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Donnerstag, 10. Februar 2011

Das vom kichernden Clown verdrängte Meisterwerk

Es gibt Filme, von deren Besprechung man wohl besser die Finger lassen sollte, weil man ihnen auch nicht ansatzweise gerecht zu werden vermag. Andererseits sieht man sich gelegentlich genötigt, seine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen - und sucht nach Ausreden (ein Wort, dem wir später erneut begegnen werden) dafür. Ich schiebe hiermit die Schuld auf Alex ("hypnosemaschinen"), der mich dank seines "Weihnachtsfilms" wieder einmal mit den einzigartigen Bildern konfrontiert hat, die David Lean zu erschaffen vermochte. Aber wie schon der Titel dieses Eintrags andeutet, hat mein Wunsch, mich Lean's letztem Film zuzuwenden, vor allem mit dessen eigenartiger Rezeption, auch mit einer persönlichen Betroffenheit, zu tun - liess ich mich damals doch selber  willig zum Opfer des "Zeitgeists" machen.

Reise nach Indien
(A Passage to India, Grossbritannien/USA 1984)

Regie: David  Lean
Darsteller:   Judy Davis, Victor Banerjee, Peggy Ashcroft, James Fox, Alec Guinness, Nigel Havers, Richard Wilson, Antonia Pemberton, Sandra Hotz u.a.

Der Misserfolg von “Ryan’s Daughter” (1970) erschütterte David Lean so sehr, dass der Eindruck entstand, er werde nie wieder ein Kinoprojekt in Angriff nehmen. Als aber die Produzenten Brabourne und Goodwin auf der Suche nach einem Regisseur für die Verfilmung von E.M. Forster’s Roman “A Passage to India” waren, stand er, der sich schon in den 60ern vergeblich um die Filmrechte bemüht hatte,  noch einmal zur Verfügung. - Leider sollte auch sein letzter Film, der 1984 in die Kinos kam, nicht gebührend gewürdigt werden, stampfte doch das kindische Wiehern eines zum Clown mutierten Komponisten aus Salzburg alles, was ihm in den Weg kam, gnadenlos in den Boden. Miloš Forman’s “Amadeus”, die Verfilmung eines Bühnenstücks von Peter Shaffer, in dem Antonio Salieri indirekt zum Mörder Mozarts gemacht wird, sicherte sich jene schwer zu greifende Macht, die nicht nur Falco zu einem Welthit verhalf, sondern  zur Begeisterung eines in Trance versetzten Publikums kreischend durch sämtliche Kinosäle dieser Welt wirbelte, um alle wichtigen Preise abzuräumen. Lean’s monumentale Romanverfilmung, von der man annehmen durfte, dass sie seine letzte Arbeit sein würde, erschien hingegen --- altmodisch!

Heute hat, dies darf man guten Gewissens behaupten, der Zahn der Zeit an diesem Ding, das uns seinerzeit so “hip” vorkam, genagt - ein Phänomen, das sich bei derart umjubelten Modefilmen (und nicht zuletzt bei  einigen Arbeiten von Forman) immer wieder bemerkbar macht. Wir kennen mittlerweile auch die sich zwar äusserst "britisch" gebenden, aber gepflegt langweiligen und eher einem John Galsworthy als der elegant-schlanken Sprache Forsters angemessenen Verfilmungen aus der Merchant/Ivory-Küche (“Room With a View”, 1985, “Maurice”, 1987, “Howards End”, 1991).   Dennoch wollen viele Kritiker von “A Passage to India” noch immer nicht zugeben, damals aus vielleicht verständlichen Gründen ein zeitloses Meisterwerk verkannt zu haben, einen gewaltigen Film, der wohl nur wenig hinter “The Bridge on the River Kwai” (1957) und “Lawrence of Arabia” (1962) zurückstehen muss. - Ausreden werden immer wieder gefunden: So “stört” man sich am altmodischen Soundtrack von Maurice Jarre, obwohl sich dieser schelmisch dem vom “British Empire” so geliebten Marschrhythmus unterwirft und bewusst zurückhaltend eingesetzt wird. Es wird auch behauptet, Lean habe keine Beziehung zum “Östlichen” gehabt und  in Indien vergeblich nach jenen vor Schönheit schmerzenden Bildern gesucht, die einen “Lawrence of Arabia” auszeichnen - und man fragt sich: Haben diese Kritiker die Augen vor all dem Reichtum an Farben verschlossen, gar den im ehemaligen Kaschmir spielenden Schluss verschlafen?

