Samstag, 21. Dezember 2019

SHIRAZ - Liebe, Drama und ein bayerischer Regisseur in Indien

SHIRAZ (engl. auch SHIRAZ - A ROMANCE OF INDIA, deutsch DAS GRABMAL EINER GROSSEN LIEBE)
Indien/Deutschland/Großbritannien 1928
Regie: Franz Osten
Darsteller: Himansu Rai (Shiraz), Enakshi Rama Rau (Selima/Mumtaz Mahal), Charu Roy (Khurram/Shah Jahan), Seeta Devi (Dalia), Maya Devi (Kulsam), Profulla Kumar (Kasim)

Shiraz und Selima
SHIRAZ spielt in Indien, genauer gesagt im Mogulreich, zur Zeit der Großmoguln Jahangir und Shah Jahan im 17. Jahrhundert. Der Film gliedert sich chronologisch in drei Zeitebenen, von denen die mittlere die weitaus längste ist, so dass man die anderen beiden auch als verlängerten Prolog bzw. Epilog bezeichnen könnte.

Eine Prinzessin auf Reisen und ein Überfall
Durch die Wüste zwischem dem Nordwesten des Reichs und Persien zieht eine Karawane. Sie ist reich mit Wertgegenständen beladen, doch wichtigstes "Transportgut" ist eine kleine Prinzessin. Die Reise endet jäh, als eine berittene Räuberbande die Karawane überfällt, einen Teil der Mannschaft und die Begleiterin der Prinzessin tötet und mit der Beute und Gefangenen abzieht. Einzig das Kleinkind bleibt durch Zufall zurück, allein in der Wüste. Es wäre dem Tod geweiht, würde nicht im passenden Moment der arme Töpfer Hassan mit seinem Esel des Wegs kommen und es mit in sein Dorf nehmen. Zur gleichen Zeit hat Hassans Frau durch einen Wahrsager ein Orakel für Shiraz, den Sohn des Paars, erstellen lassen. Er werde aus der Wüste viel Liebe, Sorgen und unsterblichen Ruhm empfangen, lautet die Prophezeiung, und als Zuschauer weiß man sogleich, dass sich das auf das Findelkind bezieht. Dieses hat ein Amulett mit sonderbaren Zeichen bei sich, doch damit kann niemand etwas anfangen. Hassan und seine Frau adoptieren die Kleine und nennen sie Selima, und sie wächst zusammen mit dem etwas älteren Shiraz auf.

Hassan rettet die Prinzessin
Erster Zeitsprung. Shiraz und Selima sind jetzt junge Erwachsene, Shiraz ist ein Töpfer wie sein Vater (und darin ein Meister seines Fachs, der aus Ton nicht nur Gefäße, sondern auch Kunstgegenstände formt), und aus den Spielkameraden und Quasi-Geschwistern ist ein Liebespaar geworden. Einer baldigen Hochzeit würde nicht mehr viel im Wege stehen, doch es kommt anders: Eine Bande von Strauchdieben und Sklavenhändlern entführt Selima und verschleppt sie in eine Stadt, um sie dort auf dem Sklavenmarkt zu versteigern. Shiraz nimmt mit ein paar Dorfbewohnern die Verfolgung auf, aber alle außer ihm selbst kehren um, als das Wasser knapp wird. Er kommt rechtzeitig in die Stadt, um der Versteigerung beizuwohnen, kann dort aber nichts ausrichten. Zahlungskräftigster Bieter ist Kasim, ein Abgesandter von Prinz Khurram, dem Kronprinzen und zukünftigen Großmogul. Er ersteigert Selima für den Harem seines Herrn.

Shiraz und Selima sind ein Paar - vorerst
Selima wird zu Khurram in die Hauptstadt Agra im zentralen Nordindien gebracht, und Khurram entpuppt sich als edler Prinz, wie er im Buche steht. Selima lebt sich schnell im Palast ein, und mit ihrer stolzen Art erweckt sie Khurrams Interesse und Sympathie. Und sie bringt Khurram Respekt und Zuneigung entgegen, wenn auch nicht sofort Liebe, weil sie Shiraz nicht so schnell vergessen kann. Doch die Zeit arbeitet für Khurram - früher oder später wird er Shiraz erobern. Es gibt aber ein formales Hindernis. Nach dem Gesetz, dem sich auch der zukünftige Großmogul nicht entziehen kann, darf er nur eine Dame von vornehmer Herkunft heiraten, aber keinesfalls die Tochter eines Töpfers oder eine Sklavin. So könnte Shiraz allenfalls Khurrams Mätresse werden.

Sklavenhändler verschleppen Selima durch die Wüste
Zwei Personen haben etwas dagegen. Erstens natürlich Shiraz, der weiß, wo sich Selima befindet. Er treibt sich in der Nähe des Palastes herum, doch er weiß nicht, wie er hineinkommen soll. Um nicht aufzufallen, und um ein Einkommen zu haben, verdingt er sich vorerst als Assistent eines alten Töpfers in der Stadt. Und zweitens hat Selima eine Nebenbuhlerin, von der sie nichts weiß: Dalia, die ebenso verwöhnte wie berechnende Tochter eines Generals in Khurrams Diensten. Sie kennt nur einen Ehrgeiz - sie will Khurram heiraten und damit nach dessen Thronbesteigung Kaiserin im Mogulreich werden. Dafür ist ihr jedes Mittel recht, und sie weiß, dass Selima eine Gefahr für ihre Pläne ist. Dalias Gelegenheit zum Zuschlagen ergibt sich, als sich Shiraz wieder einmal am Palast herumdrückt und durch eine Lücke im Mauerwerk eine der Dienerinnen darin anspricht. Dabei ist er an Kulsam geraten, die zugleich eine Helferin von Dalia bei deren Plänen ist. Dalias Vater, der General, hat die Befugnis, Passierscheine für den Palast auszustellen. Dalia "leiht" sich sein Stempelsiegel und fälscht damit einen Passierschein für Shiraz, den ihm Kulsam am nächsten Tag zusteckt. Zugleich schreibt Dalia einen anonymen Brief an Khurram, der gerade zu einer Reise nach Delhi aufgebrochen ist, und fordert ihn zur Rückkehr und einem Kontrollbesuch bei Selima auf. Der Plan sieht natürlich vor, dass Shiraz und Selima zusammen im Palast ertappt werden, und dass nach diesem Skandal Selima mindestens die Verbannung, wenn nicht Schlimmeres droht. Der Weg wäre frei für Dalia.

Shiraz kann am Sklavenmarkt nichts ausrichten
Dalias Plan geht zunächst auf. Shiraz muss zu seinem Erstaunen feststellen, dass Selima nicht als Gefangene im Palast schmachtet und auf ihre Rettung wartet, sondern dass es ihr gut geht und sie bleiben will. Und dann werden die beiden von Khurram persönlich überrascht. Der kocht vor Wut, aber immerhin macht er nicht kurzen Prozess, sondern ordnet eine Untersuchung an. Vor allem will er wissen, welche seiner Dienerinnen Shiraz den Zugang zu den Frauengemächern ermöglicht hat. Shiraz könnte Kulsam verraten und damit seinen Kopf retten, doch in Unkenntnis von deren genauer Rolle schützt er sie und schweigt - und wird deshalb zum Tod verurteilt. Kulsam weiß, dass sie Shiraz ihr Leben zu verdanken hat, und darüber gerät ihre Loyalität Dalia gegenüber ins Wanken. Weil sie dadurch selbst zu einer Gefahr wird, wird sie von Dalia kurzerhand vergiftet. Die Hinrichtung von Shiraz soll sofort und auf eine malerische Art erfolgen: Er wird liegend an den Boden gekettet, wo ihn ein Elefant tottrampeln soll.

Es lebt sich nicht schlecht als zukünftiger Großmogul
Doch zwei Missgeschicke (aus Dalias Sicht) bringen den perfiden Plan zu Fall. Erstens hätte Shiraz den Passierschein im Palast an Kulsam aushändigen sollen, die das potentiell kompromittierende Beweisstück sofort vernichtet oder an Dalia weitergereicht hätte. Doch Shiraz vergaß vor lauter Aufregung den Schein bei der Palastwache am Tor. Und zweitens war die Giftdosis für Kulsam zu gering. Diese stirbt zwar, aber nicht schnell genug. Als sie merkt, wie es um sie steht, lässt sie sich mit letzter Kraft zu Khurram schleppen und beichtet alles, bevor sie das Leben aushaucht. Mit dem herbeigeholten Passierschein ist Dalia endgültig als Intrigantin überführt, und sie wird lebenslang aus dem Mogulreich verbannt. Selima dagegen ist rehabilitiert, und Shiraz' Hinrichtung wird im allerletzten Moment gestoppt. Doch er muss hinnehmen, dass sich Selima jetzt endgültig für Khurram entscheidet. Shiraz ist zutiefst deprimiert, doch er kann gar nicht anders, als sich mit der Entscheidung abzufinden. Und nebenbei beseitigt er noch ein letztes Hindernis: Er übergibt das Amulett, das Selima bis zu ihrer Entführung und danach Shiraz bei sich getragen hatten. Ein Weiser im Palast entziffert den Inhalt: Das Amulett weist die Trägerin als Prinzessin Arjumand aus, eine Nichte von Nur Jahan, der wichtigsten der 20 Frauen von Khurrams Vater Jahangir - die Prinzessin war vor 18 Jahren als Kleinkind auf einer Reise in den Norden spurlos verschwunden. Damit ist Selimas noble Abkunft erwiesen, und einer Hochzeit mit Khurram steht nichts mehr im Weg. Dieser will Shiraz als Trostpflaster reich mit Juwelen beschenken, doch der lehnt ab - weltliche Güter können ihm nicht seine verlorene Liebe Selima ersetzen.

