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Dienstag, 27. Februar 2024

Moonwalk in der Zahnarztpraxis und weitere Lustbarkeiten

Bericht vom 21. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (4.-7. Januar 2024)


Donnerstag, 4. Januar 2024


Nürnberg, KommKino

ab 15.00 Uhr


SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER
Regie: Harald Reinl
BRD/Italien 1972
35mm, dt. OV
Der Maler Stefan verliebt sich in die Krankenschwester Claudia. Dem trauten Liebes- und Eheglück steht nichts mehr im Weg, denn Stefan erhält von einem italienischen Mäzen einen großen Auftrag. Doch Claudia wird bei einem Unfall im Krankenhauslabor einer tödlichen Dosis radioaktiver Strahlung ausgesetzt...

Reinls Melodrama im Fahrwasser von LOVE STORY zeichnet durch eine ausgezeichnete Inszenierung im visuellen Bereich aus: den über Jahrzehnte gereiften Routinier sieht man in fast jeder Einstellung an, der Film ist wunderschön anzusehen und strotzt vor kleinen visuellen Einfällen (da ist natürlich immer wieder der Schwenk zur Büste von König Ludwig I. in Stefans Wohnung, oder der Einfall, das gemeinsame Einschlafen Stefans und Claudias mit einem Schwenk auf Claudias Pantoffeln zu beenden – die Pantoffeln, die dann nach einem Schnitt weg sind, wenn Stefan aufwacht und nach Claudia sucht, die sich im Badezimmer gerade übergibt). Im zweiten Teil des Films, wenn das Paar seine "Hochzeitsreise" in Rom feiert, kann der Film geradezu genüsslich in wunderschönen Postkartenmotiven schwelgen. Das sieht auch trotz des vorangeschrittenen Rotstichs der Kopie sehr beeindruckend aus.

Weniger beeindruckend sind das Drehbuch und die beiden Hauptdarsteller Amadeus August und Gundy Grand: die zentrale Liebesgeschichte (über die dann auch die großen Gefühle des Melodrama ausgelöst werden sollten) hat für mich einfach nicht funktioniert. Dass August mit wenig und Grand mit gar keinem Charisma gesegnet ist und beide überhaupt gar keine Chemie haben – geschenkt. Dass Stefan als manipulativer Stalker rüberkommt, der seine Angebetete auf Arbeit verfolgt, ihr Auto besetzt und seinen Ausweis in ihrer Handtasche "verliert", um ein Date zu erpressen, lässt ihn schon maximal dubios wirken – aber keinesfalls romantisch. Zudem ist SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER furchtbar verbos, zugekleistert mit furchtbaren, hölzernen Dialogen, bemüht witzig – es soll wohl Screwball-Comedy sein, aber meist ist es teutonischer Schraubenball-Klamauk.

Und wie Claudia durch schiere Dummheit den Unfall mit dem Strahlengerät im Labor auslöst (sie spielt mit einem nicht-gesicherten Prototypen rum – und lässt diesen mitten beim Rumspielen strahlend stehen, um mit Stefan zu telefonieren), lässt schon an ihre Eignung für irgendwelche Tätigkeiten außerhalb eines sehr passiven Trophy-Wife-Daseins zweifeln. Die Szenen mit dem Strahlengerät sind eh eine Sache für sich: innerhalb eines extrem detailverliebt ausgestatteten Films sind es karge, triste Studioräume, ein riesiger Hebel mit den Aufschriften "An" und "Aus" markieren den Eingang des Strahlungsraums (und auf etwas unterkomplexe Weise die Funktionalität des Geräts). Wenn es "spannend" werden soll, dröhnt eine karikatureske, plumpe "Spannungsmusik" aus der Dose – während das Hauptthema, das Liebesthema, eine aufwändig auskomponierte, filigrane und wunderschöne Musikbegleitung zum Film ist. Das wirkt fast so, als wäre der Erzählstrang zur Erkrankung Claudias später mit hurtigen Nachdrehs in den Film reingeschmuggelt worden.

Ich kann nicht drüber hinwegsehen, dass ich Stefan als absolut unsympathische Figur empfinde. Seine zwei Nachbar-Buddies hingegen haben einen Platz in meinem Herzen gefunden: da ist Boris, der Typus des "dicken Schlemmers", der bei einem Besuch bei Stefan schon mal die Hälfte von dessen Brot wegschneidet, dick (wirklich dick! also wirklich!) mit Butter bestreicht und schwärmt, wie toll es schmeckt – und zur Vermittlung einer Blutspende die "Dauerwurscht" aus dem Esspaket als "Kommission" verlangt. Und der Italiener Nino, der sich in eine bezaubernde junge Dame namens Rosy verliebt, die ihn nicht nur mit ihrer Präsenz, sondern auch mit schönen Geschenken beglückt – das Geld dafür sammelt sie ohne Ninos Wissen auf dem Straßenstrich, wie Stefan und Claudia bei einem späten Bummel durch die Straßen erschrocken und leicht angewidert merken. Angewidert sollte wohl auch das Publikum sein – als geneigter Besucher des Hofbauer-Kongresses wünscht man sich aber natürlich lieber einen eigenen Film zu Ninos und Rosys Geschichte.

Nach einer ersten Sichtung im Kommkino im September 2023 habe ich SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER nun zum zweiten Mal gesehen. Ich mag den Film als Gesamtpaket immer noch nicht, auch, wenn mir einzelne Elemente sehr gefallen. Eine gewisse Faszination kann ich nicht leugnen.



ab 17.00 Uhr


LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE ("Das Teufelsweib von Santa Margarita")
Regie: Carlos Hugo Christensen
Argentinien/Venezuela 1949
35mm, DF
Der Schiffskapitän Segundo führt ein bescheidenes, aber grundsolides und gutbürgerliches Leben mit kleinem Eigenheim am Strand, liebevoller Ehefrau und heranwachsendem Sohnemann. Aber ist es wirklich so grundsolide? Bei Überfahrten zur Insel Santa Margarita verfällt er dort im Rotlichtviertel der Femme Fatale Esperanza.

Nach Salzwasser, Blut, Tränen und Schweiß schmeckt dieses noir'ische Melodrama des dänisch-stämmigen Argentiniers Christensen (seines Zeichens eine tragende Säule des argentinischen Kinos der Zeit). Besonders der Schweiß hat es Christensen und dem spanischen Kameramann José María Beltrán (der dafür bei Cannes einen Preis gewann) angetan: das tropische Klima in Venezuela ist natürlich schweißtreibend, aber noch mehr scheint es die innere Glut, ja die schiere Geilheit zu sein, die den Figuren Strömen von Schweiß ins Gesicht treibt. Bei Segundo ist der Fluss dieses Körpersafts nach Ankunft in Santa Margarita fast unaufhörlich. Bei Esperanza ist er kontrollierter – ein dünner, öliger Schweißfilm bedeckt ihr Gesicht und lässt sie dadurch nicht nur in der schummerigen Beleuchtung der Rotlichtviertel-Kaschemmen, sondern nachts besonders im hellen Mond-Licht als wahrlich verführerische Femme Fatale der Tropen erstrahlen.

Der Mexikaner Arturo de Córdova und die Argentinierin Virginia Luque sind vielleicht nicht die charismatischsten Schauspieler der Welt, aber sie machen ihre Sache gut (und feucht). Die Charisma-Kracher gibt es in den Nebenrollen: die Kubanerin América Barrios als komplett entrückt-verrückte Prostituierte Maria, die in ihrer eigenen Parallelwelt lebt und zwischendurch die Handlung aufbricht, wenn sie Segundo oder andere Seemänner in ein irrsinniges, absurd-surreales Gespräch verwickelt – eine Straßenphilosophin im Rotlichtviertel. Ihre lebensweltliche Cousine sitzt in der Kaschemme, in der Esperanza auftritt: eine ältere Frau, die von allem um sie herum – sei es Esperanzas expressiver Gesangsauftritt oder eine wüste Kneipenschlägerei – völlig kalt gelassen wird und ganz entspannt, wortlos ihr Bier trinkt, komme was möge. Ein weiterer Hingucker ist der Venezolaner Tomás Henriquez als Voodoo-Zauberer und Betrüger: ein Mann der wenigen Worte, der mit seinem markanten, vernarbten Gesicht alles Bedrohliche der Welt ausdrückt.

LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE hat mir gut gefallen mit seinen Zutaten aus Melodrama, Noir-Elementen, Rotlicht-Seediness und tropischer Hitze. Inszenierung und Schnitt sind nicht immer ganz on point, aber der Film ist trotzdem voller beeindruckender und markanter Bilder: natürlich das schweißge Tête-à-tête zwischen Esperanza und Segundo im Mondschein, der von Regen- und Abwasser triefende Aufstieg zur Kaschemme auf der Anhöhe und beim Höhepunkt natürlich Esperanza, die bedrohlich vor einer lichterloh brennenden Hütte in einem geradezu apokalyptischen Tableau ihre Frau steht.



ab 21.15 Uhr


WUNDERLAND DER LIEBE – DER GROSSE DEUTSCHE SEXREPORT
Regie: Dieter Geißler
BRD 1970
35mm, dt. OV
Wie steht es um die Liebe im Land der teutonischen Begrenztheiten? Und was ist eigentlich mit Sex?

Auch wenn WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN im gleichen Zeit-Slot am nächsten Tag der emotionale Höhepunkt dieses Kongresses war – WUNDERLAND DER LIEBE war der Kracher to bang'em all! Eine Tour de Force des Unfassbaren und ein Strudel des Unglaublichen. Kinobesucher, Kondom-Produzenten, Kommunenbewohnerinnen und -bewohner, Aktionskünstler, homosexuelle Renegaten des katholischen Klerus, nordische Gigolos, Bewohner und Besucher von Sylt, provinzielle Stripclub-Betreiberinnen zwischen den Geschlechtern, Begründer exotischer Randparteien und Jürgen Drews als Liebhaber und Modellflugzeug-Liebhaber sind die Protagonisten dieser trotz rotstichiger Kopie kunterbuntester Nummer des diesjährigen Kongresses. Manch gestandener HK-Besucher sprach von "bester Reportfilm überhaupt".

Natürlich strotzt der Film nur so von unglaublichen Personen. Der Publikumsliebling der HK-affinen Herzen dürfte der Hamburger Gigolo sein, der in einem ununterbrochenen, stromartigen und mehrminütigen Monolog seine Tätigkeit als männlicher Prostituierter erklärt, diverse pikante, absurde und groteske Geschichten über seine verschiedenen Kundinnen preisgibt (manche wünschen sich eben, mit Bratkartoffeln beworfen zu werden) und seine teils libertären, teils zynischen Lebensweisheiten verrät (bei ihm sagen die Frauen offen, wenn sie sich lecken lassen wollen, weil ihre Männer zu sehr mit Arbeit beschäftigt sind, um das zu tun und ihre Frauen zu befriedigen) – 99% aller Poetry-Slammer und Rapper dieser Welt können sich nur im Traum wünschen, einen derartig dichten Strom der Gossenpoesie von sich zu geben. Knapp am Publikumslieblingspreis schrammte der Gründer der Deutschen Sex-Partei (Joachim Driessen), der in seinem biederen Anzug und dem Gesicht eines Schwiegermutter-Lieblings von der befreienden Kraft des Sex und einer gemeinsamen, deutsch-polnischen Anstrengung zur Erotisierung der Oder-Neisse-Grenze schwärmte, während seine leicht, na ja, eigentlich unbekleidete Sekretärin ihm ab und zu einen Zettel in die Hand drückte. Einer der denkwürdigsten Details des Kongress-Wochenendes gab es im Interview mit den Mitgliedern des Musiker-/Aktionskunst-Duos "Anima-Sound" zu sehen: beide Duo-Mitglieder und Eheleute saßen während der Befragung am Wohnzimmertisch und bissen zwischendurch in ihre Schnittchen – er hielt allerdings sogar mitten in seiner Antwort an, nahm das Konfitürenglas und tropfte die Konfitüre aus dem Glas geduldig auf seine Brotschnitte.

À propos Essen: besonders bizarr war das Buffet mit den Mitgliedern einer Kommune. Als Bedingung, um sich filmen zu lassen, hatte diese bei der Filmcrew ein großes Catering bestellt, knabberte einen Teil des Buffets an – und feierte mit den noch großen Mengen an Resten eine Art Essensschlacht. Da wurden nicht nur Erinnerungen an Chytilovás "Tausendschönchen" wach – sondern auch Gedanken über bourgeoise Verschwendung geweckt, die die Kommune durch ihren Lebensstil eigentlich überwinden wollte/sollte. Aber noch unbehaglicher wurde die Kombination aus Performance und Essen dann bei der Dokumentierung einer Kunstaktion von Otto Muehl an der Kunsthochschule Braunschweig, bei der ein Schwein auf der Bühne live geschlachtet wurde und eine Perfomance-Teilnehmerin nicht nur mit Schweineblut beschmiert, sondern auch von Muehl angepinkelt wurde.

Für eine der größten Überraschungen sorgten allerdings zwei ältere Herren in einer Sylter Kneipe, die zum naheliegenden FKK-Strand befragt wurden. Sichtlich nicht mehr beim ersten Bier, mit leicht angeschwitzten, roten Gesichtern – eigentlich Kandidaten für Tiraden über die heutige Jugend. Aber nein: zum FKK-Strand gehe man selbst nicht, denn "im Alter wird alles etwas kleiner" – aber die heutige Jugend solle mal schön selbst in Ruhe machen und ausprobieren und herausfinden, was sie wolle.

