nicht, weil es mir dann vorkam, dass doch etwas zu viele Figuren austauschbar und die Hauptfigur (gespielt von Tanba Tetsuro, im Westen bekannt als Tiger Tanaka im Bond-Film YOU ONLY LIVE TWICE) eher rudimentär holzschnittartig und merkwürdig charismaarm wirkte. Vielleicht schwerwiegender ist, dass die gezeigte Kopie rotstichig war und die wahre Farbenpracht des Films nur erahnen ließ: gegen Ende wird Shino von einer Prostituierten mit Opium betäubt – er erlebt einen psychedelischen Farbenrausch, den man in dieser Aufführung nur erraten konnte.



Ab 17:00 Uhr


HK-Teaser: Eine Trouvaille aus dem Kleiderschrank der Verlorenen


SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN

Regie: Joseph W. Sarno

USA 1967

35mm (Interpositiv), engl. OV

Intrigen und doppelte Spiele in der New Yorker Modeszene...

...na ja, besser gesagt: einer Hinterhof-Klamottenklitsche. Abgesehen von einem Opening Shot, in dem tatsächlich ein klein wenig New York im Winter zu sehen ist, spielt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ausschließlich in einem leeren Studio, bei dem die Darsteller vor der gefühlt immer gleich flach ausgeleuchteten Studiowand agieren. Nur ein paar spärliche Möbel und die eine oder andere Wand-Deko (ein Gemälde mit galoppierenden Pferden bleibt da als kleiner kreativer Marker im Gedächtnis) zeigen an, dass die Räumlichkeit sich geändert hat.

SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ist mein dritter Sarno-Film, und sicherlich der schwächste. A TOUCH OF GENIE sticht thematisch und atmosphärisch heraus in einer sehr bizarren Mischung aus jüdischem Borscht-Belt-Humor mit Slapstick-Elementen und Hardcore-Porno (er ist irgendwie faszinierend, nicht unbedingt in einem nur positiven oder nur negativen Sinne). DEEP INSIDE ("Das Strandhaus") ähnelt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN in der eher ungelenken Inszenierung reduzierter Räume (gleichwohl die Lichtsetzung mir etwas kontrastreicher erschien), hat mich aber durch seine einlullende Abhäng-Atmosphäre gefallen: DEEP INSIDE will nichts Großes erzählen, sondern präsentiert nur ein paar Leute, die in einem Ferienhaus trinken, Karten spielen und Sex haben.

Hier scheint zumindest für mich das große Problem von SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN zu liegen: er versucht, eine halbwegs klassische A-Movie-Erzählung innerhalb eines B-Movie mit den inszenatorischen Fähigkeiten eines Z-Movie zu erzählen. Heißt: die Figuren erzählen in tristen Sets die Handlung in qualvoll langen Expositionsdialogen, manche Szene mit noch mal mehr Expositionsdialogen wird nur eingefügt, um die vorangegangene Szene dramaturgisch auszuerklären. Die Kamera bewegt sich im ganzen Film gefühlt vielleicht zwei bis drei Mal: die Figuren laufen in das Bild hinein, wenn sie reden müssen und entfernen sich aus dem Bild, wenn ihre Zeilen aufgesagt sind. In dieser immergleich bleibenden Form hat mich der Film ehrlich gesagt sehr schnell ziemlich genervt – wer geneigt ist, kann das auch als eine Form von Dilettanten-Avantgarde wahrnehmen, was ein nicht unbeachtlicher Teil des Publikums dann auch gemacht hat. Daher lade ich auch dazu ein, die größtenteils positiven Bewertungen einiger Kongressbesucher bei letterboxd hier zu lesen. SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN war eine der großen archivalischen Entdeckungen dieses Hofbauer-Kongresses: der Film galt bis dato als verschollen, eine Interpositiv-35mm-Kopie wurde allerdings bei einem deutschen Filmarchiv vom Hofbauer-Kommando aufgespürt (insofern schmerzt es mich schon etwas, dass ich ihn nicht mag, aber ich wertschätze natürlich trotzdem, dass er gezeigt wurde).



ab 21:00 Uhr


WO DER WILDBACH RAUSCHT

Regie: Heinz Paul

BRD 1956

35mm, dt. OV

Der reiche Bauer Muralt, bei dem die meisten Dorfbewohner Schulden haben, liebt die Magd Maria. Doch diese liebt den Sohn des Bürgermeisters Lorenz und ehelicht ihn dann auch. Gekränkt schenkt Muralt dem Brautpaar eine übermäßig prunktvolle Kutsche und erscheint betrunken und pöblend zur Hochzeitsfeier. Muralts Ansehen im Dorf könnte nicht tiefer sinken – doch dann stürzt Lorenz bei einem Streit mit ihm auf einer Brücke über dem Wildbach in den Tod. Nach 20 Jahren Gefängnis kehrt Muralt zurück ins Dorf.

WO DER WILDBACH RAUSCHT war der diesjährige Vertreter des klassischen deutschen Heimatfilms auf dem Kongress – ein Genre, das vom Hofbauer-Kommando besonders geschätzt wird, weil es eben auch darum gehen soll zu zeigen, dass das gängige Urteil des Filmkanons (Heimatfilm = seichte idyllische Welten, die filmästhetisch eh nicht der Beachtung wert seien) auch überprüft gehört.

Und tatsächlich ist WO DER WILDBACH RAUSCHT nicht weniger als ein ebenso bretthartes wie meisterhaft inszeniertes Melodrama. Manche Zuschauer bezeichneten den Film in der darauffolgenden Pause sogar als bayerischen Western. Für mich noch auffälliger sind die Szenen in Muralts prachtvollem Haus, die weniger nach Heimatfilm oder nach Western aussehen als dass sie mit ihrer alles in intensive, dunkle Schatten tauchenden Low-Key-Fotografie irgendwo zwischen Gothic-Horror und Film Noir schwanken. Ein gemeinsames Abendessen mit Muralt und seinem Oberknecht Wolf könnte, wenn man sich die beiden Männer in großstädtischen Anzügen und nicht in bayerischen Trachten denkt, auch die Besprechung zweier Gangster in einem amerikanischen Noir sein.

Was den Gothic-Horror betrifft: eine Pferdekutsche, die Muralt der Braut als protziges Geschenk vorfahren lässt, wird von den Dorfbewohnern aus dem Dorf ins freie Feld gekarrt. Dort steht es herrenlos in der Dämmerung – eine einzelne Einstellung voller unterschwelliger Bedrohlichkeit, die sich erbarmungslos in den Kopf einbrennt (solche Einstellungen von omimösen "leblosen" Gegenständen, die bedrohlich in der Gegend rumstehen, kennt man besonders von John Carpenter – der das über zwanzig Jahre später gemacht hat).

