Freitag, 27. April 2012

Bilderflut aus den Karpaten

FEUERPFERDE (DDR-Titel SCHATTEN VERGESSENER AHNEN, original (ukrainisch) TINI ZABUTYCH PREDKIW, russisch TENI ZABYTYCH PREDKOW)
UdSSR (Ukraine) 1964
Regie: Sergej Paradschanow
Darsteller: Iwan Mikolaitschuk (Iwan), Larissa Kadotschnikowa (Maritschka), Tatjana Bestajewa (Palagna), Spartak Bagaschwili (Jurko), Nina Alisowa (Iwans Mutter)


FEUERPFERDE, der erste Film, in dem sich Sergej Paradschanow künstlerisch voll verwirklichen konnte, ist von fast unfassbarer Schönheit. Paradschanow findet erlesene Bildmotive ohne Ende, die meist in leuchtenden Farben präsentiert werden. In Verbindung mit der ungemein beweglichen Kamera ergibt sich ein visueller Rausch, der unablässig auf den Zuschauer einwirkt. Man kommt manchmal nicht mehr dazu, die Untertitel zu lesen, weil man ständig von den Bildern überwältigt wird.


Die Handlung ist - zum Glück, könnte man fast sagen - nicht besonders kompliziert. Sie spielt bei den Huzulen, einem Volk von halbnomadischen Schafzüchtern in den nördlichen Karpaten, und ist in einer unbestimmten vormodernen Vergangenheit (die bei den abgeschieden lebenden Huzulen bis ins späte 19. Jh. andauerte) angesiedelt, in der noch Mythen, Legenden und Aberglaube ins Alltagsleben hineinwirkten. Neben den Bildern trägt auch der Soundtrack, der sich teilweise aus huzulischer Volksmusik speist, zur Schönheit des Films bei. So gibt es archaisch-dissonant wirkende Klänge der Trembita, eines entfernt mit dem Alphorn verwandten Blasinstruments, und fremdartig-schönen Frauengesang, der an "Le Mystère des Voix Bulgares" erinnert.


Es handelt sich um eine Verfilmung der Erzählung "Schatten vergessener Ahnen" (1912) des ukrainischen Schriftstellers Michailo Kozjubinskij (1864-1913), der sich dabei seinerseits bei huzulischen Märchen und Legenden bedient hatte. Der erste Teil des Films ist eine Art "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Am Anfang sind die späteren Liebenden, Maritschka und Iwan (von ihr "Iwanko" genannt), noch Kinder. Maritschkas Vater erschlägt Iwans Vater im Streit, nachdem dieser ihn ausgerechnet beim Gottesdienst in der Kirche provoziert hatte. Trotz der Bluttat befreunden sich die Kinder. Die Jahre vergehen, und aus den Freunden wird ein Liebespaar. Aber Iwans Mutter hat für die Tochter der verfeindeten Familie nur Hass übrig. Iwan, der als einziger von vielen Geschwistern noch lebt, muss für seine verwitwete Mutter sorgen und hat nicht genug Geld, um Maritschka heiraten zu können. Um doch noch genug zu verdienen, um einen eigenen Hausstand gründen und die Geliebte heiraten zu können, verdingt sich Iwan als Schäfer auf einer weit entfernten Weide. Doch die große Liebe endet tragisch. Während seiner Abwesenheit stürzt Maritschka beim Versuch, ein entlaufenes Lamm aus einer Felswand zu retten, in einen reißenden Wildbach und ertrinkt. Iwan ist am Boden zerstört und versinkt in Apathie.


Die zweite Hälfte des Films verfolgt Iwans weiteren Weg. Nach Jahren der Verwahrlosung und des ziellosen Umherschweifens (der Film ist hier für einige Minuten schwarzweiß, um seine Verfassung widerzuspiegeln) findet er langsam ins Leben zurück. Er heiratet die wohlhabende und gut aussehende Palagna, doch die Ehe steht unter keinem guten Stern. Sie bleibt kinderlos, und Iwan kann Maritschka nicht vergessen, was schließlich auch Palagna nicht verborgen bleibt. Um ihn trotzdem an sich zu binden, will sie mit Hilfe von Magie für Nachwuchs sorgen, doch das geht nach hinten los. Palagna verfällt dem mächtigen Zauberer Jurko, der sogar Stürme bändigen kann, und wird seine Geliebte. Schließlich planen die beiden sogar, Iwan mit Hilfe schwarzer Magie loszuwerden. In einer Dorfschänke kommt es zu einem Kampf der Rivalen, und Jurko verletzt Iwan mit einem Beilhieb am Kopf. Halb besinnungslos torkelt Iwan in einen Wald, wo ihm Maritschka erscheint. Ein Geist, oder nur eine Halluzination? Paradschanow lässt die Unterschiede verschwimmen. Als ihn Maritschkas Erscheinung schließlich berührt, stirbt Iwan. Den Schluss des Films bildet Iwans Totenfeier, die nahtlos in ein bacchantisches Fest übergeht, das von staunenden Kindern durch ein Fenster beobachtet wird.