Klingt alles wüst? Damit WUNDERLAND DER LIEBE nicht komplett auseinanderfällt, gibt es eine Art Rahmenhandlung mit einem Liebespaar: Sabine Clemens als sie und Jürgen Drews als er. Sie dürfen am Ende dann auch Sex haben – also, na ja, nackt zusammen im Bett herumtoben, in eleganter Zeitlupe und in einem Kaleidoskop überlagerter Bilder gefilmt, während der fetzige Sound der Krautrock-Band Apocalypse (hier nach knapp 2 Minuten das Hauptthema des Films) sich auch noch drüber legt. Womit wir beim nächsten wichtigen Punkt wären: WUNDERLAND DER LIEBE ist absolut fantastisch anzuschauen und anzuhören! Regisseur Dieter Geißler war der Hauptdarsteller in Klaus Lemkes 48 STUNDEN BIS ACAPULCO, deutscher Co-Produzent für italienische Co-Produktionen wie MALASTRANA (durch Aldo Lados Prag geistert ein Straßensänger, der von Jürgen Drews verkörpert wird), CHI L'HA VISTA MORIRE, Roman Polanskis CHE?, Luchino Viscontis LUDWIG II, später Produzent von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (1 bis 3): WUNDERLAND DER LIEBE ist die erste von nur zwei Regiearbeiten.

Aber als umtriebiger Produzent schien er einen Riecher für die richtigen Leute zu haben: Hubertus Hagen an der Kamera, ein Veteran der Schwabinger Nouvelle Vague (und später von Lederhosen-Sexfilmen) und Jutta Brandstaedter an der Schere (Cutterin für Klaus Lemke, Roger Fritz, Rudolph Thome und Aldo Lado). Denn WUNDERLAND DER LIEBE ist auch ein Film der entfesselten Bilder und der wahnsinnigen Montagen. Nervenzerfetzende Thrills gibt es ebenso wie brüllende Lacher. Befragungen von Fabrikarbeitern sowie Marketing- und Produktmanagern einer Kondomfabrik werden montiert mit Bildern einer Qualitätskontrolleurin, die an einer Maschine Luft in ein Kondom strömen lässt und die Liter abzählt: "5 Liter" – O-Töne – "10 Liter" – O-Töne – "20 Liter"... und so weiter. Es steigert sich immer mehr, bis bei 50 Litern und der Offenbarung, dass die Geschmacksrichtung Pfefferminz am beliebtesten bei Nutzern abschneidet, schließlich die kathartische Explosion erfolgt! Toben im Kommkino-Saal! Und dass das Anbringen des Kondoms während des Liebesspiels, wie ein Marketing-Mensch der Fabrik versichert, keineswegs Erotik und Zärtlichkeit zerstört, wird in der Montage auch schön veranschaulicht: Schnitt zur Qualitätskontrolleurin, die mit ordentlich Schmackes Kondome auf die langen Phallen eines Kontrollfließbands zieht. Das Publikum im Komm tobt weiter!



ab 23:30 Uhr


SCREWBALLS ("Screwballs – Das affengeile Klassenzimmer")
Regie: Rafal Zielinski
Kanada 1983
35mm, DF
Fünf Jungs der Taft and Adams High School (abgekürzt: T & A) versuchen in gemeinsamer Anstrengung, endlich einen Blick auf die Brüste von Purity Bush zu werfen, dem schönsten Mädchen der Schule.


Ein Perpetuum-Mobile ist physikalisch nicht realisierbar. Aber das Großartige an Kino ist, dass da alles möglich ist: SCREWBALLS dürfte eine Art Perpetuum-Mobile der wüst-zotigen Teenager-Sexkomödie sein. Ein wildes Ungestüm, das, nachdem einmal in Gang gesetzt, im Autopilot-Modus wütet, nicht zu stoppen ist und ohne Energieverlust auf seinem Weg alles komplett verwüstet. SCREWBALLS ist vor allem auch ein sehr puristischer, in seiner geradlinigen Konsequenz fast radikaler Exploitationfilm, vollkommen auf seine Schauwerte konzentriert, die er als eine Art Nummernrevue aufzieht: natürlich gibt es – leichtes Zugeständnis an das klassische Erzählkino – eine Art Aufhänger als roten Faden. Aber SCREWBALLS ist vor allem an seinen Eskalationen interessiert, ja ist gar ein Kaleidoskop der Eskalationen, von denen jede einzelne minutiös vorbereitet und ausgeführt wird. Aus einer Idee wird eine kleine Zote, aus einer Zote ein größerer Unfug, der größere Unfug verwandelt dann beispielsweise die Turnhalle in ein Orgien-Schlachtfeld – vom Kauf des Extrakts spanischer Fliege im Sex-Shop über das versehentliche Verschütten in den Punsch bei der Schulfeier bis zur Orgie. Die Erwartung der Zuschauer wird immer sehr schön angefächert, angeteast, aufgebaut und schließlich befriedigt – dabei gibt es aber trotzdem immer einen Moment der Überraschung, denn wer hätte ernsthaft erwartet, dass eine Partie Strip-Bowling damit endet, dass eine Bowling-Kugel sich auf dem eregierten Penis eines Spielers festklemmt und diese erst durch Stimulation der weiblichen Mitspielerinnen orgiastisch und Strike-markierend abgestoßen werden kann? Wer?

Ja, SCREWBALLS ist zotig, schmierig, früh-pubertär (ob manche der Slapstick-Geräusche, wie Katzenfauchen zum Silhouetten-Sex, im Original zu hören sind oder das Zusätze der deutschen Synchronfassung sind, weiß ich nicht) und völlig geschmacklos. In Sachen komödiantischen Inszenierungshandwerk sind wir allerdings schon in der Top-Klasse. Der Versuch eines Schülers, bei Purity einzubrechen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut SCREWBALLS ist: ein notgeiler Schüler, zwei Räume, eine Treppe, Purity kurz vor dem Einschlafen, eine sexuell frustrierte Dame, ein paranoid-antikommunistischer Herr mit Flatulenzen und einem geladenen Gewehr – Zutaten für darauffolgende raunende Lachsalven!


Nach dem letzten offiziellen Film des Programms wurde für die Hartgesottenen noch ein "Videoknüpel" kredenzt. Es war ein Film, den ein Mitglied des Hofbauer-Kommandos bei einem noch lebenden Co-Produzenten in 35mm für eine frühere, andere Filmreihe angefragt hatte – der Produzent reagierte sehr unfreundlich bei der Vorstellung, dass "dieser Scheiß" öffentlich gezeigt würde.

Am Ende lief der Film also von DVD auf dem Hofbauer-Kongress unter der Bitte, nicht zu offen mit Nennung von Titel und Namen darüber zu schreiben. Fällt mir nicht schwer: eine romantische Liebeskomödie, die weder romantisch, noch liebevoll und vor allem durch und durch unlustig war.




Freitag, 5. Januar 2024


ab 15:00 Uhr


UN ÉPAIS MANTEAU DE SANG ("Heiße Haut")
Regie: José Bénazéraf
Frankreich 1968
35mm, DF
Zwei Söldner klauen Diamanten in Katanga. Später betreibt einer von ihnen eine Klinik in Südfrankreich und ist der Liebhaber der Ehefrau des anderen, verschollen gegangenen Mannes. Das geht so lange gut, bis die Ehefrau sich einen einfachen Taucher als Liebhaber nimmt und der Ehemann wieder auftaucht.

"Ein paar Leute hängen am Strand in Südfrankreich ab und schauen mal, was so passiert" – so fasste ein Co-Kongressnik Bénazérafs Film zusammen (danke für diesen schönen O-Ton, Marcel!). Tatsächlich hat der "Godard du X" hier erst einmal einen schönen Atmosphärenfilm, ein Stück Kino zum Abhängen geschaffen, in dem nicht viel "passieren" muss, damit es sich toll anfühlt. Sex, Tanzen, Schauen, Sich-schaukeln-lassen auf dem Boot und ein bisschen Ringen – viel mehr braucht es zunächst nicht. Als Projektionsfiguren reichen da Valérie Lagrange mit ihrem blonden Bubikopf und Hans Meyer mit seinem bedrohlichen Narbengesicht völlig aus. Sie hat zwischendurch mit einem örtlichen Taucher Sex am Strand und er macht zum Training einen kleinen Ringkampf mit seinem Bodyguard (der verblüffenderweise wie der junge John Milius aussieht) – beide Tätigkeiten montiert Bénazéraf zusammen in einer gemeinsamen, sehr bizarren Szene. Nach dieser Anstrengung ein bisschen auf dem schaukelnden Fischerboot abhängen, während der Postkarten-Hintergrund in den Meereswellen auf- und abwippt...

War Bénazéraf dazu verpflichtet, einen als Thriller vermarktbaren Film abzuliefern? Der Prolog, die letzten 20 bis 25 Minuten und zwischendurch einige mysteriöse Expositionsdialoge scheinen ein wenig darauf hinzudeuten, dass da irgendetwas war. Leute beim Abhängen zu stören ist ja nie eine gute Idee, und die lange Verfolgungsjagd zwischen Auto und Schnellboot mit anschließender Schießerei in den Küstenfelsen zeigt, dass Bénazéraf wohl kein gutes Händchen und scheinbar sehr wenig Interesse für Thrills und Action hatte. Nein, gutes Nichtstun ist besser als halbgares Hetzen!



ab 17:00 Uhr


EIN HERZ VOLL MUSIK
Regie: Robert A. Stemmle
BRD 1955
35mm, dt. OV
Ein Spitzensportler, der auf allen Alpenpisten als "No 7" für Furore sorgt, muss zwischen den Wettkämpfen bei Hotels als Kellner anheuern, singt aber auch ganz gerne. Eigentlich ist er der Sohn eines reichen Hotelketten-Besitzers, verliebt sich zu dessen Leidwesen aber trotzdem in das Blumenmädchen eines Hotels. Eine reiche Millionärin aus den USA möchte ihren aktuellen Toyboy auch lieber mit "No 7" austauschen. Dessen Anstellung als Sänger im renommierten Orchester Mantovani stehen die Intrigen des Vaters und eines leicht bestechlichen Pianisten entgegen.


EIN HERZ VOLL MUSIK ist vor allem ein Vehikel für den schweizerischen Sänger Vico Torriani, der hier als singender Industriellensohn die Herzen der jungen Blumenmädchen, reiferen Millionärinnen und geneigten Zuschauer erobert. Komödie, Romantik, einige mehr oder minder fetzige Musik- und Tanznummern sowie eine ganze Riege an lieben oder kauzigen Charakteren geben sich die Klinke in die Hand – das ganze ansehnlich inszeniert und gespielt, und heraus kommt ein angenehmer, wohliger Nachmittagsfilm.

Wie das so oft ist bei solchen Filmen sind die zwei zentralen liebenden Protagonisten vielleicht die uninteressantesten – oder sagen wir mal: die glattesten Figuren. Wesentlich spannender war das Double aus Fita Benkhoff als reiche Amerikanerin Ellinor Patton und Boy Gobert als Baron Karl-Heinz von Schlankenhalten und Ellinors Toyboy (und nebenbei: Sekretär und Mädchen für alles): die erste Komödiennummer ist dann auch ein Dinner, bei der sie alles in die Küche zurückschickt, weil es zu kalt, zu warm, nicht gut genug etc. ist, während der Baron nebenbei und heimlich versucht, beim Kellner (unserem lieben "No 7") die Wogen zu glätten.

Der Anti-Held (aber auch heimliche Held) des Films war aber der Pianist, Peer, gespielt von Wolfgang Wahl: als Mitglied des Orchesters Mantovani ist er beauftragt, Vico mit allen Mitteln als Sänger zu akquirieren, von Vicos reichem Vater wird er beauftragt, die Aufnahme des Sohnemanns mit allen Mitteln zu verhindern – ideal, um von beiden Seiten Kommissionen (aka Schmiergeld) zu kassieren und sich lächelnd-genüsslich in die Jackett-Innentasche zu stecken. Dennoch: er ist kein Bösewicht, möchte nur ein bisschen Startkapital für die künftige Ehe mit seinem Blumenmädchen (einer Kollegin der Protagonistin) aufbauen. Das Miteinander und die Zwistigkeiten dieses "Neben-Paars", beide nicht mehr jung und schlank "genug" für erste Rollen, ist gewissermaßen die Herz-Nebenkammer des Films.

Und einen spektakulären, vom Publikum gefeierten und schließlich lautstark mitten im Film applaudierten Kurzauftritt gegen Ende, als Vico endlich seine Revue-Premiere hat, hatte ein besonders beweglicher Tänzer, der sich wie Gummi bewegte und leichtfüßig durch die Theaterkulisse moon-walkte.

Nach EIN HERZ VOLL MUSIK war das Publikum gespalten: einige trällerten "Blauäugelein", andere trällerten "Der neue Frühjahrshut" – ich gehörte zu letzteren. Die Nummer "Der neue Frühjahrshut" zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie tatsächlich ein wenig wie eine US-amerikanische Musical-Nummer als Bewegungskino durchchoreografiert war, mit eleganten Tanzschritten durch Rom (das gleiche Rom wie SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER übrigens, denn eine Panorama-Ansicht mit einem schönen Palmengarten im Vordergrund war klar wiedererkennbar). "Der neue Frühjahrshut ... und was sich drunter tut" wurde von einem Co-Kongressnik gar zum Lieblingsmotto der diesjährigen Kongressausgabe gekürt!



ab 21:15 Uhr


WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN
Regie: Tillmann Scholl
BRD 1985
16mm, dt. OV
Über 10 Jahre lang sammelt Tillmann Scholl dokumentarisches Material in St. Pauli und zeigt Impressionen von einer Jubiläumsfeier des Stadtviertels, portraitiert Stammkunden und Wirte von Eckkneipen, befragt zufällige Passanten, durchreisende Touristen und windige Geschäftsmänner, stellt Fragen über die Gentrifizierung Hamburgs.