Muralt, der arrogante "Geld-Adelige" des Dorfes, ist trotz einer gewissen Lächerlichkeit, auch trotz einer gewissen Bedrohlichkeit am Ende vor allem eine sehr tragische Figur. Im Laufe des Films wurde er (trotz seiner Schwächen, Fehler und zweifelsohne seiner Abgründigkeiten) für mich zum Helden, oder zumindest zum großen tragischen Anti-Helden des Films: trotz seines ganzen Gelds ein Außenseiter, ein "Freak". Die Dorfgemeinschaft hingegen: an der Oberfläche freundlich, idyllisch, "einfach" lebend – und wenn das Blut hochkocht ein wilder zorniger (Lang'ianischer) Lynch-Mob, das den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus offensichtlich nicht wieder gekittet hat. Einige Szenen zeigen auch, wie die "autochtonen" Einheimischen einen zugezogenen italienischen Dorfbewohner (aufgrund seines handwerklichen Könnens – war er der Dorfschneider? – eigentlich ein unverzichtbares Mitglied der Gemeinde) absolut aus dem Nichts als "Spaghettifresser" beschimpfen. Eine Szene, die möglicherweise als eine Art Comic-Relief gedacht war, aber das Profil der Dorfgemeinschaft als Missgunst-Gemeinschaft schärft.

Vergewaltigung, eine von Paranoia, Hass, Rassismus und toxischer Männlichkeit zerfressene und zersetzte Dorfgemeinschaft, die jegliche Abweichung erbarmungslos bestraft oder mit Gewalt verfolgt, unterschwellig inzestuöses Begehren, Lynchfantasien – zumindest WO DER WILDBACH RAUSCHT ist keineswegs die eskapistisch-seichte Friede-Freude-Eierkuchen-Unterhaltung mit idyllischem Dorfleben, auf die der Heimatfilm immer wieder reduziert wird. Die Erzählstruktur von WO DER WILDBACH RAUSCHT ist gleichzeitig sehr episch und elliptisch, eine Zeitspanne von zwanzig Jahren wird tatsächlich mit nur einem einzigen Schnitt und ohne jegliche Texttafel, Voice-Over oder sonst irgendwelche chronologischen Marker überbrückt. Einige Co-Kongressniki fanden das erzählerisch nicht besonders elegant gelöst, ich fand es auf eine faszinierende Weise bizarr, fast schon leicht exzentrisch. Passend zu diesem kleinen Prachtstück, einem der großen Höhepunkte dieser Kongress-Edition.



Speaking of Höhepunkte...



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: DEUTSCHLAND INTIM: WENN DIE SEKTKORKEN KNALLEN aka #SCHMÜF: Der außerordentlich schmierige Überraschungsfilm


Man könnte auch sagen: ein infernalisches Double-Feature aus Weihwasser und Sperma, Messwein und Natursekt


Kurzvorfilm:

CHRISTEN UND KIRCHEN: DIE TAUFE

Regie: Jürgen Grünler

BRD 1983

16mm, dt. OV

Was bedeutet eigentlich eine Taufe? Was ist die Konfirmation? Eine Gruppe jugendlicher Christen geht in diesem kurzen Dokumentarfilm diesen Fragen auf den Grund.

Bundesdeutscher 80er-Trist-Mief bildet das Hauptaroma dieses irgendwie charmanten Bildungs-Kurzfilms rund um Jugendliche, die in Konfirmationsvorbereitungskursen diskutieren. Eine gleichzeitig sehr unpassende und dann doch wieder sehr sehr passende Einführung zum Hauptfilm.

Die logische Überleitung: was machen denn diese Konfirmanden und Konfirmandinnen nach ihrer Konfirmation? Vielleicht... ausreißen?


Hauptfilm:

BIGGI – EINE AUSREISSERIN

Regie: Charles Köhn

BRD 1980

35mm, dt. OV

Biggi reisst aus und erlebt bei einem reichen Ehepaar, später in einem Bordell einige erotische Abenteuer.

Die Ankündigung "außerordentlich schmieriger Überraschungsfilm" war keineswegs zuviel versprochen, denn diese völlig unfassbare filmische Total-Eskalation namens BIGGI – EINE AUSREISSERIN lieferte eine der denkwürdigsten und sicherlich die verstrahlteste Vorstellung des 20. Hofbauer-Kongresses. Ein völlig wahnsinniger Film, dem mit gängigen Rezeptionsmitteln wohl kaum beizukommen ist. Ein beachtlicher Teil des Publikums tobte geradezu vor schierer Freude, vor totaler Unfassbarkeit, vor ungläubigem Staunen (oder feuerte Biggi auch mal begeistert an, wenn sie auf ihre Sexpartner*innen urinierte) während ein anderer Teil mit Brechreiz und Gehirnkernschmelze kämpfte.

Die Schublade "Porno" ist auf jeden Fall zu klein für BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Der Film ist eher eine Odyssee durch den versifften Unterleib des bundesdeutschen 80er-Trist-Miefs, ein Eintauchen in Dreck, Schmier, Vulgarität und literweise, wenn nicht gar hektoliterweise Pisse – und das ganze auch nicht als existentialistisch-transgressive Depri-Nummer, sondern als eine sich vergnügt, frisch-frech-fröhlich und lachend gebende Riesen-Gaudi (inklusive eines "Happy-Ends", bei dem Biggi wieder von ihren Eltern in einer tristen Straße mit grauen Reihenhäusern empfangen wird, der Vater, am hellichten Tag, stilecht mit einem geöffneten Bier in der Hand).

Teenagerinnen, die es mit fetten alten impotenten Männern mit Mikropenissen treiben, ein etwas potenterer Butler mit schweren Flatulenzen, Gruppensex im Handwerkerkeller mit diversen Farben die so aussehen als wären sie nicht gerade gut für die Haut und die durcheinandergemischt nur ein unappetitliches Matschebraun (auch trotz beigemischtem Urin) ergeben, eine Kneipe mit einem Oberkellner der einfach in das Sektglas pinkelt um aufzufüllen – und das ganze ist nur die Bildebene. Die Tonspur (komplett nachsynchronisiert und in der Lippensynchronität nur selten präzise, was die bizarre Atmosphäre des Films noch steigert) ist eine Dauerbeschallung aus sexuellen, aber durch und durch unerotischen Vulgaritäten, ein Vokabular fast aus einer Parallelwelt, in der alles nur noch in Bezug zu harter Fickerei (von Sex kann kaum noch gesprochen werden) gesetzt wird. "Was für ein schöner Diamantenring, den er mir schenkt" – würde es in einer normalen Welt heißen, aber hier wird daraus "Da steckt der mir doch echt einen Diamanten auf meine Wichsgriffel". Man könnte wohl nur anhand dieses Films ein Lexikon der vulgärsten Sexbegriffe zusammenstellen. Nur an einer Stelle wurde es undeutlich: eine Schimmelbeschädigung hatte einen Teil der Tonspur angegriffen, so dass für einige Minuten die Dialoge zu einem kleinen, stockenden und rauschenden Musique-Concrète-Experimentalstück verfremdet wurden – "Schimmel-Avantgarde" sagte voller Begeisterung einer der Hofbauer-Kommandanten!