Für die boshafteste Anschuldigung ist vielleicht Alec Guinness, der Lean so grosse Rollen verdankte, zuständig: Der Regisseur eines Films, der sich nicht zuletzt gegen den Rassismus unter der Kolonialherrschaft  wendet, soll Inder für “minderwertige” Schauspieler gehalten und deshalb ihn, Guinness, dazu überredet haben, den Philosophen Godbole zu spielen, der als lächerlich geschminkte Figur zur schlechtesten Rolle seines Lebens geworden sei (ob der Mime Filme wie “The Scapegoat”, 1957, wohl bei dieser Gelegenheit aus seiner Filmographie verbannte?). In Wirklichkeit ärgerte sich Guinness, weil ein grosser Teil seines Parts um der Wirkung willen dem Schnitt zum Opfer fiel - obwohl er sich darüber hätte freuen dürfen. Denn dieser Godbole, der die fragende Bemerkung der englischen Damen, es müsse doch einen Grund für den Ruf der Höhlen von Marabar geben, mit einem abschliessenden “Indeed!” beantwortet, ist die Personifizierung jener Kluft, die zwischen zwei Kulturen besteht, jedoch  im entscheidenden Augenblick von Mrs. Moore, “a very old soul”, überwunden wird: als sie versteht, dass der Weise sie auf dem Bahnhof zur Reise in ihren Tod verabschiedet.


Es fällt einem bedeutenden Regisseur nicht unbedingt schwer, aus einem durchschnittlichen Roman einen guten Film zu machen; die Verfilmung von Weltliteratur ist hingegen - wer wusste dies besser als David Lean, der sich zweier Charles Dickens-Romane angenommen und  - pardon! - Boris Pasternaks “Doktor Schiwago” 1965 um des Kitschs willen vergeigt hatte? - eine höchst diffizile Angelegenheit. Einerseits muss man der Grösse eines solchen Werks gerecht werden, es auch möglichst “getreu” und umfassend wiedergeben. Andererseits genügt es nicht, einfach dem Plot und den Dialogen zu folgen; denn: “I think people remember pictures, not dialogue." (Lean) - Es geht also um die filmische Erfassung des oft beschworenen “Geists” eines Werks, dessen Umsetzung in ein anderes Medium. Dies erfordert gelegentliche Freiheiten: So kommt etwa die grossartige Szene, in der Adela auf ihrer Fahrradtour dem Erotischen begegnet, im Roman nicht vor, erweist sich aber als unumgänglich, wenn man aufzeigen will, was in der jungen Frau vorgeht.  - Und wer  eine Liste mit bedeutenden Verfilmungen von Weltliteratur anzufertigen versucht, stellt bald einmal fest, dass er um Lean, auch um seinen letzten Film, nicht herumkommt.