Wenn WUNDERLAND DER LIEBE der lachende Geist dieses Kongresses war, dann war WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN dessen schlagendes Herz: eine emotionale, persönliche Liebeserklärung an Hamburg und St. Pauli, ein zärtliches Portrait seiner Bewohnerinnen und Bewohner, ein zorniges Manifest gegen die Marginalisierung des Unbürgerlichen durch das Kapital. Irgendwo zwischen impressionistischem Dokumentarfilm und politischem Essayfilm angesiedelt, hat WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN vor allem durch seine Pièce de Résistance, das Portrait der Eck- und Absturzkneipe "Am Schauermann", den Weg in die Herzen der meisten Kongressniki gefunden. Im Dunkeln der Nacht, bei schummeriger Beleuchtung versammelten sich hier die Glücklosen, die Kaputten, die Randgestalten, die Gescheiterten, die Kranken, die Sterbenden, die Lachenden und die Weinenden und die Ganoven bei Bier und Schnaps. Die ersten Reaktionen der Kneipenbesucher auf die Kamera, die sie filmt, ist sichtlich eher feindlich – der Blick der Kamera bleibt dennoch voller Zärtlichkeit, und obwohl hier das gleiche "Material" zu sehen ist, das etwa in einem Mondo-Film der Häme oder in einem "wohlmeinenden" Dokumentarfilm dem selbstgefälligen Mitleid freigegeben würde, ist hier davon nichts zu spüren. Nach der anfänglichen Feindlichkeit kommen die Performances: einige Gäste scheinen vor der Kamera zu "spielen", sich selbst oder wie sie sich vorstellen, dass ein Publikum sie sehen möchte – ein betrunkener Sturz vom Barhocker wird effektvoll demonstriert. WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN stellt hier auch grundsätzliche Fragen über das Wesen des Dokumentarischen: es mag keine Sicherheit über die "Wahrheit" des Gefilmten geben – doch die Zärtlichkeit des Kamerablicks, sie bleibt immer.

Auch wenn der Fokus auf den "Schauermann" (der etwa einen Drittel der Filmlaufzeit ausmachen dürfte) verschwindet: der eloquente, charismatische Kneipenwirt Jürgen bleibt als "roter Faden", als Leitfigur des Films den Zuschauern weiter erhalten – als Marker für die (scheinbaren?) Erfolge und die eklatanten Misserfolge der Gentrifizierung Hamburgs. Über seine Tage als Kneipenwirt, der auch mal mit Fäusten zwischen randalierende Gäste eingreifen muss, sinniert er auf einer von Müll und Bauschutt bedeckten Baustelle – der Ort, an dem sein früherer Arbeitsplatz stand, an dem jetzt finanzkräftigere Unternehmungen ihren Platz einnehmen. Immer wieder wird der O-Ton einer älteren Touristin, die davon erzählt, das "was Neues" gebaut wird, über die Bilder als elektronisch verfremdetes Echo gesampelt. Dass am Ende nicht nur Gebäude, sondern auch Menschen weichen müssen, wird immer wieder deutlich. Zunächst auf sehr lustige, humorvolle Weise: Gentrifizierung ist eben auch, wenn der Straßenstrich sich verschiebt, der geneigte Freier die Prostituierten nicht direkt vor noch existierenden Eckkneipen stehen hat, sondern (O-Ton) "ganze 10 Minuten" laufen muss. Am Ende gibt es aber für die Zuschauer trotzdem eine stahlharte Faust in die Fresse und einen harten Tritt in den Bauch: So abgrundtief traurig und niederschmetternd endete bei dieser Kongress-Edition kein anderer Film.


Als weitere Lektüre empfehle ich auch André Malbergs Text über den Film auf Eskalierende Träume

Als ich einem hamburgophilen Freund, der Ende 2023 auch nach Hamburg gezogen ist, von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN schwärmte, schrieb er mir, dass der Film durchaus eine Hamburger Lokal-Berühmtheit sei.


ab 23:45 Uhr


HAKUJITSUMU ("Träume im Zwielicht")
Regie: Takechi Tetsuji
Japan 1964
35mm, DF
Ein Mann und eine Frau werden beim Zahnarzt behandelt. Unter dem Schleier der Narkosen verfallen sie in wüste, gewalttätige, erotische Träume.


Unter den sinnlichen Erfahrungen, die man als Mensch so macht, gehören Zahnarztbesuche zu den wahrscheinlich abscheulichsten: ich glaube, ich bin nicht der einzige Mensch, dem flau im Magen wird beim Gedanken an eine zahnärztliche Behandlung. Umso interessanter, wie "Träume im Zwielicht" zu Beginn fetischistische Erotik, quasi-pornografische Symbolik und zahnärztliches Unbehagen zusammenbringt: extreme Nahaufnahmen auf Münder, deren Lippen gestreichelt werden, in denen aber auch Spiegel und Bohrer reingesteckt werden, aus denen Unmengen an Speichel schaumig wie Sperma heraustropft, unterlegt von einer Kakophonie nervzerfetzender Zahnarztbohrergeräusche.

Ist das noch Exploitation oder ist das ein Experimentalfilm? Eine Frage, die so einige Exploitationfilme aus Japan bei mir auslösen. HAKUJITSUMU gilt als früher Vertreter des japanischen Pink-Film, als Meilenstein in der Darstellung von Nacktheit und Sex im japanischen Kino. Ein einfacher, gefälliger Film ist er keineswegs, und als kontemplativer, stark entschleunigter Avantgarde-Horrorfilm (der er auch ist) war er als Spätfilm keineswegs leichte Kost. Vom Prolog in der Zahnarztpraxis arbeitet sich der Film Stück für Stück durch verschiedene Set-Pieces, durch Fragmente eines großen Alptraums: ein Film-Noir-Nachtclub mit Gesang, eine lange Folter-Session beobachtet durch die Fenster-Fassade eines Hochhaus-Apartments, eine Konfrontation zwischen dem Protagonisten und der Frau (die sich zwischendurch in einen Affen verwandelt!) auf einem futuristischen Spielplatz, eine quälende Verfolgungsjagd durch ein Kaufhaus inklusive einem Spießrutenlauf auf einer Rolltreppe, eine belebte Straße mit einem brutalen Mord der komplett von den Passanten ignoriert wird.

HAKUJITSUMU lässt seine beiden Protagonisten durch einen qualvollen Alptraum taumeln (wobei aber mehrheitlich die Frau die Leidtragende der Folterungen und Quälereien ist). Zu Beginn scheint festzustehen, dass wir SEINEN Alptraum sehen, in denen seine Geilheit für die Co-Patientin Stück für Stück von zunehmend extremen Fantasien aufgelöst wird. Die bereits erwähnte lange Folterung in der Hochhaus-Wohnung, bei der die Frau vom Zahnarzt in bürgerlicher Zivilkleidung gefoltert wird (er schlägt sie, peitscht sie aus, verabreicht ihr Elektroschocks) beobachten wir als Zuschauer durch das Terrassenfenster – der Protagonist selbst steht auch als machtloser Beobachter auf dem Balkon, und wir sehen ihn auch beim Beobachten zu, während er teilweise von einer mysteriösen Alptraum-Kraft, teilweise vom Zahnarzt mit einer Pistole davon abgehalten wird, einzugreifen. Gerade diese Szene demonstriert die formale Radikalität und die gnadenlose Grimmigkeit von HAKUJITSUMU, die für einen Film von 1964 (und nicht aus den späten 1970er Jahren) verblüffend ist, den Atem stocken lässt – und auf gewisse Weise die Vierte Wand durchbricht: dieser Film-als-Alptraum quält nicht nur seine Figuren, sondern die Zuschauer auch mit, verhindert, dass sie sich gemütlich berieseln lassen, lässt sie Teil werden. Angenehm ist das nicht, aber sehr konsequent.

Die Verschiebung der Grenzen zwischen den Figuren und den Zuschauern schreitet im Lauf des Films immer mehr voran: es beginnt als SEIN Alptraum, aber der männliche Protagonist macht sich im dritten Viertel des Films rar, und langsam kommen wir in einen Zustand, in dem offensichtlich IHR Alptraum durchlebt wird. Bei ihrem endlosen langen Marsch entgegen der Fahrtrichtung einer Rolltreppe, ihrem erfolglosen, strapaziösen Versuch, nach unten zu kommen, war der männliche Co-Patient komplett aus den Augen und aus den Sinnen.

Takechi Tetsuji war ein Außenseiter in der japanischen Filmindustrie, da er von seinem Hintergrund ein Mann des Theaters war: ein experimenteller Erneuerer, der in den 1950er Jahren umgedeutete traditionelle japanische Theater-Formen, avantgardistische Experimente sowie Burlesque und Striptease zusammenbrachte, Schoenbergs "Pierrot lunaire" in japanische Ausdrucksformen adaptierte und erotisch gewagte Theaterstücke im Fernsehen präsentierte. HAKUJITSUMU war sein zweiter Film, war in Japan kommerziell erfolgreich, löste aber auch Kontroversen aus: der Film passierte erst nach dem "Fogging" einer Szene die Zensur und wurde sowohl von der japanischen Regierung (für seinen sexuellen Inhalt) wie auch von der Interessensvertretung der japanischen Zahnärzte angegriffen. Takechi Tetsuji selbst verfilmte den gleichen Stoff 1981 noch einmal in einer Farbfilm- und Hardcore-Variante (und inszenierte damit den ersten in Kinos gezeigten japanischen Hardcore-Porno).


Gegen Ende des Films bekommt der männliche Patient, dem ein Zahn gezogen wird, übrigens einen Cognac serviert. Bei meinem nächsten Zahnarzt-Besuch fände ich das auch ganz nett – also... nicht einen Zahn gezogen zu bekommen, sondern den Cognac!


so gegen 2:15 Uhr


KOKAIN – DAS TAGEBUCH DER INGA L.
Regie: Günter Schlesinger
BRD 1986
VHS, dt. OV
Der Dealer Bobo ist der neue, ganz heiße Typ in der Hamburger Unterwelt. Um beim großen Drogenhai Stone Eindruck zu schinden, zieht er brisante Deals ab und hinterlegt seine Freundin Inga als "Pfand" in einem von Stones Bordellen. Doch die macht sich aus dem Staub und rettet dabei noch eine minderjährige Kollegin.

Ein idealer Film für den Videoknüppel-Slot: trance-artig und vollkommen hinüber. No-Budget-Schlock, der so dermaßen versumpft statisch ist, dass es irgendwie auch eine eigene Faszination entwickelt. Stones raumeinnehmender Pornobalken und Bobos eklatant weiße Haifischzähne, die sichtbar werden, wenn er anfängt, grundlos psychopathisch vor sich hinzukichern (und das macht er sehr oft!) sind die eigentlichen Helden des Films. Die Handlung spielt sich zu etwa einem Drittel darin ab, dass Figuren sie sich gegenseitig mit sehr vielen, langen Pausen zwischen den Repliken erzählen. Stellenweise fühlt sich das eher nach einer sperrigen Avantgarde-Kunstperformance als nach einem Hamburg-Gangster-Thriller an, der KOKAIN "eigentlich" ist. Das völlig konzeptlos einmontierte Fremdmaterial, stets sichtbar, weil sich das Bildformat so deutlich ändert, ist wohl so etwas wie das Herz des Films: in einer Laufzeit von bestimmt etwa einem Viertel des Films gab es nicht nur eine komplette Nebenhandlung mit zwei anderen Prostituierten, die in einer "normalen" Umgebung unterwegs waren (und nicht in den absolut desolaten, tristen Abrissbuden, in denen KOKAIN sonst angesiedelt ist), nicht nur die immer gleiche Ansicht einer hübschen Villa, aus der ein für die Handlung völlig irrelevanter, elegant in Weiß gekleideter Gentleman immer wieder ins Freie tritt, sondern auch "zauberhafte" Ansichten vom Hamburger Hafen, seinen pittoresken Baustellen und Müllhalden (die Ansicht eines Bauschutt-Panoramas ließ mich ab dem zweiten Mal in meinem übermüdet-benebelten Zustand unkontrolliert kichern – und kam bestimmt sechs, sieben, acht Mal!). Ja, der Bauschutt ließ KOKAIN wie eine Art Kommentar zu WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN lesen. Und dann gab es natürlich noch der Moment, in dem sich Inga und Kollegin in einem Schiff verstecken und dafür durch endlose Schiffskorridore laufen, und laufen, und weiter laufen, und noch mal weiter laufen, und noch mal ein Weilchen weiterlaufen (bis sie schließlich ein sicheres Versteck gefunden haben) – wie ein Nachklang zur langen Rolltreppen-Szene in "Träume im Zwielicht".



Samstag, 6. Januar 2024



ab 14:45 Uhr


WANTED: BILLY THE KID
Regie: Jack Deveau
USA 1976
16mm, OV
Billy hat seinen Durchbruch als Schauspieler in New York noch nicht richtig vollbracht. In der Zwischenzeit verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Prostituierter für zahlungskräftige Herren und Paare.

