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Montag, 7. Dezember 2015

Skandinavischer Hunger

SULT (Dänemark und Norwegen) / SVÄLT (Schweden), dt. HUNGER
Dänemark/Norwegen/Schweden 1966
Regie: Henning Carlsen
Darsteller: Per Oscarsson (Pontus), Gunnel Lindblom (Ylajali), Osvald Helmuth (Pfandleiher), Birgitte Federspiel (Ylajalis Schwester), Sverre Hansen (Bettler)

Pontus, der Protagonist
Christiania - auch Kristiania geschrieben, das heutige Oslo - im Jahr 1890. Hier fristet der junge und völlig erfolglose Schriftsteller Pontus sein kärgliches Dasein. Mit seiner linkischen und oft schroffen Art macht er sich wenig Freunde. Pontus' Anstrengungen, ein Manuskript bei einem Magazin unterzubringen, stoßen auf nur gedämpftes Interesse, aber auch seine Versuche, auf fachfremde Art zu Geld zu kommen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Als die Feuerwehr "verlässliche junge Männer mit kräftiger Physis" sucht, reiht er sich mit seiner hageren Statur in die Schlange der Interessenten ein, wird aber schon wegen seiner Brille gleich wieder aussortiert. Er biegt kurz um die Ecke, nimmt die Brille ab und stellt sich wieder an - und fällt natürlich wieder durch. Seine Bewerbung als Buchhalter in einem Lebensmittelladen - für einen Hungerleider wie ihn fast das gelobte Land - scheitert, weil er im Bewerbungsschreiben aus schwächebedingter Unkonzentriertheit einen Zahlendreher produziert hat - für einen Buchhalter in spe ein fataler Fehler. So ist Pontus permanent pleite. Er hat alles, was sich zu Geld machen lässt, schon beim Pfandleiher versetzt, er hat Schulden bei diesem und jenem Händler, und er hat seit längerem die Miete nicht bezahlt. Und deshalb hat ihm die Hausverwalterin soeben den Rauswurf aus seinem schäbigen kleinen Zimmer verkündet. Aus der chronischen Armut folgt unmittelbar chronischer Hunger. Er ist abgemagert und von Schwächeanfällen bedroht. Gelegentlich stopft er sich sogar mühsam zerkautes Papier hinein, um wenigsten etwas im Magen zu haben, oder er erbittet beim Schlachthof Knochenabfälle für seinen (nicht existierenden) Hund, um noch die letzten anhaftenden Fleischreste abzunagen. Als er sich unmittelbar nach so einer "Festmahlzeit" übergeben muss, bricht er aus Verzweiflung in einen Weinkrampf aus.

Christiania/Oslo 1890 - bzw. 1965
Pontus' desolater körperlicher Zustand und seine Verzweiflung führen zu erratischem Verhalten. Teils aus bewusster Lust an der Provokation, teils aus zunehmender Verwirrtheit, redet er Passanten blöd an, wohlgenährte Wohlstandsbürger ebenso wie andere arme Schlucker, und er schwadroniert dann gelegentlich das Blaue vom Himmel herunter. Selbst Polizisten, die ihn wegen seiner abgerissenen Erscheinung ohnehin misstrauisch beäugen, nervt er mit blöden Fragen und Bemerkungen. Ernsthaften Ärger bekommt er damit aber nicht. - Ebenso wie von Armut und Hunger wird Pontus' Verhalten von einem an Arroganz grenzenden Stolz diktiert. Er tut alles, um vor anderen Menschen seine desaströse wirtschaftliche Situation zu verbergen. Als er seine allerletzten verwertbaren Habseligkeiten im Pfandhaus versetzt hat und eine einzelne Krone dafür bekam, schenkt er diese einem armen Kerl, der ihn zuvor angebettelt hat. Als der Bettler bemerkt, dass Pontus auch nicht mehr hat als er selbst, verweigert er jedoch die Annahme, doch Pontus weigert sich seinerseits, die Münze zurückzunehmen, und gerät darüber mit dem Mann in Streit. Als der Verleger des Magazins sich doch noch bequemt hat, Pontus' Manuskript zu lesen, ist er nicht abgeneigt, es zu drucken, verlangt jedoch Änderungen. Der seiner Meinung nach zu überspannt formulierte Text solle von Pontus entschärft und so für die Leser der Zeitschrift leichter verdaulich gemacht werden. Als Honorar stellt der Verleger zehn Kronen in Aussicht, verbunden mit der Frage, ob Pontus knapp bei Kasse sei. Dieser verneint wahrheitswidrig und lehnt damit auch einen sonst sicher gewährten Vorschuss ab, den er dringend hätte brauchen können.


Immerhin hebt der Ausblick auf das Honorar Pontus' Stimmung beträchtlich. Nachdem er nach seinem Rauswurf aus der Wohnung einige Zeit auf der Straße stand und auf einer Parkbank genächtigt hat, sucht er sich eine neue Bleibe. Doch er kann nur die Aussicht auf das Honorar bieten, und so erhält er das Zimmer, das noch kleiner und schäbiger ist als das alte, nur unter dem Vorbehalt, dass er gleich wieder rausfliegt, wenn sich ein anderer Interessent findet, der bereit ist, bar im Voraus zu zahlen. - Beim ziellosen Flanieren in der Stadt geht Pontus in einem Park zwei vornehmen Damen hinterher, zwei Schwestern, wie sich erweist, und er kaspert wieder einmal ohne besonderen Grund herum. Die ältere der beiden ignoriert ihn mit strengem Blick, doch die jüngere, der er den Fantasienamen "Ylajali" gibt (den tatsächlichen Namen erfährt man nicht), bekundet mit ihren Blicken ein gewisses Interesse an dem merkwürdigen jungen Mann. Als er ihr bald darauf allein wieder begegnet, öffnet sie sich weiter. Es wird offenbar, dass sie aus der verordneten Wohlanständigkeit ausbrechen will und einem Abenteuer nicht abgeneigt ist. Doch als sie ihn schließlich mit eindeutigen Absichten mit in die Wohnung nimmt, die sie für ein paar Stunden für sich allein hat, wird er ihr doch etwas unheimlich, sie bekommt im letzten Moment Angst vor der eigenen Courage und lässt ihn abblitzen - und das war es dann mit dieser Bekanntschaft.

Miese Absteige - dabei ist das noch die bessere der beiden Wohnungen
Unterdessen hat Pontus versucht, seinen Text zu überarbeiten, doch schnell wird klar, dass er aufgrund der Umstände gar nicht mehr in der Lage ist, irgendetwas Sinnvolles zu schreiben. Es wird keinen geänderten Text und damit auch kein Honorar geben. Und dann findet sich auch gleich jemand, der sein Zimmer will und bar bezahlt. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit landet Pontus auf der Straße. Gerade, als er im Streit mit seiner Ex-Zimmerwirtin abziehen will, erscheint ein Bote und bringt ihm "von einer Dame" einen Umschlag mit einem Geldschein. Pontus weiß ebenso wie der Zuschauer, dass es sich nur um Ylajali handeln kann. Und wieder einmal steht er sich selbst im Weg. Statt das Geld als Notration für die nächsten Tage zu benutzen, knallt er es mit einer pompösen, pathetischen Geste der Wirtin entgegen und zieht dann ab, ohne sich wenigstens Wechselgeld herausgeben zu lassen. Es ist offensichtlich, dass er jetzt an einem Tiefpunkt angelangt ist. Wie soll es weitergehen? Einer plötzlichen, unerklärlichen Eingebung folgend, geht er (nicht ohne zuvor die Brille abzunehmen) im Hafen an Bord eines russischen Seglers, der seit einigen Tagen ankert und jetzt bereit zum Auslaufen ist, und er fragt, ob man ihn als Matrosen brauchen kann - und er wird tatsächlich genommen. Ein neuer Lebensabschnitt mit ungewissem Ausgang beginnt.


"Sult", auf Deutsch "Hunger", ist der 1890 erschienene erste Roman von Knut Hamsun (1859-1952), und er erregte auf Anhieb Aufsehen und hievte den Autor in die erste Riege der europäischen Literaten. In der Ich-Perspektive des brotlosen Schriftstellers geschrieben, war "Hunger" ein wichtiger Schritt zum stream of consciousness bei Autoren wie James Joyce. Der Roman enthält stark autobiografische Elemente - Hamsun hatte selbst 1886 als erfolgloser Schriftsteller und Journalist in Christiania gelebt und dort am Hungertuch genagt. 1920 erhielt Hamsun für seinen Roman "Markens Grøde" (Segen der Erde) als zweiter Norweger den Nobelpreis für Literatur (dieser Roman bildet auch die Vorlage für den gleichnamigen Film von 1921, der als der erste norwegische Renommierfilm gilt). Hamsun wäre so etwas wie ein norwegisches Nationalidol, wenn er nicht durch seine offene Sympathie für die Nazis seinen Ruf nachhaltig beschädigt hätte. Vollständig in Ungnade gefallen ist er nach 1945 aber dennoch nicht - dafür war er als Schriftsteller einfach zu bedeutend.

