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Sonntag, 31. März 2013

Verbotene Visionen des Holocaust

KOMISSAR (DIE KOMMISSARIN)
UdSSR 1967 (Premiere: 1988)
Regie: Aleksandr Askol‘dov
Darsteller: Nonna Mordjukova (Klavdija Vavilova), Rolan Bykov (Efim Magazanik), Raisa Nedaškovskaja (Marija Magazanik)



Im „russischen Krisen-Kontinuum“ aus Weltkrieg, Revolutionen und Bürgerkriegen wurden zwischen 1914 und 1922 schätzungsweise 100.000 bis 150.000 Juden ermordet. Antisemitische Pogrome im Russischen Reich waren wiederkehrende Ereignisse in Krisenzeiten, so etwa nach der Ermordung von Zar Alexander II. 1881 und während der Russischen Revolution von 1905. Die Gewalt im Zuge des Ersten Weltkrieges nahm jedoch andere Dimensionen an, als die Russische Armee begann, systematisch Juden unter dem Generalverdacht der Spionage aus frontnahen Gebieten zu vertreiben oder zu deportieren. 1917 brach das Russische Reich unter dem Druck des Kriegs und der revolutionären Bewegungen zusammen. Nirgendwo war dieser vollkommene Zusammenbruch, das Versinken in gewalttätigen Chaos größer als in der Ukraine, wo Dutzende von Armeen sich gegenseitig bekämpften und wo es keine Seltenheit war, wenn eine Ortschaft innerhalb von drei Jahren mehrere Dutzend Machtwechsel erlebte. Hier lebte auch der größte Teil der russländischen Juden. Mit jedem Machtwechsel erlebte die jüdische Bevölkerung eine Welle antisemitischer Gewalt: durch Weißgardisten, Soldaten der Ukrainischen Volksrepublik, aufständische Bauern, polnische Soldaten, marodierende Rotarmisten. Die Pogrome reichten in ihrem Ausmaß von Plünderungen mit vereinzelten Morden bis zu hin zu Massakern mit eindeutig genozidalen Zügen.

Die Kommissarin und die Familie Magazanik
In dieser chaotischen Umgebung spielt Aleksandr Askol‘dovs erster und einziger Spielfilm KOMISSAR. Die Haupt- und titelgebende Figur ist Klavdija Vavilova, eine Kommissarin der Roten Armee, die mit ihrer Einheit im Jahr 1919 oder 1920 in eine nicht namentlich näher gekennzeichnete Stadt in der Ukraine einrückt (wahrscheinlich das westukrainische Berdičev). Die resolute Frau in martialischer Armee-Uniform ist für ihre Härte gefürchtet, und lässt gleich am Anfang einen Deserteur hinrichten. Sie ist aber auch schwanger, und steht kurz vor der Entbindung. Dafür lässt sie sich beurlauben und taucht als Zivilistin in einer zwangsrequirierten Privatwohnung unter. Die Auswahl fällt auf das überaus bescheidene Haus (um nicht zu sagen die Bretterbude) des jüdischen Schmieds Efim Magazanik, der nun für sich, seine Ehefrau, seine sechs Kinder und seine Mutter noch ein Zimmer weniger hat. Als armer Handwerker fühlt sich Efim düpiert und ist zunächst auch in einer entsprechenden Laune. Während er zur Arbeit geht, kümmert sich seine Frau Marija um den personenreichen Haushalt – und sehr schnell auch um „Madam Vavilova“. Die unerbittliche Kämpferin um die Sache der Arbeiter und Bauern versteckt anfänglich kaum ihren Abscheu vor den Magazaniks und ihrer Armut (inwiefern sie antisemitische Ressentiments hegt, bleibt ambivalent). Doch Marija überfällt „Madam Vavilova“ regelrecht mit ihrer Fürsorge: bereitet ihr Tee zu, leiht ihr Hausschuhe aus, gibt ihr Tipps bezüglich der Schwangerschaft, klagt ihr Leid als schwer arbeitende Hausfrau, und näht der Kriegerin, die keine Zivilkleidung (mehr) hat, schließlich ein schönes Sommerkleid.