WANTED: BILLY THE KID lief im September 2020 im Rahmen der kleinen Retrospektive des Filmkollektiv Frankfurt zu Filmen aus Jack Deveaus Produktionsfirma Hand in Hand in der "Pupille": warum auch immer, aber dort plätscherte der Film etwas gleichgültig an mir vorbei. Die Wiedersichtung in Nürnberg war nun eine kleine Offenbarung: ein sehr intimer, zärtlicher, ab und an auch sehr witziger Film. Die ersten zwei Sex-Nummern wirkten nun außerordentlich intim und erotisch. Zunächst Billy mit einem Freier bei sich zuhause: sehr schön, wie das Gefühl der Intimität beim After-Sex-Smalltalk behalten wurde, wenn sich der Kunde langsam beim Gespräch wieder anzog (und sich als gutbetuchter Anzugsträger offenbarte). Später die "Hausmeister-Sex"-Nummer im tiefen, dunklen, staubigen und vollgerümpelten Keller eines Brownstones: auch hier verzichtet Deveau komplett auf den Einsatz der Musik, und die Erotik im Sex zwischen Billy und dem Hausmeister (bzw. wie später klar wird: ein für ein Rollenspiel als Hausmeister gekleideter, reicher Anzugsträger) steigerte sich nur durch die zunehmend lauter werdenden Stöhngeräusche und vor allem das Knarzen von Billys Lederjacke.

Deveau interessierte sich immer wieder für Klassenunterschiede, in keinem Film wohl so explizit wie in WANTED: BILLY THE KID, in dem der mittellose Schauspielstudent Billy von einer Vielzahl reicher Freier bezahlt wird, die vielleicht gerade auch das Überschreiten der Klasse interessiert, oder das Tauschen der Identität: so ist Billy bei der "Hausmeister-Sex"-Nummer zunächst der anspruchsvolle Mieter, der seinen tropfenden Wasserhahn repariert haben möchte – und sein Freier der Hausmeister. Gängige Grenzen, Eindeutigkeiten werden hier wie so oft in Schwulenpornos der Zeit wieder mit einer bisexuellen Sexszene, einem Dreier mit Billy und einem Ehepaar überschritten – hier zur Abwechslung mit dem ironisch-witzigen Song "Sheltered Life" von Lou Reed unterlegt (in der Version aus dem Solo-Album "Rock & Roll Heart" – der Song geht aber zurück zu den Anfängen von Velvet Underground, ich persönlich bevorzuge die Demo-Version mit John Cale an der Viola und zwei Kazoo-Soli von Lou Reed).

Noch mehr Grenzen werden in der Zahnarztpraxis-Szene überschritten – die wunderbarerweise gleich einen inhaltlichen Anschluss an den letzten Film des offiziellen Kongressprogramms bildete: der Freier ist hier der Zahnarzt, aber wir sehen das Ganze aus Billys möglicherweise narkotisierten Perspektive – und in dieser Vision hat Billy Sex mit sich selbst. Eine surreale, beunruhigende, mit extremen, verzerrten Weitwinkelbildern und dissonanten elektronischen Klängen leicht in Horrorgefilde weisende Szene.

Wen das zu sehr beunruhigt: Yoga soll wohl ganz gut sein zum Runterkommen. Deshalb gibt es immer wieder Fragmente aus einem Yoga-Kurs, den Billy besucht: ein Wintergarten voller grünender Pflanzen, dazwischen ein Dutzend Männer in knappen weißen Slips, die entschleunigte Bewegungsübungen machen. Diese Fragmente werden in die "normale" Handlung, manchmal aber auch in Sexszenen eingestreut – Sex und Sport zusammen montiert, auch ein wiederkehrendes Motiv dieses Hofbauer-Kongresses!



ab 16:30 Uhr


AAN
Regie: Mehboob Khan
Indien 1952
35mm, OV mit englischen Untertiteln, internationale Exportfassung (ca. 135 statt 161 Minuten)
Der Bauer Jai bezwingt bei einem Wettbewerb die unzähmbare Stute der Prinzessin Rajshree, die aufgrund ihres hohen Adelsbewusstseins davon gar nicht begeistert ist. Während Jai versucht, das Herz Rajshrees zu erobert, spinnt ihr Bruder Putsch-Intrigen, um seinen Vater, einen reformerischen Fürsten, zu beseitigen.

Die Bollywood-Premiere des Hofbauer-Kongresses versprach interessant zu werden – aber so einen unfassbaren Knaller? Die Kopie wurde durch das britische Archiv fast nicht verliehen, weil es sie als "praktisch unspielbar" klassifizierte: zu sehen war eine absolut prachtvolle Technicolor-Kopie mit nur gelegentlichen Andeutungen von leichten, sehr oberflächlichen Laufstreifen. Man muss sagen: Rotstichige Kopien gab es bei diesem Kongress doch sehr viele zu sehen, und AAN war hier farblich eine absolute Wohltat für die Augen. Eine Explosion der Farben mit knallgelben blühenden Blumen auf saftig grünen Wiesen unter einem strahlend blauen Himmel. Barocke Dekors in allen möglichen Schattierungen von Farben, von zartem Pastell bis zu psychedelisch leuchtenden Tönen. In einem Film, der Abenteuerfilm, Action, Musical, Komödie, Melodrama, wüsten Klamauk, psychosexuelle Abgründe und eine Schmierigkeit, wie sie in dieser Form nur selten auf diesem Kongress sonst zu sehen war, freudig ineinander krachen ließ. Nicht nur, aber auch durch die Schnitte in der Exportfassung bedingt schlug AAN erzählerisch mit zunehmender Laufzeit immer größere Kapriolen – auf Kosten der Kohärenz zwar, aber dafür mit einem umso größeren Gewinn in Sachen Tempo, Geschwindigkeit und einem allgemeinen Gefühl des cineastischen Wahnsinns. Die oben aufgeschriebene, kurze Synopsis ist nur eine sehr ungefähre Annäherung an das, was AAN so alles entfesselt.

Fliegt das alles bei 135 Minuten nicht um die Ohren? Nein, denn die Cine-Göttin Nadira kam in ihren Hosen und manchmal einer Reitgerte in der Hand, um das alles zusammenzuhalten und wenn nötig mit bösen Blicken und harten Schlägen wieder auf seinen Platz zu bringen! Nadira, die ich ganz spontan die "indische Joan Crawford" gennant habe, besonders in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen der Prinzessin und Vienna aus JOHNNY GUITAR: wie Rajshree in eleganten Reiterhosen und hohen schwarzen Lederstiefeln gekleidet und mit drohendem Blick eine lange Treppe hinuntersteigt, nimmt um zwei Jahre Viennas ähnlichen Gang in JOHNNY GUITAR vorweg. Nadira – Rajshree, Hosenträgerin, Göttin des arroganten Blicks, des expressiv-entfesselten Zorns im Antlitz, des unendlich gekränkten Gesichtsausdrucks, Herrin über ungeheure Gefühle – nicht nur Jais, das ist noch konventionell. Nein, Rajshree scheint mit ihrer Hausdame zu Beginn eine sadomasochistische Beziehung zu unterhalten, denn sie ohrfeigt sie immer wieder genüsslich – und die Hausdame reagiert darauf immer mit einem lustvollen Blick, reibt sich wohlig die Wange, als wäre sie eben zärtlich gestreichelt worden, guckt dabei mit sanft-verliebten Augen. War das indische Zensursystem nur wenige Jahre nach der Staatsgründung wohl noch nicht so effizient? Oder ein Moment, in dem sich Rajshree den Annäherungsversuchen ihres Verehrers Jai in ihrem Schlafzimmer widersetzt, und die Kamera schwenkt auf die Statue eines Elefanten, dem ein rasender Tiger die Klauen in den langen phallischen Rüssel hineinkrallt – ich bin nur zu 95% sicher, dass ich das wirklich gesehen habe, so unfassbar ist das! Aber AAN strotzte vor solchen Momenten...

Komplett ins Delirium schlägt dann der Film in einer langen Fantasie- bzw. Traumsequenz, die ein wenig an den Traum in SINGIN' IN THE RAIN bzw. an die fantastische Ballettaufführung in THE RED SHOES erinnerte. Eine Allegorie auf die Demokratisierung von Rajshrees Haltung (nachdem sie, von Jai entführt, in einer Art perversen Proto-VERTIGO-Prozedur zur Doppelgängerin einer verstorbenen Bäuerin degradiert wird, damit sie den "peasant way of life" kennenlernt), die sich ganz in barocken Traumdekors und psychedelischen Farben auflöst.


Den Hunger passenderweise im indischen Restaurant in unmittelbarer Kinonähe gestillt. 



ab 21:15 Uhr

Bruno-Sukrow-Programm


DER WAHRE FROSCHÖNIG
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2000er
digital, dt. OV
Die wahre, ungeschönte Geschichte des Froschkönigs...

...mit Flatulenzen, Schimpfwörtern und dem wahren Twist. Noch als "konventionelle" Animation und daher nur durch die unverkennbare Synchronstimme als Film Bruno Sukrows erkennbar. Im Hauptfilm des Abends kam dann der "typische" Sukrow-Stil zu voller Blüte.



IM NAMEN DES KÖNIGS
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2015
digital, dt. OV
Sachsen im Mittelalter: der Sohn des Königs ist ein echter Frauenheld, doch sein Vater lässt die nicht-standesgemäßen Liebschaften gerne ermorden. Bei Kunigunde verpatzt der Knappe des Königs absichtlich den Mordanschlag und verhilft ihr zur Flucht in eine Bärenhöhle. Währenddessen sucht der König eifrig nach einer standesgemäßen Partie für einen Sohn.

Ein alter Mann über 80 Jahre erfindet an seinem Wohnzimmerrechner als One-Man-Show das Kino neu: ich habe beim letzten Hofbauer-Kongress einen ersten Einstieg in die wunderbar poetischen, fantastischen Filmwelten Bruno Sukrows erhalten, nun habe ich mich weiter in sie verliebt (zusammen mit vielen anderen Co-Kongressniki). Sukrow ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, ein liebevoller Erschaffer unvergesslicher Figuren, sondern erfindet wirklich in jedem Film ein eigenes kleines Cine-Universum. Trotzdem es rein digital entstandene Filme sind, spürt man in jedem Frame das liebevoll Handgemachte: Imperfektionen bei den Bewegungen der Figuren, beim Freistellen von Formen, leichtes Pixelrauschen an den Rändern, Überlagerungseffekte – alle machen die Filme zu Wunderwerken eines sehr persönlichen Kinos, die UI-Bugs werden zum Gehilfen des Film-Auteurs.

Trotz des oberflächlich "rohen" Looks sind Sukrows Filme voll mit witzigen, mehr oder minder sichtbaren kleinen Details, die oft neben der "eigentlichen" Haupthandlung laufen: dazu gehören die unzähligen Tier-Figuren, die Sukrow sichtlich liebt und aufwändig in seine Filme integriert. Watschelnde Enten, huschende Mäuse, faulenzende Cocker-Spaniels. Tierischer Star von IM NAMEN DES KÖNIGS war der vegetarische (und daher harmlose) Bär Beppo, in dessen Höhle der mitfühlende Knappe die flüchtende Kunigunde versteckt: sein verdutzt fragender Blick, wenn er den Kopf zwischen dem Knappen und Kunigunde während ihres Gesprächs langsam hin- und herbewegte – unbezahlbar! Auch merkwürdige (und im Rahmen dieser Geschichte nicht in die Zeit passende) Gegenstände streut Sukrow immer wieder ein: ein Windrad am Horizont, ein filigranes Damenfahrrad im Burginnenhof, eine Flasche Duschgel neben dem Waschzuber. Und natürlich immer wieder Bierflaschen und Bierkästen der Marke Grolsch an passenden Stellen (in der rustikalen Schänke etwa) oder an den absolut unmöglichsten Orten – als die Handlung uns in den Thronsaal des Königs von Burgund führte, musste ich laut auflachen: ein Kasten Grolsch hatte sich neben dem Thron des Königs reingeschmuggelt.

Bei aller Erzähllust sind Sukrows Filme auch Oasen der Entschleunigung. Pferdekutschen bewegen sich langsam durch reale Standbilder von Straßen, Reiter durchschreiten im gemäßigten Tempo die ganze Breite der Leinwand, Figuren schreiten in Sukrow-typischen, elastischen Moonwalk-Schritten langsam zu ihrem Ziel.


Ein entspanntes Programm, bevor es dann mit rasenden und hosenlosen Verfolgungsjagden weiterging.


ab 23:30 Uhr


OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG
Regie: Hubert Frank
BRD 1975
35mm, dt. OV
Der deutschstämmige Texaner Joe Schmidinger ("Schmid'intscher" auszusprechen!) kommt nach dem Tod eines entfernten Verwandten nach Deutschland, um dort seine Erbschaft, ein Hotel, zu übernehmen. In München wird ihm erst mal der Koffer geklaut. In Heidelberg stellt sich heraus, dass das Hotel eigentlich ein Bordell ist – und trotz seiner Prüderie schafft es Schmidinger immer wieder, seine Hose zu verlieren!

OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG aka MEI HOS' IST IN HEIDELBERG GEBLIEBEN aka JAGDREVIER DER SCHARFEN GEMSEN: die Editionsgeschichte dieses Films ist wohl ebenso kompliziert und bewegt wie die Geschichte des Joe Schmidinger selbst, mit mehreren Titeln und Laufzeiten. Das widerspiegelte sich auch in der gezeigten Kopie, die offensichtlich aus mehreren Quellen unterschiedlichen Materials zusammengestellt war (aufgrund von mechanischen Schäden zu Beginn des ersten Akts war kein Titel mehr zu sehen). Farbechte Agfa-Akte mit hoher Bildschärfe und rotstichige (bzw. genauer gesagt: orange-stichige) Eastmancolor-Akte mit eher mittlerer Bildschärfe waren durcheinander geworfen. Filmarchäologisch interessant, ohne, dass es dem Vergnügen des Films irgendeinen Abbruch tat. Denn OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG (ein Originalplakat war im Foyer des KommKino zusammen mit anderen Plakaten von Filmen dieser Kongress-Edition ausgestellt worden, deshalb nutze ich diesen Titel) war tatsächlich ein Sexklamauk-Kracher, ein Gag-Feuerwerk, ein mit dreifacher Geschwindigkeit laufendes Zoten-Fließband erster Güte, ein entfernter Verwandter von SCREWBALLS aus dem gleichen Zeit-Slot zwei Tage zuvor.

Während SCREWBALLS in Bezug auf die Charaktere doch sehr abstrakt blieb, war Josef Moosholzer als Mister Schmid'intscher das charismatische Herz und die menschliche Seele des Films – und eine Slapstick-Ikone vor dem Herren. Indem er seine Hose verliert, gewinnt er die Zuneigung des Publikums. Wenn er allerdings auf das Heck eines anfahrenden Cabrios springt und sich hartnäckig an der Kante der Hintersitze festhält, während das Auto durch die Straßen Münchens rast, wähnt man sich fast in einem italienischen Polizeifilm der gleichen Ära: war es ein hosenloses Double? Oder hat Moosholzer höchstpersönlich nach dem Rezept des Slapstick-Gottes Buster Keaton höchstselbst diesen Stunt ausgeführt? Wer weiß... Weniger gefährlich für Moosholzers Leib, aber durchaus ein Stresstest für die Lachmuskeln des geneigten Zuschauers ist seine "missglückte" Begehung seines geerbten "Hotels": durchaus ganz unmetaphorisch stolpert Joe durch verschiedene besetzte Zimmer, kann kurz das Treiben der angestellten Damen mit den Freiern beobachten, bevor er panisch hinausstolpert oder hochkant rausgeworfen wird: in ihrer rasendem Eskalation war diese Szene zweifelsohne der Höhepunkt des Films.

Später gibt es auch Helikopterflüge, Fallschirmsprünge und Verfolgungsjagden auf Fahrrädern – und im letzten Drittel auch ab und an ein paar spürbare Längen. Was soll's – eine erfrischende, hosenlose Frechheit von einem Film!


so gegen 2:15 Uhr


VIRIGNIA
Regie: François About
Frankreich 1990
VHS, dF
Die Deutsche Virginia, die von einer Schauspielkarriere in Paris träumt, muss sich zunächst mit etwas weniger glamourösen Jobs begnügen. Eine Stelle als Vorleserin für einen reichen, blinden Mann klingt zunächst einfach, aber dessen Gelüste jenseits der Lektüre werden zunehmend fordernd.

Es ist das Frühjahr 1990, es gibt noch zwei deutsche Staaten, aber keine Mauer mehr: die Titelfigur (und mit ihr die Filmcrew) nimmt das zum Anlass zu einem kleinen Spaziergang durch Ostberlin (inkl. Besuch der Mauerruinen), und so fängt VIRGINIA zunächst als Berliner Promenier-Film an, bevor das Schlendern dann in Paris weitergeht, durch die alten, ehrwürdigen, ein bisschen auch angestaubten Viertel der Stadt, dann aber auch durch die Neubauten, die gentrifizierten Viertel. Dieser Prolog hat mit der "Haupthandlung" wenig zu tun, aber gibt Tempo und Atmosphäre vor: schlendernd, langsam, kontemplativ, zu den Seiten blickend. Ein Atmosphärenfilm, der sich – für ein noch waches Publikum – als ideales Spätnachtprogramm erwies. Nachdem erst mal ziellos durch europäische Hauptstädte geschlendert wird, konzentriert sich die Stimmung im Hauptteil, in der ländlichen Villa des reichen Blinden, auf ein elegisches, erotisches, melancholisches, leicht gotisch angehauchtes Unbehagen. Dass das Dienstmädchen Virginia erst einmal K.O.-Tropfen mit dem Kräutertee verabreicht und die vernebelte junge Frau anschließend im stroboskobischen Blitzlicht eines Gewitters verführt, ist natürlich erst mal ein Knüppel (ein visuell spektakulärer, sehr markanter Moment, der in einem ansonsten größtenteils in elegische, sanft ausbeleuchtete Tableaus inszenierten Film hervorsticht). So schleicht sich für den Rest des Films ein leises Unbehagen ein, die unbewusste Ahnung, dass da irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wahrscheinlich spüren das auch die zahlreichen Tiere auf dem Anwesen. Sex-Filme mit Animal-Reaction-Shots sind natürlich grundsätzlich großartig: hier gibt es zunächst einmal Pferde – unter anderem ein Hengst namens Igor – die das Treiben der Ehefrau des Blinden mit ihrem heimlichen oder nicht so heimlichen Liebhaber beobachten ("Ich gehe Igor reiten", teilt sie morgens ihrem Mann mit). Später ist es eine Gans, die ganz verdutzt durch das Fenster schaut ob des Treibens des Blinden mit seiner Lektorin.

Der dramatische Höhepunkt wird schließlich noch von einem Twist getoppt, bei dem Brian De Palma wohl glatt seine Hose verloren hätte! Ein erschütternder, lange nachhallender Abschluss für einen größtenteils unaufgeregten, kontemplativen und sehr schön inszenierten Film: eine von wenigen (Softcore-)Regiearbeiten des Kameramanns François About, einem der großen Handwerker der französischen Pornoindustrie (hetero und schwul) – er fotografierte mehrere Filme Jacques Scandelaris, unter anderem NEW YORK CITY INFERNO und den erzählerisch wesentlich experimentelleren und abstrakteren, aber atmosphärisch durchaus mit VIRGINIA verwandten ÉQUATION À UN INCONNU.



Sonntag, 7. Januar 2024


ab 14:45 Uhr


I MIRACOLI ACCADONO ANCORA ("Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle")
Regie: Giuseppe Maria Scotese
Italien 1974
35mm, DF
Nach einer wahren Geschichte: die junge Juliane Koepcke überlebt den Absturz eines Flugzeugs über den Amazonas und irrt danach tagelang durch den Urwald auf der Suche nach Rettung.

"Familienfreundliche Exploitation" – diese Begriffs-Kombination geisterte mir während und auch nach dem Film etwas im Kopf rum. Vielleicht bin ich von nicht ganz so familienfreundlichen, italienischen Exploitationfilmen, die im südamerikanischen Urwald spielen, etwas zu sehr "verdorben", aber "Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle" war ganz und gar nicht meins. Nach meinem Gefühl kam die endlose Exposition mit der abfliegenden Maschine und den am Boden verbliebenen Familienmitgliedern und Flughafenmitarbeitern einfach nicht aus den Puschen: übertrieben umständlich wurde erzählt, teilweise auf komplizierte Weise Figuren eingeführt, die dann später einfach nicht mehr aufgetaucht sind (umso verwunderlicher, dass der Film am Ende auf eine Wiedersehensszene mit dem Vater einfach verzichtet). Hinzu kam, dass die Darstellerin der Juliane Koepcke zwar in einem kurzen, durch das beständige Regnen am Körper eng klebenden Minikleid durch den Urwald läuft, von Susan Penhaligon allerdings auch recht persönlichkeitsfrei gespielt wird. Da helfen auch Nahaufnahmen auf Maden, die aus Hautwunden herausgekratzt werden, nicht.

Dennoch ein sehr schöner Moment: der erste Nachtanbruch in Julianes Abenteuer. Das Licht wird gedimmter, die Geräusche im Urwald werden lauter und bedrohlicher, die Schnittfrequenz nimmt zu und überschlägt sich schließlich in Bildern von Extremnahaufnahmen auf Julianes Augen und die Augen diverser Urwaldtiere.


ab 17:00 Uhr


OTTO UND DIE NACKTE WELLE
Regie: Günther Siegmund
BRD 1968
35mm, dt. OV
Der Schauspieler Otto geht gerne in der Lüneburger Heide wandern. Was er nicht so gerne hat, ist diese "nackte Welle" mit dem ganzen Sex. Als er erfährt, dass ein konkurrierender Schauspieler nebenbei "Nackedeifilme" dreht und seiner Tochter auch noch Avancen macht, gerät Otto vollends in Panik – aber... vielleicht bietet die "nackte Welle" trotzdem auch wirtschaftliche Chancen?

"Was für eine Stahlbombe!" sagte mir ein Co-Kongressnik lachend, als wir uns während des Films auf dem Weg in Richtung Toilette kreuzten. Recht hat er!

OTTO UND DIE NACKTE WELLE war "der Sexfilm des Ohnsorg-Theaters", gespielt von Schauspielern des berühmten Hamburger Theaters und inszeniert vom späteren, langjährigen Intendanten Günther Siegmund. Diese Kuriosität ist dann auch das einzige interessante an dieser "Stahlbombe". Ja, der Spruch "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Doppelkorn" war ganz witzig, ansonsten war der Film schon von einer sehr porentiefen Unwitzigkeit, gespickt mit eher peinlichen schulterklopfenden Momenten der Selbstreferentialität, wenn Otto Lüthje verkrampft-kumpelhaft in die Kamera hineinzwinkert und inszenatorisch von einer nägelrollenden Tristesse. Etwa eine Viertelstunde (?) des Films besteht aus Inserts aus frühen Sexploitationfilmen des Briten George Harrison Marks: ganz offensichtlich auch keine grandios inszenierten Filme, aber im direkten Vergleich mit den trist-grauen, statisch gefilmten Intérieurs wirkten sie geradezu perlend-spritzig, aufregend, ja fast genial. Kein großes Kompliment für einen Film, wenn die Inserts besser sind als der "Hauptteil".


ab 21:15 Uhr


ANNA UND ELISABETH
Regie: Frank Wisbar
Deutschland 1933
35mm, dt. OV mit englischen Untertiteln
Ein Dorf in Deutschland zu einer unbestimmten Zeit: die reiche Elisabeth ist an einen Rollstuhl gefesselt und eine ärztliche Untersuchung bestätigt, dass sie nie wieder wird gehen können. Derweilen ist der kleine Bruder von Anna, einer Bauerstochter, gestorben. Nachdem Anna intensiv für dessen Seelenheil gebetet hat, erwacht er wieder zum Leben. Fortan hat Anna den Ruf einer Wunderheilerin und weckt besonders Elisabeths Interesse.


Auch viele Tage später bleibt es dabei: ANNA UND ELISABETH war der bei weitestem bizarrste, eigenartigste Film, den ich bei diesem Hofbauer-Kongress gesehen habe. Auf der oberflächlichen Erzählebene scheint ANNA UND ELISABETH banal zu sein, etwas trocken. Aber "Der neue Frühjahrshut... und was sich drunter tut" – ja, was sich hier so drunter tut, was zwischen den Zeilen schlummert, was in der Luft liegt: ein Film der Unterschwelligkeiten.

Natürlich zunächst die angedeuteten lesbischen Vibes zwischen den beiden Titelfiguren: die beiden Hauptdarstellerinnen Hertha Thiele und Dorothea Wieck hatten bereits in MÄDCHEN IN UNIFORM von 1931, einem Pionierwerk in der Darstellung lesbischen Begehrens im Kino, zusammen gearbeitet. In ANNA UND ELISABETH interessiert sich die gelähmte Elisabeth vor allem für die angeblichen Wunderheilkräfte Annas, die sie von ihrer Lähmung – ihrer sexuellen Blockade? – befreien wird. In den lustverzehrten Blicken, die Elisabeth auf Anna wirft, im zerschmelzenden Ton, mit dem sie Annas Namen ausspricht, liegt aber mehr als nur Interesse an medizinischen Heilkräften. Als der Tag sich nähert, an dem Anna auf Drängen Elisabeths ihre Wunderheilkräfte öffentlich demonstrieren soll, werden beide Frauen im wohl explizitesten Bild des Films vereinigt: Elisabeths Kopf schräg unter Annas Kopf, beide sich tief in die Augen schauend, sagt Elisabeth "Morgen" – nach einem Schnitt ist Elisabeth über Anna gebeugt und haucht "Heute".

Wahrscheinlich weit noch wichtiger ist die Grundatmosphäre religiöser Hysterie und abergläubischen Wahnsinns, die sich über den ganzen Film wie ein halbdurchsichtiger Schleier legt. Ein Teil des Konflikts des Films besteht darin, dass eine einfache junge Frau unter dem psychischen Druck, vom ganzen Dorf für eine Wunderheilerin gehalten zu werden, immer mehr zerfällt – sich aber auch fängt, als sie selbst beginnt, ihre Wunderheilkräfte als reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Auch sie wird Stück für Stück vom religiösen Fieberwahn ergriffen, der Elisabeth geradezu zum Brennen bringt und die ganze Dorfbevölkerung in Aufruhr bringt, zu latent bedrohlichen Massenversammlungen vor Annas Wohnhaus führt, sämtliche Leute leicht wahnsinnig schauen lässt. Ausgerechnet der Dorfpfarrer ist der größte Skeptiker, wahrscheinlich aber vor allem, weil die abergläubische Bewegung von unten der offiziellen Kirchendoktrin zuwiderläuft.