Im Harem gibt es Wächterinnen mit Schwertern; unten: so reist man in Indien erster Klasse
Zweiter Zeitsprung, wir sind jetzt im Epilog. Weitere 18 Jahre sind vergangen. Khurram, der sich nach der Thronbesteigung Shah Jahan nennt, und Selima/Arjumand, die den Thronnamen Mumtaz Mahal angenommen hat, haben eine gute und glückliche Ehe geführt und sind beim Volk beliebt. Doch jetzt stirbt Mumtaz Mahal. Shah Jahan ist untröstlich. Um seinen Schmerz etwas zu dämpfen, und um seine übergroße Liebe für die Nachwelt zu dokumentieren, will er für Mumtaz ein prächtiges Mausoleum errichten lassen, und dafür fordert er Entwürfe von Künstlern und Baumeistern aus dem ganzen Land an. Shiraz hat während der vergangenen 18 Jahre immer in der Nähe des Palastes gelebt - er konnte sich nie wirklich von Selima lösen und seinem Leben eine neue Richtung geben. Im Lauf der Zeit hat sein Augenlicht nachgelassen, und jetzt ist er so gut wie blind - aber das Töpfern beherrscht er immer noch wie kaum ein Zweiter. Unter den Entwürfen für das Mausoleum, die zunächst eingesandt werden, kann keiner Shah Jahan überzeugen, doch dann trifft einer ein, der ihn sofort restlos begeistert. Und natürlich ist es kein anderer als Shiraz, der ihn geschaffen hat. Der (zunächst unbekannte) Künstler wird in den Palast geladen, und nach vorübergehender Wirrnis wird Shiraz von Shah Jahan wiedererkannt. In den nächsten Jahren wird nun in Agra nach Shiraz' Entwurf das Taj Mahal errichtet, als Mausoleum und als Zeugnis der Liebe gleich zweier Männer zu Selima bzw. Mumtaz Mahal. Die beiden gealterten Männer werden in dieser Zeit noch so etwas wie Freunde. Am Schluss stehen Aufnahmen des prächtigen fertiggestellten Taj Mahal, und unsere schöne, traurige Geschichte ist zu Ende.

Selima im Goldenen Käfig - mit schönem Ausblick
Sie ist nicht wahr, diese Geschichte, aber gut erfunden. Die echte Arjumand wuchs natürlich wohlbehütet auf, fernab von Töpfern und von Sklavenfängern, und das Taj Mahal wurde auch nicht von einem armen Töpfer entworfen, sondern von mehreren, teils aus Persien stammenden Architekten. Der wahre Kern besteht darin, dass das Taj Mahal tatsächlich als Mausoleum und als Monument der großen Liebe zwischen Shah Jahan und Mumtaz Mahal errichtet wurde. Erdacht hat die fiktive Backstory des berühmten Bauwerks der bengalische Dramatiker, Drehbuchautor und Filmregisseur Niranjan Pal (1889-1959), dessen Laufbahn eng mit der von Franz Osten und Himansu Rai verknüpft war. Pals auch in London aufgeführtes Bühnenstück "Shiraz" war die direkte Vorlage für das Drehbuch, das William A. Burton (1883-1958) schrieb, ein zunächst nach Kanada emigrierter und dann nach England zurückgekehrter Brite, der auch kurze Hollywood-Erfahrung besaß. Nach seiner Rückkehr in die Heimat arbeitete er für British Instructional Films, dem britischen Partner bei der Drei-Länder-Produktion SHIRAZ. Später ging Burton erneut, und diesmal endgültig, nach Kanada. Ein Cousin von ihm war Pflegevater und Namensgeber von Richard Burton. British Instructional Films (BIF), das der Produzent und Regisseur Harry Bruce Woolfe gegründet hatte, existierte von 1919 bis 1932 und wurde dann von einem größeren Studio geschluckt. BIF produzierte Spiel- wie Dokumentarfilme; eine besondere Spezialität, die wohl auf einer persönlichen Vorliebe von Woolfe beruhte, waren heroische Filme über den Ersten Weltkrieg. Ich weiß nicht genau, wie BIF bei SHIRAZ an Bord kam, aber Anfang bis Mitte der 20er Jahre lebten Niranjan Pal, Himansu Rai und dessen spätere Frau Devika Rani (die eine berühmte Schauspielerin wurde) alle in London. Sie lernten sich dort nicht nur kennen und begannen ihre Zusammenarbeit, sondern knüpften auch erste Kontakte zur Filmwelt.

Im Palast
Der illustre Himansu Rai (auch Himanshu Rai geschrieben, 1892-1940) war eine zentrale Gestalt im frühen indischen Film. In seiner Zeit in London war er im Hauptberuf Anwalt, und nebenbei Schauspieler (er stand auch in einem Stück von Niranjan Pal auf der Bühne). Doch es zog ihn zum Film. Obwohl er wie Niranjan Pal aus Bengalen stammte, wurde er (mit Franz Ostens Hilfe) zu einem der Gründerväter des Hindi-Films, und damit des späteren Bollywoods (Bengali-Filme wurden erst mit Regisseuren wie Satyajit Ray und Ritwik Ghatak überregional bedeutsam). Himansu Rai konnte sich zunächst nicht so recht entscheiden, ob er im Film Schauspieler, Regisseur oder Produzent werden wollte - und machte deshalb alles zusammen. Er wollte von Anfang an Filme auf hohem technischen Niveau produzieren, und dazu importierte er europäisches Know-how in Form von Filmtechnikern und Equipment. Dabei wollte er sich nicht mit England begnügen, sondern auch die Ressourcen der deutschen Filmindustrie anzapfen. Rai spekulierte auch darauf, dass orientalische Stoffe in den europäischen Kinos Erfolg haben könnten, wo etwa schon Lubitschs SUMURUN (1920) und Joe Mays DAS INDISCHE GRABMAL (1921, Drehbuch von Fritz Lang und Thea von Harbou) dieses Gebiet erfolgreich beackert hatten.

Intrigantin: Dalia
Rai reiste nach Deutschland und fand in München mit Franz Osten genau den richtigen Partner für seine Pläne. 1925 drehten sie dann in Indien und im heutigen Pakistan (damals natürlich auch ein Teil Indiens) PREM SANYAS/DIE LEUCHTE ASIENS, eine Coproduktion von Himansu Rais Firma und Ostens Hausstudio Emelka. Rai war Produzent und teilte sich mit Osten die Regie (manchmal wird auch Osten allein die Regie zugeschrieben), Niranjan Pal war der Autor (nach einer älteren Vorlage eines Edwin Arnold), die beiden Kameramänner Willi Kiermeier und Josef Wirsching hatte Osten aus Deutschland mitgebracht. DIE LEUCHTE ASIENS ist eine Biografie von Gautama, aus dem Buddha werden sollte, wobei die sehr karge historische Überlieferung mit den üblichen Legenden ausgepolstert wurde. Himansu Rai spielt auch die Titelrolle, und Seeta Devi, die Dalia in SHIRAZ, gibt hier Gautamas Gefährtin Gopa. Charu Roy (Khurram in SHIRAZ) war hier als Set- und Kostümdesigner dabei (später betätigte er sich auch als Regisseur). DIE LEUCHTE ASIENS war ein großer Erfolg, vor allem in Europa (weniger in den USA), und wurde weltweit verliehen. Das Wagnis war gelungen, und Himansu Rai konnte seinen Weg fortsetzen.

Selima lebt sich ein
SHIRAZ war dann der nächste Streich. Rai "beschränkte" sich jetzt auf die Hauptrolle und die Position des Produzenten, die Regie überließ er Osten allein. Auf deutscher Seite produzierte jetzt nicht mehr die Emelka, sondern die UFA, und die Engländer waren nun auch an Bord. Kameramänner waren jetzt Emil Schünemann und der Engländer Henry Harris. Schünemann war der deutlich ältere und erfahrenere der beiden, ich weiß aber nicht, ob sich daraus eine interne Hierarchie ergab, oder ob beide Kameramänner gleichberechtigt waren. Weiterer personeller Input von der Insel bestand aus einem Victor A. Peers, der als Produktionsleiter und Ostens Regieassistent fungierte (später war er Direktor eines Fernsehsenders), und aus dem schon erwähnten Drehbuchautor William A. Burton. Die Schauspieler dagegen kamen alle aus Indien. Himansu Rai zeigt gelegentlich eine leichte Neigung zum Overacting, aber es hält sich im Rahmen und wird nie lächerlich. Alle anderen spielen sehr dezent, und Seeta Devi ist eine wahre Freude als verschlagene Dalia - eine echte indische femme fatale des 17. Jahrhunderts. Leider wurde ihre Karriere durch den Tonfilm beendet.

Prinz Khurram (rechts oben mit Kasim) und ein weiser Zeichendeuter
Nächster und vorerst abschließender Film des indisch-britisch-deutschen Teams war PRAPANCHA PASH/A THROW OF DICE/SCHICKSALSWÜRFEL von 1929, wiederum mit Himansu Rai, Seeta Devi und Charu Roy in den Hauptrollen, Rai als Produzent, Osten als Regisseur, und Pal und Burton als Autoren (und ein Max Jungk war noch an der deutschen Fassung beteiligt). Es handelt sich um die freie Interpretation eines Handlungsstrangs im ausladenden Nationalepos Mahabharata, in dem zwei rivalisierende Könige um ihre Reiche (und im Film auch um eine schöne Frau) würfeln. Die drei Stummfilme des Osten-Rai-Teams werden gerne als Trilogie zusammengefasst, was mir auch berechtigt erscheint, auch wenn das vielleicht nicht von Anfang an so geplant war. Denn danach gab es erst mal eine Zäsur, und die war auch in Indien von der Einführung des Tonfilms geprägt.