Andere haben es besser getroffen als Pontus
Den frühen Werdegang von Henning Carlsen (1927-2014) habe ich schon in meinem Text über seinen ersten Spielfilm DILEMMA geschildert. HUNGER war sein vierter Spielfilm, und er brachte Carlsen den Durchbruch zur ersten Garde der dänischen Regisseure. Der Film lief im Wettbewerb in Cannes, und es gab etliche Preise für Film und Hauptdarsteller. HUNGER war auch Dänemarks Beitrag zum Rennen um den Oscar, schaffte es aber nicht in die Endausscheidung. Dafür ist HUNGER als einer von zwölf Filmen im 2006 erstellten dänischen Kulturkanon enthalten (ebenso wie DITTE MENNESKEBARN). Neben seiner Tätigkeit als Regisseur war Henning Carlsen auch in diversen dänischen und europäischen Filminstitutionen tätig. 2011 legte er mit der García-Márquez-Adaption ERINNERUNG AN MEINE TRAURIGEN HUREN seinen letzten Film vor, 2014 ist er wenige Tage vor seinem 87. Geburtstag gestorben.


Die Initiative zu HUNGER ging allein von Henning Carlsen aus, der den Roman schon als Jugendlicher gelesen und geschätzt hatte. 1965 drehte Carlsen in Stockholm als seinen dritten Spielfilm KATTORNA. Der schwedische Darsteller Per Myrberg spielte darin eine Hauptrolle, und mit seiner hageren Figur gab er Carlsen die Eingebung, mit ihm in der Hauptrolle Hamsuns Roman zu verfilmen. Carlsen wandte sich an Hamsuns ältesten Sohn, der seinen literarischen Nachlass verwaltete, und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass er der vierte Bewerber in kurzer Zeit war, während sich zuvor nie jemand für die Filmrechte interessiert hatte. Carlsen bot für die Rechte dieselbe Summe wie die Konkurrenten plus eine Krone, aber vermutlich bekam er den Zuschlag deshalb, weil er den Stoff als dänisch-norwegisch-schwedische Produktion zu verfilmen gedachte. Das kam dem Bestreben von Hamsun jr. entgegen, den schwer angeschlagenen Ruf seines Vaters mit internationaler Hilfe etwas aufzupolieren. Carlsen bekam also die Rechte, und er holte eine schwedische und eine norwegische Firma an Bord, während seine eigene Firma den dänischen Part stellte. Carlsen ist also auch einer der drei Produzenten des Films. Der finanzielle Beitrag wurde recht gleichmäßig zwischen den Ländern aufgeteilt, während für den künstlerischen Beitrag ein sinnvoller Kompromiss gefunden wurde: Dänemark stellte den Regisseur, die Drehbuchautoren (Carlsen in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Peter Seeberg) und den Kameramann (Carlsens Stammkameramann Henning Kristiansen, der insgesamt ungefähr ein Dutzend Mal für Carlsen gearbeitet hat) sowie mit Birgitte Federspiel eine renommierte Nebendarstellerin (sie hatte u.a. in Carl Theodor Dreyers ORDET die weibliche Hauptrolle gespielt); Schweden stellte im Wesentlichen die beiden Hauptdarsteller; und Norwegen schließlich den Autor der Vorlage, den Drehort und die Mehrzahl der Nebendarsteller und Komparsen.

Beim Pfandleiher
Die beiden Hauptdarsteller bestimmten die Sprache des Films, HUNGER wurde also auf Schwedisch gedreht. Das dänische Kultusministerium, das ein gewisses Mitspracherecht hatte, forderte zunächst, auch eine dänische Sprachfassung anzufertigen, was die Produktion verkompliziert und verteuert hätte, aber zum Glück (wie Carlsen betont) wurde rechtzeitig von dieser Forderung Abstand genommen. Per Myrberg war seinerzeit an einem Stockholmer Theater unter Ingmar Bergman unter Vertrag, er erhielt von diesem aber die Erlaubnis, im Film mitzuspielen. Weil sich die Verhandlungen um die komplizierte Produktionsgemeinschaft hinzogen, fragte Myrberg an deren Ende erneut Bergman um Erlaubnis, erhielt sie abermals, aber gleichzeitig das Angebot, unter Bergman in einer Bühneninszenierung von "Der Florentinerhut" die Hauptrolle zu spielen - und er entschied sich für den renommierten Bergman und gegen den international noch weitgehend unbekannten Carlsen. Damit war dieser seinen Hauptdarsteller los, wegen dem er das ganze Projekt überhaupt losgetreten hatte. Carlsen hielt die Sache damit für gestorben. Aber seine schwedischen und norwegischen Cooperationspartner wollten die Flinte nicht ins Korn werfen. Sie schlugen vor, mit einem anderen Hauptdarsteller weiterzumachen, und jemand brachte Per Oscarsson ins Spiel. Carlsen war wenig begeistert, ging nur pro Forma auf den Vorschlag ein und überlegte sich, wie er aus der Sache rauskam. Doch schnell war er überzeugt, dass er einen noch besseren als den ursprünglich geplanten Hauptdarsteller gefunden hatte.

Ein Bettler ...
Per Oscarsson spielt in HUNGER vielleicht die Rolle seines Lebens. Gleichermaßen exaltiert und fein nuanciert kehrt er Pontus' Inneres nach außen und macht seine Stimmungsschwankungen, seine wirren Visionen und sprunghaften Handlungen greifbar und nachvollziehbar. Er ist einfach umwerfend, und er erhielt etliche Auszeichnungen für seine Leistung, darunter die in Cannes für den besten Schauspieler. Während er vorher schon in Schweden eine Marke war, stieg er nun auch zu internationaler Bekanntheit auf. Oscarsson war ein impulsiver Schauspieler mit Hang zur Improvisation, der ständig Regieanweisungen übertrat, doch Carlsen ließ ihn gewähren. Das kam Gunnel Lindblom aber wenig entgegen. Lindblom ist vor allem für ihre Zusammenarbeit mit Bergman bekannt. Über ein Dutzend Mal spielte sie unter Bergman für Film und TV, darunter Klassiker wie DAS SIEBENTE SIEGEL, WILDE ERDBEEREN, DIE JUNGFRAUENQUELLE, LICHT IM WINTER und DAS SCHWEIGEN, sowie mehrfach auch am Theater. Lindblom erwartete exakte Regieanweisungen, wie sie es vom Meister Bergman gewohnt war. Doch niemand konnte ihr sagen, was Oscarsson als nächstes tun würde, weil der es selbst nicht wusste. Aber am Ende passte das doch alles irgendwie zusammen, weil die unterschiedlichen Schauspielstile die unterschiedlichen Charaktere widerspiegeln: Hier der erratische, unberechenbare Pontus, da die zurückgenommene, gutbürgerliche Ylajali, die ihren Trieben nur sehr kurz freien Lauf lässt. - Per Oscarsson war auch abseits der Kamera für Überraschungen gut. 1966 ließ er in einer Fernsehshow die Hosen runter (die Unterhose behielt er immerhin an), und zur Vorbereitung auf HUNGER ging er zur Überraschung aller zu Fuß von Stockholm nach Oslo, wobei er tagelang mehr oder weniger verschollen war. Ende 2010 starben Oscarsson und seine letzte Frau bei einem Brand in ihrem Haus. Die Leichen konnten erst nach mehreren Tagen identifiziert werden.

... und noch ein armer Schlucker
HUNGER wurde im Herbst 1965 komplett in Oslo gedreht, teilweise an damals noch erhaltenen Originalschauplätzen, der Rest in einem Studio. Bevölkerung und Behörden waren dabei sehr kooperativ. Eigentlich erwartete sich Carlsen von diesem Ort zu dieser Jahreszeit schlechtes Wetter, wie es der Stimmung des Romans und des entstehenden Films entsprach. Doch Petrus machte ihm einen Strich durch die Rechnung - es schien dauernd die Sonne. So wurden von Gebäuden aus große Planen über Straßen und Plätze gespannt, um die Sonne abzuschatten. Auf einer Brücke, wo das nicht möglich war, sollte an einem Wochenende gedreht werden, doch es herrschte wieder mal schönster Sonnenschein. Aber für Montag war Regenwetter angesagt, und so erhielt das Team vom Osloer Polizeichef persönlich die Erlaubnis, am Montag früh zu drehen und zeitweilig einen erheblichen Stau zu verursachen.