Es gibt zwar nur eine klerikale Person im Dorf und kein Nonnenkloster, aber ANNA UND ELISABETH hat mit seiner Thematik religiöser Hysterie durchaus eine assoziative atmosphärische Geistesverwandtschaft mit späteren, an Nunsploitation angrenzenden Filmen wie Michael Powells und Emeric Pressburgers BLACK NARCISSUS, Jerzy Kawalerowicz' MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW und Ken Russells THE DEVILS.

ANNA UND ELISABETH startete im April 1933 in den deutschen Kinos. Die Nazis verboten den Film nicht, warfen ihm aber vor, das "gesunde Volksempfinden" zu verletzen. Frank Wisbar hatte bei den Nazis schlechte Karten, emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA. ANNA UND ELISABETH startete gemäß IMDb auch in Japan, in Großbritannien, in Ungarn, Spanien, Schweden und in den USA. In der New York Times wurde der Film im Grundton positiv besprochen, die Leistung von Dorothea Wieck als herausragend hervorgehoben, Hertha Thiele als eher schwach bezeichnet und die Langsamkeit von Wisbars Inszenierung kritisiert. Ich würde dem widersprechen insofern vor allem Hertha Thiele als Anna für mich heraussticht: neben Nadira in AAN für mich die zweite große Schauspiel-Ikone dieses Kongresses. Die Langsamkeit der Regie ist hingegen quasi ein Wunder: viele Szenen sind tatsächlich von der spektakulären, trance-artigen Langsamkeit eines die Sinne und den Verstand vernebelnden Fiebertraums. Zugleich aber war ANNA UND ELISABETH in der gefühlten Laufzeit der kürzeste Film des Kongresses: die 70 Minuten fühlten sich eher wie 45 an (ein Gefühl, das einige Co-Kongressniki in der anschließenden Pause auch so bestätigten). Das bestätigt meine anfängliche Annahme: der merkwürdigste Film dieses Kongresses.


ab 23:15 Uhr


AMERICAN FLYERS
Regie: John Badham
USA 1985
35mm, engl. OV
Der begeisterte Hobby-Rennradfahrer David Sommers bricht mit seinem älteren Bruder, dem Sportmediziner und ehemaligen Profi-Rennfahrer Marcus, zum berüchtigten "Hell of the West"-Wettkampf auf. Der frühe Tod des Vaters durch ein Aneurysma hat die Beziehung der Brüder überschattet – und die Möglichkeit, dass die Krankheit vererbt wurde, macht den gemeinsam angetretenen Wettkampf umso wichtiger.


Eine der größten Vorfreuden des Kongresses: AMERICAN FLYERS sollte ursprünglich in der Samstagabend-Prime-Time des Karacho-Actionfilm-Festivals im November 2023 laufen, die Kopie blieb allerdings im deutschen Zoll hängen, als würdiger Ersatz wurde der sehr eigensinnige Boxerfilm DIGGSTOWN gezeigt. Schon beim Karacho versprach der Hofbauer-Kommandant im Karacho-Orgateam, AMERICAN FLYERS beim nächsten Kongress zu zeigen.

"Wie ein Schwulenporno, bei dem die Sexszenen entfernt wurden" – so ungefähr wurde die HK-Relevanz des Films seitens des Hofbauer-Kommandos in der Einführung begründet. Ganz so würde ich das nicht sagen, auch wenn das Bonding zwischen den beiden Brüdern untereinander und jeweils zu ihren Stahlhengsten sehr fetischistische Züge hatte. Der pornöse Schnurrbart, den Kevin Costner in diesem Film trägt und ihn wie der vergessene Cousin Harry Reems' (danke an jemand aus der Reihe hinter mir, der ganz erstaunt "Oh, Harry Reems" geflüstert hat, als Costner das erste mal auftauchte) aussehen lässt, hätte aber als Begründung auch ausgereicht. Na ja, und das Motto des medizinischen Sportzentrums, in dem Your Porn Moustache Highness arbeitet: Once you get it up, keep it up!

Von diesen Überlegungen abgesehen: mit John Badham, einem journeyman extraordinaire des Post-New-Hollywood-Genrekinos, kann man ja eigentlich nie etwas falsch machen. Er macht meistens Filme, die zwar gut inszenierte Attraktionen des Genrekinos abliefern, aber eben auch von den Charakteren her entwickelt werden. In AMERICAN FLYERS geradezu idealtypisch: die erste Hälfte dient erst einmal dazu, die Figuren einzuführen und sie erst einmal in Ruhe miteinander abhängen zu lassen. Das fängt an mit Davids langer Radtour unter den Anfangs-Credits: ein Obsessiver, der nicht nur draußen auf den Straßen Fahrrad fährt, sondern auch, mit einem ganz kurzen Absteigen im Fahrstuhl, bis in seine Wohnung hinein sein Drahtesel reitet und erst einmal beim Stoppen davon stürzen muss, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Marcus hat natürlich seinen ultra-pornösen Schnurrbart, ist aber auch der "bürgerliche", ältere Bruder, der seiner Mutter immer noch nicht ihren Umgang mit dem Tod des Vaters verzeihen kann. Zum "Hell of the West" kommt auch Marcus' Lebensgefährtin Sarah (Rae Dawn Chong in einer wunderbaren Rolle) und irgendwann gabelt das Trio unterwegs die Tramperin Becky auf, die schließlich mit David anbandelt. Von einigen Geschwindigkeitsspitzen abgesehen – die Fahrradverfolgungsjagd mit dem bissigen Hund und das kleine Wettrennen mit den Cowboys auf den Pferden aus Fleisch und Blut – hat AMERICAN FLYERS in der ersten Hälfte das tiefenentspannte Tempo einer kleinen Urlaubsspritztour...

...um dann in der zweiten Hälfte umso mehr die Geschwindigkeit anzuheben und die Spannungsschrauben (und die Emotionalitätsschrauben im eskalierenden Melodrama!) anzuziehen, wenn es zunächst um die Qualifikation zum "Hell of the West"-Rennen geht, dann um den Wettkampf selbst. Da gibt es nicht nur die harten Anstiege in den Bergen von Colorado zu besiegen, sondern auch einige wunderbar fiese Konkurrenten, den "Cannibal" zum Beispiel (pikanterweise Sarahs Ex-Mann) und um noch ein wenig Kalte-Kriegs-Atmosphäre reinzubringen den bärig-bärbeissigen Russen Belov. Point-of-Views aus der Fahrerperspektive und Hubschrauber-Panoramen der verschlungenen Wege in der kargen Berglandschaft Colorados (das Cinemascope kommt hier im Kino ganz besonders schön zur Geltung) sorgen für einen andauernden Nervenkitzel. Vor extremer Anspannung habe ich im Showdown in der letzten Viertelstunde meine rechte Hand krampfhaft in die Armlehne gekrallt: robust gebaut das Ding, ansonsten hätte ich es wohl komplett zerbröselt! Großes Kino kann eben auch ein Stresstest für Kinositze sein.


EPILOG

"Once you get it inside, keep it inside!"


Mittwoch, 7. Februar 2024

Jena, Kino im Schillerhof, 20.00 Uhr

Die Organisatoren des 35mm-Kino beim Film e.V. Jena haben AMERICAN FLYERS aufgrund einer etwas früheren Abreise schweren Herzens verpasst (einer hat aber kurz vor Abfahrt des Zuges einen Blick in die ersten 20 Minuten geworfen). Das Programm des Jenaer 35mm-Kinos war noch nicht festgelegt. Die Kopie von AMERICAN FLYERS war noch im Lande... Kurz: Synergieeffekte wurden geschaffen, AMERICAN FLYERS zum Eröffnungsfilm 2024 des 35mm-Kinos auserkoren und die Reihe "Auto & Geschwindigkeit" mit "Geschwindigkeit Teil 2" verlängert. Genial!

AMERICAN FLYERS war zweifelsohne ein toller Kongress-Abschlussfilm, aber diese haben natürlich immer auch den Haken, dass man sie durch einen etwas getrübten Schleier der angesammelten Festivalmüdigkeit sieht. Die Zweitsichtung genau einen Monat später hat den Film bei mir noch mal gesteigert: ganz großes, mitreissendes Kino, ein Fest der großen Gefühle, der herzlichen Lacher, des adrenalintreibenden Geschwindigkeitsrausches. Definitiv ein Nachrücker in die Reihe meiner diesjährigen Kongress-Lieblinge (WUNDERLAND DER LIEBE, WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN, IM NAMEN DES KÖNIGS).

Nach dem Ende dieser Vorstellung war ich mental bereit, mit Kevin Costners Schnurrbart bis in die höchsten Gipfel der Berge von Colorado zu radeln, von Glenn Shorrocks ohrwurmigem Titelsong zu pedaltretender Trance angetrieben!


Samstag, 21. Dezember 2019

SHIRAZ - Liebe, Drama und ein bayerischer Regisseur in Indien

SHIRAZ (engl. auch SHIRAZ - A ROMANCE OF INDIA, deutsch DAS GRABMAL EINER GROSSEN LIEBE)
Indien/Deutschland/Großbritannien 1928
Regie: Franz Osten
Darsteller: Himansu Rai (Shiraz), Enakshi Rama Rau (Selima/Mumtaz Mahal), Charu Roy (Khurram/Shah Jahan), Seeta Devi (Dalia), Maya Devi (Kulsam), Profulla Kumar (Kasim)

Shiraz und Selima
SHIRAZ spielt in Indien, genauer gesagt im Mogulreich, zur Zeit der Großmoguln Jahangir und Shah Jahan im 17. Jahrhundert. Der Film gliedert sich chronologisch in drei Zeitebenen, von denen die mittlere die weitaus längste ist, so dass man die anderen beiden auch als verlängerten Prolog bzw. Epilog bezeichnen könnte.

Eine Prinzessin auf Reisen und ein Überfall
Durch die Wüste zwischem dem Nordwesten des Reichs und Persien zieht eine Karawane. Sie ist reich mit Wertgegenständen beladen, doch wichtigstes "Transportgut" ist eine kleine Prinzessin. Die Reise endet jäh, als eine berittene Räuberbande die Karawane überfällt, einen Teil der Mannschaft und die Begleiterin der Prinzessin tötet und mit der Beute und Gefangenen abzieht. Einzig das Kleinkind bleibt durch Zufall zurück, allein in der Wüste. Es wäre dem Tod geweiht, würde nicht im passenden Moment der arme Töpfer Hassan mit seinem Esel des Wegs kommen und es mit in sein Dorf nehmen. Zur gleichen Zeit hat Hassans Frau durch einen Wahrsager ein Orakel für Shiraz, den Sohn des Paars, erstellen lassen. Er werde aus der Wüste viel Liebe, Sorgen und unsterblichen Ruhm empfangen, lautet die Prophezeiung, und als Zuschauer weiß man sogleich, dass sich das auf das Findelkind bezieht. Dieses hat ein Amulett mit sonderbaren Zeichen bei sich, doch damit kann niemand etwas anfangen. Hassan und seine Frau adoptieren die Kleine und nennen sie Selima, und sie wächst zusammen mit dem etwas älteren Shiraz auf.

Hassan rettet die Prinzessin
Erster Zeitsprung. Shiraz und Selima sind jetzt junge Erwachsene, Shiraz ist ein Töpfer wie sein Vater (und darin ein Meister seines Fachs, der aus Ton nicht nur Gefäße, sondern auch Kunstgegenstände formt), und aus den Spielkameraden und Quasi-Geschwistern ist ein Liebespaar geworden. Einer baldigen Hochzeit würde nicht mehr viel im Wege stehen, doch es kommt anders: Eine Bande von Strauchdieben und Sklavenhändlern entführt Selima und verschleppt sie in eine Stadt, um sie dort auf dem Sklavenmarkt zu versteigern. Shiraz nimmt mit ein paar Dorfbewohnern die Verfolgung auf, aber alle außer ihm selbst kehren um, als das Wasser knapp wird. Er kommt rechtzeitig in die Stadt, um der Versteigerung beizuwohnen, kann dort aber nichts ausrichten. Zahlungskräftigster Bieter ist Kasim, ein Abgesandter von Prinz Khurram, dem Kronprinzen und zukünftigen Großmogul. Er ersteigert Selima für den Harem seines Herrn.

Shiraz und Selima sind ein Paar - vorerst
Selima wird zu Khurram in die Hauptstadt Agra im zentralen Nordindien gebracht, und Khurram entpuppt sich als edler Prinz, wie er im Buche steht. Selima lebt sich schnell im Palast ein, und mit ihrer stolzen Art erweckt sie Khurrams Interesse und Sympathie. Und sie bringt Khurram Respekt und Zuneigung entgegen, wenn auch nicht sofort Liebe, weil sie Shiraz nicht so schnell vergessen kann. Doch die Zeit arbeitet für Khurram - früher oder später wird er Shiraz erobern. Es gibt aber ein formales Hindernis. Nach dem Gesetz, dem sich auch der zukünftige Großmogul nicht entziehen kann, darf er nur eine Dame von vornehmer Herkunft heiraten, aber keinesfalls die Tochter eines Töpfers oder eine Sklavin. So könnte Shiraz allenfalls Khurrams Mätresse werden.