Wie haben denn eigentlich Besucher halbseidener Pornokinos damals, 1980, auf diesen Film reagiert? Haben sie sich empört die Hose wieder zugeknöpft und haben an der Kasse ihr Eintrittsgeld zurückverlangt? Oder sind sie in eine Art Trance oder Hypnose gefallen angesichts dieser Unfassbarkeiten? "Ein dadaistisches Meisterwerk" lautete das Fazit eines Hofbauer-Kommandanten direkt nach dem Film. Dem würde ich nicht viel entgegensetzen.

Vielleicht nur hinzufügen: ein außerordentlich denkwürdiger Moment ist der Beginn einer lesbischen Sexszene auf der Toilette in der Villa des gutbetuchten alten Lustmolchs mit dem winzigen Penis. Da in Deutschland Ordnung herrscht, hängt da auch eine Tafel mit einer Toilettenordnung mit fein säuberlich angeordnten, durchnummerierten Punkten. Keine zwei Minuten später sind die beiden Damen in der Badewanne und urinieren sich gegenseitig an, in völliger Missachtung der vorher sehr markant gezeigten Toilettenordnung. BIGGI – EINE AUSREISSERIN mag durchaus sehr anarchisch sein, aber das war eine Stelle, wo man doch vermuten musste: der Wahnsinn hat System!



Samstag, 7. Januar 2023


ab 14:15


DER KONGRESS TANZT

Regie: Erik Charell

Deutschland 1931

35mm, dt. OV

Die Wiener Handschuhmacherin Christel verliebt sich in ihrer Heimatstadt anno 1815 in einen äußerst charmanten Mann – der zufälligerweise der russische Zar Alexander I. ist. Metternich sieht in dieser Liebelei Potential, um seinen Gegenspieler von den Verhandlungen beim Wiener Kongress abzulenken. Doch die russische Gesandtschaft hat auch einen Zaren-Doppelgänger im Köcher. Turbulenzen und Liebe, Lachen und Weinen folgen, wie es das "nur einmal gibt".


Metternich (Conrad Veidt) lässt sich die Morgennachrichten direkt ans Bett bringen


DER KONGRESS TANZT dürfte einer der "kanonisiertesten" deutschen Filme sein, die jemals auf dem Hofbauer-Kongress liefen. Die Programmierung beim Kongress hob natürlich noch mal die archäosleazologischen Aspekte (aka "Frühschmier") hervor und ermöglichte, diesen ohnehin wunderbaren Film noch mal in einer wunderbaren Form, also im Kino und auf einer exzellenten 35mm-Kopie zu erleben: die fetzigen oder wahlweise bittersüß-romantischen Musiknummern ("Das gibt's nur einmal" – natürlich mehr als einmal vorgetragen, "Wien und der Wein"), die spritzig-perlende Lilian Harvey als verliebte Handschuhverkäuferin, ein herrlich schmieriger Conrad Veidt als intrigant-gerissener Metternich, Willy Fritsch wahlweise als romantisch-verträumter Zar Alexander oder als entweder gelangweilter oder in Zarenkostüm überforderter Sicherheits-Double Uralsky, das heimliche Herz des Films Otto Wallburg als Zarensekretär Bibikoff (mit seinem Begehren, Leute immer auspeitschen und nach Sibirien verfrachten zu lassen), und nicht zu vergessen die absolut fantastische Kamera (Carl Hoffmann), die absolut federleicht durch gigantische Komparsenszenerien gleitet und tänzelt (und das nicht nur in der atemberaubenden "Das gibt's nur einmal"-Kutschenfahrt).

DER KONGRESS TANZT sah ich zum ersten Mal bei einem geselligen Adventsabend des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Uni Jena 2007 – der Film wurde von der Vertretungsprofessorin im Rahmen ihrer Vorlesung zu kulturgeschichtlichen Annäherungen an russische Diplomatiegeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert ausgewählt. Ein vergnüglicher Abend mit netten Kommilitoninnen und Kommilitonen, Glühwein und Plätzchen und DER KONGRESS TANZT auf dem Röhrenfernseher eines Seminarraums. Die Professorin wertschätzte im Anschluss auch den Wert der filmästhetischen Attraktionen über die trockene Faktenlage (in etwa: "In den Fakten nicht sehr akurat, aber trotzdem sehr unterhaltsam und schön... Nein, GERADE deswegen!").

DER KONGRESS TANZT ist auch ein Lichtblick des späten Weimarer Kinos bevor die Nazis der Freude ein Ende setzten. Ein großer Anteil der an zentralen Positionen vor und hinter der Kamera beteiligten Personen waren jüdischer Herkunft und mussten 1933 vor den Nazis fliehen. Bibikoff-Darsteller Otto Wallburg und Co-Drehbuchautor Robert Liebmann waren nicht weit genug bis ins sichere Hollywood geflohen und wurden in Auschwitz ermordet.



ab 16:45 Uhr


HK-Teaser: HEISSE SEHNSUCHT, KALTE KASTE. Schulmädchen-Liebesschicksale im indischen Ozean


GEHENU LAMAI ("The Girls")

Regie: Sumitra Peries

Sri Lanka 1978

35mm, singhalesische OV mit engl. UT

Ein junges Mädchen verliebt sich in einen Klassenkameraden aus einer höheren Klasse. Dieser wechselt nach seinem Abschluss die Seiten und wird Lehrer seiner Verehrerin – und schließlich auch ihr Geliebter. Die heikle Lehrer-Schülerin-Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass sie zu einer niedrigeren sozialen Schicht gehört. 