Shiraz weiß nicht, wie er in den Palast kommt
Während Rai und Osten die Stummfilme vorwiegend an Originalschauplätzen drehten und relativ wenig Studiozeit benötigten, erforderte der Tonfilm mit seiner komplizierteren Ausrüstung ein Umdenken - ein eigenes Studio musste her. Doch zunächst produzierte Rai 1933 noch KARMA, wieder eine indisch-britisch-deutsche Produktion, aber ohne Osten, sondern mit einem englischen Regisseur. Der Film zeichnet sich durch einen nicht enden wollenden und für damalige indische Verhältnisse skandalösen Kuss zwischen den Hauptdarstellern Rai (klar, wer sonst?) und Devika Rani aus (die inzwischen Rais Frau war). Und dann gründete Himansu Rai 1934 mit Geschäftspartnern das Studio Bombay Talkies - der Name war Programm. Und Osten war wieder mit an Bord, denn Rai engagierte ihn jetzt fest als Regisseur und technischen Direktor, und Osten übersiedelte nach Indien. Rai war nun so ausgelastet, dass er nicht mehr als Schauspieler auftrat (ob er vielleicht auch eine unvorteilhafte Stimme besaß, ist mir nicht bekannt). Die Produktion lief 1935 mit JAWANI KI HAWA/LEICHTSINN DER JUGEND an, und von 1936 bis 1939 drehte Osten dann jedes Jahr drei bis fünf Filme. Es war dies eine prägende Phase von Proto-Bollywood, und Rai und Osten waren mittendrin. Devika Rani spielte oft die weibliche Hauptrolle, aber auch andere weibliche und männliche Stars wurden hervorgebracht. Niranjan Pal als Autor war auch oft mit dabei, und der aus München stammende Kameramann Josef Wirsching, dem wir schon bei DIE LEUCHTE ASIENS begegnet sind, stand auch bei Bombay Talkies unter Vertrag (er blieb in Indien und starb 1967 in Bombay), und es gab noch weitere deutsche und englische Mitarbeiter. - Himansu Rais Stern strahlte hell, aber er verglühte auch schnell. Ich weiß nicht, ob es an der Arbeitsüberlastung lag, wie gelegentlich zu lesen ist, aber 1940 erlitt er einen gesundheitlichen Zusammenbruch. Über dessen Charakter kursieren nur unklare Informationen - manchmal ist von einem Nervenzusammenbruch die Rede. Jedenfalls starb Himansu Rai im Mai 1940 mit nur 48 Jahren in Bombay. Seine Witwe Devika Rani übernahm die Leitung des Studios und führte es erfolgreich weiter. Franz Osten verließ im selben Jahr Indien für immer.

Dalia und Kulsam
Franz Osten wurde 1876 als Franz Ostermayr in München geboren. Zusammen mit seinem jüngeren Brüder Peter Ostermayr (1882-1967) sammelte er erste Erfahrungen im Foto- und noch jungen Filmmetier im väterlichen Fotoatelier am Münchner Stachus, das die beiden Brüder schließlich übernahmen. (Der jüngste Bruder Ottmar Ostermayr (1886-1958) landete etwas später auch beim Film und wurde Produzent bzw. Produktionsleiter, und der Regisseur Paul May (08/15-Trilogie, SCOTLAND YARD JAGT DR. MABUSE) war der Sohn von Peter Ostermayr.) 1907 gründeten Franz und Peter das Wanderkino "Original-Physograph Company", für das sie auch schon selbst erste kurze Filme im Wochenschau-Stil drehten. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Filmlaufbahn der beiden älteren Ostermayr-Brüder, aber danach ging es erst richtig los. Peter Ostermayr hatte die Münchner Lichtspielkunst GmbH gegründet, die Anfang 1919 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Aus der gesprochenen Form der Abkürzung MLK ging der Name "Emelka" hervor. Peter kaufte im Vorort Geiselgasteig zwischen München und Grünwald ein großes Gelände, auf dem die Ateliers der Emelka errichtet wurden. Schnell wurde die Emelka eines der größten Filmstudios in Deutschland. Sie konnte zwar nicht ganz mit der UFA mithalten, aber zusammen mit Studios wie Tobis und Terra bildete sie die zweite Ebene. In den Zeiten der Hyperinflation (bis Ende 1923) konnte die Emelka sogar Großproduktionen von internationalem Format stemmen, wie den von Manfred Noa inszenierten NATHAN DER WEISE (1922) mit seinem Riesenheer an Komparsen. In ihrer ursprünglichen Form existierte die Emelka bis 1932, dann ging sie durch die Kosten, die die Umstellung ihrer Kinokette auf den Tonfilm verursachte, pleite, aber unter neuem Eigentümer und mit dem neuen Namen Bavaria Film AG wurde der Betrieb fortgesetzt. Unter den Nazis wurde die Bavaria von der UFA assimiliert, aber nach dem Krieg neu gegründet, und bekanntlich existiert die Bavaria Film an ihrer alten Stätte in Geiselgasteig bis heute.

Khurram und Selima werden langsam ein Paar
Franz, der sich nun Franz Osten nannte, war von Anfang an einer der Hausregisseure bei der Emelka, und seine Ganghofer-Verfilmung DER OCHSENKRIEG (1920) war der erste Film, der das neue Studio in Geiselgasteig verließ (wobei große Teile in der freien Natur gedreht wurden). (Peter Ostermayr als Produzent sollte später rund 20 weitere Ganghofer-Filme hervorbringen.) Als ihn der Ruf von Himansu Rai ereilte, hatte Osten schon ca. 25 Filme inszeniert, und weil er zwischen den indischen Stummfilmen auch wieder in der Heimat drehte, kam er insgesamt auf rund 35 Stummfilme in Deutschland. Dazu kamen zwischen 1931 und 1934 noch zehn Tonfilme, z.B. DER JUDAS VON TIROL mit Fritz Rasp und Rudolf Klein-Rogge sowie Camilla Spira und Marianne Hoppe. Während die drei indischen Stummfilme in der Mythologie oder in ferner Vergangenheit angesiedelt waren und somit keinen Anlass zu politischen Kontroversen bieten konnten, verschob sich bei Bombay Talkies der Fokus hin zu zeitgenössischen und auch potentiell heiklen Stoffen. So stellte Osten in einem seiner Filme in Form einer Liebesgeschichte das Kastenwesen in Frage.

Für Shiraz wird es eng
Leider ließ es sich Osten nicht nehmen, in den 30er Jahren in die NSDAP einzutreten (für das genaue Jahr habe ich die widersprüchlichen Angaben 1934 und 1936 gefunden). Ob das seine Arbeit bei Bombay Talkies irgendwie beeinflusst hat, scheint bisher kaum erforscht zu sein. Im Booklet der Blu-ray (s.u.) wird sogar die Frage, ob Himansu Rai und Devika Rani von der NSDAP-Mitgliedschaft wussten, als offen bezeichnet. Als dann 1939 der Krieg ausbrach, wurde Osten von den Briten festgenommen und zunächst interniert. Aber während die meisten Deutschen, die in Indien interniert waren, dort bis Kriegsende ausharren mussten, wurde Osten aufgrund seines Alters und seiner schon etwas angegriffenen Gesundheit 1940 nach Deutschland abgeschoben. Er sah Indien nicht wieder. Die Kriegsjahre verbrachte Osten als Leiter des Besetzungsbüros der Bavaria, und er arbeitete dort am Aufbau eines Filmarchivs. Nach dem Krieg ließ er den Film komplett hinter sich. Osten zog nach Bad Aibling und arbeitete dort als Kurdirektor. Als Osten 1956 in seinem Wohnort starb, war der Regisseur Franz Osten schon weitgehend vergessen, doch in den letzten 20 Jahren wurde er wiederentdeckt.

Mogul-Architektur - garantiert echt
Als Regisseur war Osten gewiss kein Visionär vom Rang eines Lang oder Murnau, aber er erweist sich als gediegener Handwerker, der das große Drama und menschliche Emotionen ebenso zu inszenieren wusste, wie er große Massen an Mensch und Getier souverän bewegen konnte. Zu Letzterem hatte er bei seinen indischen Stummfilmen reichlich Gelegenheit. Nach zeitgenössischen Berichten kamen bei SHIRAZ 50.000 Komparsen, 300 Kamele und sieben Elefanten zum Einsatz (die Zahl der Pferde ist anscheinend nicht überliefert, dürfte die der Kamele aber noch übertroffen haben). Selbst wenn die Zahlen übertrieben sein sollten - SHIRAZ protzt mit Schauwerten, ebenso wie DIE LEUCHTE ASIENS und dann vor allem SCHICKSALSWÜRFEL. Dazu dienen auch die vielen Originalschauplätze. Immer wieder bewegen sich die Darsteller sichtlich nicht in Kulissen aus Sperrholz und Pappmaché, sondern in den echten Forts, Palästen und Moscheen in Agra und anderswo in Indien. Ermöglicht wurde das alles nicht nur durch das Geld aus Deutschland und England, sondern vor allem durch die Unterstützung des damals noch jugendlichen und offenbar filmbegeisterten Maharajas von Jaipur (1925, als er bei DIE LEUCHTE ASIENS erstmals aushalf, war er erst 12 oder 13). Jaipur war eines jener vielen semi-autonomen Klientelfürstentümer, die innerhalb des anglo-indischen Kolonialreiches fortbestanden, und deren Herrscher erst in der unabhängigen Indischen Republik ihre Posten und Apanagen verloren. Jaipur hatte auch eine eigene Armee, und die stellte bei SHIRAZ einen Großteil der Komparserie und der Reittiere. Auch beim Zugang zu den historischen Baudenkmälern, selbst wenn sie nicht in seinem Herrschaftsbereich lagen, dürfte der Einfluss des Maharajas geholfen haben.

Der Kuss war für Indien 1928 gewagt
Seit der Jahrtausendwende wurden der Reihe nach DIE LEUCHTE ASIENS, SCHICKSALSWÜRFEL und zuletzt SHIRAZ restauriert und neu herausgebracht. (Auch DER OCHSENKRIEG wurde restauriert und war schon bei arte im Programm und in der Mediathek. Eine nicht restaurierte, leicht gekürzte Fassung ohne Musik findet man auf filmportal.de.) Die deutsche und die indische Version von SHIRAZ sind offenbar verloren, aber die englische hat in guter Kondition überlebt. Vom Kameranegativ und einem Positiv in den Beständen des British Film Institute (BFI) wurde vor einigen Jahren eine digitale Kopie in 4K erstellt und als DCP in ausgewählten Kinos und bei einigen Filmfestivals vorgeführt. Und das BFI hat diese Version als Blu-ray/DVD-Combo (mit zwei kurzen Bonus-Filmen) veröffentlicht. Die Musik für die neue Fassung schrieb Anoushka Shankar, die als Komponistin und Sitar-Spielerin schon längst aus dem Schatten ihres legendären Vaters Ravi Shankar hervorgetreten ist. Schon Ravi Shankar hatte auch Filmmusik geschrieben, z.B. für Satyajit Rays bahnbrechende Apu-Trilogie. Anoushka Shankars Score ist weitgehend indisch geprägt, aber europäische Orchesterinstrumente und Synthesizer kommen auch zum Einsatz. Das ergibt eine stimmige Mischung, die den Film gut unterstützt. Der Österreicher Artur Guttmann hatte die deutsche Premierenmusik für SHIRAZ geschrieben. Über den Verbleib der Partitur habe ich nichts gefunden - wahrscheinlich ist sie verschollen. Über die indische und englische Originalmusik konnte ich überhaupt keine Informationen finden. - In der Schweiz ist die Neuauflage von SHIRAZ bei trigon auf DVD erschienen. Die englischen Credits und Zwischentitel der BFI-Version wurden beibehalten, zusätzlich gibt es deutsche und französische Untertitel. Aber wenn man nicht auf die Untertitel angewiesen ist, hat beim Preis-Leistungs-Verhältnis die englische Ausgabe klar die Nase vorn.