Zwei Damen im Park
Carlsen stand bei der Konzeption des Films vor einigen Problemen, die Literaturverfilmungen im Allgemeinen und diese im Besonderen aufwerfen, und er hat sie mit Bravour gelöst. Hamsuns Roman besteht aus aneinandergereihten Episoden, die zusammen ungefähr ein Jahr umfassen, und die kaum dramatische Spannungsbögen umfassen. Mit seinem Coautor Peter Seeberg nahm Hamsun die nötigen Kürzungen und Zuspitzungen vor, was an sich nicht schwer war, weil es im Roman ohnehin mehr um die Innenwelt des Protagonisten als um die äußere Handlung geht. Seeberg schoss über das Ziel hinaus und entwarf für alle möglichen Personen Nebenhandlungen, die nicht im Roman stehen, aber Carlsen konnte ihn einbremsen und einen Konsens herstellen. Der Roman ist, wie schon erwähnt, in der 1. Person geschrieben. Carlsen wollte das irgendwie in den Film hinüberretten, ohne jedoch einen Inneren Monolog von Pontus als Off-Kommentar zu verwenden. Er löste das Problem gemeinsam mit Kameramann Kristiansen, indem die Kamera den ganzen Film über entweder regelrecht an Pontus klebt, oder aber seinen subjektiven Blick wiedergibt (oder zeigt, was er gerade denkt, träumt oder halluziniert). Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass der 1890 erschienene Roman auch in diesem Jahr spielt, also eine seinerzeit alltägliche Welt beschreibt. Der 1966 erschienene Film sollte nun - für den Zuschauer jederzeit glaubwürdig - auch im Jahr 1890 spielen, dabei aber ebenfalls den Eindruck von Alltäglichkeit erwecken. Deshalb sollte jeder Anschein eines Historienfilms oder Kostümschinkens vermieden werden. Neben der in solchen Fällen naheliegenden Entscheidung, in Schwarzweiß zu drehen (was natürlich auch finanzielle Vorteile birgt), kam Carlsen wiederum in Zusammenarbeit mit Kristiansen auf die Lösung, ausgiebig Linsen mit großer Brennweite zu verwenden, was gleichzeitig Nähe und Distanz erzeugt und den von Carlsen erwünschten Effekt ermöglicht. Außerdem wurden zwar bei den Aufnahmen alle anachronistischen Gegenstände aus dem Bildbereich entfernt oder verdeckt, ansonsten aber nahm sich Carlsen bei der Ausstattung zurück. So waren etwa bei der Szene, in der sich Pontus bei der Feuerwehr bewirbt, historische Feuerwehrwagen zugegen. Doch statt damit zu prunken, beließ sie Carlsen kaum sichtbar in einem Schuppen.

"Ylajali"
Einen wichtigen Beitrag zur zeitlosen Wirkung von HUNGER leistet die wunderbare Musik von Krzysztof Komeda. Carlsen hatte den polnischen Jazz-Pianisten und Komponisten einige Jahre zuvor in einem Jazzclub in Kopenhagen kennengelernt. Komeda ist Filmfreunden vor allem als regelmäßiger Tonsetzer für Roman Polanski bekannt - er schrieb schon die Musik für einige von Polanskis frühen Kurzfilmen, und dann für alle Spielfilme von DAS MESSER IM WASSER bis ROSEMARY'S BABY mit Ausnahme von EKEL. Doch auch für Carlsen wurde Komeda zum Stammkomponisten. Die beiden wurden Freunde, und Komeda vertonte Carlsens Spielfilme von HVAD MED OS? (1963) über KATTORNA und HUNGER bis zu SIE TREFFEN SICH, SIE LIEBEN SICH, UND IHR HERZ IST VOLLER SÜSSER MUSIK (1967). Komeda hätte die Zusammenarbeit mit Polanski und Carlsen (und weiteren Regisseuren wie Jerzy Skolimowski) fortgesetzt, wenn er nicht 1969 an den Folgen eines tragischen Unfalls verstorben wäre. Sein sparsam komponierter und sparsam eingesetzter Soundtrack für HUNGER wird dominiert von sphärisch-künstlich klingenden Streichern und minimalistisch angeordneten Klaviertönen. Mich hat diese Musik etwas an Scores von Giovanni Fusco für Resnais oder Antonioni erinnert.

Abendliches Rendezvous ...
HUNGER ist in den USA auf einer DVD mit englischen und französischen Untertiteln, sowie in Dänemark mit Untertiteln in gleich acht Sprachen, darunter Deutsch, erschienen. Beide Ausgaben bieten als Bonus ein 40-minütiges Video-Statement mit Carlsen, in dem er die Entstehungsgeschichte des Films nacherzählt sowie einige seiner künstlerischen Entscheidungen nachvollziehbar macht. Als weiterer Bonusfilm ist jeweils ein halbstündiges Gespräch enthalten, das (in gut verständlichem Englisch) Paul Auster und Hamsuns Enkelin Regine Hamsun 2002 über den Film und seine Begleitumstände führten. Eine französische DVD gibt es daneben auch noch. Und in Norwegen ist gar eine Box mit sechs DVDs (mit Untertiteln in verschiedenen Sprachen) erschienen, die fünf Hamsun-Verfilmungen (neben HUNGER u.a. der ebenfalls von Henning Carlsen inszenierte PAN sowie der oben erwähnte MARKENS GRØDE) sowie Jan Troells 1996 gedrehte Hamsun-Biografie mit Max von Sydow in der Titelrolle enthält. - 2001 drehte die Regisseurin Maria Giese mit HUNGER eine nach Los Angeles versetzte Version von Hamsuns Roman, und der aktuelle griechische Film TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU, den David kürzlich auf der Viennale sah, gilt als freie Übertragung des Stoffs in die Welt der griechischen Sparpolitik (ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt).

... mit unbefriedigendem Ausgang

Dienstag, 12. August 2014

Ein Komet streift die Erde, und Dänen fliegen zum Mars

HIMMELSKIBET (FLUG ZUM MARS, auch DAS HIMMELSSCHIFF)
Dänemark 1918
Regie: Holger-Madsen
Darsteller: Gunnar Tolnæs (Avanti Planetaros), Nicolai Neiiendam (Prof. Planetaros), Zanny Petersen (Corona Planetaros), Alf Blütecher (Dr. Krafft), Philip Bech (Weiser vom Mars), Lilly Jacobson (Marya), Svend Kornbeck (David Dane), Birger von Cotta-Schønberg (der Asiate), Frederik Jacobsen (Prof. Dubius)

VERDENS UNDERGANG (DAS ENDE DER WELT, auch DAS JÜNGSTE GERICHT)
Dänemark 1916
Regie: August Blom
Darsteller: Olaf Fønss (Frank Stoll), Ebba Thomsen (Dina West), Johanne Fritz-Petersen (Edith West), Alf Blütecher (Reymers), Carl Lauritzen (West), Frederik Jacobsen (Wanderprediger), Thorleif Lund (Flint), K. Zimmerman (Prof. Wissmann/Wisemann)

HIMMELSKIBET - Ein Ritter bei der Minne? Nein, ein Erdling und zwei Marsianer!
Diesmal geht es um zwei dänische Stummfilme aus dem Bereich der Phantastik, aus den 1910er Jahren, der Goldenen Zeit des dänischen Films. Damals war Dänemark neben Frankreich, Italien und den USA die führende Filmnation und stellte Deutschland in den Schatten. Größte Produktionsfirma war die 1906 gegründete Nordisk Films Kompagni, die immer noch existiert und als ältestes Studio der Welt gilt. VERDENS UNDERGANG und HIMMELSKIBET wurden ebenfalls von Nordisk produziert. 2005/2006 wurden beide Filme vom Dänischen Filminstitut restauriert und gemeinsam auf einer DVD herausgebracht.

HIMMELSKIBET - Raumschiff zum Mars

HIMMELSKIBET


Der abenteuerlustige Kapitän Avanti Planetaros ist gerade von einer langen Forschungsreise zurückgekehrt und sieht sich nach einer neuen Aufgabe um. Die findet er schnell im Observatorium seines Vaters, des Astronomen Professor Planetaros. So viele Geheimnisse, so viele unerforschte Welten! Man müsste da einfach mal hinfliegen, am besten zum Mars. Da trifft es sich gut, dass Avantis Freund Dr. Krafft ein begabter Wissenschaftler und Ingenieur ist. Er erklärt sich bereit, das benötigte Raumschiff zu bauen. Beflügelt wird sein Ehrgeiz auch dadurch, dass er ein Auge auf Avantis Schwester Corona geworfen hat und er zu Recht hofft, durch seinen Einsatz ihr Herz zu gewinnen. Nach zwei Jahren Konstruktions- und Bauzeit ist das Raumschiff "Excelsior" fertig. Nun ja, "Raumschiff" ... das Ding ist ein dickbäuchiges Flugzeug, mit Flügeln und einem Heckpropeller. Aber mit einer nicht näher erläuterten Erfindung schafft es Krafft, die nötige schwindelerregende Geschwindigkeit zu erreichen. Von innen erinnert das Gefährt an ein U-Boot, abgesehen davon, dass es Fenster gibt.