Die Kommissarin als Mutter
Ihrer Uniform beraubt verliert Klavdija auch ihr martialisches Auftreten, und muss sich langsam damit abfinden, nicht nur weiblicher, sondern vor allen Dingen auch ziviler und menschlicher aufzutreten. Diese allmähliche Verwandlung wird schließlich nach der Geburt des Kindes – für eine relativ reibungslose Entbindung hat Marija gesorgt – beschleunigt. Als ihre Rotarmisten-Kollegen erscheinen und die Nachricht überbringen, dass der Einbruch der Weißen Armee bevorsteht, wird sie vor ein schweres Dilemma gestellt. Soll sie bei den Magazaniks bleiben? Zur Armee zurückkehren? Was wird mit ihrem Kind passieren? Während sie mit der jüdischen Familie in einem Keller das Bombardement der Stadt übersteht, ereilt sie eine schreckliche Vision über die Zukunft der Magazaniks und aller Juden der Stadt. Voller Schrecken hinterlässt sie ihr Kind in Obhut der Magazaniks und kehrt resolut zu ihrer Armee-Einheit zurück, um für den internationalen Sozialismus weiter zu kämpfen.
Was sich wie eine eigentlich relativ harmlose humanistisch-realistische Erzählung anhört, brach in der Sowjetunion der 1960er gleich mehrere Tabus. Zwar sind es eher die inhaltlichen Gesichtspunkte, die zum Verbot des Films und zur Beendigung von Askol‘dovs Karriere führten. Doch es ist zunächst einmal die visuelle Kraft von KOMISSAR, seine schiere Bildgewalt, die den meisten Zuschauer als erstes auffallen dürfte: Bilder, die einen unwiderstehlichen Sog bilden und sich ins Gedächtnis einbrennen. Wie etwa bei mir selbst, der den Film noch in der Schulzeit im Fernsehen gesehen hatte: so etwa die Soldaten, die im Bach liegen und Wasser trinken – freilich aus der Perspektive einer um etwa 140 Grad gekippten Kamera.

KOMISSAR ist, besonders in der ersten Hälfte, über weite Strecken „realistisch“ fotografiert. Die neue Umgebung der Klavdija Vavilova wird in langen Plansequenzen festgehalten, wenn die Kamera durch die enge, überfüllte, gedrängte Wohnung der Magazaniks fährt, und deren Gesichter im Schlaf festhält. Oder wenn sie durch den Hof der Wohnung kreist, Efim dabei beobachtend, wie er sich auf die Arbeit vorbereitet, seinen Werkzeugkoffer packt, seine Frau verabschiedet, langsam weg schreitet. Oder wenn eine nunmehr adrette (Ex-)Kommissarin im Hof sitzt und dem fröhlichen Treiben der Familie mit einem Lächeln im Gesicht beobachtet.

Umso hervorstechender erscheinen daher im Kontrast dazu die Szenen, die das Geschehen stilisieren, verzerren, verfremden, in besonderer Weise hervorheben oder gar in Halluzinationen, Visionen und Träume verfallen. Dieser Gegensatz zwischen realistischer Milieuschilderung und traumartiger Atmosphäre löst sich in der zweiten Hälfte des Films (also nach der Geburt des Kindes) allmählich auf: ab hier beginnen Realismus und Traum manchmal fließend, manchmal abrupt ineinander überzugehen. Diese Störungen des „realistischen“ Filmflusses sind fast ausnahmslos in irgendeiner Weise mit Gewalt und Tod verbunden. Besonders hervorstechend sind drei sehr zentrale Szenen, die am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films stehen.

Hinrichtung: statt Blut fließt verschüttete Milch
Die titelgebende Kommissarin wird, wie bereits erwähnt, als autoritäre und durchaus gewaltbereite Person eingeführt. Sie lässt bei Ankunft in die Stadt den Deserteur Emelin verhaften: ein junger Mann, der die Rote Armee verlassen hat, um zu seiner Familie zurückzukehren. Er wird in einem Schuppen eingesperrt und dann der Kommissarin vorgeführt. Sie teilt sie ihm mit, dass sie ihn dem revolutionären Tribunal übergeben wird, sprich: zum Tode verurteilen lässt. Hier folgt eine Montage der anderen Soldaten, die ihn vorwurfsvoll anblicken. Plötzlich entsteht vor Emelins geistigen Auge ein Hinrichtungskommando. Er sieht (hört aber nicht) Vavilova ein einzelnes Wort schreien, es krachen Schüsse. In extremer Zeitlupe bricht er zusammen, und verschüttet dabei den Milchkrug, den er in der Hand vorher hielt: Die Kommissarin hat den Tod gegeben. Diese Szene führt sie als gnadenlose Person ein – ihr revolutionärer Eifer ist dabei bar jeglichen Guten, Edlen und Schönen.