Das Taj Mahal entsteht - zuerst als Modell, dann in echt

Hinten v.l.n.r. Henry Harris, Charu Roy, Franz Osten, unbekannt, Himansu Rai, Victor A. Peers, unbekannt,
Profulla Kumar, Emil Schünemann; vorne v.l.n.r. unbekannt, Seeta Devi, Maya Devi, Enakshi Rama Rau

Freitag, 22. November 2019

Volljährig, schlaflos & lustvoll in Nürnberg (Teil 1)

Euphorien vom 18. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos


Anfang des Jahres, vom 2. bis 6. Januar 2019, fand in Nürnberg wieder der Hofbauer-Kongress statt: ein fünftägiger Filmrausch, bei dem die Zuschauer das verfemte, verfluchte, verschüttete Kino der Lust wiederentdecken und zelebrieren konnten und das größtenteils präsentiert im originalen analogen 35mm-Format (manchmal auch 16mm oder 8mm).
Diese 18. Ausgabe – unter dem Motto "Endlich 18!" – war meine zweite Ausgabe (zum 17. Hofbauer-Kongress schrieb ich hier und hier). Leider erst meine zweite: vorherige Hofbauer-Kongresse verpasst zu haben, dürfte zu den Dingen gehören, die ich am meisten im Leben bereue. Aber umso größer die Freude, beim "Volljährigkeits-Kongress" mit dabei gewesen zu sein.





Mittwoch, 2. Januar

17.00 Uhr

THERESE AND ISABELLE ("Therese und Isabell")
Regie: Radley Metzger
Frankreich/USA/Niederlande/BRD 1968
35mm, DF
Therese (Essy Persson) besucht als erwachsene Frau das Internat, auf das sie einst als Teenagerin ging – und wo sie eine leidenschaftliche, aber heimliche Liebe mit ihrer Mitschülerin Isabelle (Anna Gaël) erlebte.
Isabelle und Therese
THERESE AND ISABELLE beginnt wie ein Puzzlespiel à la Resnais, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit, Wahrnehmung und Erinnerung einander die Klinke in die Hand geben. Therese, gespielt von der wunderbaren Essy Persson (die grausamste aller Puppen in Rolf Olsens DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN, der beim Kongress 2018 lief), läuft durch das wahrscheinlich aufgrund der Schulferien praktisch leere Internat, hört die Stimmen der Vergangenheit, durchschreitet den Park, die Hallen, die Räume, die Toiletten, in denen sich ihre Erinnerungen vor ihrem Auge manifestieren. "Isabelle, mon amour" – ohne Atombombe und deutsche Besatzung, dafür aber mit einer umso tabuisierteren Teenagerliebschaft und Bildern in atemberaubenden Scope. Dieses Scope, das oft kleine "Gesichter-Duells" aufbaut: ein Gesicht in einem Bilddrittel, die restlichen zwei Drittel von Hinterkopf und Rücken der anderen Person ausgefüllt.
Der Film handelt von lesbischer Liebe und tut das auf eine angenehm nüchterne Weise: in den Annäherungen und Intimitäten zwischen den beiden Protagonistinnen gibt es keinerlei Kinkiness. Die Sexszenen zwischen Therese und Isabelle sind stets respektvoll distanziert, man könnte auch sagen unterkühlt gefilmt (einmal in Isabelles Zimmer – größtenteils als Spiegelung in einer Zinnvase gefilmt; einmal in einer Kapelle hinter einer Sitzreihe – in einer sehr langen, elegischen, sich entfernenden Kamerafahrt gefilmt; einmal im Internatpark – hier soweit ich mich erinnere relativ statisch). Sie werden immer von einem ausführlichen Offkommentar Thereses begleitet, meistens Gedichterezitationen – das war nach meinem Geschmack manchmal zu viel des verbalen Guten.
(Der Sex zwischen Therese und einem jungen Mann, der sie vorher praktisch gestalkt hat, ist hingegen extrem unangenehm, zieht sich äußerst unschön in die Länge, wirkt nicht direkt wie eine offene Vergewaltigung, ist aber so die letzte oder vorletzte Stufe davor. Therese lässt es über sich ergehen, aber es ist sichtlich unangenehm für sie. Er verschwindet hingegen nach der Triebabfuhr für immer aus dem Film.)
Der erotisch-sinnliche Höhepunkt des Films war aber die Aufnahme eines Fingers, der sanft über einen Arm streichelt – ein Moment, wo die Zeit und das Leben kurz stehen blieben. Dabei ist THERESE AND ISABELLE gewissermaßen ein Film über die Unaufhaltbarkeit der Zeit und des Lebens: die Liebe der beiden Titelfiguren steht immer unter dem Damoklesschwert des voranschreitenden Semesters (dessen Ende die beiden für immer trennen wird) und von dem Druck, den das "Leben" auf die beiden stetig ausübt: Thereses Mutter und Stiefvater (ein unangenehmer Typ, der heuchlerische Respektabilität ausstrahlt und dem man ohne weiteres Übergriffigkeiten gegenüber seiner Stieftochter zutrauen würde), die sie aus Konvention heraus nach ihren (männlichen) Verehrern ausfragen; reale männliche Verehrer, die sich – wie oben erwähnt – als äußerst hartnäckig herausstellen; das drakonische Regiment des Internats, das sinnliche Annäherungen unterbinden möchte (und von homosexuellen Begierden wohl nicht mal zu träumen wagt). Unter diesem Druck wird die Liebe immer mehr zermürbt. Ein Tagesausflug der beiden nach Paris endet in totaler Trostlosigkeit: sie gehen in ein Stundenhotel, doch das schmierige Ambiente erstickt die Lust. Ab diesem Moment geht irgendetwas für immer kaputt, leise, latent, ohne großen Knall. Es ist auch nur konsequent, dass THERESE AND ISABELLE nicht so sehr "endet" als vielmehr relativ abrupt "abbricht", als das Semester endet und die Sommerferien beginnen. Einfach aus...

Ein schöner, bittersüßer, melancholischer Einstieg in den Kongress. Vor dem unerbittlich harten nächsten Film war das Abendessen programmatisch gut gesetzt, denn eine Stärkung war vonnöten vor...