HIMMELSKIBET - Im Observatorium von Prof. Planetaros (Prof. Wissmann benützt übrigens das selbe);
der Mars (man beachte die berühmten Marskanäle); Position von Erde und Mars bei Abflug und Ankunft
Bei einer Versammlung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen wird das Projekt vorgestellt. Es erntet allgemeine Begeisterung, nur einer protestiert: Prof. Planetaros' Kollege Prof. Dubius. Er erklärt das Unterfangen für unmöglich, macht sich hämisch über Vater und Sohn Planetaros lustig und prophezeit den unvermeidlichen Tod der Besatzung. Doch der Miesepeter wird nicht weiter beachtet. Zusätzlich zu Avanti und Dr. Krafft, die die Bedienungsmannschaft der Excelsior bilden, wird noch eine Handvoll Passagiere ausgewählt, darunter der etwas ungehobelte Amerikaner David Dane und ein "Abgesandter des Ostens" (der von einem Dänen gespielt wird, so dass unklar ist, ob das ein Inder, Chinese oder sonstwas sein soll). Frauen sind an Bord zunächst nicht vorgesehen - Corona bleibt bei ihrem Vater.

HIMMELSKIBET - zu den Sternen!
Der Start klappt problemlos, aber auf dem mehrmonatigen Flug bricht Langeweile und Lagerkoller aus. Es kommt sogar zu einer Meuterei, angezettelt von David Dane, der sich als Alkoholiker entpuppt und der entsprechenden Stoff an Bord geschmuggelt hat. Gerade noch rechtzeitig, bevor es in der Excelsior zu einer Schießerei kommt, kommt man am Mars an, und die Wogen glätten sich. Der Mars ist - wie könnte es anders sein - bewohnt, und zwar von einem humanoiden Volk, weiß gewandet, pazifistisch und esoterisch angehaucht. Mit ihren fantasievollen Kostümen und Kopfbedeckungen wirken die Marsianer wie eine Mischung einiger echter oder mythischer irdischer Völker, von den alten Ägyptern (auf einigen Gewändern ist das Zeichen Anch zu erkennen) bis zur höfischen Welt des Mittelalters. Die Outfits sind nicht so bizarr wie die der Marsianer in Jakow Protasanows sowjetischem Klassiker AELITA (1924), wo sich Kostümbildnerin Alexandra Exter bis zum Äußersten austoben durfte, aber doch durchaus originell.

HIMMELSKIBET - das Innere der Excelsior
Sprecher der Marsbewohner ist der Älteste des Weisenrats, und er empfängt die Neuankömmlinge freundlich. Doch schnell kommt es zu kulturellen Missverständnissen. Um den vegetarischen Marsmenschen zu demonstrieren, dass man sich auch von Fleisch ernähren kann, schießt der forsche Avanti einen Vogel vom Himmel - ein Sakrileg. Als es dadurch zu einem kleinen Tumult kommt, wirft einer sogar eine Art Handgranate, wodurch ein Marsianer schwer verletzt wird. Jetzt herrscht endgültig dicke Luft, und die Besucher werden in eine Art Gerichtsgebäude gebracht. Wer aber eine strenge Aburteilung erwartet, sieht sich getäuscht. Vielmehr sollen die Frevler selbst über ihr Verhalten befinden. In einer Zeremonie, die von Marya, der Tochter des Ober-Weisen, geleitet wird, wird in einem Film die Vergangenheit des Mars gezeigt. Früher waren auch die Marsmenschen kriegerisch und gewalttätig (wobei die Kriegsparteien in dem Film etwas an Indianer oder Steinzeitmenschen und an römische Legionäre erinnern), doch dann fanden sie zu ihrer pazifistischen Gesellschaftsordnung. Die Erdlinge zeigen sich nun geläutert und bekennen ihr Unrecht, selbst der Rabauke Dane wird ganz zahm. Zum Zeichen, dass man ihnen vergibt und sie in die Mars-Gesellschaft aufnimmt, hängt man den Raumfahrern weiße Capes um. Um zu demonstrieren, wie fortschrittlich diese Mars-Justiz ist, wird in einer Doppelbelichtung ein verurteilter Verbrecher auf der Erde gezeigt, der in seine Kerkerzelle gesperrt wird.

HIMMELSKIBET - Marsianer
Die Erdlinge verbringen nun einige angenehme Wochen oder Monate auf dem Mars ohne besondere Vorkommnisse, abgesehen davon, dass sich Avanti und Marya ineinander verlieben. Doch schließlich wollen die meisten wieder zurück zur Erde, vor allem Dr. Krafft, der endlich Corona wiedersehen will. Avanti will zunächst auf dem Mars bei Marya bleiben, wird aber überzeugt, dass auch er zurück muss. So beschließt stattdessen Marya mit Billigung ihres Vaters, mit auf die Erde zu fliegen. Unterdessen wachsen auf der Erde die Zweifel, ob es die Raumfahrer wirklich geschafft haben. Prof. Planetaros wird vor Sorge krank, und Prof. Dubius tut sein Bestes, um ihm die Hoffnung zu nehmen und ihm Schuldgefühle einzureden. Auf dem Mars spürt der Weise, Maryas Vater, dass sein Leben zu Ende geht. In einer esoterischen Zeremonie verabschiedet er sich von seinem Volk und vom irdischen (Verzeihung: vom marsischen) Leben und wird dann in einem kleinen Boot auf eine Art überirdische bzw. übermarsische Insel entrückt, so wie König Artus, der im Mythos nach dem Ende seiner irdischen Existenz auf der Insel Avalon weiterlebte. Dann erfolgt der Start der Excelsior. Der Rückflug verläuft problemlos, nur beim Endanflug auf Kopenhagen gerät man in ein schweres Unwetter. Die Excelsior übersteht das Gewitter ohne Schaden, aber Prof. Dubius, der einen Berggipfel erklommen hat, um die Ankunft des Raumschiffs zu beobachten, wird zur Strafe für sein Lästermaul vom Blitz erschlagen. In der Villa der Familie Planetaros kommt es zum Wiedersehen. Dr. Krafft bekommt seine Corona, und Marya wird nicht nur als Avantis Verlobte empfangen, sondern auch als Botschafterin einer neuen, nämlich einer pazifistischen Gesellschaftsordnung.

HIMMELSKIBET - Marya mit ihrem Vater und mit Avanti Planetaros
HIMMELSKIBET ist nicht wirklich spannend oder dramatisch, aber er ist flüssig erzählt und durchaus unterhaltsam. Dass manches heute unfreiwillig komisch wirkt, sollte man dem Film gerne nachsehen. Was den Naivitätsfaktor bezüglich Raumfahrttechnik betrifft, ist er irgendwo zwischen Georges Méliès' LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902), in dem die Protagonisten kurzerhand mit einer überdimensionalen Kanone zum Mond geschossen werden, und AELITA angesiedelt. In letzterem ist das Raumschiff nur kurz und nicht in voller Größe zu sehen, verfügt aber offensichtlich über einen Raketenantrieb. Von Fritz Langs FRAU IM MOND (1929) sind alle diese Filme raketentechnisch meilenweit entfernt, aber der hatte auch einen Hermann Oberth als Berater und natürlich viel mehr Geld zur Verfügung. Interessanter sind die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die man auf den roten Planeten projizierte. Während bei AELITA auf dem Mars eine Karikatur des Kapitalismus herrscht (die auch einige Elemente von METROPOLIS vorwegnimmt) und eine marsianische Oktoberrevolution provoziert (was sich am Ende alles als Fantasie des irdischen Protagonisten entpuppt), gibt es bei HIMMELSKIBET also eine pazifistische Utopie. Zeitgeschichtlicher Hintergrund dafür ist selbstverständlich der Erste Weltkrieg, der schon seit über drei Jahren tobte, als der Film gedreht wurde, und bei dem zumindest für militärische Laien noch kein Ende absehbar war. Auch im neutralen Dänemark war in weiten Kreisen die Friedenssehnsucht groß. Und nebenbei war der Krieg auch eine der Ursachen für den wirtschaflichen Bedeutungsverlust der dänischen Filmindustrie, der damals schon eingesetzt hatte.