Eine aus einer Retrospektive des Berliner Arsenal zu weiblichen Regisseurinnen mitgebrachte Rarität. Sumitra Peries arbeitete nach ihrem Abschluss an der London School of Film Technique (wo sie wohl die einzige Frau in ihrem Studiengang war) als Cutterin, unter anderem für die Filme ihres Ehemanns, dem Regisseur Lester James Peries. Ihr Debütfilm als Regisseurin GEHENU LAMAI war wohl erste von einer Frau inszenierte Film in Sri Lanka. In den 1990er Jahren arbeitete sie (ähnlich wie eine andere weibliche Pionierin ihres Kinolandes, Lana Gogoberidze) als Diplomatin in Europa, inszenierte aber weiterhin Filme bis Ende der 2010er Jahre. Die beim Kongress gezeigte Kopie stammte aus Peries' Privatbesitz und ist wohl besonders selten (vielleicht die einzige Kopie des Films). Wie mit der Kopie nach dem Kongress verfahren wurde, ist mir unbekannt: Sumitra Peries starb nämlich 12 Tage nach dieser Vorführung im Alter von 87 Jahren. Es ist also wahrscheinlich, dass dies die letzte öffentliche Vorführung dieses Films zu ihren Lebzeiten war.

Die Kopie war ehrlich gesagt "schwierig" und machte die Sichtungssituation auch eher sub-optimal: sie war sehr verwaschen, das Schwarzweiß extrem kontrastarm, die fest eingebrannten weißen Untertitel hatten keine Outline und verschwanden über weite Teile des Films in den fast immerzu blendend weißen Oberteilen der Figuren – wenn die Untertitel überhaupt erschienen, denn hier war wohl nach dem Motto "Wir fassen nur das wichtigste grob zusammen" verfahren worden und bestimmt ein Drittel, wenn nicht gar die Hälfte der Dialoge waren untertitelfrei. Manche Zuschauer gaben ganz auf und verließen die Vorstellung. Andere Zuschauer gaben dann wohl irgendwann die Mühe auf, den Untertiteln Aufmerksamkeit zu schenken und schauten den Film dann nur noch rein audiovisuell ohne Textverständnis – so zumindest ich nach wohl etwa 30 Minuten.

Und zu entdecken gab es in diesem leise (aber dennoch dialogreich erzählten) Liebesfilm visuell so einiges: eine extrem dynamische Kamera, die in langen Schwenks den Figuren folgt, durch Dickichte von Ästen oder kunstvollen verzierten Fenstergittern oder in Spiegelungen filmt, dazwischen immer wieder Zooms. Einige wenige ausgesuchte Closeups sorgten für besonders emotionale Momente. Das klingt nicht nach viel, aber trotzdem ich vor dem Film bei nicht mal der Hälfte in Sachen Textverständnis kapitulieren musste, hat mich der Film emotional immer wieder gepackt.

Ein Foto aus einer Vorführung des Films war auf dem Postkarten-Titelbild dieser Kongress-Edition vertreten, inklusive des perfekt zum Kongress passenden Untertitels "May be rubbish to you – but meaningful tu us."



ab 21:00 Uhr


HK-Teaser: DIE SPELUNKE DER FEURIGEN TRIEBE aka #BRÜF: Der brünftige Überraschungsfilm


AMARELO MANGA

Regie: Cláudio Assis

Brasilien 2002

35mm, port. OV mit UT

Leben, Essen, Lieben, Träume, Begehren, Obsessionen und Sterben verschiedener Hotel- und Kneipen-Wirte und -Gäste in einem Armenviertel von Recife.


Die resolute Kneipenwirtin Lígia und der zwielichtige deutsche Ex-Militär Isaac


Man stelle sich vor, Robert Altman hätte einen seiner Ensemblefilme nicht in der Country-Szene von Nashville, in den kleinbürgerlichen Vorstädten von Los Angeles oder in der Mode-Szene von Paris, sondern in den Elendsvierteln von Recife gedreht – und hätte sich vor Beginn jedes Drehtags noch einen starken Joint und eine halbe Pulle Cachaça reingepfiffen...

Die Struktur von AMARELO MANGA ("Mangogelb" – eine Haartönung, die man in diesem Film-Recife beim Straßenfriseur ordern kann) teilt sich mit Altmans Ensemblefilmen die lose, impressionistische, an zielgerichteter Narration wenig interessierte Erzählweise. Im Grunde ein "All character, no plot"-Film – und was für einer!

Warum nicht über die Figuren ein wenig diesen hochenergetischen, elektrisierenden Film erschließen? Es gibt zum Beispiel Lígia, die Besitzerin einer Eckkneipe, die uns in den Film einführt, deren Interaktionen mit ihren Gästen irgendwo zwischen warmer Herzlichkeit und einem sehr bestimmtem Abwehren sexueller Übergrifflichkeiten schwankt. Es gibt Wellington aka "Der Kannibale" (im Viertel so genannt, weil er wohl einmal einen Mann getötet hat), der Fleischereiarbeiter, der regelmäßig ein halbes Rind in das "Hotel Texas" liefert und eine Affäre mit der Kioskverkäuferin Daisy hat, von der seine Frau Kika, ein gläubiges Mitglied einer radikalen evangelischen Sekte, die Anfang der 2000er Jahre in Brasilien florierten, nichts weiß. Im "Hotel Texas" wohnt Isaac, ein "Deutscher" mit unklarer und dubioser Vergangenheit (in einem kurzen Kameraschwenk durch sein Zimmer, na ja, seine Absteige, sieht man eine Armeeuniform an der Wand hängen: NVA? Stasi?) und einem bizarren Hobby, das eine Pistole und aus dem Leichenschauhaus geschmuggelte Leichname benötigt. Eine andere Bewohnerin ist Dona Aurora, eine ältere Dame, die mit chronischen Lungenproblemen zu kämpfen hat und immer wieder auf ihr Zimmer muss, um dort an einem Sauerstoffgerät durchzuatmen. Gastronomisch verköstigt werden sie von Dunga, dem Hotelkoch, ein sehr exaltierter schwuler Mann, der offensichtlich ein Auge auf seinen Fleischlieferanten Wellington geworfen hat. Zum Essen kommt auch immer wieder ein "arbeitsloser" Priester, dessen "traditionelle" Kirche geschlossen wurde aufgrund der "Konkurrenz" durch radikale evangelische Sekten.

Wenn Lígia, die Kneipenwirtin, das Rückgrat des Films ist (mit ihr beginnt der Film und schließt der Film in einer Art Kreisbewegung im Epilog ab), dann ist Dunga, der Koch (und De-Facto-Geschäftsführer des "Hotel Texas" in Abwesenheit des eigentlichen Chefs – und dieser wird dann im Laufe des Films dann auch sehr "abwesend" sein) das emotionale Herz von AMARELO MANGA. In den ersten Momenten fast ein wenig eine "Tunten-Witzfigur", entwickelt er sich im Laufe des Films zu einer emotional sehr berührenden, charismatischen Hauptfigur, vielleicht auch, weil Darsteller Matheus Nachtergaele für mich ganz besonders herausstach – wohlgemerkt in einem fantastischen Ensemble von Darstellern.