21:15 Uhr

DIE TOTENSCHMECKER aka DER IRRE VOM ZOMBIEHOF aka DAS MÄDCHEN VOM HOF ("Der Irre vom Zombiehof")
Regie: Ernst Ritter von Theumer
BRD 1979
35mm, OV
Klassische Heimatfilmidylle in den Alpen – oder fast. Ein Patriarch alter Schule betreibt einen Bauernhof. Zwei seiner Söhne, Felix (William Berger) und Kurt, kümmern sich um die harte Arbeit, der dritte, Franz, ist geistig behindert. Es rumort schon zwischen den beiden Erstgeborenen, die um das künftige Erbe streiten. In dieser Situation siedelt sich eine Romafamilie auf einem peripheren Stück Land der Großbauern an. Anna, die Enkelin, Tochter von Felix, verliebt sich in Joschi, dem jüngsten Mitglied der Familie. Doch währenddessen tötet der geistig zurückgebliebene Franz aus Versehen eine Romnja, die beim Hof um Lebensmittel gebeten hat. Ihre Begleiterin wird als Zeugin sogleich von Felix ermordet. Nach diesen Affekthandlungen beginnen Felix und Kurt, systematisch sämtliche Angehörige der Romafamilie zu massakrieren...
DIE TOTENSCHMECKER hat dem deutschen Kinopublikum anno 1979 wenig gemundet. Da gerade George Romeros DAWN OF THE DEAD gut lief, wurde er dann unter dem neuen Verleihtitel DER IRRE VOM ZOMBIEHOF noch mal in die Kinos gebracht, um die Zuschauer mit dem Reizwort "Zombie" zu ködern (die gesichtete, übrigens wunderschöne, fast ungespielte Kopie trug auch diesen Titel). Lief auch nicht so gut. Der dritte Versuch, das als Neo-Heimatfilm mit dem Titel DAS MÄDCHEN VOM HOF zu verkaufen, war wohl auch nicht von Erfolg gekrönt. Irgendwann lief der Film (unter welchem Titel auch immer) im Fernsehen. Vierzig Jahre nach seinem Kinostart begeisterte und verstörte der Film die im KommKino versammelten Kongressbesucher. Ich denke, dass nicht nur mir immer wieder eiskalte Schauer des Grauens und des Schreckens über den Rücken liefen.
Der Patriarch und die zwei Söhne vereinigt beim Morden
In der Hülle eines Heimatfilms entpuppt sich DIE TOTENSCHMECKER als abgründiger Quasi-Backwood-Horrorfilm und als unverstellter, chirurgisch scharfer Blick in das kackbraune Herz des deutschen (Alltags)faschismus. Zur Entstehungszeit des Films lagen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust über 30 Jahre in der Vergangenheit – oder besser geschrieben: in der "Vergangenheit". Wir sehen Protagonisten, deren Hass in kurzer Zeit von verbalen Entgleisungen über eliminatorische Phantasien in den Massenmord führt. Der Blick in die "Vergangenheit" ist auch ein eher pessimistischer Blick in die Gegenwart und Zukunft. Man sieht Deutsche, die ethnische "Andere" systematisch ermorden, anschließend deren Leichen beseitigen – und am Ende sieht das alles so aus, "als wären sie nie hier gewesen", wie es ein Polizeibeamter dann auch im Film tatsächlich ausspricht. Es gibt kein Happy-End: am Ende werden die schrecklichen Morde unentdeckt (und damit auch ungesühnt) bleiben. Felix und Kurt richten sich selbst gegenseitig in einem Streit über das Erbe.
DIE TOTENSCHMECKER als "historisches Dokument" zu bezeichnen, wäre zu schön, ist aber leider unmöglich. Das kommt nicht davon, dass die gezeigte Kopie fast ungespielt war und geradezu kristallin wirkte, sondern weil das Stammtischgerede, das hier die Figuren vom Stapel lassen, heutzutage genauso zu hören ist (und leider immer geläufiger und alltäglicher wird). Wer "Zigeuner" durch "Flüchtlinge" ersetzt, dem werden die Parolen, mit denen Felix und Kurt ihre Verbrechen rechtfertigen, gar nicht mehr so fremd erscheinen. Rassismus ist oft auch eine Projektion der eigenen Mängel auf das "Andere": gewalttätig, anarchisch, durstig nach Blutrache – so bezeichnen die Brüder Felix und Kurt die "Zigeuner" (nachdem Felix bereits einen Menschen ermordet hat). Felix und Kurt vollziehen den Schritt von der Stammtischparole zur Gewalttat und auch, wenn sie im weiteren Verlauf des Films manchmal in ihrer schieren Brutalität einem Slasherkiller à la Jason in nichts nachstehen: sie sind und bleiben doch "ganz normale Männer" in einem völlig alltäglichen Setting, das in anderen Filmen als Kulisse für entspannte Familienkomödien dient.
À propos Alltag: als Anna den Joschi auf der Straße begegnet, beginnt sie aus heiterem Himmel ein antiziganistisches Spottlied zu singen. Die absolute Natürlichkeit, mit der sie das tut, ist niederschmetternd (ja, fast noch schlimmer als der Inhalt selbst) und ist wohl der erste große Schockmoment des Films. Hat sie es zuhause gelernt? In der Schule? Die von Verachtung und Hass erfüllten Worte sprudeln einfach so aus dem jungen Mädchen heraus – wie in einem "normalen" Heimatfilm vielleicht ein junges Mädchen irgendein Lied über die Schönheit der Berge singen würde? Dieser Moment ließe einen völlig zerstört zurück – wird aber von dem vielleicht einzigen Funken Hoffnung des ganzen Films "gesühnt": Joschi spielt ihr etwas auf der Geige vor und die Schönheit der Melodie bringt sie dazu, ein normales Gespräch mit ihm anzufangen. Und sich später mit ihm auch anzufreunden. Es gibt also noch Hoffnung bei den Kindern. Später wird sie ihre eigene Familie in der Öffentlichkeit als Mörder bezeichnen – nur, um anschließend von ihren eigenen Eltern im Dorf als geistig labiles Gör diffamiert zu werden.
Joschi und Anna, die "Dissidentin" der Familie
Es ist auch faszinierend, wie DIE TOTENSCHMECKER ganz nebenbei eine Art Gewaltsoziologie der "deutschen Familie" entwickelt. Besonders interessant und erhellend ist da die Figur des geistig behinderten Bruders Franz, der regelmäßig von seinen Familienangehörigen verprügelt, eingesperrt und wie ein Tier behandelt wird. Wahrscheinlich schützt ihn nur die Blutsverwandtschaft letztendlich davor, einfach ermordet zu werden und in den nahegelegenen See geworfen zu werden (wir wissen, dass Felix und Kurt zu solchen Taten bereit sind). In ihm äußert sich dann auch das latent Inzestuöse, das hermetisch geschlossenen Familienverbänden (und -institutionen) inne wohnt: so versucht er mehrmals, seine eigene Nichte Anna zu vergewaltigen. Am Ende vergewaltigt und erschlägt er im Affekt seine Schwägerin (unbeachtet von seinen Brüdern, die zu sehr damit beschäftigt sind, andere Leute kaltblütig zu morden). Franz ist das erste Opfer der mörderischen Familie und zugleich auch der erste Mörder. Und wahrscheinlich ist er zumindest das "ehrlichste", integerste Familienmitglied. Er vergewaltigt und tötet wie ein wildes Tier, sozusagen aus "unzivilisiertem" Instinkt – nicht planmäßig und mit aufwendigen Rechtfertigungen wie ein "zivilisierter" Mensch.
Sehr passend zu seinem Inhalt wirkte DIE TOTENSCHMECKER extrem karg und roh. Die geringe Budgetierung scheint an allen Ecken auffällig zu sein, doch mit zunehmender Laufzeit entpuppt er sich als extrem minutiös inszeniert (ein Co-Zuschauer meinte danach – halb im Spaß, halb im Ernst – dass da Hawks'ianische Formalökonomie im Spiel gewesen sei). Der Film hat auch Elemente eines Alpenwesterns. Die idyllische, in teils wunderschönen Bildern am Rande des Kitsch festgehaltene Berglandschaft ist wie ein eigener Protagonist, ein stiller, ruhiger Beobachter der schauererregenden Verbrechen, die sich abspielen. An einer Stelle zieht ein kleiner Sturm auf, und ein Paar Fensterläden klappt im stürmischen Wind auf und zu, gibt beim Aufklappen einen Blick auf wunderschöne Berggipfel frei, während sich der Sturm (meteorologisch und metaphorisch) zusammenbraut.
Einige Kongressniki erinnerte die Musik an den Harmonika-Score von C'ERA UNA VOLTA IL WEST: eine manchmal stark elektronisch verfremdete Geigenmelodie, oft aus der Ferne vom flüchtenden Joschi gespielt – für die Mörder immer wieder eine Quelle von Irritation. Ein Signal, dass eines ihrer Opfer noch nicht tot ist. Nach ihrem Ermessen eine Verfluchung: beim Versuch, die Leichen der Mordopfer zu verbrennen, verbrennt sich der alte Patriarch das Gesicht und erblindet dabei, und als Schuldiger dafür wird sofort Joschi und seine Melodie ausgemacht. Es ist natürlich auch ein Anklagelied, das den Mördern immer wieder ihre niederträchtigen Verbrechen in Erinnerung ruft... bis sie schließlich auch Joschi für immer zum Schweigen bringen.

DIE TOTENSCHMECKER war ohne Zweifel einer der großen Höhepunkte des Kongresses, ein Meisterwerk, aber natürlich auch ein brutaler, fieser Faustschlag von einem Film. Eine Swinging-London-Komödie im Anschluss zur Lockerung war also durchaus angebracht... Nun ja... das Lachen kam etwa bis zur Mitte des Halses, bevor es dort abrupt stecken blieb...


23:15 Uhr

COOL IT, CAROL! ("Die Liebesmuschel")
Regie: Pete Walker
UK 1970
35mm, DF
Carol (Janet Lynn) und Joe (der ein bisschen wie der vergessene gemeinsame Cousin von Mick Jagger und Brian Jones aussieht, gespielt von Robin Askwith) brechen aus der tristen englischen Provinz nach "Swinging London" auf, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Hoffnungen auf eine glamouröse Model- und Popstar-Karriere zerschlagen sich nach und nach. Auf Joes Betreiben prostituiert sich Carol immer öfter an ältere, zahlungswillige Herrschaften.
Carol und Joe erkunden Sleazing London
DIE TOTENSCHMECKER war ein Film über die Banalität des Bösen. Ist COOL IT, CAROL! ein Film über die Naivität des Bösen? Oder die Bosheit des Naiven?
COOL IT, CAROL! ist eine locker-fluffige Swinging-London-Komödie, die sich nach und nach in einen zappendusteren und fiesen Prostitutions-Sleaze-Hobel verwandelt. Besonders verwirrend ist allerdings, dass das Komödiantische der ersten Hälfte immer wieder Einzug hält in die zunehmend unangenehme Geschichte von Carols und auch Joes Hineinstrudeln in die Welt der Prostitution. Lebensweltlich ergibt das durchaus Sinn: dass im Swinging London eine Tür neben dem fetzigen Popclub ein Herrenclub angesiedelt ist, der sich als Bordell entpuppt, dürfte kaum verwunderlich sein. Doch dass das Glamouröse und Witzige immer wieder eruptiv in den Schmutz und die Niedertracht einbricht, gibt dem Film eine sehr eigenartige Atmosphäre: eine Komödie, bei der einem das Lachen regelmäßig im Hals stecken bleibt – ein Milieu-Schocker, der immer wieder unterbrochen wird von merkwürdig unpassenden Humoreinschüben.
Gesehen haben wir nicht COOL IT, CAROL!, sondern die deutsche Synchronfassung "Die Liebesmuschel", die den ohnehin starken Eindruck von Gegensätzlichkeiten noch verstärkte. Findige deutsche Verleihe haben internationale Filme nicht nur geschnitten, um wahlweise der Zensur oder Gewinnmarge zugute zu kommen – sondern manchmal im Gegenteil mit eigenen Inserts verlängert. "Die Liebesmuschel" beginnt mit einer recht uninspiriert gefilmten Orgie, die mit dem restlichen Film nichts zu tun hat. Während COOL IT, CAROL! den Sex recht dezent darstellt (am explizitesten bei der Bahnfahrt gen London, als Carol Joe verführt), blendet "Die Liebesmuschel" bei jeder Andeutung sogleich die gefühlt immer gleichen Nachdreh-Szenen ein: ein Mann und eine Frau in einem weißen Bett, die jeweils mit keinem der sonstigen Darsteller von COOL IT, CAROL! die entfernteste Ähnlichkeit haben, beleuchtet mit dem ekelhaftesten weißen Neonlicht, das man sich vorstellen kann, die eher unmotivierte Akrobatik besonders uninspiriert und statisch gefilmt. Letzteres fällt besonders auf, da COOL IT, CAROL! ansonsten recht dynamisch und elegant inszeniert ist. Und so beginnen sich Carol und Joe im Hotelzimmer bei ihrer ersten Nacht in London zu küssen – harter Schnitt zum Insert. Carol knutscht mit einem (später zwei Herren) in einem schummerigen Nachtclub – harter Schnitt zum Insert. Carol geht mit ihrem ersten Kunden auf's Zimmer – harter Schnitt zum Insert. Beim nächsten Date wartet eine ganze Schlange an Männern darauf, zu ihr ins Zimmer gehen zu dürfen – und schon wieder kommt der unsägliche Insert.
Letzteres ist ein besonders geschädigter Moment. Carol und Joe haben nach einigen ungeschickten Bemühungen einen Kunden auf der Straße gefunden. Dieser wiederum "vermittelt" Carol bei einem nächsten Date an einen anderen Mann (und kassiert eine Provision). Beim nächsten Date sind es schon ein halbes Dutzend Männer. Die sammeln sich im Wohnzimmer von Carols erstem, äußerst geschäftstüchtigen Kunden. Nachdem die junge Frau mit dem ersten Gast ins Schlafzimmer verschwindet, verweilt die Kamera im Wohnzimmer, wo die Kunden und Joe versammelt sind – letzterer sehr unangenehm berührt, besorgt, sich sehr bewusst, was gerade passiert, während andere Gäste sich in Smalltalk versuchen. Im Originalfilm dürfte das eine sehr, sehr, sehr lange, sehr intensive einzelne Einstellung sein, doch in der deutschen Fassung wird sie durch Inserts mehrfach unterbrochen.
Der Pornoregisseur? Oder die unbeabsichtigte Darstellung
der Nachdrehs von "Die Liebesmuschel"?
COOL IT, CAROL! wusste sich gegen "Die Liebesmuschel" ironischerweise zu wehren. Carol und Joe haben völlig naiv ihre Abwärtsspirale in die Welt der Prostitution für Altherren vorangetrieben: sie versichern sich jedes Mal, dass der nächste Termin nun der letzte sein würde (und dann der wirklich letzte, und dann der wirklich aller-allerletzte). So landen sie dann auch bei einem Termin, wo sie, kaum eingetreten, aufgefordert werden, sich auszuziehen und Sex zu haben: sie sind bei einem Pornodreh gelandet. Das Bett ist steril weiß, die Beleuchtung unangenehm blendend – während der Kameramann recht professionell aussieht, sitzt etwa 30 cm vom Bett ein alter Mann mit schweissiger (oder angeleckter?) Oberlippe auf einem Sessel, der das ganze still, aber offenbar stark aufgegeilt anschaut. Der Regisseur? Der Produzent? Der Verleiher? In "Die Liebesmuschel" entwickelte diese Szene einen ganz eigenen Drive: sollte man sich ungefähr so die Nachdrehs des deutschen Verleihs vorstellen? Dieser Moment wirkte so, als würde COOL IT, CAROL! sich über "Die Liebesmuschel" lustig machen.