VERDENS UNDERGANG - ein Komet am Himmel
Letztgenannter Aspekt ist nicht ganz an den Haaren herbeigezogen, denn das Drehbuch zu HIMMELSKIBET schrieben der Dichter und Schriftsteller Sophus Michaëlis und Ole Olsen, und letzterer war kein Anderer als der Gründer und bis zu seinem Ruhestand 1924 Chef von Nordisk. Aber vielleicht kam die Idee zum pazifistischen Stoff gar nicht von Olsen oder Michaëlis, denn wie man Wikipedia entnehmen kann, gibt es in der Handlung deutliche Parallelen zu dem 1910 bzw. 1914 erschienenen zweibändigen Roman "Die Weltensegler" des deutschen Chemikers, Arztes und Schriftstellers Albert Daiber. - Regisseur Holger-Madsen (1878-1943) hieß eigentlich Holger Madsen, und wegen der ungewöhnlichen Schreibweise, die er seinem Namen verpasst hatte, trug er den Spitznamen "Holger Bindestreg", also "Holger Bindestrich". Als Theaterdarsteller ausgebildet, versuchte er sich ab 1908 auch als Filmschauspieler und ab 1912 als Regisseur. Als Vertragsregisseur bei Nordisk inszenierte er in den 10er Jahren rund 80 Filme, dann, in den 20er Jahren, ein gutes Dutzend in Deutschland. In den 30er Jahren schließlich ging er zurück nach Dänemark und ließ seine Karriere mit drei Tonfilmen ausklingen. Schon 1914, noch vor Ausbruch des Kriegs, hatte Holger-Madsen mit NED MED VÅBNENE (DIE WAFFEN NIEDER!) nach dem Roman von Bertha von Suttner einen pazifistischen Film gedreht (das Drehbuch schrieb Carl Theodor Dreyer), und 1917 folgte mit PAX ÆTERNA ein weiterer Antikriegsfilm. Anscheinend war Holger-Madsen dem Thema Pazifismus also auch persönlich zugetan. - Sophus Michaëlis verarbeitete den Stoff von HIMMELSKIBET zu einem 1921 veröffentlichten kurzen Roman (ca. 200 Seiten) mit demselben Titel, der 1926 als "Das Himmelsschiff" auch auf Deutsch erschien. Die deutsche Ausgabe ist antiquarisch noch zu bekommen, und wer Dänisch beherrscht, kann den Roman auch kostenlos online lesen oder als Textdatei herunterladen (im Zeichensatz UTF-8). Wer auf wissenschaftlicher Ebene noch mehr über den Film und Michaëlis' Roman dazu erfahren will (und ein paar Euro übrig hat), kann in dieser über tausendseitigen Habilitationsschrift etwas darüber lesen. Und über Otto Rung, den Drehbuchautor von VERDENS UNDERGANG, erfährt man darin auch etwas.

VERDENS UNDERGANG - Reymers mit Edith West und auf See

VERDENS UNDERGANG


Ein kleines Bergwerksstädtchen an der Küste. Bergwerksbesitzer Frank Stoll ist zu einer Inspektionsvisite anwesend, und bei einem Tanzvergnügen läuft er Dina West über den Weg, der Tochter seines hiesigen Verwalters. Dina ist eigentlich mit dem etwas grobschlächtigen Minenarbeiter Flint verbandelt, aber der virile, selbstbewusste und gut betuchte Stoll fasziniert sie sofort, und auch Stoll findet Gefallen an Dina. Beim selben Tanzfest trifft Dinas jüngere Schwester Edith ihren Freund aus Kindertagen Reymers wieder, der gerade seine Ausbildung zum Seemann absolviert, und auch zwischen ihnen funkt es. Dina und Stoll entschließen sich zu einem gemeinsamen Leben, und weil sie dafür die Erlaubnis von Dinas sittenstrengem Vater nicht erhoffen können, bereiten sie Dinas Flucht vor. Der eifersüchtige Flint riecht Lunte, aber er kann die Abreise des Paars nicht verhindern. - Einige Jahre später. Dina und Stoll leben in der Hauptstadt. Stoll hat durch Börsengeschäfte seinen Reichtum noch beträchtlich vermehrt, und Dina hat wenig zu tun und langweilt sich etwas, ist aber ansonsten glücklich - die Ehe mit Stoll funktioniert. Reymers hat inzwischen seine Prüfungen abgelegt und ist jetzt Steuermann. Eine baldige Hochzeit mit Edith ist in Sicht, aber zunächst muss er auf seine erste größere Fahrt.

VERDENS UNDERGANG - Stoll im Stollen
Der Lauf der Dinge gerät aus der Ordnung, als Stolls Cousin, der Astronom Prof. Wissmann (in der rekonstruierten Fassung des Films wurde daraus Prof. Wisemann), eine Entdeckung macht: Ein unbekannter Komet rast auf die Erde zu! Als erste Nachrichten davon an die Öffentlichkeit dringen, kommt es an der Börse zu Panikverkäufen und die Kurse fallen ins Bodenlose. Stoll nutzt die Situation und kauft sämtliche Papiere auf, die er kriegen kann. Prof. Wissmann präsentiert seine Erkenntnisse der Astronomischen Vereinigung, und nach gründlicher Prüfung seiner Beobachtungen und Bahnberechnungen ist man sich einig: Der Komet wird in die Erdatmosphäre eindringen und schwere Verwüstungen anrichten, und gerade im Nordwesten Europas wird es besonders schlimm werden - hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Doch um eine Panik zu verhindern, beschließt das Gremium, diese bittere Wahrheit zunächst unter Verschluss zu halten. Stoll jedoch nutzt seinen Draht zu Wissmann, um ihm die Information zu entlocken. Und dann setzt er mit Hilfe eines befreundeten Zeitungsherausgebers die Fehlinformation in die Welt, der Komet werde die Erde verfehlen. Wissmann schäumt vor Wut, aber er kann nichts machen - würde er an die Öffentlichkeit gehen, würde er sich selbst diskreditieren. Durch die vermeintliche Entwarnung steigen die Aktienkurse wieder auf Normalwerte, und Stoll hat mit einem Schlag sein Vermögen vervielfacht.

VERDENS UNDERGANG - das Bombardement beginnt
Doch wie soll es weitergehen? Stoll hat einen Plan. Im Bergwerksstädtchen, aus dem Dina stammt, besitzt er eine Zweitvilla, und darin führt ein Geheimgang in die Stollen seiner Bergwerke, wo er tief unter Tage die Katastrophe zu überstehen hofft. Kurz vor dem berechneten Zusammentreffen macht er sich mit Dina auf den Weg. Dinas erster Besuch in der Heimat nach ihrer Flucht verläuft unerfreulich. Der alte West, der seiner älteren Tochter nie vergeben hat, erleidet bei ihrem Anblick einen Herzanfall und stirbt kurz darauf. Und der immer noch grollende Flint kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, über Stoll herzufallen. Pünktlich zum Kollisionstermin lädt Stoll seine reichen Freunde ein und feiert in der Villa eine dekadente Weltuntergangsparty, mit üppigem Bankett und einem "Sternenballett" mit Dina als Ausdruckstänzerin, während schon erste Meteorite niedergehen. Doch Ballett und Party werden jäh unterbrochen, aber nicht vom Kometen. Flint hat seine Kollegen angestachelt, sich von den Reichen zurückzuholen, was diese seit Jahrzehnten aus den Arbeitern herausgesaugt haben, und so macht sich ein mit Hacken und Gewehren bewaffneter Mob auf den Weg und stürmt Stolls Villa. Es kommt zu einer Schießerei, und Dina wird getroffen. Stoll flieht mit Dina in den Geheimgang, Flint hinterher. Im Dunkel eines Bergwerksstollens erliegt Dina ihrer Verletzung, und wenig später zeigt sich, dass Stolls Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt war: Vom Kometen freigesetzte giftige Gase dringen in die Stollen, und Stoll erstickt ebenso wie Flint.

VERDENS UNDERGANG - Stoll auf seiner Weltuntergangsparty
Unterdessen hat sich der kosmische Beschuss zu einem Inferno gesteigert. Überall fallen glühende Gesteinsbrocken vom Himmel, überall brennt und qualmt es, und wie angekündigt bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Dann erhebt sich auch noch das Meer, wie es im Zwischentitel heißt - heute würde man sagen, es gibt einen Tsunami. Am nächsten Morgen ist das Bombardement vorbei, aber das Wasser steht an der Küste noch meterhoch und fließt nur langsam ab, und am trockenen Land gibt es nur noch trostlose rauchende Ruinen. Doch selbst in der größten Katastrophe gibt es noch einen Lichtblick: Edith und Reymers haben überlebt, und sie finden zueinander.