Etliche Leser werden Forster’s Roman aus ihrem Englischunterricht kennen. Ich begnüge mich deshalb mit einer Beschreibung der Filmhandlung: Im unwirtlichen, regnerischen England der 20er Jahre steht die junge Adela Quested vor dem Schaufenster eines Reisebüros, wo sie für sich und die ältere Mrs. Moore eine Überfahrt nach Indien buchen will. Mrs. Moore will dort ihren Sohn Ronny, der in der Provinzstadt Chandrapore Friedensrichter ist, besuchen, Adela begleitet sie als dessen zukünftige Verlobte. Die beiden Frauen, die ein ihnen fremdes Indien und seine Leute kennen lernen möchten, begegnen schon anlässlich der Ankunft des Vizekönigs einem - arroganten - Kolonialismus auf seinem Höhepunkt, entdecken auch das Brodeln in der Menge der Unterdrückten, das im Verlauf der Geschichte in einen Aufruhr umzuschlagen droht. Statt den Indern zu begegnen, begegnen sie dem Club, Inbegriff des Englischen, englischen Strassennamen - und einem Ronny, der zum karrieresüchtigen, rassistischen Schleimer geworden ist. Ihr Wunsch, mit Indern in Kontakt zu kommen, wird mit einer “Garden Party” erfüllt, auf der ein dressiertes indisches Orchester flotte englische Märsche spielt, die eingeladenen  Inder herablassend begrüsst und anschliessend gemieden werden. Lediglich der Hochschulleiter Richard Fielding tritt gegenüber der indischen Bevölkerung aufgeschlossen auf, vermag er ihr Wesen letztlich auch nicht ganz zu verstehen. Er bietet den beiden Damen eine Begegnung mit dem kauzigen Philosophen Godbole an, zu der auch der von den Briten ausgenutzte Arzt Dr. Aziz eingeladen werden soll (Mrs. Moore war ihm an ihrem ersten Abend in einer Moschee am Ganges begegnet und freundlich als Mensch mit einem guten Gesicht wahrgenommen worden).  - Während sich Godbole in mancherlei Hinsicht reserviert gibt, den Damen aber immerhin seine Reinkarnations-Philosophie und den Glauben an die Vorbestimmung (“My philosophy is you can do what you like... but the outcome will be the same.”) erläutert, lässt sich Aziz voreilig zu einer Einladung hinreissen: Er bietet Adela und Mrs. Moore an, ihnen die berühmten Höhlen von Marabar zu zeigen...


Aziz’ Freunde tragen mit Mühe und Not zusammen, was für einen Ausflug mit englischen Ladies benötigt wird (sogar Tische, Stühle und Portwein werden besorgt). Unterdessen entdeckt Adela auf einer Fahrradtour eine alte Tempelstätte mit Figuren, die sich offen liebend umschlingen. Zum ersten Mal wird ihre Neugier auf etwas geweckt, was sie bis jetzt unterdrückte: die hemmungslose Erotik, die sich zugleich als animalisch erweist (die Stätte dient als Fels für Affen, die die flüchtende junge Frau verfolgen) - und sie nachts nicht mehr schlafen lässt.

Als man sich am frühen Morgen am Bahnhof trifft, stellt sich heraus, dass Fielding, der ebenfalls eingeladen war, später nachkommen muss, weil Godbole zu lange gebetet hat. Und spätestens jetzt erkennt der Zuschauer das den ganzen Film durchdringende Vorbestimmte, die Vorahnungen des Unausweichlichen, die von beiden Kulturen - wenn auch unterschiedlich - wahrgenommen werden: Schon im Reisebüro zu Beginn des Films fühlte sich Adela auf seltsame Weise von einem Bild mit den Höhlen angezogen; Mrs. Moore empfand den vom Mond beschienenen nächtlichen Ganges, den sie in der Moschee erblickte, als schrecklich und wunderbar zugleich, weil sie ahnte, dass das Wasser zu ihrem Grab werden sollte...