Visionen bei der Geburt
Die Szene der Entbindung, die den Film in zwei Hälften teilt, ist noch weiter stilisiert. Klavdija liegt bei den Magazaniks auf einem Tisch und schreit sich ob der Geburtsschmerzen die Lungen aus dem Hals. Halb verrückt vor Schmerz verfällt sie in Halluzinationen: mit ihrer Armee-Einheit steht sie in einer Wüstenlandschaft und versucht mit anderen Soldaten, einen Kanonenwagen aus dem Sand zu ziehen. Mit dabei ist ein Rotarmist mit einem Augenverband, der kurz danach alleine in der Wüste blind und verzweifelt um Hilfe schreit. Begleitet wird die Szenerie von Klavdijas Stoßatmung und einer elektronisch verfremdeten Musik. Die Kamera bewegt sich in gekippten Winkeln, schließlich auch auf dem Kopf durch die Vision. Plötzlich lassen die Soldaten die Kanone stehen und rennen wie von sinnen davon. Sie kommen an einen Bach, stürzen sich hinein und trinken. Klavdija kommt kurz wieder zu sich, als Marija ihr ein Glas Wasser zu trinken gibt. Die Symbolik dieser surrealen Szene ist an sich sehr eindeutig, doch dass das ungeborene Kind in diesem Fiebertraum von einer Kanone dargestellt wird, scheint verstörend.

Schnell verfällt Klavdija wieder in Halluzinationen. Diesmal läuft sie mit einem Mann um den Kanonenwagen herum, bevor dieser anfängt, sie leidenschaftlich zu küssen. Bedrohliche Sensenmänner in Armee-Uniform tauchen plötzlich auf und mähen imaginäres Gras in der Wüste. Für kurze Zeit wird Klavdija von Marija wieder ins Bewusstsein geohrfeigt (eine Point-Of-View-Aufnahme, in der quasi die Kamera geohrfeigt wird!), um wieder in Schmerz und Visionen zu tauchen. Eine Kavallerie reitet durch die Wüstenlandschaft, an der Spitze der Mann, der sie vorher innig geküsst hat und der wohl ihr Liebhaber und der Vater ihres Kindes ist. In vollem Galopp wird er von einer MG-Salve erfasst und bricht vom Pferd zusammen – in extremer Zeitlupe, und damit in eindeutiger Remineszenz an den hingerichteten Emelin. Nach seinem Tod reitet die Kavallerie weiter, aber nun komplett ohne Reiter, die wohl wie der Liebhaber alle getötet worden sind, bis nur noch die Pferde übrig blieben. Alle menschlichen Protagonisten der Vision sind tot. Das Kind ist nun aber geboren, aus vielen Bürgerkriegs-Toden, die alles andere als heldenhaft, sondern beängstigend sinnlos erscheinen.

Die letzte traumartige Sequenz ist ohne Zweifel die beeindruckendste Szene des ganzen Films und hat auch den längsten Vorlauf: Die Nachricht vom Anrücken der Weißen Armee hat sich bei den Juden in der Stadt ausgebreitet. Sie verbarrikadieren ihre Häuser – so auch die Magazaniks mit tatkräftiger Unterstützung Klavdijas. Derweilen spielen die Magazanik-Kinder ein ganz besonderes Spiel, zu dem sie wohl ihre Bürgerkriegs-Sozialisation inspiriert hat: Pogrom! Die Jungen verfolgen die einzige Magazanik-Tochter, nehmen ihre Puppe weg, schlagen sie, beschimpfen sie. Schließlich „töten“ sie ihre Schwester, indem sie sie an einer Schaukel festbinden und durch die Luft schaukeln – wieder kommt eine Zeitlupe in Einsatz, wie während der früheren Tötungen des Films. Efim ist erzürnt und schimpft auf seine Söhne. Alle haben nun im Keller Zuflucht gefunden. Hier beginnen der jüdische Handwerker und die russische Kommissarin, sich über die Zukunft, den Sozialismus und die antisemitische Pogromgewalt zu unterhalten. Efims Traum des sozialistischen Fortschritts besteht darin, dass eines Tages die Straßenbahn durch seine Stadt fahren könnte. Und doch sagt er mit Bestimmtheit, dass niemals eine Bahn in seiner Heimatstadt gebaut wird – es würde bald keine Menschen mehr hier leben, um sie zu benutzen. Erschüttert beschreibt er, wie sein Bruder von einem Pogromtäter mithilfe einer Friseurschere enthauptet wurde und stellt desillusioniert fest, dass sich niemand daran erinnern wird, wenn Efim Magazanik gewaltsam stirbt. Klavdija hingegen meint, dass das Schießpulver die Menschen bösartig werden lasse, man aber weiterhin für die Internationale kämpfen und auch bereit sein müsse, für sie zu sterben. „Und wann sollen wir leben?“, fragt Efim. Die kleine Magazanik-Tochter fragt „Tante Klavdija“, wo denn ihr Mann sei. „Er ist gefallen, im Kampf“, antwortet die Kommissarin müde. Die Bombardierung der Stadt nimmt an Intensität zu und die Kinder beginnen zu weinen.