VERDENS UNDERGANG - Sternenballett mit Dina als Tänzerin
Man kann VERDENS UNDERGANG mit Fug und Recht als Katastrophenfilm bezeichnen. Sicher nicht der erste (es gab beispielsweise schon mindestens drei Versionen von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI), aber doch ein früher Vertreter des Genres. Im direkten Vergleich zwischen HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG ist letzterer der bessere Film - es gibt hier keinen unfreiwilligen Humor, dafür echte Dramatik, das Spiel der Darsteller ist weitgehend naturalistisch und überzeugend (nur in der Schlussszene wird ordentlich auf die Pathos-Tube gedrückt), während bei HIMMELSKIBET das Spiel manchmal doch etwas exaltiert wirkt, und August Blom und seinem Kameramann Louis Larsen (derselbe wie bei HIMMELSKIBET) gelingen sehr schöne Bildkompositionen. Die Apokalypse ist über weite Strecken überzeugend gefilmt, und einige Bilder der halb verkohlten Ruinen wirken richtiggehend beklemmend. Nach Inspirationsquellen dafür mussten die Filmleute nicht lange suchen - es waren natürlich die Bilder der echten Schlachtfelder des Weltkriegs, der somit auch diesem Film seinen Stempel aufdrückte.

VERDENS UNDERGANG - Flut; Edith rettet sich auf das Dach ihres Elternhauses
Aber natürlich wurde VERDENS UNDERGANG von einem anderen Ereignis noch direkter inspiriert, nämlich vom Halleyschen Kometen und der durch ihn verursachten Panik. Zunächst erschien Anfang 1910, noch vor dem lange angekündigten Halley, völlig unerwartet der Johannesburger Komet, der noch heller (und vielleicht sogar der hellste Komet des 20. Jahrhunderts) war, und im April des Jahres wurde dann Halley, der Star unter den Kometen, für das bloße Auge sichtbar. Eine Kollision stand zwar nicht zu befürchten, aber während der Annäherungsphase hatten Astronomen in Halleys Schweif das mit der Blausäure verwandte Dicyan spektroskopisch nachgewiesen. Weil die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne auch den Kometenschweif durchfliegen würde, äußerte der französische Astronom Camille Flammarion (der auch fantasievolle Theorien über die Marsbewohner vertrat und sich ausgiebig mit Parapsychologie beschäftigte) die Befürchtung, die Kometengase würden die Atmosphäre vergiften und die Erde zu einem lebensfeindlichen Ort machen. Andere Astronomen widersprachen sofort, aber die Sensationspresse griff das Thema begeistert auf. Natürlich ließ sich nicht jeder ins Bockshorn jagen, aber die Verkaufszahlen von Gasmasken, "Antikometenpillen" (die im Fall einer tatsächlichen Vergiftung natürlich völlig wirkungslos gewesen wären) und "Antikometenschirmen" erreichten ungeahnte Höhen. Doch der Kometenkern war auch bei seiner größten Annäherung an die Erde noch mehr als 50 mal so weit entfernt wie der Mond, und in den Weiten des Weltraums waren die Kometengase (an denen Dicyan ohnehin nur einen geringen Anteil hatte) so weit verdünnt, dass für die Erde nie eine Gefahr bestand. Als der Kometenschweif durchquert und nichts passiert war, war der Rummel schnell zu Ende, aber 1916 erinnerte man sich natürlich noch lebhaft daran.

VERDENS UNDERGANG - Edith in verbrannter Erde
August Blom (1869-1947) hatte einen ähnlichen Werdegang wie Holger-Madsen. Auch er war zunächst Theaterschauspieler, dann Filmschauspieler und schließlich Regisseur. Von 1910 bis 1925 war er wie Holger-Madsen einer der wichtigsten Hausregisseure bei Nordisk, danach ließ er den Regiestuhl hinter sich und lebte als Kinobetreiber. Johanne Fritz-Petersen, die Darstellerin der Edith West, war ab 1917 seine zweite Frau. - Die schon erwähnte DVD vom Dänischen Filminstitut hat Texttafeln, in denen dänische und englische Zwischentitel untereinander angeordnet sind, zusätzliche Untertitel sind nicht vorhanden. In Deutschland wird diese Scheibe in der Edition Filmmuseum vertrieben. Auf der Website des Dänischen Filminstituts kann man HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG kostenlos online ansehen (hinter "Filmklip" verbirgt sich jeweils der komplette Film), allerdings in mäßiger Bildqualität und ohne Ton, während auf der DVD das Bild gut ist und es eine Klavierbegleitung gibt.

VERDENS UNDERGANG - Neuanfang zu zweit

Freitag, 12. Oktober 2012

Ditte - Neorealismus auf Dänisch

DITTE MENNESKEBARN (BRD-Titel DITTE - EIN MENSCHENKIND, DDR-Titel DITTE MENSCHENKIND)
Dänemark 1946
Regie: Bjarne Henning-Jensen
Darsteller: Tove Maës (Ditte), Edvin Tiemroth (Lars Peter Hansen), Karen Lykkehus (Sørine), Karen Poulsen (Maren), Rasmus Ottesen (Søren), Ebbe Rode (Johannes), Maria Garland (Karen), Preben Neergard (Karl), Kai Holm (Wirt), Jette Kehlet (= Jette Ziegler, Ditte als Kind)


Das mit dem Neorealismus sollte man nicht zu wörtlich nehmen: DITTE MENNESKEBARN ist keine Kopie italienischer Klassiker wie OSSESSIONE oder ROM, OFFENE STADT; andere Hauptwerke des Neorealismus wie FAHRRADDIEBE oder BITTERER REIS entstanden ohnehin etwas später. (Wenn ich überhaupt irgendeinen italienischen Film als Vergleich heranziehen müsste, dann vielleicht am ehesten LA STRADA.) Aber DITTE MENNESKEBARN durchzieht in Handlung und Bildsprache ein realistischer Gestus; der Film reiht sich damit nahtlos ein in die realistische Strömung, die in etlichen europäischen Ländern, vor allem eben in Italien, den Film der Nachkriegszeit prägte - laut dem Filmhistoriker Ib Monty ist DITTE MENNESKEBARN der erste dänische Film, für den das zutrifft. Einzelne Szenen scheinen dem zuwiderzulaufen, vor allem eine kurze Traumsequenz, in der sich Ditte als Aschenputtel sieht, die vom Prinzen erwählt wird. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Es ist gerade die im Film geschilderte bittere soziale Not, die solche Träume gebiert. Es gibt keinen einzelnen großen Spannungsbogen, sondern der episodisch aufgebaute Film folgt dem Leben seiner Heldin von der Geburt bis zum Alter von vielleicht 16 oder 17 Jahren.

Mit Geld regelt sich alles
DITTE MENNESKEBARN ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexø (gelegentlich auch Nexö geschrieben), des bedeutendsten dänischen Arbeiterschriftstellers, von dem auch die Romanvorlage zu Bille Augusts PELLE, DER EROBERER stammt. Um genau zu sein, der Film beruht auf den ersten drei Bänden des Romans, der von 1917 bis 1921 in fünf Bänden erschien. Andersen Nexø war zunächst Sozialdemokrat, nach dem ersten Weltkrieg dann Kommunist (er verbrachte seine letzten Jahre in der DDR, wo er etliche Ehrungen erhielt), und er schildert in seinen Romanzyklen die harschen Lebensbedingungen der dänischen Arbeiter, Bauern und Fischer und die krassen Klassengegensätze in den Zeiten vor und nach der vorletzten Jahrhunderwende. Während etwa seine Romanhelden Pelle oder Morten Kämpfernaturen sind, übernimmt Ditte die Opferrolle, mit der sie alle Unbill klaglos erträgt.

Klein-Ditte und ihre Großmutter
Der humanistische Geist, der Martin Andersen Nexøs Romane durchzieht, wurde von den Henning-Jensens souverän auf den Film übertragen. DITTE MENNESKEBARN ist ein Familienunternehmen: Bjarnes Frau Astrid Henning-Jensen, seit 1938 mit ihm verheiratet, war Regieassistentin. Beim nächsten und drei weiteren Spielfilmen des Paars fungierte Astrid als gleichberechtigte Co-Regisseurin, wie schon zuvor bei einigen Dokumentarfilmen, und auch bei DITTE MENNESKEBARN dürfte ihr Anteil an der Inszenierung größer gewesen sein, als es der offizielle Titel der Regieassistentin nahelegt. DITTE MENNESKEBARN machte das Paar auch international bekannt, und Astrid überflügelte Bjarne bald an Bedeutung. Während er sich nach den gemeinsamen Filmen mit Astrid in den 50er Jahren wieder dem Dokumentarfilm zuwandte, mit dem er Anfang der 40er Jahre begonnen hatte, inszenierte sie seitdem ihre Spielfilme alleine, und sie wurde die bekannteste dänische Regisseurin ihrer Zeit. Nach einigen Flops in den 60er Jahren sank ihr Stern, aber mit Alterswerken wie VINTERBØRN (dt. WINTERKINDER) lief sie wieder zu großer Form auf. Für diesen Film gewann sie 1979 bei der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Regie, und 1981 saß sie in Berlin in der Jury.