Ein wichtiger Darsteller von AMARELO MANGA ist auch Recife: eine Stadt, die ich bislang nur vom Namen her kannte, und die mir nach dem Film wesentlich plastischer erscheint. AMARELO MANGA ist nicht nur ein Charakterfilm, sondern auch ein Stadtfilm, der immer wieder en passant das Gewusel auf den Straßen, die Architektur der Stadt und die beeindruckenden Panoramasichten (von einer eher ärmlichen Siedlung auf einem Hügel aus gesehen) zeigt – wenn er sich nicht gleich aus der "eigentlichen" Filmhandlung für eine Weile einfach mal komplett ausklinkt, um in semi-dokumentarischen Bildern vom pulsierenden Leben der Stadt oder in einzelnen individuellen Portraits von echten Charakterfressen der Straße zu schwelgen, deren Geschichte er vielleicht auch erzählen könnte...

In der englischen Wikipedia wird AMARELO MANGA als Low-Budget-Film bezeichnet, das sieht man ihm allerdings keineswegs an, mit seinen immer wieder spektakulären, schwebenden Overhead-Shots, die über Raumwände hinweggehen, seinen langen, kunstvollen Fahrten durch überfüllte Straßen oder durch die verschlungene Architektur des "Hotel Texas" – ein großartiges Filmset, das ein eigenes kleines Universum eröffnet.

Die Verbindungslinie ziehe ich daher bewußt zu Robert Altman, der einen sehr pessimistischen Blick auf die Menschheit hat, wenngleich er seine einzelnen Figuren auch in ihren Schwächen liebt – und nicht zum zynisch-kalten Post-Tarantino/Tarantino-Ripoff'ism-Kino (mit dem einige den Film fälschlicherweise assoziieren könnten). AMARELO MANGA ist keine Freak-Show, keine technokratische Fingerübung, sondern trotz einiger Härten ein warmer, ja warmherziger und auch ein sehr optimistischer Film. Die Essen im "Hotel Texas" sind bestimmt keine 5-Sterne-Büffets, werden aber voller Liebe zu den Figuren und zu kleinen Details gefilmt. Bei einem dieser Abendessen bekommt Aurora einen Hustenanfall: der "arbeitslose" Priester packt sie von hinten in einer Art Heimlich-Griff, aber offensichtlich nimmt er die Gelegenheit wahr, um ihre Brüste zu betatschen. Das anschließende Gespräch erhellt uns, dass Aurora wohl beim Essen immer wieder solche Anfälle hat – als chronisch lungenkranke Frau (sie muss in ihrem Zimmer regelmäßig Sauerstoff aus einem Gerät atmen) ist das nicht völlig abwegig, aber es scheint fast angedeutet zu sein, dass hier ein kleines Ritual der körperlichen Nähe und emotionalen Anteilnahme zwischen zwei einsamen Seelen in dieser Abstiege gefeiert wird. Und das Ende schließlich: Eine junge Frau, die sich offensichtlich aus den Griffen einer evangelischen Sekte ebenso gelöst hat wie aus einer tristen, kalten Ehe, läuft rasch und sehr bestimmt durch die Straßen, greift sich dabei an die Hand, streift ihren Ehering ab und wirft ihn weg, und (ohne auf den Klang zu reagieren, den der Ring macht, als er auf den Asphalt fällt – welch großartiges Detail!) läuft weiter schnurstracks auf ihr Ziel weiter... Was für ein Bild von neuentdeckter Lebenslust nach einer Zeit des persönlichen Stillstands.


Claudio Assis war 42 Jahre alt, als AMARELO MANGA seine Premiere hatte. Der Regisseur der Filme im nächsten Filmblock war etwa doppelt so alt...


ab 23:30 Uhr


Bruno-Sukrow-Programm


HEITER BIS WOLKIG

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Sukrow filmt sich selbst in seiner Wohnung, also sprich: in seinem persönlichen Filmstudio. Er tritt in Dialog mit animierten Figuren, die er über seinen Couchtisch gehen lässt oder auch mit sich selbst: manchmal sprechen zwei Bruno Sukrows miteinander (wenn er sich doppelt), oder aber nur zwei halbe Sukrows, wenn der schwebende, beinlose Oberkörper sich mit dem "oberkörperfreien", sich auf der Wohnzimmercouch fläzenden Rumpf streitet. Dazwischen immer wieder kleine Inserts mit Naturimpressionen.


DIE WAHRE TITANIC

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Die Titanic treibt in einem Bruno-Sukrow-Rhythmus durch einen blauen Pixel-Animationsrausch. Strandschönheiten sonnen sich am Deck, Heizer prügeln sich fröhlich im Heizraum und Abends steppt auf dem Parkett des Ballsaals der Bär, während sich der Eisberg immer mehr nähert... gibt es Rettung für ihn?


DER ALTE MANN UND DAS MEER

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Welch perfekt programmierter Film, knapp ein Tag nach WO DER WILDBACH RAUSCHT. Die Geschichte der Freundschaft eines jungen Mannes zu einem älteren Fischer – der von der Dorfgemeinschaft (diesmal nicht in den bayerischen Alpen, sondern an einem tropischen Strand – aber alle Figuren sprechen ein sehr dialektal eingefärbtes Deutsch) verstoßen wird, als eine junge Frau plötzlich verschwindet und er des Mordes beschuldigt wird. Lynchmobs formieren sich, während nur der junge Freund und die Wirtin der Dorfkneipe (ach... die ganzen Kneipenwirtinnen bei diesem Kongress!) zu ihm halten.

Die eigensinnige Poesie Bruno Sukrows dringt in diesem dritten Film des Abends in immer größeren Dosen zum Bewußtsein durch: unfassbare Tableaus mit sich in einer Art hypnotischen Trance-Zustand bewegenden Figuren, zusammengesetzt aus teils animierten Bildern, teils aus Real-Standbildern – an den Kanten immer etwas roh (das Freistellen mancher Bildelemente ist nicht immer perfekt) und dabei doch voller Herz.


GROLSCH

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2018

digital, dt. OV

Im Weltall empfängt eine Gruppe von Aliens in ihrem Raumschiff ein Funksignal von der Erde. Der geübte deutsche Erdbewohner erkennt mühelos eine Bierwerbung der Marke Grolsch, die Aliens erkennen nur, dass das wohl ein ganz tolles Zaubergetränk ist, das sie auch mal ausprobieren müssen. Gesagt, getan: Kurs auf die Erde. Doch oh weh... aus Versehen legt das Raumschiff beim Flug gen Erde die Stromversorgung der Welt lahm.