Hier fängt Efim an, zu singen und zu tanzen, um seine Familie zu beruhigen. Ostjüdisch gefärbte Musik setzt ein, und alle Magazaniks beginnen in der wohl wunderschönsten, rührendsten und surrealsten Szenen des Films (und von mir aus auch der ganzen Filmgeschichte), im Kreis zu tanzen. Die Intensität des Reigens und der Musik nimmt zu, letztere wird zunehmend elektronisch verfremdet. Es folgt ein harter Schnitt. In nunmehr sepia-gefärbten Bildern marschiert ein große Gruppe Juden, darunter die Magazaniks, mit einem David-Stern an Brust, Arm oder Rücken gekennzeichnet, durch ein Tor in einen Hof, wo sich andere Juden in gestreifter Häftlings-Kleidung befinden. Schwarzer Rauch, der aus einem steinernen Turm steigt, kündet von ihrem kommenden Schicksal. Auch Klavdija steht da, ihr Kind auf dem Arm, und beobachtet das ganze fassungslos. Verstört blickt sie in die Kamera, bevor ihre Vision beendet wird.


Diese etwa zweiminütige Sepia-Sequenz ist das Herz des Films. Hier wird deutlich, dass es KOMISSAR nicht nur um die antisemitische Gewalt im Russischen Bürgerkrieg geht, sondern ganz explizit auch um den Holocaust, der knapp zwanzig Jahre später die jüdische Bevölkerung in der Ukraine und dem restlichen Osteuropa fast vollständig vernichten sollte. Eindeutig zieht Askol‘dov eine Verbindungslinie zwischen den Pogromen des Bürgerkriegs und dem Genozid. Die literarische Vorlage des Films, Vasilij Grossmans Kurzgeschichte „Komissar“ von 1934, wird hier – natürlich mit dem Wissen um den Völkermord – um eine ganz eigene Komponente erweitert und umgedeutet. 

Die Thematisierung des Holocaust grenzte in der Sowjetunion an ein Tabu. Die Bemühungen jüdisch-sowjetischer Künstler, mit dem „Schwarzbuch“ den Massenmord an den europäischen Juden in der sowjetischen Öffentlichkeit bekannt zu machen, scheiterten rasch an der Intervention des Staates, dem der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg einen gewissen Schub an Legitimation gegeben hatte. Ein an Opfern orientiertes Narrativ über ethnische Massenmorde, an denen zudem manch ein nicht-jüdischer Sowjetbürger teilgenommen hatte, passte nicht in eine Geschichte der siegreichen Sowjetunion. Das „Jüdische Antifaschistische Komitee“, das die Dokumente zum „Schwarzbuch“ zusammengetragen hatte, wurde 1948 aufgelöst. Die Ermordung dessen Vorsitzenden, des Theaterregisseurs Solomon Michoėls, wurde auf makabre Weise als Autounfall getarnt. Die antisemitischen Kampagnen der frühen 1950er wurden zwar durch Stalins Tod abgebrochen, doch der Bann war gebrochen: der Sowjetstaat, der in den 1920er und 1930er Jahren zahlreichen jüdischen Bürgern Aufstiegsmöglichkeiten geboten und Antisemitismus vehement bekämpft hatte, wurde ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend gleichgültiger und passiver gegenüber dem Judenhass.

Aleksandr Askol‘dovs überaus positive Darstellung jüdischer Figuren, denen er sehr offensichtlich große Sympathie entgegenbringt, und die Thematisierung antisemitischer Gewalt waren wohl die Hauptgründe, weshalb KOMISSAR verboten wurde. Dies geschah zudem 1967: einem Jahr, in dem der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution glorreich gefeiert werden sollte und in dem der Sechstagekrieg antisemitische Ressentiments in der Sowjetunion noch festigte. Die Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik, die Ende der 1950er Jahre begonnen hatte und durchaus Grenzen hatte, neigte sich zudem langsam dem Ende zu.