Sklavenhändler verschleppen Selima durch die Wüste
Zwei Personen haben etwas dagegen. Erstens natürlich Shiraz, der weiß, wo sich Selima befindet. Er treibt sich in der Nähe des Palastes herum, doch er weiß nicht, wie er hineinkommen soll. Um nicht aufzufallen, und um ein Einkommen zu haben, verdingt er sich vorerst als Assistent eines alten Töpfers in der Stadt. Und zweitens hat Selima eine Nebenbuhlerin, von der sie nichts weiß: Dalia, die ebenso verwöhnte wie berechnende Tochter eines Generals in Khurrams Diensten. Sie kennt nur einen Ehrgeiz - sie will Khurram heiraten und damit nach dessen Thronbesteigung Kaiserin im Mogulreich werden. Dafür ist ihr jedes Mittel recht, und sie weiß, dass Selima eine Gefahr für ihre Pläne ist. Dalias Gelegenheit zum Zuschlagen ergibt sich, als sich Shiraz wieder einmal am Palast herumdrückt und durch eine Lücke im Mauerwerk eine der Dienerinnen darin anspricht. Dabei ist er an Kulsam geraten, die zugleich eine Helferin von Dalia bei deren Plänen ist. Dalias Vater, der General, hat die Befugnis, Passierscheine für den Palast auszustellen. Dalia "leiht" sich sein Stempelsiegel und fälscht damit einen Passierschein für Shiraz, den ihm Kulsam am nächsten Tag zusteckt. Zugleich schreibt Dalia einen anonymen Brief an Khurram, der gerade zu einer Reise nach Delhi aufgebrochen ist, und fordert ihn zur Rückkehr und einem Kontrollbesuch bei Selima auf. Der Plan sieht natürlich vor, dass Shiraz und Selima zusammen im Palast ertappt werden, und dass nach diesem Skandal Selima mindestens die Verbannung, wenn nicht Schlimmeres droht. Der Weg wäre frei für Dalia.

Shiraz kann am Sklavenmarkt nichts ausrichten
Dalias Plan geht zunächst auf. Shiraz muss zu seinem Erstaunen feststellen, dass Selima nicht als Gefangene im Palast schmachtet und auf ihre Rettung wartet, sondern dass es ihr gut geht und sie bleiben will. Und dann werden die beiden von Khurram persönlich überrascht. Der kocht vor Wut, aber immerhin macht er nicht kurzen Prozess, sondern ordnet eine Untersuchung an. Vor allem will er wissen, welche seiner Dienerinnen Shiraz den Zugang zu den Frauengemächern ermöglicht hat. Shiraz könnte Kulsam verraten und damit seinen Kopf retten, doch in Unkenntnis von deren genauer Rolle schützt er sie und schweigt - und wird deshalb zum Tod verurteilt. Kulsam weiß, dass sie Shiraz ihr Leben zu verdanken hat, und darüber gerät ihre Loyalität Dalia gegenüber ins Wanken. Weil sie dadurch selbst zu einer Gefahr wird, wird sie von Dalia kurzerhand vergiftet. Die Hinrichtung von Shiraz soll sofort und auf eine malerische Art erfolgen: Er wird liegend an den Boden gekettet, wo ihn ein Elefant tottrampeln soll.

Es lebt sich nicht schlecht als zukünftiger Großmogul
Doch zwei Missgeschicke (aus Dalias Sicht) bringen den perfiden Plan zu Fall. Erstens hätte Shiraz den Passierschein im Palast an Kulsam aushändigen sollen, die das potentiell kompromittierende Beweisstück sofort vernichtet oder an Dalia weitergereicht hätte. Doch Shiraz vergaß vor lauter Aufregung den Schein bei der Palastwache am Tor. Und zweitens war die Giftdosis für Kulsam zu gering. Diese stirbt zwar, aber nicht schnell genug. Als sie merkt, wie es um sie steht, lässt sie sich mit letzter Kraft zu Khurram schleppen und beichtet alles, bevor sie das Leben aushaucht. Mit dem herbeigeholten Passierschein ist Dalia endgültig als Intrigantin überführt, und sie wird lebenslang aus dem Mogulreich verbannt. Selima dagegen ist rehabilitiert, und Shiraz' Hinrichtung wird im allerletzten Moment gestoppt. Doch er muss hinnehmen, dass sich Selima jetzt endgültig für Khurram entscheidet. Shiraz ist zutiefst deprimiert, doch er kann gar nicht anders, als sich mit der Entscheidung abzufinden. Und nebenbei beseitigt er noch ein letztes Hindernis: Er übergibt das Amulett, das Selima bis zu ihrer Entführung und danach Shiraz bei sich getragen hatten. Ein Weiser im Palast entziffert den Inhalt: Das Amulett weist die Trägerin als Prinzessin Arjumand aus, eine Nichte von Nur Jahan, der wichtigsten der 20 Frauen von Khurrams Vater Jahangir - die Prinzessin war vor 18 Jahren als Kleinkind auf einer Reise in den Norden spurlos verschwunden. Damit ist Selimas noble Abkunft erwiesen, und einer Hochzeit mit Khurram steht nichts mehr im Weg. Dieser will Shiraz als Trostpflaster reich mit Juwelen beschenken, doch der lehnt ab - weltliche Güter können ihm nicht seine verlorene Liebe Selima ersetzen.

Im Harem gibt es Wächterinnen mit Schwertern; unten: so reist man in Indien erster Klasse
Zweiter Zeitsprung, wir sind jetzt im Epilog. Weitere 18 Jahre sind vergangen. Khurram, der sich nach der Thronbesteigung Shah Jahan nennt, und Selima/Arjumand, die den Thronnamen Mumtaz Mahal angenommen hat, haben eine gute und glückliche Ehe geführt und sind beim Volk beliebt. Doch jetzt stirbt Mumtaz Mahal. Shah Jahan ist untröstlich. Um seinen Schmerz etwas zu dämpfen, und um seine übergroße Liebe für die Nachwelt zu dokumentieren, will er für Mumtaz ein prächtiges Mausoleum errichten lassen, und dafür fordert er Entwürfe von Künstlern und Baumeistern aus dem ganzen Land an. Shiraz hat während der vergangenen 18 Jahre immer in der Nähe des Palastes gelebt - er konnte sich nie wirklich von Selima lösen und seinem Leben eine neue Richtung geben. Im Lauf der Zeit hat sein Augenlicht nachgelassen, und jetzt ist er so gut wie blind - aber das Töpfern beherrscht er immer noch wie kaum ein Zweiter. Unter den Entwürfen für das Mausoleum, die zunächst eingesandt werden, kann keiner Shah Jahan überzeugen, doch dann trifft einer ein, der ihn sofort restlos begeistert. Und natürlich ist es kein anderer als Shiraz, der ihn geschaffen hat. Der (zunächst unbekannte) Künstler wird in den Palast geladen, und nach vorübergehender Wirrnis wird Shiraz von Shah Jahan wiedererkannt. In den nächsten Jahren wird nun in Agra nach Shiraz' Entwurf das Taj Mahal errichtet, als Mausoleum und als Zeugnis der Liebe gleich zweier Männer zu Selima bzw. Mumtaz Mahal. Die beiden gealterten Männer werden in dieser Zeit noch so etwas wie Freunde. Am Schluss stehen Aufnahmen des prächtigen fertiggestellten Taj Mahal, und unsere schöne, traurige Geschichte ist zu Ende.

Selima im Goldenen Käfig - mit schönem Ausblick
Sie ist nicht wahr, diese Geschichte, aber gut erfunden. Die echte Arjumand wuchs natürlich wohlbehütet auf, fernab von Töpfern und von Sklavenfängern, und das Taj Mahal wurde auch nicht von einem armen Töpfer entworfen, sondern von mehreren, teils aus Persien stammenden Architekten. Der wahre Kern besteht darin, dass das Taj Mahal tatsächlich als Mausoleum und als Monument der großen Liebe zwischen Shah Jahan und Mumtaz Mahal errichtet wurde. Erdacht hat die fiktive Backstory des berühmten Bauwerks der bengalische Dramatiker, Drehbuchautor und Filmregisseur Niranjan Pal (1889-1959), dessen Laufbahn eng mit der von Franz Osten und Himansu Rai verknüpft war. Pals auch in London aufgeführtes Bühnenstück "Shiraz" war die direkte Vorlage für das Drehbuch, das William A. Burton (1883-1958) schrieb, ein zunächst nach Kanada emigrierter und dann nach England zurückgekehrter Brite, der auch kurze Hollywood-Erfahrung besaß. Nach seiner Rückkehr in die Heimat arbeitete er für British Instructional Films, dem britischen Partner bei der Drei-Länder-Produktion SHIRAZ. Später ging Burton erneut, und diesmal endgültig, nach Kanada. Ein Cousin von ihm war Pflegevater und Namensgeber von Richard Burton. British Instructional Films (BIF), das der Produzent und Regisseur Harry Bruce Woolfe gegründet hatte, existierte von 1919 bis 1932 und wurde dann von einem größeren Studio geschluckt. BIF produzierte Spiel- wie Dokumentarfilme; eine besondere Spezialität, die wohl auf einer persönlichen Vorliebe von Woolfe beruhte, waren heroische Filme über den Ersten Weltkrieg. Ich weiß nicht genau, wie BIF bei SHIRAZ an Bord kam, aber Anfang bis Mitte der 20er Jahre lebten Niranjan Pal, Himansu Rai und dessen spätere Frau Devika Rani (die eine berühmte Schauspielerin wurde) alle in London. Sie lernten sich dort nicht nur kennen und begannen ihre Zusammenarbeit, sondern knüpften auch erste Kontakte zur Filmwelt.

Im Palast
Der illustre Himansu Rai (auch Himanshu Rai geschrieben, 1892-1940) war eine zentrale Gestalt im frühen indischen Film. In seiner Zeit in London war er im Hauptberuf Anwalt, und nebenbei Schauspieler (er stand auch in einem Stück von Niranjan Pal auf der Bühne). Doch es zog ihn zum Film. Obwohl er wie Niranjan Pal aus Bengalen stammte, wurde er (mit Franz Ostens Hilfe) zu einem der Gründerväter des Hindi-Films, und damit des späteren Bollywoods (Bengali-Filme wurden erst mit Regisseuren wie Satyajit Ray und Ritwik Ghatak überregional bedeutsam). Himansu Rai konnte sich zunächst nicht so recht entscheiden, ob er im Film Schauspieler, Regisseur oder Produzent werden wollte - und machte deshalb alles zusammen. Er wollte von Anfang an Filme auf hohem technischen Niveau produzieren, und dazu importierte er europäisches Know-how in Form von Filmtechnikern und Equipment. Dabei wollte er sich nicht mit England begnügen, sondern auch die Ressourcen der deutschen Filmindustrie anzapfen. Rai spekulierte auch darauf, dass orientalische Stoffe in den europäischen Kinos Erfolg haben könnten, wo etwa schon Lubitschs SUMURUN (1920) und Joe Mays DAS INDISCHE GRABMAL (1921, Drehbuch von Fritz Lang und Thea von Harbou) dieses Gebiet erfolgreich beackert hatten.

Intrigantin: Dalia
Rai reiste nach Deutschland und fand in München mit Franz Osten genau den richtigen Partner für seine Pläne. 1925 drehten sie dann in Indien und im heutigen Pakistan (damals natürlich auch ein Teil Indiens) PREM SANYAS/DIE LEUCHTE ASIENS, eine Coproduktion von Himansu Rais Firma und Ostens Hausstudio Emelka. Rai war Produzent und teilte sich mit Osten die Regie (manchmal wird auch Osten allein die Regie zugeschrieben), Niranjan Pal war der Autor (nach einer älteren Vorlage eines Edwin Arnold), die beiden Kameramänner Willi Kiermeier und Josef Wirsching hatte Osten aus Deutschland mitgebracht. DIE LEUCHTE ASIENS ist eine Biografie von Gautama, aus dem Buddha werden sollte, wobei die sehr karge historische Überlieferung mit den üblichen Legenden ausgepolstert wurde. Himansu Rai spielt auch die Titelrolle, und Seeta Devi, die Dalia in SHIRAZ, gibt hier Gautamas Gefährtin Gopa. Charu Roy (Khurram in SHIRAZ) war hier als Set- und Kostümdesigner dabei (später betätigte er sich auch als Regisseur). DIE LEUCHTE ASIENS war ein großer Erfolg, vor allem in Europa (weniger in den USA), und wurde weltweit verliehen. Das Wagnis war gelungen, und Himansu Rai konnte seinen Weg fortsetzen.

Selima lebt sich ein
SHIRAZ war dann der nächste Streich. Rai "beschränkte" sich jetzt auf die Hauptrolle und die Position des Produzenten, die Regie überließ er Osten allein. Auf deutscher Seite produzierte jetzt nicht mehr die Emelka, sondern die UFA, und die Engländer waren nun auch an Bord. Kameramänner waren jetzt Emil Schünemann und der Engländer Henry Harris. Schünemann war der deutlich ältere und erfahrenere der beiden, ich weiß aber nicht, ob sich daraus eine interne Hierarchie ergab, oder ob beide Kameramänner gleichberechtigt waren. Weiterer personeller Input von der Insel bestand aus einem Victor A. Peers, der als Produktionsleiter und Ostens Regieassistent fungierte (später war er Direktor eines Fernsehsenders), und aus dem schon erwähnten Drehbuchautor William A. Burton. Die Schauspieler dagegen kamen alle aus Indien. Himansu Rai zeigt gelegentlich eine leichte Neigung zum Overacting, aber es hält sich im Rahmen und wird nie lächerlich. Alle anderen spielen sehr dezent, und Seeta Devi ist eine wahre Freude als verschlagene Dalia - eine echte indische femme fatale des 17. Jahrhunderts. Leider wurde ihre Karriere durch den Tonfilm beendet.