Acht Jahre nach den vorher gezeigten Filmen gezeigt wirkte GROLSCH im kleinen Rahmen dieses Programms für einen Sukrow-Neuling wie mich wie sein Opus Magnum (es war ein mittellanger, etwa dreiviertelstündiger Film): der Humor, die Liebe, die Zärtlichkeit, die Poesie – vollkommen ausgereift zu einer singulären Handschrift. GROLSCH ist ein Alien-Sci-Fi-Film, eine Art Re-Imaginierung von INDEPENDENCE DAY, eine Screwball-Komödie, eine Anarcho-Komödie irgendwo zwischen Marx Brothers und Helge Schneider, eine Militär-Satire, ein Essayfilm über die Unbekümmertheit der Natur im Angesicht menschlicher Katastrophen, ja sogar ein Western steckt da drin! Liebevolle kleine Miniaturen und Sketche rund um die Welt (es geht ins Weiße Haus ebenso wie nach Polen, über Japan, Russland, das Ruhrgebiet und Hollywood) über die Menschen im Angesicht dessen, dass es keinen Strom mehr gibt: wenn man nicht kochen kann, kann man ja einen Obsttag einlegen, aber was ist mit dem Fernsehen? Während die Menschen in totale Ratlosigkeit versinken, bleibt die Natur davon unbekümmert: das sieht man besonders an den Enten, die es einmal als Real-Film-Insert gibt – und später als unbeholfen watschelnde Animationswesen.

Dabei ist es wirklich großartig, wie Sukrow im Grunde die latente Spannung über den ganzen Film erhält mit der Prämisse, nämlich: werden die Aliens an das Bier rankommen? Und wenn ja, wie? Und wie wird die Verkostung? So viel sei gesagt: Einer der großen magischen Momente dieses Kongresses war zu sehen, als die vier Aliens in einem tänzelnd-elastischen Gleichschritt marschierend Bierkästen zu ihrem Raumschiff tragen.



ab 1:30 Uhr (reale Startzeit irgendwann nach 2:00 Uhr)


HA LLEGADO UN ÁNGEL ("Ein steiler Zahn")

Regie: Luis Lucia

Spanien 1961

35mm, DF

Das Waisenkind Marisol (Marisol, bürgerlich Josefa Flores González) reist nach dem Tod ihrer Eltern in die Großstadt, um dort mit ihren nächsten Verwandten, also der Familie ihres Onkels, zu wohnen. Diese heftig zerstrittene Familie (der Onkel ist unter der Knute seiner tyrannischen Ehefrau, der älteste Sohn verbockt sein Studium weil er nur an Parties denkt, die Tochter geht mit einem Mann aus der ungefähr so alt aber wesentlich schmieriger ist als ihr Vater, mit dem Geld allgemein ist eher mau) ist von diesem "Glück" eher negativ überrascht, denn Marisol lässt keine Gesangseinlage verstreichen, um die Familie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Und ihre Teilnahme an Kino und Gesangswettbewerben soll auch das mit dem Geld richten.


Marisol bezirzt auch harte Professorenherzen mit ihrer Stimme


In einer besseren Welt wäre Marisol nach Italien gegangen, um dort als Sidekick bei einem Film mit Franco Franchi und Ciccio Ingrassia mitzuspielen (am besten von Lucio Fulci inszeniert), denn eines ist sicher: mit ihren grotesken, ultraelastischen Gesichtsverrenkungen hätte sie neben Franchis mimischen Total-Eskalationen durchaus eine ganz gute Figur gemacht.

Einen populären Schlagerfilm aus Spanien in der Hochzeit des Franquismus zu sehen, war schon faszinierend: eine antiautoritäre, fast anarchische Brise und ein autoritärer Mief, totale Selbstauflösung in Spiel, Spaß, Freude und ein heftiger sozialer Druck in Richtung Konformität und Wohlordnung, eine Sympathie für Empowerment von Außenseitern und ein mit "traditionell" noch nett umschriebenes Verständnis von Geschlechter-Beziehungen stehen sich immer wieder gegenüber. Marisol ist schon ein kleiner Wirbelwind von Lebensfreude, Spaß und Ausgelassenheit, aber wenn sie ein kreischend hohes Lied frühmorgens anstimmt, um alle im Haus zu wecken und besonders ihren noch leicht angetrunkenen bzw. schon leicht verkaterten Cousin, der eben erst ins Bett wollte, dann wirkt sie eben auch gleichzeitig wie ein eisener Besen der strengen (in einem deutschen Kontext würde man sagen: "preußischen") Ordnung. Die Szene, in der Marisol zusammen mit einer Gruppe von musikaffinen Studenten (die sie im Prolog im Zug getroffen hat), in das Haus eines emeritierten Professors einfällt, um ihn mit schmissigen Songs zu erweichen, ist schon herzallerliebst und ein Höhepunkt des Films (ein Still aus dieser Szene war auch das zentrale Anteaserungsbild für den Kongress). Ein weiterer Höhepunkt ist Marisols gesangliches Nachsynchronisieren des familiären Fernsehers, nachdem eines der Familienmitglieder durch zu viel Rumspielen an den Geräteeinstellungen den Ton lahmgelegt hat. Gleichzeitig gibt es eine Szene, in der Marisols Cousin seiner Schwester ins Gesicht schlägt (vielleicht sogar mehrmals?) und der Film findet das offensichtlich ganz ungeheuer witzig – das ist dann schon eher bestialisch.



Sonntag, 8. Januar


ab 14:30 Uhr


HK-Teaser: Geheimnisvolle Qualen der Erotik


VON HAUT ZU HAUT

Regie: Hans Schott-Schöbinger

BRD 1970

35mm, dt. OV

Nicki (Sophia Kammara) und Karen (Dagmar Lassander) sind Zwillingsschwestern, die eine telepathische Verbindung haben. Das ist nicht immer von Vorteil, wenn die eine in einem vielleicht nicht ganz passenden Moment spürt, wie die andere mit ihrem Partner (Karen) bzw. ihrer Partnerin (Nicki) Sex hat. Richtig unangenehm wird es aber, als Nicki von einem mysteriösen Mann verfolgt wird.