Es ist tragisch, dass es in Paradschanows Biographie eine Lücke von 15 Jahren gibt, in denen er keinen Film drehen durfte. Sergej Paradschanow wurde als Kind armenischer Eltern (sein Geburtsname war Sarkis Paradschanian) in Tiflis geboren, wo er aufwuchs und zunächst studierte. Dann ging er nach Moskau an die staatliche Filmhochschule, wo Alexander Dowschenko, der Altmeister des ukrainischen Films, zu seinen Lehrern zählte. Nach seinem Abschluss 1951 ging Paradschanow auf Dowschenkos Anraten zu den nach ihm benannten Filmstudios in Kiew. Dort drehte Paradschanow eine Reihe von Dokumentar-, Kurz- und Spielfilmen, die er später alle als wertlos bezeichnete. Die stalinistische Doktrin des Sozialistischen Realismus wurde seit der Tauwetterperiode (nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956) nicht mehr durchgesetzt, schwebte als Ideal aber immer noch über dem sowjetischen Film, und Paradschanow konnte oder wollte sich nicht komplett davon lösen. Umso radikaler tat er es dann mit FEUERPFERDE. Dass ein völlig anderer sowjetischer Film möglich war, hatte ihm vor allem Andrej Tarkowskijs erster Spielfilm IWANS KINDHEIT gezeigt. Paradschanow und Tarkowskij wurden bald enge Freunde und blieben es bis zu Tarkowskijs Tod 1986.


Auch FEUERPFERDE wurde von den Kiewer Dowschenko-Studios produziert. Dass das überhaupt möglich war, lag vor allem am ukrainischen Parteichef Petro Schelest, der ein starker Förderer der kulturellen und in gewissem Ausmaß auch der politischen Autonomie der Ukraine war, und der selbst ukrainischen Dissidenten erstaunlichen Spielraum gewährte. Es ist auch nicht richtig, dass Paradschanow wegen FEUERPFERDE unmittelbar in Schwierigkeiten kam, wie manchmal behauptet wird. Ein Teil der kommunistischen Kulturbürokratie war sicher irritiert, aber ein erstaunlich großer Teil der sowjetischen Kritiker feierte den Film, und selbst ein staatliches Gremium wie der ukrainische Zweig von Goskino belobigte FEUERPFERDE und sorgte dafür, dass er auch außerhalb der Ukraine nicht russisch übersprochen, sondern in der ukrainischen Originalfassung in die Kinos kam, was durchaus als Privileg zu verstehen war. Ein Privileg war es auch, dass FEUERPFERDE im westlichen Ausland auf Festivals gezeigt wurde, wo er über ein Dutzend Preise gewann (jedoch keinen BAFTA Award, wie in der IMDb und der deutschen Wikipedia fälschlich behauptet wird).


Bald begannen dann jedoch Paradschanows Probleme. Nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 stieg zwar Schelest in der Parteihierarchie weiter auf, aber insgesamt wurde das innen- und kulturpolitische Klima der UdSSR rauer. Paradschanow sprach seine Ablehnung des Sowjetsystems offen aus, unterzeichnete Petitionen für inhaftierte Dissidenten etc. und bekam die Folgen zu spüren. Er wurde wegen "ukrainischem Nationalismus" verhaftet (was bei einem armenisch-georgischen Regisseur durchaus bemerkenswert war), aber bald wieder freigelassen. 1966 übersiedelte er von Kiew nach Jerewan in Armenien. Nach FEUERPFERDE wurden sowohl in der Ukraine wie in Armenien vier Jahre lang alle seine eingereichten Drehbücher abgelehnt, abgesehen von einem kurzen Dokumentarfilm 1967. Dann durfte er 1968 in Armenien wieder einen Spielfilm drehen, der um Sayat Nova, einen armenischen Dichter, Troubadour und Mönch des 18. Jahrhunderts, kreist, und der sich einer stringenten Handlung verweigert und stattdessen Tableaus von atemberaubender Schönheit präsentiert. Doch der vorgesehene Titel SAYAT NOVA musste in ZWET GRANATA (DIE FARBE DES GRANATAPFELS) geändert werden, und unmittelbar nach der Fertigstellung wurde der Film verboten. 1971 wurde dann eine von Sergej Jutkewitsch entschärfte und verstümmelte Fassung des Films in die sowjetischen Kinos gebracht. 1980 wurde eine weiter korrumpierte Kopie der Jutkewitsch-Fassung in den Westen geschmuggelt und sorgte dort trotz ihrer Mängel für Aufsehen.


Nach DIE FARBE DES GRANATAPFELS wurden wiederum alle Drehbuchentwürfe abgelehnt, und Ende 1973 wurde Paradschanow verhaftet und angeklagt. Die Anklage war ein wildes Gebräu, das Homosexualität, eine angebliche Vergewaltigung, Verbreitung von Pornographie, illegalen Handel mit Ikonen und weiteres umfasste. Richtig daran war nur, das Paradschanow bisexuell war, die anderen Punkte waren an den Haaren herbeigezogen oder frei erfunden. Paradschanow wurde zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und in verschiedenen Straflagern in Sibirien untergebracht, meist unter Schwerkriminellen und in unwürdigen Bedingungen. Seine Freunde Tarkowskij und Michail Wartanow protestierten öffentlich, und es gab auch internationale Proteste, vor allem von französischen und italienischen Künstlern und Intellektuellen. Aber erst nach vier Jahren wurde Paradschanow freigelassen. Angeblich gab ein persönliches Treffen von Louis Aragon und dessen russischer Frau mit Leonid Breschnew den Ausschlag.