Donnerstag, 3. Januar

13.30 Uhr
TrÜF – Der triste Überraschungsfilm

L'OSCENO DESIDERIO
Regie: Giulio Petroni
Italien/Spanien 1978
35mm, OV mit live eingespielten Untertiteln
Die Amerikanerin Amanda (Marisa Mell) und der Italiener Andrea (Chris Avram) ziehen in eine gotisch anmutende Villa irgendwo in der italienischen Provinz. Die Ehe der beiden wurde zwar kürzlich geschlossen, ist aber eher kalt. Die Belegschaft benimmt sich gegenüber Amanda eher merkwürdig. In den Gesprächen mit ihrem Landsmann, dem Archäologen Clark (Lou Castel) findet Amanda etwas Abwechslung. Als sie (nach einer nun doch vollzogenen Ehenacht) schwanger wird, mehren sich die mysteriösen Ereignisse in der Villa: ist Amanda in einen Kreis von Teufelsanbetern geraten?
L'OSCENO DESIDERIO gilt ein später Vertreter jener italienischen Filme, die auf der Erfolgswelle von THE EXORCIST reiten wollten, doch in den ersten zwei Dritteln erscheint mehr ROSEMARY'S BABY der Impuls gewesen zu sein. Regisseur Giulio Petroni, der einige wunderbare Westerns in seiner Filmografie zählt (darunter den grimmigen Rachefilm TEPEPA im Umfeld der mexikanischen Revolution und das großartige Trinker-Melodrama LA NOTTE DEI SERPENTI, der beim vierten Terza Visione lief), war offenbar alles andere als begeistert von dem Film, ließ seinen Namen in den Credits durch ein Pseudonym ersetzen. Die Produzenten, die das fertige Produkt ursprünglich als Exorzisten-Film vermarkten wollten, entschieden sich anders, versuchten, ihn zu einem Sexfilm umdrehen zu lassen, ließen den spanischen Kameramann Leopoldo Villaseñor noch passende Sexszenen mit den beiden Hauptdarstellern nachdrehen und gaben ihm einen ausdrucksvollen neuen Titel ("Obszöne Begierde"). Das Resultat war weder Fisch noch Fleisch: als Sexfilm ist er zu unsexy, als Horrorfilm trübt er etwas unspannend vor sich hin, als reiner Atmosphärenfilm wird er immer wieder von unspannender Füllhandlung unterbrochen. Da gibt es nichts Obszönes. Und Begierde gibt es nur in Spuren zu finden.
Geweihtes Gebäck gegen teuflische Besessenheit
Ganz entfernt hat mich das ganze an Riccardo Fredas ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA erinnert, der 2018 beim Terza Visione lief: ein merkwürdiger Film, den niemand mögen wollte, den sein Regisseur verstoßen hatte, mit schwierigen Produktionsbedingungen und Nachdrehs. Wo Fredas faszinierender Film einen wahrhaft dekonstruktiven Wahn und eine ganz eigene Poesie entwickelt, ließ mich der insgesamt doch allzu gemächliche L'OSCENO DESIDERIO leider ziemlich kalt. Mehr denn als Sexfilm (dazu hat er eigentlich zu wenig Sex) oder als Horror-Thriller hat er für mich am ehesten als Atmosphärenfilm funktioniert. Die Gothic-Villa, die den Hauptschauplatz des Films bildet, ist zwar groß, aber auch leicht verfallen, der umliegende Park ist irgendwie ungepflegt – das sieht alles so aus wie das Set eines Mario-Bava-Films, das man zehn Jahre den Naturkräften überlassen hat. Und genau dieser latente Verfall verlieh L'OSCENO DESIDERIO in seinen besten Momenten eine ganz eigensinnige, manchmal jenseitige Atmosphäre.
Der Exorzisten-Moment ist relativ kurz gehalten. Clark alias Lou Castel, der während fast des ganzen Films wie bestellt aber nicht abgeholt aussieht, entpuppt sich als Priester, versucht Amanda zu exorzieren, aber als sie ihm eine Hostie ins Gesicht spuckt, rennt er völlig hysterisch weg, raus auf die Straße und lässt sich dort von einem LKW überfahren. Sollte mit dieser einfachen "Lösung" Spezialeffekte für etwas gruseligere Vorkommnisse als nur Spucke im Gesicht eingespart werden? Wer jedenfalls einen wirklich gruseligen Exorzisten-Wiedergänger sehen möchte, sollte sich eher an Alberto De Martinos großartigen L'ANTICRISTO halten (ein Film übrigens, dem der Titel "Obszöne Begierde" auch inhaltlich wesentlich besser stehen würde; den ich persönlich, auch als großer Friedkin-Fan, besser als das "Original" finde und hiermit jedem mit missionarischem Eifer ans Herz lege!).
L'OSCENO DESIDERIO ist ein "geschädigter" und dadurch irgendwie auch sehr zärtlichkeitsbedürftiger Film, aber so richtig warm bin ich damit nicht geworden. Ich wäre es gerne... Vielleicht bei einer neuen Sichtung irgendwann?

Lukas Foerster hat einen wunderschönen Text über einen Artefakt in der vorgeführten, leider schon ziemlich rotstichigen Kopie geschrieben (und bezeichnet den Film ziemlich treffend als "schläfrig").