Prinz Khurram (rechts oben mit Kasim) und ein weiser Zeichendeuter
Nächster und vorerst abschließender Film des indisch-britisch-deutschen Teams war PRAPANCHA PASH/A THROW OF DICE/SCHICKSALSWÜRFEL von 1929, wiederum mit Himansu Rai, Seeta Devi und Charu Roy in den Hauptrollen, Rai als Produzent, Osten als Regisseur, und Pal und Burton als Autoren (und ein Max Jungk war noch an der deutschen Fassung beteiligt). Es handelt sich um die freie Interpretation eines Handlungsstrangs im ausladenden Nationalepos Mahabharata, in dem zwei rivalisierende Könige um ihre Reiche (und im Film auch um eine schöne Frau) würfeln. Die drei Stummfilme des Osten-Rai-Teams werden gerne als Trilogie zusammengefasst, was mir auch berechtigt erscheint, auch wenn das vielleicht nicht von Anfang an so geplant war. Denn danach gab es erst mal eine Zäsur, und die war auch in Indien von der Einführung des Tonfilms geprägt.

Shiraz weiß nicht, wie er in den Palast kommt
Während Rai und Osten die Stummfilme vorwiegend an Originalschauplätzen drehten und relativ wenig Studiozeit benötigten, erforderte der Tonfilm mit seiner komplizierteren Ausrüstung ein Umdenken - ein eigenes Studio musste her. Doch zunächst produzierte Rai 1933 noch KARMA, wieder eine indisch-britisch-deutsche Produktion, aber ohne Osten, sondern mit einem englischen Regisseur. Der Film zeichnet sich durch einen nicht enden wollenden und für damalige indische Verhältnisse skandalösen Kuss zwischen den Hauptdarstellern Rai (klar, wer sonst?) und Devika Rani aus (die inzwischen Rais Frau war). Und dann gründete Himansu Rai 1934 mit Geschäftspartnern das Studio Bombay Talkies - der Name war Programm. Und Osten war wieder mit an Bord, denn Rai engagierte ihn jetzt fest als Regisseur und technischen Direktor, und Osten übersiedelte nach Indien. Rai war nun so ausgelastet, dass er nicht mehr als Schauspieler auftrat (ob er vielleicht auch eine unvorteilhafte Stimme besaß, ist mir nicht bekannt). Die Produktion lief 1935 mit JAWANI KI HAWA/LEICHTSINN DER JUGEND an, und von 1936 bis 1939 drehte Osten dann jedes Jahr drei bis fünf Filme. Es war dies eine prägende Phase von Proto-Bollywood, und Rai und Osten waren mittendrin. Devika Rani spielte oft die weibliche Hauptrolle, aber auch andere weibliche und männliche Stars wurden hervorgebracht. Niranjan Pal als Autor war auch oft mit dabei, und der aus München stammende Kameramann Josef Wirsching, dem wir schon bei DIE LEUCHTE ASIENS begegnet sind, stand auch bei Bombay Talkies unter Vertrag (er blieb in Indien und starb 1967 in Bombay), und es gab noch weitere deutsche und englische Mitarbeiter. - Himansu Rais Stern strahlte hell, aber er verglühte auch schnell. Ich weiß nicht, ob es an der Arbeitsüberlastung lag, wie gelegentlich zu lesen ist, aber 1940 erlitt er einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Über dessen Charakter kursieren nur unklare Informationen - manchmal ist von einem Nervenzusammenbruch die Rede. Jedenfalls starb Himansu Rai im Mai 1940 mit nur 48 Jahren in Bombay. Seine Witwe Devika Rani übernahm die Leitung des Studios und führte es erfolgreich weiter. Franz Osten verließ im selben Jahr Indien für immer.

Dalia und Kulsam
Franz Osten wurde 1876 als Franz Ostermayr in München geboren. Zusammen mit seinem jüngeren Brüder Peter Ostermayr (1882-1967) sammelte er erste Erfahrungen im Foto- und noch jungen Filmmetier im väterlichen Fotoatelier am Münchner Stachus, das die beiden Brüder schließlich übernahmen. (Der jüngste Bruder Ottmar Ostermayr (1886-1958) landete etwas später auch beim Film und wurde Produzent bzw. Produktionsleiter, und der Regisseur Paul May (08/15-Trilogie, SCOTLAND YARD JAGT DR. MABUSE) war der Sohn von Peter Ostermayr.) 1907 gründeten Franz und Peter das Wanderkino "Original-Physograph Company", für das sie auch schon selbst erste kurze Filme im Wochenschau-Stil drehten. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Filmlaufbahn der beiden älteren Ostermayr-Brüder, aber danach ging es erst richtig los. Peter Ostermayr hatte die Münchner Lichtspielkunst GmbH gegründet, die Anfang 1919 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Aus der gesprochenen Form der Abkürzung MLK ging der Name "Emelka" hervor. Peter kaufte im Vorort Geiselgasteig zwischen München und Grünwald ein großes Gelände, auf dem die Ateliers der Emelka errichtet wurden. Schnell wurde die Emelka eines der größten Filmstudios in Deutschland. Sie konnte zwar nicht ganz mit der UFA mithalten, aber zusammen mit Studios wie Tobis und Terra bildete sie die zweite Ebene. In den Zeiten der Hyperinflation (bis Ende 1923) konnte die Emelka sogar Großproduktionen von internationalem Format stemmen, wie den von Manfred Noa inszenierten NATHAN DER WEISE (1922) mit seinem Riesenheer an Komparsen. In ihrer ursprünglichen Form existierte die Emelka bis 1932, dann ging sie durch die Kosten, die die Umstellung ihrer Kinokette auf den Tonfilm verursachte, pleite, aber unter neuem Eigentümer und mit dem neuen Namen Bavaria Film AG wurde der Betrieb fortgesetzt. Unter den Nazis wurde die Bavaria von der UFA assimiliert, aber nach dem Krieg neu gegründet, und bekanntlich existiert die Bavaria Film an ihrer alten Stätte in Geiselgasteig bis heute.

Khurram und Selima werden langsam ein Paar
Franz, der sich nun Franz Osten nannte, war von Anfang an einer der Hausregisseure bei der Emelka, und seine Ganghofer-Verfilmung DER OCHSENKRIEG (1920) war der erste Film, der das neue Studio in Geiselgasteig verließ (wobei große Teile in der freien Natur gedreht wurden). (Peter Ostermayr als Produzent sollte später rund 20 weitere Ganghofer-Filme hervorbringen.) Als ihn der Ruf von Himansu Rai ereilte, hatte Osten schon ca. 25 Filme inszeniert, und weil er zwischen den indischen Stummfilmen auch wieder in der Heimat drehte, kam er insgesamt auf rund 35 Stummfilme in Deutschland. Dazu kamen zwischen 1931 und 1934 noch zehn Tonfilme, z.B. DER JUDAS VON TIROL mit Fritz Rasp und Rudolf Klein-Rogge sowie Camilla Spira und Marianne Hoppe. Während die drei indischen Stummfilme in der Mythologie oder in ferner Vergangenheit angesiedelt waren und somit keinen Anlass zu politischen Kontroversen bieten konnten, verschob sich bei Bombay Talkies der Fokus hin zu zeitgenössischen und auch potentiell heiklen Stoffen. So stellte Osten in einem seiner Filme in Form einer Liebesgeschichte das Kastenwesen in Frage.

Für Shiraz wird es eng
Leider ließ es sich Osten nicht nehmen, in den 30er Jahren in die NSDAP einzutreten (für das genaue Jahr habe ich die widersprüchlichen Angaben 1934 und 1936 gefunden). Ob das seine Arbeit bei Bombay Talkies irgendwie beeinflusst hat, scheint bisher kaum erforscht zu sein. Im Booklet der Blu-ray (s.u.) wird sogar die Frage, ob Himansu Rai und Devika Rani von der NSDAP-Mitgliedschaft wussten, als offen bezeichnet. Als dann 1939 der Krieg ausbrach, wurde Osten von den Briten festgenommen und zunächst interniert. Aber während die meisten Deutschen, die in Indien interniert waren, dort bis Kriegsende ausharren mussten, wurde Osten aufgrund seines Alters und seiner schon etwas angegriffenen Gesundheit 1940 nach Deutschland abgeschoben. Er sah Indien nicht wieder. Die Kriegsjahre verbrachte Osten als Leiter des Besetzungsbüros der Bavaria, und er arbeitete dort am Aufbau eines Filmarchivs. Nach dem Krieg ließ er den Film komplett hinter sich. Osten zog nach Bad Aibling und arbeitete dort als Kurdirektor. Als Osten 1956 in seinem Wohnort starb, war der Regisseur Franz Osten schon weitgehend vergessen, doch in den letzten 20 Jahren wurde er wiederentdeckt.

Mogul-Architektur - garantiert echt
Als Regisseur war Osten gewiss kein Visionär vom Rang eines Lang oder Murnau, aber er erweist sich als gediegener Handwerker, der das große Drama und menschliche Emotionen ebenso zu inszenieren wusste, wie er große Massen an Mensch und Getier souverän bewegen konnte. Zu Letzterem hatte er bei seinen indischen Stummfilmen reichlich Gelegenheit. Nach zeitgenössischen Berichten kamen bei SHIRAZ 50.000 Komparsen, 300 Kamele und sieben Elefanten zum Einsatz (die Zahl der Pferde ist anscheinend nicht überliefert, dürfte die der Kamele aber noch übertroffen haben). Selbst wenn die Zahlen übertrieben sein sollten - SHIRAZ protzt mit Schauwerten, ebenso wie DIE LEUCHTE ASIENS und dann vor allem SCHICKSALSWÜRFEL. Dazu dienen auch die vielen Originalschauplätze. Immer wieder bewegen sich die Darsteller sichtlich nicht in Kulissen aus Sperrholz und Pappmaché, sondern in den echten Forts, Palästen und Moscheen in Agra und anderswo in Indien. Ermöglicht wurde das alles nicht nur durch das Geld aus Deutschland und England, sondern vor allem durch die Unterstützung des damals noch jugendlichen und offenbar filmbegeisterten Maharajas von Jaipur (1925, als er bei DIE LEUCHTE ASIENS erstmals aushalf, war er erst 12 oder 13). Jaipur war eines jener vielen semi-autonomen Klientelfürstentümer, die innerhalb des anglo-indischen Kolonialreiches fortbestanden, und deren Herrscher erst in der unabhängigen Indischen Republik ihre Posten und Apanagen verloren. Jaipur hatte auch eine eigene Armee, und die stellte bei SHIRAZ einen Großteil der Komparserie und der Reittiere. Auch beim Zugang zu den historischen Baudenkmälern, selbst wenn sie nicht in seinem Herrschaftsbereich lagen, dürfte der Einfluss des Maharajas geholfen haben.

Der Kuss war für Indien 1928 gewagt
Seit der Jahrtausendwende wurden der Reihe nach DIE LEUCHTE ASIENS, SCHICKSALSWÜRFEL und zuletzt SHIRAZ restauriert und neu herausgebracht. (Auch DER OCHSENKRIEG wurde restauriert und war schon bei arte im Programm und in der Mediathek. Eine nicht restaurierte, leicht gekürzte Fassung ohne Musik findet man auf filmportal.de.) Die deutsche und die indische Version von SHIRAZ sind offenbar verloren, aber die englische hat in guter Kondition überlebt. Vom Kameranegativ und einem Positiv in den Beständen des British Film Institute (BFI) wurde vor einigen Jahren eine digitale Kopie in 4K erstellt und als DCP in ausgewählten Kinos und bei einigen Filmfestivals vorgeführt. Und das BFI hat diese Version als Blu-ray/DVD-Combo (mit zwei kurzen Bonus-Filmen) veröffentlicht. Die Musik für die neue Fassung schrieb Anoushka Shankar, die als Komponistin und Sitar-Spielerin schon längst aus dem Schatten ihres legendären Vaters Ravi Shankar hervorgetreten ist. Schon Ravi Shankar hatte auch Filmmusik geschrieben, z.B. für Satyajit Rays bahnbrechende Apu-Trilogie. Anoushka Shankars Score ist weitgehend indisch geprägt, aber europäische Orchesterinstrumente und Synthesizer kommen auch zum Einsatz. Das ergibt eine stimmige Mischung, die den Film gut unterstützt. Der Österreicher Artur Guttmann hatte die deutsche Premierenmusik für SHIRAZ geschrieben. Über den Verbleib der Partitur habe ich nichts gefunden - wahrscheinlich ist sie verschollen. Über die indische und englische Originalmusik konnte ich überhaupt keine Informationen finden. - In der Schweiz ist die Neuauflage von SHIRAZ bei trigon auf DVD erschienen. Die englischen Credits und Zwischentitel der BFI-Version wurden beibehalten, zusätzlich gibt es deutsche und französische Untertitel. Aber wenn man nicht auf die Untertitel angewiesen ist, hat beim Preis-Leistungs-Verhältnis die englische Ausgabe klar die Nase vorn.

Das Taj Mahal entsteht - zuerst als Modell, dann in echt

Hinten v.l.n.r. Henry Harris, Charu Roy, Franz Osten, unbekannt, Himansu Rai, Victor A. Peers, unbekannt,
Profulla Kumar, Emil Schünemann; vorne v.l.n.r. unbekannt, Seeta Devi, Maya Devi, Enakshi Rama Rau