Paradschanow lebte jetzt in Tiflis und durfte weiter keine Filme drehen. 1982 wurde er erneut verhaftet und angeklagt, nach einem Dreivierteljahr im Gefängnis aber freigesprochen. Und 1984, kurz vor Beginn der Ära Gorbatschow, erhielt er endlich wieder eine Drehgenehmigung. Mit dem in Georgien gedrehten DIE LEGENDE DER FESTUNG SURAM (1985) und dem in Aserbaidschan entstandenen KERIB, DER SPIELMANN (1988) griff Paradschanow seinen Stil der 60er Jahre wieder auf (der bei beiden Filmen als Co-Regisseur genannte Schauspieler Dodo Abaschidse ist nur aus formalen Gründen aufgeführt, in Wirklichkeit hat Paradschanow allein inszeniert) und erneuerte auch seinen bereits in den 60er Jahren errungenen internationalen Ruf. Beide Filme gewannen diverse Preise, und Paradschanow reiste auch in den Westen, so 1988 zum Münchner Filmfest, wo er Ehrengast war und eine Retrospektive seiner Filme gezeigt wurde. Ein weiterer begonnener Film, der autobiographische Elemente enthalten sollte, blieb durch Paradschanows Tod unvollendet. Er starb 1990 in Tiflis an Krebs, und er hinterließ große Fußstapfen, die kaum jemand ausfüllen konnte. "Wer versucht, mich zu kopieren, ist verloren", soll er einmal gesagt haben.


FEUERPFERDE ist in Russland bei RUSCICO und in England bei Artificial Eye (engl. SHADOWS OF FORGOTTEN ANCESTORS) auf DVD erschienen. Eine deutsche Lizenzausgabe der RUSCICO-Scheibe scheint derzeit nicht mehr erhältlich zu sein. - Selten habe ich mich mit dem Aussortieren der Screenshots so schwer getan wie hier, deshalb muss ich jetzt einfach noch ein paar bringen. Zum Vergrößern draufklicken.








Mittwoch, 18. April 2012

Der Greifer (1958)

Der Greifer
(Der Greifer, Deutschland 1958)

Regie: Eugen York

Der deutsche Film der 50er Jahre lässt sich bekanntlich nicht auf Heimatschnulzen und Schlagerstreifen reduzieren. Auch die deutschen Produzenten setzten auf den Krimi als Kassengaranten, der möglicherweise internationale Anerkennung finden würde. Dabei verfilmte man gelegentlich durchaus Stoffe, die mehr oder weniger auf dem eigenen Mist gewachsen waren ("Nachts, wenn der Teufel kam", 1957, oder  Dürrenmatts "Es geschah am hellichten Tag", 1958), sah jedoch nicht ein, dass man mit ihnen am besten fuhr. Man ahmte lieber zusätzlich den Film noir oder amerikanische Krimis mit pseudo-dokumentarischem Charakter nach (die Titel vergessener Streifen wie "Der Schatten des Herrn Monitor", 1950,  "Wer fuhr den grauen Ford?", 1950, und "Die Spur führt nach Berlin", 1952, vermögen vage an das Unterfangen zu erinnern) - entdeckte aber auch rasch Georges Simenons Kommissar Maigret, dessen ruppiger, mit unerschütterlicher Ruhe und Einfühlungsvermögen verbundener Charakter sich, wie auch die Schweiz 1955 mit ihrem "Polizischt Wäckerli" bemerkt hatte, so gut der jeweiligen Nationalität und dem bevorzugten Schauspieler anpassen liess.


Dieser Entdeckung dürfte "Der Greifer", Hans Albers' viertletzter Film, entsprungen sein. Denn auch hier waltet ein unnachgiebiger, jedoch einfühlsamer Kriminalist an der Schwelle zur Pensionierung seines Amtes. Und während Polizischt Wäckerli nur Diebe fangen muss, sich wegen privater Sorgen mit Sohnemann und Tochter aber trotzdem schlecht gelaunt an den perfekt gedeckten Schweizer Tisch setzt (man vergleiche die realistische "Ordnung" in der Küche des französischen Kommissars in Delannoys "Maigret tend un piège", 1958!), hat es 'Der Greifer' Otto Friedrich Dennert, Kriminaloberkommissar, tatsächlich mit Mord, sogar mit Mord an mehreren blonden Frauen,  zu tun, findet aber nebenbei noch die Zeit, der Frau eines arbeitslosen Diebs so intensiv die Wange zu tätscheln, dass böse Zungen von sexueller Nötigung reden könnten. - Und man bemerkt rasch: Regisseur Eugen York, der den alternden "blonden Hans" noch zu weiteren filmischen Verbrechen antrieb ("Das Herz von St. Pauli", 1957, "Der Mann im Strom", 1958), wollte trotz des vielversprechenden Thriller-Anfangs (eine männliche Schattenfigur bewegt sich zu aufpeitschender Musik durch die nächtliche Strasse), ein Filmchen drehen, das für einen Krimi an Biederkeit kaum zu überbieten sein sollte:


Kommissar Dennert weiss, dass seine Pensionierung immer näher rückt,  wartet doch Dr. Schreiber (herrlich schleimig verkörpert von Siegfrid Lowitz) hemmungslos-gierig darauf, sein - überaus korrekter - Nachfolger zu werden. Vorher will der alte Mann aber mit seiner stets erfolgreichen Intuition den Frauenmörder finden, der den ganzen Ruhrpott in Angst und Schrecken versetzt. Und dann kommt noch ein Generationenkonflikt hinzu: Während Dennert in der Spelunke "Zur Mücke" zusammen mit ehemaligen Ganoven, die er alle "von Mensch zu Mensch" kennt, feiert und das aus "Grosse Freiheit Nr.7" (1944) bekannte Lied "Beim ersten Mal, da tut's noch weh" trällert, verliebt sich sein Sohn Harry, ebenfalls bei der Kriminalpolizei tätig, während seiner Nachtwache in Essens Sündenbabel prompt in die Verlobte eines Posträubers. Das veranlasst Papi Albers nicht nur dazu, dem Nachwuchs die Ente, die dieser trotz Kochrezept auszunehmen vergass, unter die Nase zu reiben; er stürzt sogar die junge Liebe ins Unglück und beschwört beinahe ein weiteres Verbrechen herauf. Bei so viel Trostlosigkeit bleibt ihm nur noch ein tiefsinniges Gespräch mit seinem Kanarienvogel: "Hansilein, vielleicht hab' ich wirklich 'n Vogel. Sag mal 'Piep'!"

Gegen Ende gewinnt das sich bislang vor allem in Büros und in Kneipen abspielende Filmchen noch etwas an Spannung, und der Mörder wird nach einer gnadenlosen Geiselnahme dank Papis und Sohns gemeinsamem moralischen Vorgehen geschnappt. Ich verrate - obwohl der Zuschauer es nach fünfzehn Minuten weiss - nicht, wer es ist. Bloss dies: Agnes Windeck, die gewohnt altmodisch-elegant auftritt, darf als unschuldig betrachtet werden. Und wir erfahren endlich, von wem Klaus Kinski alle seine mimischen Fähigkeiten abkupferte (von Horst Frank, natürlich). - Auch das Motiv für all die grässlichen Morde wird geliefert: "Eine Frau ist daran schuld." Das ist nicht weiter erstaunlich: Der aus Russland stammende Eugen York scheint es allgemein nicht so mit den Frauen gehabt zu haben. Sogar sein letzter Spielfilm (1982) trug den Titel "Schuld sind nur die Frauen".


Man muss um der Gerechtigkeit willen betonen: Abgesehen von Hansjörg Felmy als fadem Harry belebt eine gut agierende Truppe den biederen Streifen, von dem behauptet wird, er sei die letzte sehenswerte Arbeit von Hans Albers gewesen und der trotz sich hartnäckig haltender Behauptungen keine späte Fortsetzung seines 1930er Streifens mit dem gleichen Titel ist. Auch der Altstar bringt sich und seine Schauspielkunst noch einmal voll ein, trotz aller Versuche, ihn auf den Klischeetyp des alternden Helden festzulegen. - Ich zumindest kann mich des Eindrucks nicht erwehren, Dennert sei sogar als Vorläufer einer Figur zu betrachten, die in den 70ern jahrelang den ZDF-Freitagabend "belebte" und mich ins Bad trieb. Sein Sohn Harry wiederum dürfte sich als Assistent des Nachfolgers von Erik Ode empfohlen haben. Vermutlich wusste er nur nicht, wo Derrick den Autoschlüssel aufzubewahren pflegte...

Dienstag, 10. April 2012

Isländisch für Anfänger


Engel des Universums
(Englar alheimsins, Island/Norwegen/Dänemark/Deutschland/Schweden 2000)

Regie: Fridrik Thór Fridriksson
Darsteller: Ingvar Eggert Sigurdsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Fridbjörnsson, Hilmir Snaer Gudnason, Margrét Helga Jóhannsdóttir u.a.

Fridrik Thór Fridriksson, dessen “Children of Nature” (Börn náttúrunnar, 1991) noch für den “Auslands-Oscar” nominiert worden war, erntete in den letzten Jahren auf internationaler Ebene wesentlich weniger uneingeschränktes Lob als in seiner Heimat, wo er wohl mehr als Hrafn Gunnlaugsson den Ruf geniesst, das isländische “Wesen” mit seiner Schwermut, seiner Ironie und seinem Hang zum Mythos auf einzigartige Weise in Bilder und Geschichten umzusetzen. - Dass die Bilder von Filmen wie “Fálkar” (2002) oder “Niceland” (2004) bestechen, den mit dem isländischen Film weniger vertrauten Betrachter sogar bestechen müssen, ist unbestritten. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass Island ein für bestechende Bilder privilegierter Flecken Erde ist - und dieses Privileg kann leicht dazu verlocken, im Kern immer wiederkehrende Geschichten über Aussenseiter mit oft recht banaler Botschaft als Verpackung für grossartige Aufnahmen zu benutzen.