15:30 Uhr

DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK
Regie: Peter Heller
BRD 1989
16mm, OV
Martin Humers Lebensinhalt dreht sich um Pornografie: mit großer Leidenschaft arbeitet dieser Mann daran, diese mit allen Mitteln aus Österreich zu verbannen – mit der Beantragung von Strafanzeigen, spektakulären Aktionen, Amtsanmassung und teils auch Erpressung.
Mit Rechtsradikalen zu reden ist nicht nur heutzutage dämlich. Es war schon 2014 dämlich. Und 1932. Und selbstverständlich war es das auch 1989. Das sieht man sehr schön im Gespräch zwischen Martin Humer und seinem Erzfeind, einem großen Wiener Verleger von Pornozeitschriften: beide kommen im Wartesaal eines Wiener Gerichts ins Gespräch, der Verleger gibt sich sichtlich Mühe, mit Humer zu reden, doch dieser brüllt ihn immer wieder mit weiteren Beleidigungen, Obszönitäten, Unterstellungen und Schimpftiraden nieder...
Der TV-Dokumentarfilm DER PORNOJÄGER gehörte für mich zu den großen Highlights des Hofbauer-Kongresses. Wie DIE TOTENSCHMECKER ein Blick in das kackbraune Herz des teutonischen Alltagsfaschismus. Humer, der selbsternannte Kämpfer für Anstand, scheut sich nicht davor, Gegner systematisch zu dehumanisieren: immer wieder bezeichnet er sie als "Schweine". Die "Massenpornografie" ist für ihn ein Mittel des Weltkommunismus, der Marxisten und der Ausländer, um das deutsche Volk zu destabilisieren. Humer spricht meist von "deutsch" und "Deutschland" und entpuppt sich damit als echter "Großdeutscher". Den aktuellen österreichischen Staat bezeichnet er als Diktatur, die wesentlich schlimmer sei als das Dritte Reich und scheut sich nicht, seine Gegner als Nazis zu beschimpfen. Er beteuert immer wieder, dass er natürlich den Frauen im Pornomilieu helfen wolle, nur um sie wenig später außer sich vor Zorn als "Huren" und "Schlampen" zu bezeichnen, denen alles "Mütterliche" fehle – als liege der einzige Existenzgrund von Frauen, (sexlose) Mutter zu sein. Wilde Verschwörungstheorien mit Linken und Ausländern als Sündenböcke, vulgärer Sexismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Beschimpfung der Gegner als Nazis... Wer bei der Sichtung des Films das höchst unangenehme Gefühl bekommt, das alles kürzlich schon ähnlich gehört zu haben – tja, so "neuartig" ist die sogenannte "Neue Rechte" halt auch wieder nicht...
Martin Humer erklärt seiner Tochter schematisch die
Beziehung zwischen Weltkommunismus, Immigration
und Pornografie
DER PORNOJÄGER "redet" nicht mit Humer, aber er beobachtet ihn beim Reden. Ohne jeglichen Off-Kommentar lässt er den selbsternannten Tugendwächter seine Tiraden ausspucken und voller Stolz die vielen angesammelten Regalmeter an Pornozeitschriften (Beweismittel) in seinem Büro zeigen. Zwischendurch kommen natürlich auch weitere Personen zu Wort: am häufigsten der Geschäftsführer eines Pornomagazins, aber auch Staatsanwälte und Richter (von denen einige tatsächlich fast ihre komplette Arbeitszeit den Strafanzeigen Humers widmen müssen) sowie Humers erste Ehefrau. Der Film lässt sämtliche gezeigte Personen für sich sprechen, nutzt keinerlei Off-Kommentar und greift auch so gut wie nicht ein. Das ist natürlich weder "neutral", noch heißt es, dass Regisseur und Autor Peter Heller zu dem Gezeigten keine Position beziehen würde, denn die Kadrage und die Montage werden doch immer wieder als ironisierende Mittel eingesetzt (für Zuschauer natürlich, die das so sehen wollen). So stellt sich Humer einmal in seiner Arbeitszentrale ganz stolz vor eine grotesk überdimensionierte, gefühlt fünf Meter hohe Regalwand, in der sorgfältig Pornozeitschriften sowie Aktenordner mit Beweismitteln verstaut sind. Die Kamera schwenkt auch mal genüsslich über die Ordnerrücken (ein ziemlich dicker Ordner ist mit "Pasolini" beschriftet). Putin hat einmal gesagt, dass er Terroristen bis aufs Klo verfolgen würde, aber das hat der Pornojäger Humer schon Jahrzehnte vor dem russischen Präsidenten gemacht: die Kamera folgt Humer und seiner ihn assistierenden Tochter durch mehrere Räume voller Regale, und eines dieser Räume ist dann auch das stille Örtchen, vollgestellt mit Ordnern voller Beweismittel (also Pornozeitschriften). Hier ging wahrscheinlich das lauteste Lachen durch den ganzen Saal.
Natürlich ist Humer irgendwo auch eine "komische" Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken und mit großem Ernst nennt er auch mal einige Dutzend völlig bestialische und absurde Titel von Pornofilmen, die er gerade rechtlich verfolgen will (was auch für große Erheiterung im Saal sorgte). Das Lachen bleibt einem aber auch regelmäßig im Hals stecken, denn Humer und seine Leute schrecken auch vor Amtsanmaßung, latenter Bedrohung und schließlich auch Erpressung nicht zurück. Ein unkenntlich gemachter Interviewpartner entpuppt sich als Besitzer eines Pornoladens, den Humer erfolgreich zur "Kollaboration" erpresst hat: Insider-Hinweise werden getauscht gegen den Verzicht auf eine Strafanzeige (die in Fällen kleiner Betriebe durch die potentielle, juristisch angeordnete Unterbrechung der Geschäftstätigkeit während der Untersuchung tatsächlich zum Konkurs führen kann – Humers Tätigkeiten haben also in seinem Sinne manchmal durchaus Erfolg). Auch wenn DER PORNOJÄGER: EINE HATZ ZWISCHEN LUST UND POLITIK durchaus in einigen ironischen Momenten ein lustiger Film war (und der Saal hat an einigen Stellen sehr herzlich gelacht), ist er doch auch beklemmend.

DER PORNOJÄGER hätte wahrscheinlich ein sehr schönes Double-Feature mit Lucio Fulcis LA PRETORA ergeben, in dem Edwige Fenech eine Richterin spielt, die gnadenlos Pornografie verfolgt, und zugleich deren naiv-freizügige Zwillingsschwester verkörpert, die schließlich als Mittel ausgenutzt wird, um die Richterin zu diffamieren, als sie sich in anderen Belangen als zu störend, weil nicht-korrupt erweist...
Das vom Hofbauer-Kommando kuratierte Folgeprogramm war aber auch sehr passend... Nach DER PORNOJÄGER gab es nämlich erst einmal einen Porno.


17:30 Uhr

CITY OF SIN ("Ashley – Sattelfest in allen Betten")
Regie: Henri Pachard
USA 1991
35mm, DF
Intrigen in der Stadt der Sünde! Die Dokumentenmappe eines korrupten Kandidaten zum Posten des Bürgermeisters von L.A. geht in einem Bordell verloren. Die Geschäftsführerin Ashley nimmt die brisanten Dokumente an sich und taucht damit – von den Häschern des Fieslings und besonders ihrem Ex-Geliebten Mosie verfolgt – unter. Eine Hatz zwischen Betten und Sofas beginnt...
Oder so ungefähr. Durch diverse Verzögerungen im Vorprogramm folgte CITY OF SIN fast nahtlos an DER PORNOJÄGER – während ich mit Pinkelpause und einer Auffrischung meines Getränks beschäftigt war. So verpasste ich die ersten fünf bis vielleicht zehn Minuten: die oben aufgeschriebene Synopsis ist – bis auf den letzten Satz und den vorletzten Halbsatz – eher eine Vermutung darüber, was da so passiert. Natürlich dient das alles in erster Linie dazu, Männlein und Weiblein zu ertüchtigender Gymnastik in diversen Betten und Sofas zusammen zu bringen. Wirklich atemberaubend war der Film für mich nicht – aber wirklich schlecht war das auch nicht, zumal CITY OF SIN mit vielen kleinen, liebevollen Details und einigen sehr netten Figuren zu unterhalten weiß.
Kurz zu den Figuren: es gibt also Ashley, die Geschäftsführerin eines mehr oder minder mondänen Bordells, die mit brisanten Dokumenten flieht. Eine toughe Frau, die Männer und Frauen gleichermaßen vernascht. Ihr einziger wunder Punkt: ihre emotionale Last von ihrer vergangenen Beziehung mit Mosie – der jetzt für den korrupten Politiker arbeitet und ihr die Dokumente abluchsen will, aber selbst doch eigentlich ein ganz lieber Typ ist, der ebenfalls noch nicht emotional über Ashley hinweg ist. In einer ausgedehnten Sexszene zwischen den beiden wußte besonders ein riesiger Wandteppich mit Katzenmotiv im Hintergrund die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Besonders schön: Ashley (bzw. Hauptdarstellerin) hatte ein Zierfisch-Tattoo auf einer Pobacke – so dass unterschwellig auch die Jagd einer Katze nach einem Goldfisch zu sehen war. Wie passend, da sie gerade die Verfolgte ist, die mit ihrem Verfolger auf dem Sofa liegt.
Bei den Antagonisten gibt es den ultraschmierigen Bürgermeisterkandidaten (oder ist er schon Bürgermeister?). Seine Sonnenbrille ist ihm möglicherweise fest im Gesicht angetackert, zumindest setzt er sie auch beim Sex nicht ab. Dass er irgendwelche verfänglichen Dokumente hat und korrupt ist, dürfte nicht das Schlimmste sein: wirklich widerwärtig ist, wie er seine Frau behandelt. Vor lauter Verzweiflung, mit so einem Fiesling verheiratet zu sein, trinkt sie. Zumindest versucht sie es verzweifelt: in einer sehr ausgedehnten und rein inhaltlich wahrscheinlich etwas langweiligen Dialogszene unterhält sich der Politiker mit seinen Schergen über die verschwundenen Dokumente, seine Frau serviert sich in der Zwischenzeit einen Drink – und er nimmt ihn ihr weg. Immer wieder versucht sie in dieser langen Szene das Glas zu ergreifen, aber ihr Ehemann nimmt es ihr immer wieder weg. Eine tragikomische Szene für eine wahrhaftig tragische Figur, denn es ist ganz eindeutig, dass ihr Mann sie nicht nur lebensweltlich, sondern auch sexuell nicht befriedigen kann. In der gemeinsamen Sexszene nimmt er sich, was er will, und lässt sie, die Durstige, auch hungrig zurück. Ich hoffte bis zum Schluss des Films, dass sie noch mit Mosie ins Bett landet: Mosie, der im Laufe des Films mit gefühlt fast jeder weiblichen Figur Sex hat, nur eben nicht mit der Frau des Politikers. Ihr einziger Trost ist, dass in ihren Szenen immer ein stilvoller Jazz-Score zu hören ist, während die anderen mit einem auf die Dauer etwas langweiligen Spätachtziger-Fahrstuhl-Muzak beschallt werden.
Für mich war aber Johnny "Tatta" die absolute Lieblingsfigur. Der loyale rechte Arm Ashleys ist immer im Dienst: mögen alle anderen um ihn herum ihrer Libido hemmungslos nachgeben, und möge ihn die deutsche Synchro als "Tschonni Tatter" bezeichnen (wie in: Tattergreis) – Johnny bewahrt immer seinen kühlen Kopf und sein völlig von Schweiß getränktes Hemd unter seinem schwarzen Anzug. Für seine Chefin würde er sich zweifelsohne um Kopf und Kragen schwitzen. Nur zweimal darf er sich mal erfrischen: einmal mit einer rothaarigen Schergin des korrupten Politikers (eine ganz fiese Falle, die ihm gestellt wird, um ihm die Dokumente abzunehmen) und einmal mit einer schnellen Dusche...
Mosie, Johnny Tatta und Katzen-Teppichkunst
CITY OF SIN spielt in L.A., an einem helllichten Sommertag (gleichwohl der Titel einen noir'ischen Nachtfilm suggeriert – diese Version von CITY OF SIN würde ich natürlich auch gerne sehen) und die Kamera fängt diese kalifornische Sonne in manchen Momenten geradezu magisch auf – die wunderschöne 35mm-Projektion dürfte vielleicht nicht ganz unschuldig daran sein. Es ist eine sehr warme Sonne, die es Ashley ermöglicht, sich meist sehr knapp bekleidet von A nach B zu bewegen und die Johnny ausgiebig zum Schwitzen bringt. Auch Mosie, nachdem er ein lose verschlossenes Einfahrtstor übermäßig umständlich passiert hat (was für große Erheiterung sorgte – manchmal ist es eben doch besser, den ersten, "verpatzten" Take zu nutzen), wird ganz warm, und er zieht sein T-Shirt aus, während er zu Ashleys Versteck läuft, einer ziemlich hübschen Gartenlaube auf einem Hügel in Sichtweite der Engelsstadt. So passiert das eben: die Figuren lockern ihre Kleidung, und schon kommt es zur Sache. Angekommen in Ashleys Versteck wartet allerdings nicht Ashley auf ihn, sondern Johnny "Tatta", frisch geduscht, mit einem Badetuch um die Hüften (und einem frischen, also noch nicht vollgeschwitzten Hemd). Es hätte zum natürlichen Fluss der Szene gepasst, wenn die beiden nun Sex gehabt hätten, aber dann gab es doch nur einen Expositionsdialog, um die sexuelle Spannung zwischen Mosie und Johnny aufzulösen. Schade... natürlich bleibt CITY OF SIN den Regeln eines heterosexuellen Mainstream-Pornofilms verpflichtet (zur größeren sexuellen Offenheit des schwulen Pornofilms folgt später noch mehr).
Seinen ganzen Charme hätte CITY OF SIN vielleicht besser in einer Late-Night-Vorstellung entwickeln können. Ein bisschen langweilig fand ich den Film bei der Sichtung schon, aber es war wohl doch dieses "geil-langwelig" – rückblickend mag ich ihn irgendwie ganz gerne!