Eins vorweg: es machte mir tatsächlich mehr Spaß, über den Film im Nachhinein nachzudenken bzw. in Erinnerung an die Atmosphäre zu schwelgen als den Film tatsächlich zu sehen. Das muss aber nichts Schlechtes sein, denn wenn ich über Vergleichsreferenzen nachdenke, würde mir Aldo Lados LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO aka MALASTRANA einfallen: auch ein Atmosphären-Film (ein "Giallo") in einer alten mitteleuropäischen Stadt, die aufgrund ihrer Gruseligkeit für die Figuren zu einer Art riesigen Freiluft-Gothic-House wird. VON HAUT ZU HAUT wurde in Passau gedreht, einer Stadt, die ich persönlich nicht kenne, die mir aber als eine Art eigenständiger Charakter im Film sehr nahe gebracht wurde. Mit seinen wunderbaren Scope-Bildern der oft größtenteils entvölkerten Altstadt-Gässchen erschafft Schott-Schöbinger eine ganz eigene, unheimliche Atmosphäre, die den ganzen Film ansteckt: natürlich bei spannungsgeladenen Verfolgungsjagden, aber gerade eben auch, wenn die beiden Protagonistinnen einfach nur durch diese Gassen schlendern. Wie Prag (bzw. Zagreb und Ljubliana) für MALASTRANA scheint auch Passau einen natürlichen Gothic-Horror-Einschlag zu haben, der sich voll und ganz auf die Zuschauer überträgt, wenn man ihn nur richtig mit der Kamera einfängt.

Der große, fantastische Höhepunkt des Films bezieht sich darauf, wie unpassend es manchmal ist, durch Telepathie den Sex der Schwester mitzubekommen (und mitzuspüren): eine der Schwestern steigt in einen Bus ein (stilecht mit einer Jägermeister-Werbung), fährt zunächst nichtswissend mit, beginnt dann zu stöhnen, weil ihre Schwester zeitgleich Sex hat, zieht die Aufmerksamkeit der anderen Mitfahrer auf sich und bekommt schließlich einen Orgasmus. Hier explodiert die Szene in eine Nahaufnahme ihres vor Lust verzerrten Gesichts, die von einem psychedelisch animierten Blätterornament überlagert wird.



ab 16:15 Uhr


HK-Teaser: HOW I COME


SHARON'S ROSEBUD

Regie: Richard Wilton

USA 1976

16mm, OV

Die Porno-Darstellerin Sharon Thorpe erzählt in einem intimen Interview von ihren Fantasien.

"Cinéma vérité goes porn" – so ungefähr beginnt SHARON'S ROSEBUD, mit einer sehr langen ungeschnittenen Einstellung, in der Sharon sich mit dem Off-Kamera-Interviewer unterhält. Die Steigerung der "ungeheuren Gefühle", um jetzt mal ein Bonmot des Hofbauer-Kommandos zu benutzen, war am Anfang sehr langsam, graduell, in kleinen Häppchen voranschreitend – und dadurch erst recht extrem sexy, gerade weil die Befragte sehr lange Zeit bekleidet bleibt und nur durch ihre Erzählung und suggestive Blicke Erotik erzeugt. Dann wurde Sharons Wortwahl zunehmend explizit, sie entkleidete sich langsam, dann kam der "Helfer", um sie zu lecken und schließlich ließ sie die Zuschauer an ihren Fantasien mittels eigener Filmepisoden teilhaben. In diesem langen Prolog entwickelt SHARON'S ROSEBUD eine unglaubliche Unmittelbarkeit und Intimität – die vierte Wand wird praktisch aufgelöst. So konnte ich auch nicht anders, als von "ungeheuren Gefühlen" selbst etwas tangiert zu werden.

Danach wird der Film leider etwas zu routiniert, entwickelt sich zu einer reinen Nummern-Revue und wirkte im Rahmen dieses Kongress-Wochenendes in der Anhäufung von Sexszenarien mit strammem Dirty-Talk wie die stilvollere und elegantere Ausführung von BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Die Einheit von Zuschauer, Interviewer, Helfer, Interviewten und ihren Fantasien löste sich und baute wieder eine gut spürbare vierte Wand ein. Eher verstörend war das Auftauchen eines Nebendarstellers, der wie der verlorene Zwillingsbruder von Herbie Hancock aussah. Eher amüsant hingegen dass ich ab jetzt "Die Nadel im Heuhaufen suchen" durch "Die Karotte im Heuhaufen suchen" ersetzen werde – nachdem die Karotte in der Inzest-und-Gärtner-Fantasie beim Liebesspiel im Heuschober gefunden und kreativ in die Aktivitäten eingebunden wurde, wird sie danach dann auch praktischerweise als After-Sex-Snack verspeist.



ab 21:00 Uhr


LUJURIA TROPICAL ("Tropische Sinnlichkeit")

Regie: Armando Bó

Argentinien 1963

35mm, DF

Die freigeistige Norma (Isabel Sarli) lässt sich in einem Fischerdorf nieder und heiratet dort den lokalen Kneipenwirt. Das hindert sie nicht daran, sich auch mit dem lokalen Strand-Beau (gespielt von Regisseur Armando Bó) einzulassen. Der will Norma jedoch komplett für sich allein haben und stößt damit eine Spirale der zunehmend gewaltsamen Eskalation an.

Nach einer sehr zärtlichen Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph zum Filmzyklus des argentinischen Regisseurs Armando Bó und seiner Hauptdarstellerin und Ehefrau Isabel Sarli ging es an den südamerikanischen tropischen Strand, um Melodrama-Leidenschaften, unerschütterliche weibliche Selbstbehauptung im Angesicht männlicher Dummheit und natürlich die Pracht von Isabel Sarlis Körper zu erleben.

Im englischen Wikipedia-Eintrag wird der Film als "verschollen" bezeichnet, aber das ist ja ganz offenbar Quatsch, wenn wir ihn beim Kongress gesehen haben – allerdings muss man sagen in einer schon recht lädierten Kopie, die die leuchtenden, satten, tropischen Farbenpracht nur noch in Resten durch einen Schleier von Rotstich in sehr diversen Ausprägungen approximativ erahnen ließ (manchmal intensiver, manchmal kaum bemerkbar, als wäre die Kopie aus Kopien in unterschiedlichen Verfallsstadien zusammengestückelt worden). Das hat das völlige Eintauchen in den Film angesichts der fortgeschrittenen Kongressdauer und der damit einhergehenden Müdigkeit doch etwas für mich erschwert. Die zweite Hälfte des Films war für mich leider etwas stockend und anstrengend, ich habe aber die Vermutung, dass die leichte Trägheit durch das Abendessen eine unheilige Allianz mit der allgemeinen Müdigkeit nach vier Festivaltagen einging.