“Englar alheimsins”, der erste Film, den ich von Fridriksson sah (eine Kollegin kehrte vor einigen Jahren nach längerem Aufenthalt aus Island zurück und drückte mir ein paar DVDs in die Hand, die mich erstmals auf das Revival des isländischen Films aufmerksam machten), ist dem Genre des Psychiatriefilms zuzuordnen, das natürlich geradezu zu “vieldeutig-raunenden” Bildern verführt. - Páll, ein begabter Maler und Musiker mit grossen Plänen, der - für ledige Männer in Island nicht untypisch - Ende der 60er Jahre noch bei seinen Eltern lebt, wird von seiner Freundin, Tochter aus besserem Hause, sitzen gelassen. Im Geiste des sensiblen jungen Mannes, der schon immer mit seiner Kindheit verbunden war und an seltsamen Vorstellungen hing (er denkt, die NATO wälze ihre Kriege in seinem Kopf ab oder hängt einem Traum seiner Mutter nach, in dem sie vier Pferde aus dem Meer daher galoppieren und eines zusammenbrechen sah), beginnt sich der Wahnsinn auszubreiten. Agonie und Aggression wechseln sich ab. Er hält sich für van Gogh, schmiert Bilder auf grossflächige Leinwände, bearbeitet sein Schlagzeug bis zur Erschöpfung und lässt sein Bett hin-und herschwanken, als hätte ein Poltergeist von ihm Besitz ergriffen. All diese Veränderungen überfordern die Eltern von Páll, der auch (ein weiteres Zeichen, dass ihm sein Körper zuwider ist) seinen Schädel kahlgeschoren hat, und sie weisen ihn in Kleppur, eine psychiatrische Klinik, ein. Dort diagnostiziert man: Schizophrenie.


In Kleppur begegnet Páll drei weiteren Männern, die unter einem Wahn leiden, den - wie man in Gesprächen bald feststellt - die Isländer für ihre verborgene Volkskrankheit halten, weshalb sie Leute mit einem deutlich abweichenden Bild von der traurigen Wirklichkeit wegsperren: Peter hält sich für Schiller, Óli (verkörpert von Baltasar Kormákur, der mittlerweile selber zu den bedeutenden Regisseuren Islands zählt) ist ein Musiker, der von den Beatles den Auftrag zu erhalten glaubt, ihre ungeschriebenen Songs zu schreiben - und Viktor hat sich in die Rolle eines philosophierenden Nazis hineingesteigert. In Gesprächen, die Christus als möglichen Wahnsinnigen (“man würde ihn heute wegsperren”) und die Tötung Gottes durch einen Satz von Nietzsche thematisieren, findet man rasch heraus, dass die eigentlichen Wahnsinnigen draussen in der Welt leben und in Kleppur nur durch das kühle, sterile Klinikpersonal vertreten sind. Fazit: Die ganze Welt ist eine Anstalt; wir aber sind die Engel, die von Gott in diese Anstalt Welt gesandt wurden. - Welch eine (billige) Botschaft, die durch eines jener unangenehm symbolträchtigen Bilder (Páll kann in einem “Traum” auf dem Wasser gehen) unterstrichen wird!

Der in die “Freiheit” entlassene Peter kommt - was durchaus realistisch erscheint - mit seinem neuen Leben nicht zurecht und wählt den Freitod. Seine drei Freunde erhalten für die Beerdigung Freigang (ein Zeichen des Vertrauens, wie der Arzt betont) und nutzen die Gelegenheit zum Besuch eines Nobelrestaurants, in dem sie sich mit den erlesensten Speisen verwöhnen lassen. Die Szene bildet den humoristischen Höhepunkt des sonst schwer verdaulichen Streifens und mündet in eine Pointe, die sich beinahe mit Hlynurs in “101 Reykjavík” (2000) gezeigtem Versuch, sich im Schnee das Leben zu nehmen, vergleichen lässt. - Am Ende entlässt man auch Páll, und der Zuschauer weiss, wie er, der in der Anstalt zu seiner “Berufung” fand, enden wird.

Es handelt sich bei “Englar alheimsins” um die Verfilmung eines Romans des mit Fridriksson befreundeten Schriftstellers Einar Már Gudmundsson. Die beiden Künstler gelten als ausserordentlich heimatverbunden und die isländische Mythologie, die zum Teil ins Christliche übertragen wird, auskostend. Dies erklärt wohl einige der etwas arg mit “Bedeutung” beladenen und letztlich gar nicht so originellen Vorstellungen und Bilder. Denn wenn Fridriksson sich einfach seiner Geschichte und den der natürlichen Umgebung abgerungenen Bildern hingibt, wirkt sein Film durchaus stark. Man sieht etwa Óli und Páll mit flatternden Mänteln durch eine triste, vom Wind beherrschte und sonnenlose Landschaft laufen (Óli will den Präsidenten besuchen und ihm von seiner Verbindung mit den Beatles erzählen) - und man begreift, weshalb die Häuser in Island so bunt und malerisch wirken müssen: Sie bilden eine mehr als nötige Festung gegen die Natur mit ihrer dunklen Traurigkeit (die Isländer sollen nur mit viel Sex und Alkohol durch die Wintermonate kommen), deren vergeblich unterdrückten Einfluss auf den Menschen sich in der Figur eines scheinbar glücklich verheirateten Schulfreundes von Páll bemerkbar macht, der sich auch das Leben nimmt. - Und der Schluss des wahrhaft nicht für schwache Gemüter und regnerische Herbsttage gemachten Films könnte geradezu überzeugend sein, weil er zunächst nicht mit Symbolik aufwartet, sondern einfach die Wirklichkeit zeigt: Die Kamera lenkt den Blick auf auf- und zuklappernde Balkontüren, fährt auf den Balkon hinaus, man sieht einen Stuhl, von dem aus Páll, der auf dem Boden in einer Blutlache liegt, den erlösenden Sprung gewagt hat; ein Krankenauto fährt heran, die Bilder überblenden sich. Páll wird abtransportiert, am Ende bleiben nur die Blutlache und die hilflosen, sich umarmenden Eltern in der leeren Wohnung. Doch während der Beerdigung (sie wird aus der Luft aufgenommen) erzählt uns Pálls Stimme aus dem Off, er sei nicht tot, sondern ein Bestandteil des Meeres geworden. Und dann eine mythologisierende Erhebung, die ebenso unnötig wie pathetisch wirkt. - Alles in allem: “Englar alheimsins” ist ein (gut gespielter) Film, der einen höchst zwiespältigen Eindruck hinterlässt, “Anfängern” in seinen starken Momenten vielleicht einen Einblick in die naturbedingte isländische Schwermut zu vermitteln vermag - aber von manchen Kritikern des Regisseurs nicht zu Unrecht als Beginn eines Abstiegs ins Aufdringlich-Symbolische mit fader Geschichte betrachtet wird. 