Ditte bekommt einen Papa
DITTE MENNESKEBARN beginnt mit Dittes Geburt. Ihre Mutter Sørine, die Tochter eines armen Fischers, ist nicht verheiratet. Der Vater des Kindes ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, und er denkt nicht daran, Sørine zu ehelichen. Ihr Vater Søren bricht entschlossen zum Gutshof auf, um den Kindsvater zur Hochzeit mit seiner Tochter aufzufordern, aber als er kleinlaut zurückkehrt, hat er nur ein Bündel Geldscheine in der Hand, mit dem er abgespeist wurde, und damit ist die Sache erledigt. Die uneheliche Geburt wird auch offiziell in der Geburtsurkunde festgehalten - ein Stigma, das Sørine und Ditte ein Leben lang anhaften wird. Um die 200 Kronen vom Gutsbesitzer nicht vorschnell aufzubrauchen, werden sie in eine Bettdecke eingenäht, und Søren, der sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen hat, beginnt wieder als Fischer zu arbeiten. Doch die schwere Arbeit zehrt an seinen Kräften, und nach einigen Jahren stirbt er an Erschöpfung. Ditte, jetzt ca. vier oder fünf Jahre alt, lebt nun allein bei ihrer Großmutter Maren, der Witwe von Søren. Sørine lebt und arbeitet anderswo, um dem Gerede im Dorf zu entgehen, und hat kaum Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter. Ditte und Maren stützen sich im schweren Alltag gegenseitig und haben ein inniges Verhältnis zueinander, aber Ditte leidet darunter, dass sie keinen Vater hat wie all die anderen Kinder. Umso mehr freut sie sich, als der Fisch- und Lumpenverkäufer Lars Peter Hansen bei Maren auftaucht und erzählt, dass er mit Sørine zusammenlebt und sie heiraten will. Lars Peter ist ein einfacher, aber ungemein liebenswerter Mann, der sich sofort mit Maren und Ditte versteht. Etwas später will Sørine Ditte zu sich holen. Lars Peter ist der Meinung, dass sie eigentlich bei Maren besser aufgehoben ist, aber Sørine setzt sich durch, und so zieht Ditte zu Lars Peter und ihrer durch die lange Trennung entfremdeten Mutter.

Familienleben im Krähennest
Einige Jahre später. Lars Peter und Sørine, inzwischen verheiratet, haben drei weitere Kinder bekommen, und Ditte muss bei der Versorgung ihrer Stiefgeschwister mithelfen, was sie aber gerne übernimmt. Sørine ist durch die Arbeit und die Armut permanent überlastet, durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie verbittert, und ihr Verhältnis zu Ditte bleibt unterkühlt. Als sie Ditte wegen einer Lappalie übel verprügelt, verhindert Lars Peters energisches Eingreifen weitere derartige Exzesse. Eines Tages erinnert sich Sørine an die 200 Kronen, die noch immer in der Bettdecke eingenäht sind, und teils aus Not, teils aus Gier fordert sie von Maren die Herausgabe. Diese weigert sich, weil sie das Geld erst der erwachsenen Ditte als eine Art Mitgift aushändigen will. Es kommt zum Kampf um das Geld, und im Tumult erwürgt Sørine die eigene Mutter, mit Ditte als unfreiwilliger Zeugin. Ditte sagt zu niemandem etwas, und Sørine tut so, als ob nichts gewesen sei. Aber Nachbarn haben ihre Anwesenheit bemerkt, und bald wird Sørine von der Polizei abgeholt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sørine; neues Familienmitglied: Johannes
Ditte muss jetzt vollends die Mutterrolle für ihre Geschwister ausfüllen. Im bescheidenen Anwesen der Hansens, das von den Nachbarn abfällig "Krähennest" genannt wird, taucht ein viriler und flamboyanter Scherenschleifer auf. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Lars Peters Bruder Johannes, zu dem er schon sehr lange keinen Kontakt mehr gehabt hat. Johannes wird zum Bleiben eingeladen, und er revanchiert sich mit der Geschäftsidee, sich zusammen mit Lars Peter als Abdecker und Pferdemetzger für die reicheren Bauern der Gegend zu betätigen. Zunächst kommt dadurch tatsächlich Geld herein, doch der unstete Johannes bringt letztlich kein Glück. Durch das Hantieren mit den stinkenden Tierkadavern sinkt das ohnehin schon sehr niedrige Prestige von Lars Peter und seiner Familie noch weiter ab, und als Johannes betrunken Lars Peters Pferd schlägt, kommt es zum Kampf und fast zur Messerstecherei zwischen den Brüdern. Johannes wird fortgejagt, und dabei stellt sich auch heraus, dass er die gemeinsamen Einnahmen aus dem Geschäft durchgebracht hat.

Dänische Landschaften
Lars Peter steht jetzt vor dem Ruin, und er lässt das Krähennest und einen Teil der Einrichtung versteigern. Mit den Habseligkeiten, die auf seinen Pferdewagen passen, zieht er mit seinen Kindern in ein Dorf an der Küste. Dort verdingt er sich als Fischer bei einem reichen und schmierigen alten Gastwirt, den alle in der Gegend nur "Menschenfresser" nennen. Ditte, inzwischen eine Jugendliche, muss nun auch Geld verdienen. Nach ihrer Konfirmation geht sie als Dienstmädchen auf den Bakkegård-Hof, der von der rustikalen Witwe Karen geführt wird. Deren Sohn Karl ist ein sensibler und nicht unsympathischer junger Mann, aber auch ein frömmelnder Schwächling, der sich in keiner Weise gegen seine Mutter durchsetzen kann. Eines Tages taucht auf dem Hof Johannes auf, macht Karen schöne Augen, und die lässt sich auf ihn ein. Nach einem Fress- und Saufgelage der beiden gibt es eine Fortsetzung im Schlafzimmer. Karl ist wegen des "sündhaften" Verhaltens seiner Mutter aufs äußerste deprimiert und zerknirscht. Ditte versucht, ihn zu trösten, und daraus ergibt sich, dass sie mit ihm schläft. Karls schwache Stunde bleibt nicht ohne Folgen: Ditte wird schwanger. Und nun zeigt sich, dass diejenigen, die das Geld haben, auch bestimmen, was "Moral" ist: Ditte wird wegen ihrer "Sünde" von Karen mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, und Karl sieht nur tatenlos zu.

Ditte badet nackt - 1946 in Dänemark kein Skandal
Ditte bleibt nichts anderes übrig, als zu Lars Peter zurückzugehen, wo sie immer willkommen ist und auch jetzt Verständnis findet. Dort ist inzwischen auch Sørine angekommen, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter verläuft zunächst kühl, aber dann gibt es doch spröde Signale einer Wiederannäherung zwischen Ditte und der durch die Haft sichtlich gealterten und geschwächten Sørine. Vielleicht wird aus den Hansens wieder eine richtige Familie - und damit endet der Film. (Dieser verhalten positive Ausblick wird im Roman nicht eingelöst. Im 4. und 5. Band muss Ditte ihr erstes Kind an eine Pflegefamilie abgeben. Sie geht nach Kopenhagen, wo sie zum Lumpenproletariat gehört, und nach viel Mühsal und Entbehrungen stirbt sie schon mit 25 Jahren.)


Wie oben schon geschrieben, ist DITTE MENNESKEBARN trotz mancher poetischen Verzierung ein durchweg realistischer Film. Überzeugend gefilmte Schauplätze, authentische Ausstattung und glaubwürdig und natürlich agierende Darsteller tragen dazu bei, dass der Film im Trend der damaligen Zeit lag und in Dänemark ebenso wie im Ausland Erfolg hatte. Einige Quellen berichten, dass er 1946 bei den Festspielen in Venedig einen Preis gewonnen hat, aber das könnte eine Ente sein. Laut ital. Wikipedia lief er nicht 1946, sondern 1947, zusammen mit DE POKKERS UNGER (VERFLIXTE RANGEN), dem gemeinsam inszenierten nächsten Film der Henning-Jensens, und letzterer gewann dort einen Regie-Preis, DITTE MENNESKEBARN dagegen nicht. Unbestritten ist dagegen eine andere Ehrung: In einem vom dänischen Kultusministerium erstellten "Kulturkanon", der herausragende nationale Kulturleistungen ehren soll, ist DITTE MENNESKEBARN einer der zwölf enthaltenen Filme.