Abendessen in der Gruppe!


21:15 Uhr

LE DICIOTTENNI ("Mädchen von 18 Jahren")
Regie: Mario Mattòli
Italien 1955
35mm, DF
Auf einem Mädcheninternat: die Gefühle der Schülerinnen fahren gerade Achterbahn, denn der neue Physiklehrer (Anthony Steffen) ist ein absolut unwiderstehlicher junger Mann. Er selbst, der noch bei seiner Mutter (einer verarmten und trotz ihres vordergründigen Humors leicht verbitterten Adeligen) wohnt, kriegt davon nichts mit. Die Schuldirektorin, die sämtliche Tagebücher ihrer Schutzbefohlenen zu eben ihrem Schutz konfisziert hat, liest hingegen von der allgemeinen Verliebtheit. Eskalationen folgen...
Klavierlektion mit Komplikationen
Ich muss zugeben, dass mir von LE DICIOTTENNI nicht viel mehr hängen geblieben ist als ein wunderschönes, angenehmes Gefühl von Glück, Fröhlichkeit und Leichtigkeit. Ein toll gemachter Film, mit tollen Figuren, die von mir größtenteils unbekannten Schauspielern dargestellt wurden, mit einem flotten Timing, mit einem schönen Gefühl für einzelne Szenen und für den großen Bogen, mit einer guten Balance zwischen Komik und Melodramatik.
In meinem Notizbuch, in das ich mir im Hotel nach dem Aufwachen jeweils Notizen zu den Filmen des Vortags machte, stand zu LE DICIOTTENNI nur "Scope! Tiefenschärfe!". Der Film unterhielt nicht nur wunderbar, sondern war auch visuell ziemlich großartig. Wie diese "kleine" italienische Komödie mit dem gerade mal zwei Jahre alten Cinemascope umgeht, hat mich immer wieder erstaunt und beglückt: die Kamera fängt das Setting, die Figuren und die Räume zwischen den Figuren geradezu brillant ein – als wäre Scope das natürlichste Filmformat auf der Welt (und nicht eine gerade mal zwei Jahre alte Innovation, über die sich viele noch lustig machten).
LE DICIOTTENNI wäre auch ein sehr schöner Film für's Terza. Die Kopie war noch knackig scharf und ohne große Gebrauchsspuren, an einigen Stellen aber leider schon leicht angerötet.

Nicht weniger unterhaltsam, aber doch in einer sehr viel härteren Gangart:


23:30 Uhr

WU FA WU TIAN FEI CHE DANG ("Die wilden Engel von Hong Kong")
Regie: Kuei Chih-Hung
Hong Kong 1976
35mm, DF
Zwei gutbürgerliche Pärchen aus Hongkong werden auf dem Weg zu ihrem Wochenendhäuschen auf einer kleinen Insel von einer Motorradgang belästigt. Die kultivierten Städter wissen den zunehmend bedrohlicheren Rowdies (zunächst) wenig entgegen zu setzen. Die Situation eskaliert...
Tschechows sprichwörtliches Gewehr muss nicht immer ein Gewehr sein. Manchmal ist es auch der Propeller eines Motorboots!
Auch wenn "Die wilden Engel von Hong Kong" für mich nicht so eine Kino-Epiphanie war, wie für das Hofbauer-Kommando, so hat er mich doch mit seiner unaufhörlichen Eskalationsspirale von bestialischen Gewalttaten wie wahrscheinlich die meisten im Kinosaal gut weggefegt. Dabei ist der Film so minimalistisch in seiner Dramaturgie, dass er umso mehr Platz hat, um unglaublich viele kleine oder größere Ideen umzusetzen.
Die wilden Engel von Hong Kong – bereit zum Angriff
Es gibt eine sehr ausgedehnte Sequenz, in der die Motorradgang einen Fahrwettbewerb am Strand organisiert. Einige der Frauen bieten sich dem Gewinner als Hauptgewinn an. Das ganze beginnt als völlig halsbrecherisches Rennen durch die Dünen der Insel, gefolgt von einem wilden Zweierkampf am Rand des Wassers, bei dem die Kontrahenten auf den Motorrädern aufeinander zufahren und sich mit Ketten (oder Stöcken?) prügeln und endet schließlich mehr oder weniger in einer großen Orgie. Diese Szene könnte man "Selbstzweckhaftigkeit" vorwerfen – doch ich würde eher sagen, dass dies der Moment ist, in dem der Film sich selbst Zeit zum Atmen gibt und ganz und gar in sich aufgeht. Seine rohe Kraft entwickelt der Film nicht zuletzt durch die spektakulären Motorrad-Rennen und die entsprechenden Stunts, von denen viele höllisch gefährlich aussehen (und es wahrscheinlich auch waren).
Am Ende entpuppen sich die männlichen Städter als doch ziemlich wehrhaft und als nicht minder bestialisch als die "unkultivierten" Rowdies. Da kommt, wie bereits angedeutet, der Propeller eines Motorboots ebenso zum Einsatz wie ein großer, mit siedendem Öl gefüllter Kochtopf. Die schwer traumatisierte junge Städterin, die nur "Ich will zurück nach Hong Kong!" vor sich hin jammern kann, wird dann sogar als "Köder" für die Biker ausgesetzt. Am Ende gibt es ein "apokalyptisches" Tableau der massakrierten Biker, mit einem elegischen Kameraschwenk über ihre Leichen, unterlegt von Bachs "Toccata und Fuge".

Der angekündigte VELLUTO NERO des italienischen Regie-Außenseiters Brunello Rondi (dessen INGRID SULLA STRADA beim Terza Visione 2017 lief) konnte aufgrund des letztlich zu kritischen Zustands der Kopie leider nicht gezeigt werden. Als Ersatz wurde ein "Videoknüppel" kredenzt.


01:45 Uhr

HOT STEPS ("More Than Feelings")
Regie: Gerry Lively
Italien/USA 1990
2K-Abtastung einer VHS, DF
Zwei Gruppen von Jugendlichen bereiten sich auf einen Tanzwettbewerb vor. Eifersüchteleien, Intrigen, Seitenwechsel, Liebe und vieles mehr folgen...
Ich muss gestehen, dass mir von diesem Film nicht so vieles im Gedächtnis geblieben ist und meine Notizen nicht gerade besonders reichhaltig ausfielen. Das hatte nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen Zeit zu tun.
Nur ein paar Bruchstücke... Einer der reichen Schnösel-Kids mit Namen Kevin fährt einen teuren Sportwagen mit dem Nummernschild "KEV-IN". Ein nächtliches Tanztraining im Autogeschäft. Die Rivalen werden mit dem Feuerwehrschlauch nassgespritzt. Der eine Junge möchte bei einem Radio-Gewinnspiel unbedingt gewinnen (es geht darum, ein nur wenige Sekunden lang eingespieltes Lied zu erkennen), doch leider ruft er immer einen Tick zu spät an. Biertrinken und Abhängen am Strand. Beim finalen Tanzwettbewerb meint einer der geladenen Väter, unter den Tänzerinnen eine junge Version seiner Ehefrau zu erkennen, ist von diesem Anblick sichtlich angegeilt – bis er merkt, dass das seine eigene Tochter ist. Ich selbst wiederum habe mich etwas in die schwarzhaarige Tanzlehrerin verliebt, die die finanziell nicht ganz so gut situierte Tanzgruppe (mit hohem Anteil an Latinos – die besser situierten sind fast alle weiß und angelsächsisch) trainiert...



Warum Kakao zum Kultgetränk des Volljährigkeitskongresses avancierte, wie nahe Ozu und Pinku eigentlich sind, was gastronomische Verkostungen mit Sexstellungen zu tun haben und wie man die Sau richtig (oder eben doch falsch) rauslässt – dazu gibt es demnächst hier Antworten.

Fortsetzung folgt... (hier zum zweiten Teil)


Wer noch ein bisschen mehr zu den eben besprochenen Filmen bzw. auch zu anderen, später gezeigten Kongressfilmen etwas lesen möchte, dem sei die wunderschöne "XXL-Collage an Festivaleindrücken" vieler anderer Kongressniki auf critic.de empfohlen. Auch sehr empfehlenswert: Roberts Einträge zum Kongress in seinem Filmtagebuch auf Eskalierende Träume.