Sonntag, 1. April 2012

Die ideale literarische Vorlage

Der junge Törless
(Der junge Törless, Deutschland/Frankreich, 1966)

Regie: Volker Schlöndorff
Darsteller: Mathieu Carrière, Marian Seidowsky, Bernd Tischer, Fred Dietz, Lotte Ledl, Jean Launay, Barbara Steele u.a.

Im Jahre 1902 verfasste Hugo von Hofmannsthal unter dem Titel "Ein Brief" ein Werk, das für die Erzählkunst der Moderne von grösster Bedeutung sein sollte. In diesem Brief beklagt sich ein fiktiver Lord Chandos in allerdings erlesenen Worten über die Unfähigkeit der Sprache, dem Ausdruck zu verleihen, was ihn berührt, was er erzählen möchte. Hinter dem "Brief des Lord Chandos" verbirgt sich eine persönliche Verunsicherung des Autors. Er wurde jedoch von verschiedenen Literaten der Zeit als Aufforderung betrachtet, sich vom traditionellen Erzählen des 19. Jahrhunderts (man sprach gerne vom "Fontaneisierenden Erzählen") zu lösen und eine Sprache zu suchen, die die Schilderung bisher unerzählter Realitäten ermöglichen sollte. So entstanden innerhalb eines Jahrzehnts  Werke, in deren Mittelpunkt diese Suche nach einem neuen Erzählen stand: Robert Walsers "Der Gehülfe" (1908), Rainer Maria Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), in dem sich die Hauptfigur, ein in der Grossstadt seine Identität Verlierender, die Sprache wünscht, die das wiederzugeben vermöchte, was ihm die noch angedeuteten Räume an abgerissenen Häuserwänden mitteilen - und natürlich Robert Musils erster Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" (1906), ein Werk, das sich in die Seele eines Pubertierenden hineinversetzt, der vor der unverständlichen, ihn überfordernden Realität (man sagt oft, die Geschichte habe nur "zufällig" mit Sadismus und Homosexualität zu tun) in eine Welt des Traums flüchtet.

Kaum jemand hätte erwartet, dass eines dieser Werke später nicht nur verfilmt, sondern als Film sogar von beinahe ebenso grosser innovatorischer Kraft sein würde wie als Roman. Doch um 1960 geriet der deutsche Film in eine ähnliche Krise wie das Erzählen um die Jahrhundertwende, und der Rückgriff   auf Musils "Törless" sollte 1966 nicht nur einem begeisterten Cannes zeigen, dass "Papas Kino", lange Jahre eine Peinlichkeit für die Festspiele, tatsächlich tot war. - Volker Schlöndorff gehörte zwar nicht zu den Mitbegründern des "Neuen Deutschen Films": Während eine Reihe von Filmemachern das Oberhausener Manifest verlesend eine Auseinandersetzung des Films mit politischen und gesellschaftskritischen Themen verlangte, besuchte er die Cinémathèque française, um später als Regieassistent bei Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais  zu arbeiten. Seine Robert Musil-Adaption, die etwas wirklich Neues sein wollte, sich auch bewusst von der Nouvelle Vague abhob, sorgte aber international derart für Aufsehen, dass sie heute als erstes erfolgreiches Ergebnis jener Bewegung betrachtet wird, die dem deutschen Film der 70er und 80er Jahre wieder die Bedeutung zu geben vermochte, die ihm bis in die frühen 30er hinein einst zukam.