Karen und Johannes; Wiedersehen mit Sørine
DITTE MENNESKEBARN ist in Dänemark auf einer DVD mit engl. Untertiteln erschienen. - Kuriosum am Rande: Ein Asteroid, der 1979 von einem russischen Astronomen entdeckt wurde, wurde von diesem zu Ehren von Martin Andersen Nexø und seiner Heldin auf den Namen Ditte getauft.

Dienstag, 10. April 2012

Isländisch für Anfänger


Engel des Universums
(Englar alheimsins, Island/Norwegen/Dänemark/Deutschland/Schweden 2000)

Regie: Fridrik Thór Fridriksson
Darsteller: Ingvar Eggert Sigurdsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Fridbjörnsson, Hilmir Snaer Gudnason, Margrét Helga Jóhannsdóttir u.a.

Fridrik Thór Fridriksson, dessen “Children of Nature” (Börn náttúrunnar, 1991) noch für den “Auslands-Oscar” nominiert worden war, erntete in den letzten Jahren auf internationaler Ebene wesentlich weniger uneingeschränktes Lob als in seiner Heimat, wo er wohl mehr als Hrafn Gunnlaugsson den Ruf geniesst, das isländische “Wesen” mit seiner Schwermut, seiner Ironie und seinem Hang zum Mythos auf einzigartige Weise in Bilder und Geschichten umzusetzen. - Dass die Bilder von Filmen wie “Fálkar” (2002) oder “Niceland” (2004) bestechen, den mit dem isländischen Film weniger vertrauten Betrachter sogar bestechen müssen, ist unbestritten. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Island ein für bestechende Bilder privilegierter Flecken Erde ist - und dieses Privileg kann leicht dazu verlocken, im Kern immer wiederkehrende Geschichten über Aussenseiter mit oft recht banaler Botschaft als Verpackung für grossartige Aufnahmen zu benutzen.

“Englar alheimsins”, der erste Film, den ich von Fridriksson sah (eine Kollegin kehrte vor einigen Jahren nach längerem Aufenthalt aus Island zurück und drückte mir ein paar DVDs in die Hand, die mich erstmals auf das Revival des isländischen Films aufmerksam machten), ist dem Genre des Psychiatriefilms zuzuordnen, das natürlich geradezu zu “vieldeutig-raunenden” Bildern verführt. - Páll, ein begabter Maler und Musiker mit grossen Plänen, der - für ledige Männer in Island nicht untypisch - Ende der 60er Jahre noch bei seinen Eltern lebt, wird von seiner Freundin, Tochter aus besserem Hause, sitzen gelassen. Im Geiste des sensiblen jungen Mannes, der schon immer mit seiner Kindheit verbunden war und an seltsamen Vorstellungen hing (er denkt, die NATO wälze ihre Kriege in seinem Kopf ab oder hängt einem Traum seiner Mutter nach, in dem sie vier Pferde aus dem Meer daher galoppieren und eines zusammenbrechen sah), beginnt sich der Wahnsinn auszubreiten. Agonie und Aggression wechseln sich ab. Er hält sich für van Gogh, schmiert Bilder auf grossflächige Leinwände, bearbeitet sein Schlagzeug bis zur Erschöpfung und lässt sein Bett hin-und herschwanken, als hätte ein Poltergeist von ihm Besitz ergriffen. All diese Veränderungen überfordern die Eltern von Páll, der auch (ein weiteres Zeichen, dass ihm sein Körper zuwider ist) seinen Schädel kahlgeschoren hat, und sie weisen ihn in Kleppur, eine psychiatrische Klinik, ein. Dort diagnostiziert man: Schizophrenie.


In Kleppur begegnet Páll drei weiteren Männern, die unter einem Wahn leiden, den - wie man in Gesprächen bald feststellt - die Isländer für ihre verborgene Volkskrankheit halten, weshalb sie Leute mit einem deutlich abweichenden Bild von der traurigen Wirklichkeit wegsperren: Peter hält sich für Schiller, Óli (verkörpert von Baltasar Kormákur, der mittlerweile selber zu den bedeutenden Regisseuren Islands zählt) ist ein Musiker, der von den Beatles den Auftrag zu erhalten glaubt, ihre ungeschriebenen Songs zu schreiben - und Viktor hat sich in die Rolle eines philosophierenden Nazis hineingesteigert. In Gesprächen, die Christus als möglichen Wahnsinnigen (“man würde ihn heute wegsperren”) und die Tötung Gottes durch einen Satz von Nietzsche thematisieren, findet man rasch heraus, dass die eigentlichen Wahnsinnigen draussen in der Welt leben und in Kleppur nur durch das kühle, sterile Klinikpersonal vertreten sind. Fazit: Die ganze Welt ist eine Anstalt; wir aber sind die Engel, die von Gott in diese Anstalt Welt gesandt wurden. - Welch eine (billige) Botschaft, die durch eines jener unangenehm symbolträchtigen Bilder (Páll kann in einem “Traum” auf dem Wasser gehen) unterstrichen wird!

Der in die “Freiheit” entlassene Peter kommt - was durchaus realistisch erscheint - mit seinem neuen Leben nicht zurecht und wählt den Freitod. Seine drei Freunde erhalten für die Beerdigung Freigang (ein Zeichen des Vertrauens, wie der Arzt betont) und nutzen die Gelegenheit zum Besuch eines Nobelrestaurants, in dem sie sich mit den erlesensten Speisen verwöhnen lassen. Die Szene bildet den humoristischen Höhepunkt des sonst schwer verdaulichen Streifens und mündet in eine Pointe, die sich beinahe mit Hlynurs in “101 Reykjavík” (2000) gezeigtem Versuch, sich im Schnee das Leben zu nehmen, vergleichen lässt. - Am Ende entlässt man auch Páll, und der Zuschauer weiss, wie er, der in der Anstalt zu seiner “Berufung” fand, enden wird.

Es handelt sich bei “Englar alheimsins” um die Verfilmung eines Romans des mit Fridriksson befreundeten Schriftstellers Einar Már Gudmundsson. Die beiden Künstler gelten als ausserordentlich heimatverbunden und die isländische Mythologie, die zum Teil ins Christliche übertragen wird, auskostend. Dies erklärt wohl einige der etwas arg mit “Bedeutung” beladenen und letztlich gar nicht so originellen Vorstellungen und Bilder. Denn wenn Fridriksson sich einfach seiner Geschichte und den der natürlichen Umgebung abgerungenen Bildern hingibt, wirkt sein Film durchaus stark. Man sieht etwa Óli und Páll mit flatternden Mänteln durch eine triste, vom Wind beherrschte und sonnenlose Landschaft laufen (Óli will den Präsidenten besuchen und ihm von seiner Verbindung mit den Beatles erzählen) - und man begreift, weshalb die Häuser in Island so bunt und malerisch wirken müssen: Sie bilden eine mehr als nötige Festung gegen die Natur mit ihrer dunklen Traurigkeit (die Isländer sollen nur mit viel Sex und Alkohol durch die Wintermonate kommen), deren vergeblich unterdrückten Einfluss auf den Menschen sich in der Figur eines scheinbar glücklich verheirateten Schulfreundes von Páll bemerkbar macht, der sich auch das Leben nimmt. - Und der Schluss des wahrhaft nicht für schwache Gemüter und regnerische Herbsttage gemachten Films könnte geradezu überzeugend sein, weil er zunächst nicht mit Symbolik aufwartet, sondern einfach die Wirklichkeit zeigt: Die Kamera lenkt den Blick auf auf- und zuklappernde Balkontüren, fährt auf den Balkon hinaus, man sieht einen Stuhl, von dem aus Páll, der auf dem Boden in einer Blutlache liegt, den erlösenden Sprung gewagt hat; ein Krankenauto fährt heran, die Bilder überblenden sich. Páll wird abtransportiert, am Ende bleiben nur die Blutlache und die hilflosen, sich umarmenden Eltern in der leeren Wohnung. Doch während der Beerdigung (sie wird aus der Luft aufgenommen) erzählt uns Pálls Stimme aus dem Off, er sei nicht tot, sondern ein Bestandteil des Meeres geworden. Und dann eine mythologisierende Erhebung, die ebenso unnötig wie pathetisch wirkt. - Alles in allem: “Englar alheimsins” ist ein (gut gespielter) Film, der einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterlässt, “Anfängern” in seinen starken Momenten vielleicht einen Einblick in die naturbedingte isländische Schwermut zu vermitteln vermag - aber von manchen Kritikern des Regisseurs nicht zu Unrecht als Beginn eines Abstiegs ins Aufdringlich-Symbolische mit fader Geschichte betrachtet wird.