Insofern war es auch etwas einfacher, sich ganz auf ein, ja das wichtigste Element des Films zu konzentrieren: auf Isabel Sarli. Sie ist keine besonders expressive Darstellerin, aber was sie außer ihrer Schönheit mitbringt ist ein alles zerfetzendes Charisma, eine alles einnehmende Leinwandpräsenz, die alles um sie herum an die Wand drückt. Wie sie die Männer (die mehr oder weniger alle erbärmliche Würstchen sind) um sie herum zur Sau macht, wenn sie ihr blöd kommen, ist die reinste Freude. Eine absolute Naturgewalt, und wie Christoph in seiner Einführung sehr schön erklärt hat: die Kamera bestaunt sehr wohl voyeuristisch ihren Körper, aber den Film auf "male gaze" zu reduzieren, greift zu kurz. LUJURIA TROPICAL ist für einen Film von 1964 und einen Film aus einem katholisch geprägten Land, das man als eher traditionell-patriachalisch einschätzen würde, verblüffend progressiv, um nicht zu sagen geradezu anarchisch in einem Verständnis von Geschlechterbeziehungen. Sarli hält nicht die andere Wange hin, wenn man sie (körperlich oder metaphorisch) schlägt, sondern haut beherzt zurück. Und einige Jahre, bevor es en vogue wurde, ist es ein Film, der Monogamie (und zwar für ALLE Beteiligten) als eher dubioses (zumindest aber nicht alleinseligmachendes) Konzept der Lebensgestaltung ansieht. Alle Männer in dem Film wollen Sarli "besitzen" und LUJURIA TROPICAL zeigt zweifelsohne, dass sie alle erbärmliche Würstchen sind. Nur der Ehemann, der macht im Laufe des Films einen Lernprozess durch, möchte sie am Ende nicht mehr nur "besitzen".

Hätte wahrscheinlich ein tolles Double-Feature mit DIE DRESSIERTE FRAU gegeben.



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: Eine Lustreise durch die Aborte der Republik


DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN

Regie: Marijan Vajda

BRD 1971

35mm, dt. OV mit finn. & schwed. UT

Schulmädchen-Report, Hausfrauen-Report, Ehemänner-Report, Lehrmädchen-Report, Krankenschwestern-Report – die können alle schön einpacken, denn jetzt kommt der... Toiletten-Report! Wasserlassen, Stuhlgang, Rauchen, Selbstbefriedigung, Nacktheit und sonstiges Freudiges rund um das stille Örtchen.

Ein Freund des Hofbauer-Kommandos sah ein Plakat zum Film... in einer Toilette in Finnland! Empfehlung weitergeleitet, Kopie in Finnland recherchiert und ausfindig gemacht – und bereit ist der schmissige, bizarre, brüllend komische und verblüffende Rausschmeisser dieses Kongresses. Und schloß genre-mäßig den Kreis zum Reportfilm, der diesen Kongress eröffnete.

Gemäß der Einführung von Hofbauer-Kommandant Felix wurde Marijan Vajda (1920-1997) in seiner jugoslawischen Heimat aus dem Berufsverband der serbischen Regisseure hinausgeworfen wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz. Vajda war gemäß den Daten bei IMDb schon seit 1951 tätig, vornehmlich als dokumentarischer Kurzfilm-Regisseur (von Filmen mit eher "trockenen" Titeln wie "Jugoplastika", "Die Industrie von Novi Sad", "Automechanik in Split", "Volksmuseen in Belgrad", "Nuklearreaktoren"), mit einer hohen Produktionsfrequenz, zwischen 1960 und 1962 gibt es drei Langfilme. Nach ganzen sieben Dokumentar-Kurzfilmen 1963 gibt es eine Lücke bis DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN 1971 (1976 dann sein letzter Film, die bundesdeutsch-schweizerische Koproduktion MOSQUITO DER SCHÄNDER). Auch wenn ich keine gesicherten Angaben dazu finde, scheint Marijan David Vajda, gebürtig 1950 in Belgrad, sein Sohn zu sein und war selbst als Regieassistent (u. a. bei Vajdas MOSQUITO DER SCHÄNDER, aber auch bei so unterschiedlichen Leuten wie Franklin J. Schaffner, Raúl Ruiz, Nicolas Roeg, James Mangold) und Regisseur tätig (OTTO – DER AUSSERFRIESISCHE sowie viele Filme und Episoden für das Fernsehen, u. a. POLIZEIRUF 110).

Wenn wir bei Vajda Sr. wieder zurückkehren zu Rausschmiss wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz: für die Geschmacklosigkeit – sehr verdientermaßen! Und für die Inkompetenz: schwer verständlich. Was Vajda in DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN macht ist schon sehr erstaunlich: eine extrem gut gemachte Parodie des damals noch recht jungen Reportfilm-Subgenres, die so gut funktioniert, weil sie eben die Regeln und Funktionsweisen eines guten Genre-Vertreters vollkommen verinnerlicht hat; die Absurdität der Prämisse, Abenteuer durch verschiedene Klos Deutschland zu erleben, wird so weit getrieben und eskaliert, dass der Film teilweise fast schon die Anmutung eines Avantgarde-Films bekommt – der äußerst bizarre und absurde Humor, der Pointen manchmal verweigert und irgendwo zwischen Helge Schneider und einer tatsächlich recht osteuropäischen Form von Groteske schwankt, trägt seines dazu bei; und nicht zuletzt – Vajdas langjährige Erfahrung als Dokumentarfilmemacher kommt hier wohl zugute – wirkt der Film auch immer wieder wie eine Dokumentation bundesdeutscher Tristesse Anfang 1970er, nicht nur mit seinen dreckigen, schmuddeligen Klos, sondern auch mit verrauchten Eckkneipen, gänzlich unsanierten Hinterhöfen, maroden Zügen (na gut, das gibt es auch heute, aber in anderem Design), dazu – in besagter Kneipe – die faltigen Opa-Charakterfressen, die nicht nur lüstern jedem Rock hinterherschauen, sondern von früher, vom Krieg schwärmen.

Letzteres führte dann in einer kleinen Rückblende auch zu einer Episode, die das bereits leicht von den frühen Abreisen ausgedünnte Publikum zu rasendem Tosen brachte: das Gemeinschafts-Scheissen auf den Feld-Latrinen an der Front des (Ersten) Weltkriegs (ein Schild über den Latrinen verkündet "Für Kaiser, Volk und Vaterland"). DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN ist in der Erinnerung aufgrund seiner Programmierung als letzter Film nach einem langen Festival etwas verblasst, Details nicht mehr so präsent, aber diese Episode bleibt natürlich hängen! Eine Verfolgungsjagd, bei der Polizisten versuchen, Wildpinkler zu fangen, ist aufgrund des Pointen-Bonmots auch gut hängen geblieben: "Auch ein Hippie muss mal Pipi". Und besonders schön: eine unbekleidete Frau, die in ihrer Wohnung abhängt, eine Platte auflegt und dann mit einem roten Plastikvogel spielt, das von der Decke an einer Feder hängt – dieses einfach endlos auf- und abwippen lässt.