Schlöndorff bemühte sich – wie schon der Trailer betonte – nicht um eine exakte (man sprach von „akademischer“) Literaturverfilmung. Dies war zum Teil gar nicht möglich, weil das bei Musil offen ausgesprochene homosexuelle Verlangen (Törless lässt sich von Basini, einem betont hübschen, sexuell anziehenden Schüler, während eines im Internat verbrachten Urlaubs verführen) im Deutschland der 60er noch ein heisses Eisen war und nur angetönt werden konnte. Auch das Ende erscheint wesentlich ambivalenter als im Roman, der die „Verwirrungen“ als Bestandteil eines Erwachsenwerdens deklariert. – Stattdessen setzte der junge Filmemacher auf die "Offenheit" des Werks, seine Zeitlosigkeit, die es ihm tatsächlich ermöglichte, einem in unterkühltem Hochglanz gehaltenen Schwarzweiss-Streifen über Geschehnisse in einem Internat der Jahrhundertwende eine bemerkenswerte Brisanz zu verleihen, weil er die Figuren nicht nur als einer untergehenden Kultur angehörende Zöglinge, sondern auch als Wegbereiter des Nationalsozialismus zeichnete. (Es ist, dies nur nebenbei, eigenartig, wie oft literarische Werke, zum Beispiel der dritte Teil der „Schlafwandler-Trilogie“, 1930-1932, von Hermann Broch , die den Untergang der k. und k.-Monarchie beschreiben, den Eindruck erwecken, sie bezögen sich nicht nur auf den Ersten Weltkrieg, sondern nähmen zugleich die Zeit des Nationalsozialismus vorweg. Man kann dies allerdings nicht einer Weitsichtigkeit der Autoren oder einer sich wiederholenden Geschichte zuschreiben, höchstens einer später erfolgten Interpretation, die wie Schlöndorff unliebsame Zusammenhänge betont). Dass aus der Verfilmung von Musils Roman mehr herauszulesen war als die brutalen Vorgänge in einem Kadetten-Internat, dürfte etwa dem Goethe-Institut sauer aufgestossen sein: es verschmähte „Der junge Törless“ noch zehn Jahre nach seinem Entstehen. Vergangenheitsbewältigung war etwas Neues, Unbequemes.


Die Geschichte ist bekannt: Der Bürgersohn Thomas Törless wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinen Eltern in ein Elite-Internat an der österreichisch-ungarischen Grenze gebracht, wo er zusammen mit anderen Schülern aus gutem Hause zu Zucht und Ordnung erzogen werden soll. Der nachdenkliche, zunehmend seiner Sinnlichkeit ausgelieferte und dadurch erst recht verunsicherte junge Mann empfindet allerdings nicht nur das Internatsleben als öde; ihm kommt auch die Umgebung mit den arbeitenden Frauen und dem Schlächter fremd und seltsam vor. Er schliesst sich den forschen Mitschülern Reiting und Beineberg an, die ihm aber auch nur eine heruntergekommene Schänke und die Dorfhure Bozena zu bieten haben, ein Weib, das Wien kennt und wegen seiner Schwangerschaft einst von dort verjagt wurde. Es sieht in den Kadetten die Ebenbilder ihrer Eltern: „Ihr seid wie eure Eltern: scheinheilig, feige und verlogen.“ - Basini, ein weiterer Mitschüler, macht sich vor allem durch seine Spendierfreude und seine Angeberei bemerkbar (er schickt sich selber einen Brief mit einem Strumpfband, das er mit den Worten „Von meiner Dulcinea!“ herumreicht). Gleichzeitig leiht sich Basini, der, wie wir später erfahren, von seiner armen Mutter unterstützt wird, bei allen Kameraden Geld aus, das er nicht zurückzahlen kann. 

Als der Angeber von Beineberg und Reiting des Diebstahls überführt wird, melden ihn die zwei Kadetten nicht der Schulleitung, sondern machen ihn zu ihrem Sklaven, für den sie sich immer neue Erniedrigungen ausdenken. Während Reiting  hemmungslos seine sadistischen Triebe auslebt und Beineberg, gern als Kenner der indischen Philosophie auftretend, sich angeblich nur an diesem Fall „schulen“ will, beobachtet Törless – mehr auf der Suche nach einem Halt in dieser seltsamen Welt, in der sich Realität und Irrealität kreuzen –  die zunehmenden Quälereien zuerst arrogant-desinteressiert wirkend, später angewidert. Da aber selbst sein Mathematiklehrer, von dem er sich Antworten auf seine die Realität betreffenden Fragen nach den imaginären Zahlen, die es in Wirklichkeit doch gar nicht gibt, nur mit Ausflüchten reagiert (eine einzigartige, die sich verbergen wollende Unwissenheit der Obrigkeit mit einem „Mein lieber Freund; du musst einfach glauben“ abtuende Szene), begibt er sich in eine Abwesenheit der Hoffnungslosigkeit, die angesichts seiner Unfähigkeit, dem der Klasse ausgelieferten Basini beistehen zu können, in eine wirkliche Flucht mündet. Denn alles, was er dem ihn um Hilfe bittenden Gequälten sagen konnte, war: „Es gibt eben eine schmutzige und eine saubere Welt. Es ist die gleiche, in der beides geschieht. Das ist die ganze Weisheit.“ 