Doch auch in vielen anderen Bereichen war KOMISSAR ein Film, der in der Sowjetunion geradezu anecken musste. Der Bürgerkrieg erscheint hier nicht als ein glorreicher Kampf des Sozialismus gegen die Auswüchse des Alten Regimes, sondern als fast apokalyptischer Wirbelwind der gewaltsamen Zerstörung, der nur menschenleere, zerstörte Städte und verwirrte, gar traumatisierte Menschen zurücklässt. Die kampfmüde Hauptfigur bricht als als Soldat praktisch zusammen unter der Sehnsucht, ein normales und ziviles (Familien-)Leben führen zu können. Immer wieder deutet Efim an, dass er als Handwerker keinen Unterschied zwischen den wechselnden Herren der Stadt sieht: womit er nicht nur den latenten Antisemitismus in den niedrigen Rängen der Roten Armee anspricht, sondern auch die Dysfunktionalität und Misswirtschaft der sowjetischen Verwaltung, angesichts derer sozialistische Parolen wie leere Hülsen wirken mussten. Zudem strotzt der Film nur so von christlicher und jüdischer religiöser Symbolik: wenn immer wieder Kirchen und Synagogen im Stadtbild gezeigt werden, wenn Efim seiner Ehefrau die Füße wäscht, wenn Klavdija ihr Kind zu einer zerstörten Synagoge trägt, um dort eine Art Segnung zu empfangen. Überhaupt die Symbolik, die Chiffren, die Andeutungen, die Assoziationen, die Allegorien: überfüllt ist der Film damit, und sie haben größtenteils nicht die Funktionen von Antworten, also von festgelegten Deutungen, sondern eher von Fragen – somit ein ungewöhnliches Werk in einem Regime, das eher eine Antwort- als eine Frage-Kultur hatte.

Ein anderer Film der 1960er Jahre aus dem staatssozialistischen Osteuropa, der sich mit dem Holocaust befasste (und hier auf diesem Blog bereits besprochen wurde), könnte einem assoziativ als komplementäres Gegenstück zu KOMISSAR einfallen: Juraj Herz‘ SPALOVAČ MRTVOL (Der Leichenverbrenner). Im Gegensatz zu Askol‘dovs Film, wo die Täter der antisemitischen Gewalt überhaupt nicht zu sehen sind, stellt Herz diese ganz bewusst in den Mittelpunkt. Auch ist die surreale Verfremdung hier wesentlich ausgeprägter und konstanter. Doch in ihren elliptisch-assoziativen Bildern lassen sich doch Gemeinsamkeiten in den beiden Filmen finden.

Freilich hat Aleksandr Askol‘dov für sein Werk sehr viel schwerer gebüßt als sein tschechoslowakischer Kollege. Nicht nur wurde sein Diplomfilm verboten. Askol‘dov wurde auch aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, mit einem lebendslangen Verbot belegt, weitere Spielfilme zu drehen und schließlich die Provinz verbannt. Erst 21 Jahre später wurde KOMISSAR aus dem Giftschrank geholt und erlebte seine Weltpremiere beim Internationalen Filmfestival Berlin, wo er einen „Silbernen Bären“ gewann. Während seiner Verbannung in Tatarstan drehte Askol‘dov zwar einige kurze Dokumentarfilme über eine LKW-Fabrik, doch KOMISSAR ist und bleibt der einige Spielfilm des heute 80-Jährigen.




Die Screenshots lassen es vielleicht erahnen, aber die deutsch-russische Ruscico-Edition des Films ist alles andere als ideal: das Bild ist etwas unklar, wenig kontrastreich und läuft mit überaus unangenehmen Nachzieheffekten. Das Prädikat „restaurierte Fassung“ auf der Hülle erscheint da ein bisschen wie ein Hohn. Als Alternative gäbe es eine UK-Fassung von Artificial Eye, die zudem auch noch über zahlreiche Extras verfügt, über deren Bildqualität ich jedoch keine konkrete Aussage treffen kann (außer, dass sie nicht schlechter sein kann). In Frankreich und Italien ist der Film Anfang dieses Jahres erstmals veröffentlicht worden, wobei die französische Edition nur französische Untertitel hat und die italienische allen Anschein nach nur in einer Synchronfassung vorliegt.