Schlöndorffs Bilder dringen unterstützt von der nicht nur die Zuschauer der 60er Jahre verstörenden Musik Hans Werner Henzes tief in die Seele des Kadetten ein, die wie die karge Landschaft um den Bahnhof in der Einöde noch nicht vollendet ist. Sie lassen uns sein „Manchmal möchte ich am liebsten weglaufen“ als Reaktion auf die Unfähigkeit, die Welt mit ihren abstrakten Vorgängen zu deuten, verstehen, die Suche nach einer eigenen Position auch detailliert miterleben. Der begehrte Hals des Serviermädchens in der Schänke wird mit Törless‘ Augen aufgesogen, das interessierte Rollen einer Zigarette, die sich Beineberg genehmigt, träumerisch verfolgt. Wir erkennen Reitings puren Sadismus an seinem Spiel mit der Fliege, die er während einer langweiligen Unterrichtsstunde genussvoll zu Tode quält. Und diese ständigen Blicke, die sich die Schüler zuwerfen: Wie bist du? Wo stehst du? – So viele Kleinigkeiten weisen darauf hin, dass wir es mit mehr als einer Internatsgeschichte zu tun haben: Die drei kleinen Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!) im Büro des sich windenden Mathematiklehrers, die Pistole, mit der Beineberg Basini während seines „Hypnoseversuchs“ wie ein Nazi bedroht – aber auch Törless‘ „Flucht“ in sein Spiegelbild während der Quälereien, die das Publikum der 60er Jahre nicht nur aller Illusionen über die Donaumonarchie der „Sissi“-Filme beraubten, sondern äusserst schockierend gewirkt haben dürften (obwohl zum Beispiel die Einfachheit, mit der die Lynchszene gegen Ende inszeniert wurde, kaum zu überbieten ist). --- All diese Details weisen zusammen mit dem (gespielten?) Unverständnis des Lehrkörpers darauf hin, dass dieser Film auch die Vorgeschichte des Nationalsozialismus behandelt. Hinzu kommt dieser eigenartige Schluss, von dem man annehmen darf, er stehe für eine Weigerung, sich als erwachsen werdender Mensch der Realität zu stellen, zeige einen Törless, der es vorziehe, Geborgenheit in den Armen seiner Mutter zu suchen. - Nur ein paar britischen Filmen ("If....", 1968, "Another Country", 1984) gelang es, die brutalen Gepflogenheiten im geschlossenen System "Internat" ähnlich eindringlich darzustellen.


Über den Glücksgriff, der Schlöndorff mit dem jungen Mathieu Carrière gelang, ist oft geschrieben worden. Es kommt vielleicht alle Jubeljahre einmal vor, dass ein junger, recht unerfahrener Schauspieler eine derartige Glanzleistung bietet. Carrière lässt sich allerdings nur stellenweise mit dem träumerischen Törless in Musils Roman vergleichen (unter anderem in einer Szene, die ihn allein draussen herumirrend beim Gleiten in seine eigene Welt zeigt). Er tritt vielmehr als überheblich-intellektueller Schüler auf (vielleicht als Alter Ego des Regisseurs, der in Frankreich ein Jesuiten-Internat besucht hatte), was den Eindruck verstärkt, „Der junge Törless“ lehne sich zwar an die Vorlage an, sei jedoch - zum Teil wohl auch wegen der Unfähigkeit der Bilder, Erzähltes detailliert wiederzugeben - um eine eigenständige Interpretation bemüht, die die Dekadenz des frühen 20. Jahrhunderts konsequent zum Vorläufer der Unmenschlichkeit einer späteren Zeit mache. – Aber auch die anderen Rollen sind hervorragend besetzt. Ich möchte hier nur auf Barbara Steele hinweisen, die als Dorfhure Bozena einen kleinen Auftritt hat. Man könnte sie, Musils Text folgend, einfach als billige Schlampe darstellen. Schlöndorff verlieh ihr jedoch das, was sie zur „femme fatale“ und für die jungen Kadetten überhaupt erst verlockend machte. Offenbar steckt doch das in der Figur, was wir ihr in einem Seminar unserem Professor einst energisch absprachen, weil sie sich schlicht nicht in eine Reihe stellen lassen will mit den verführerischen "femmes fatales" der Jahrhundertwende, in Heinrich Manns "Professor Unrat" oder Thomas Manns "Der Zauberberg", der, die Androgynität solcher Figuren auf die Spitze treibend, mit Madame Chauchat die einzige Frau mit Penis (symbolisch!) in der damaligen Literatur präsentierte.


Obwohl ich noch immer auf einen Regisseur warte, der den Mut aufbringt, Rilkes „Malte Laurids Brigge“ (ein durchaus zeitgemässer Stoff!) wenigstens fragmentarisch zu verfilmen, muss Musils „Törless“ als die ideale Vorlage für einen Film betrachtet werden, der den Tod von Papas Kino in den 60ern erst zum internationalen Ereignis zu machen verstand. - Sein mehr als berechtigter Erfolg brachte den jungen Regisseur leider auf die Idee, er sei geradezu prädestiniert, schwierige literarische Stoffe auf brisante Weise für das Kino aufzubereiten. Diese gefährliche, an Hochmut grenzende Vorstellung sollte in einzelnen Fällen wirklich gute Literatur-Verfilmungen hervorbringen („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, 1975), oft aber zeigen, dass auch Schlödorff Bescheidenheit angemessen gewesen wäre. Ich bin heute noch der Überzeugung, dass der zwar mit einem Auslands-Oscar prämierte „Die Blechtrommel“ (1979) höchstens bewies, wie gefährlich, ja desaströs es sein kann, wenn man sich an den Roman eines sprachlichen Virtuosen wagt. Die Verfilmung von „Die Fälschung“ (1981), einem Roman des jung verstorbenen Nicolas Born, wirkt ebenso unbeteiligt wie die Frisch-Adaption „Homo Faber“ (1991), schon als literarisches Werk ein trockenes Konstrukt, dessen Lektüre man Gymnasiasten nicht mehr zumuten sollte. Und der sowohl blasse als auch schwülstige Versuch, mit „Un amour de Swann“ (1984) sogar Marcel Proust zu verfilmen, lässt höchstens erkennen, dass Volker Schlöndorff ohne diese verbohrte Vorstellung, der Meister der verfilmten Literatur zu sein, nach seinem grandiosen „Törless“ noch eine weitaus beachtlichere Filmographie vorzuweisen hätte.