Trotzdem scheint der Ausflug zu einem Erfolg zu werden: Die Fahrt mit dem Zug und der farbenprächtige Ritt auf einem Elefanten mit grosser Begleitung befremden und beeindrucken die Damen. -  In der ersten Höhle erleidet die klaustrophobische Mrs. Moore jedoch wegen des ungewöhnlichen Echos einen Schwächeanfall und fordert Adela und Aziz auf, die weiter oben gelegenen Höhlen alleine zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin werden seltsame “Grenzen” überschritten: Aziz reicht der Engländerin beim Aufstieg die Hand, Adela lässt sich - die Ferne ihres Verlobten, für den sie im Grunde gar nichts empfindet, erkennend - zu persönlichen Fragen über seine Beziehung zur verstorbenen Frau und die Liebe hinreissen.  - Und dann geschieht etwas, was dem Zuschauer wohl ebenso bruchstückhaft und zusammenhangslos  vorkommt wie den involvierten Figuren im Rückblick: Aziz, sich des Überschreitens der "Kluft" nur allzu bewusst, entfernt sich, um eine Zigarette zu rauchen, Adela betritt unterdessen eine der Höhlen, zündet ein Streichholz an, bläst es aber ängstlich aus, als sie bemerkt, dass der Inder nach ihr suchend vor dem Eingang steht. Kurz darauf sieht man sie völlig entgeistert den Hang hinunterrennen und in ein Auto steigen. - Als der mittlerweile nachgekommene Fielding mit Mrs. Moore und Aziz wieder in Chandrapore eintrifft, wird der Arzt beschuldigt, er habe Adela Quested in den Höhlen von Marabar zu vergewaltigen versucht...

Was geschah wirklich in den Höhlen? - Vergewaltigt wurde Adela auf jeden Fall: weil ihr niemand zu diesem “Only Connect” zwischen den Kulturen verhelfen konnte, das Forster zum Motto seines Romans “Howards End” machte - und das ihre später verwirrte Persönlichkeit vervollständigt hätte.  Man wird sie auch weiter vergewaltigen, dient sie doch von jetzt an nur als Spielball in einem Prozess, in dem die englische Kolonialmacht nahezu verzweifelt gegen aufbegehrende Unterworfene antritt.

Im Gegensatz zum monumentalen “Lawrence of Arabia” ist “A Passage to India” (die Mehrdeutigkeit des Titels erschliesst sich nach und nach, geht es doch keineswegs nur um eine Reise, sondern vor allem um eine Überbrückung respektive den Versuch) sowohl monumental als auch höchst intim, Details sorgfältig auslotend, zugleich - was durchaus dem erwähnten “Geist” des Romans entspricht. Und während die  Merchant/Ivory-Verfilmungen vor allem mit einer etwas schwülstigen, aber dennoch merkwürdig sterilen Atmosphäre aufwarteten, sind die Bilder schlank und edel, selbst in ihren monumentalsten Momenten nie überladen. Man möchte Szene für Szene wegen ihrer erlesenen Schönheit hervorheben, muss sich aber doch auf die nächtliche Begegnung zwischen der englischen Lady und dem Inder  in der  Moschee, Adelas Treffen auf die in ihr schlummernde sexuelle Lust, den Ausflug mit seiner zunehmend ersichtlich werdenden Vorbestimmung oder die prachtvoll-erschütternde Abfahrt des Zugs, in dem eine Mrs. Moore, die man loswerden wollte, weil sie Aziz für unschuldig hält, sitzt - und von einem die Zukunft erfassenden Godbole verabschiedet wird, beschränken. - Wer auch könnte sagen, je solche Bilder von der abgeschiedenen Welt nahe des Himalayas gesehen zu haben, in die sich ein mit den Briten hadernder Aziz als Leiter einer Klinik zurückzieht - um sich doch noch (Vorbestimmung!) mit seinem Freund Fielding auszusöhnen, der entgegen seiner Erwartungen eine andere Frau als Adela geheiratet hat? --- Solche Szenen erkannten wir seinerzeit auf der grossen Leinwand nicht als einzigartig, weil uns das Kreischen des Forman-Clowns die Ohren volldröhnte. Heute treiben sie mir Tränen in die Augen, wenn ich sie auf dem viel kleineren Bildschirm sehe. Was um alles in der Welt liessen wir uns entgehen?

Es soll im Vorfeld einige Probleme mit der Besetzung gegeben haben. Lean wollte Peter O’Toole für die Rolle des Fielding gewinnen, Celia Johnson war seine ursprüngliche Wahl für Mrs. Moore - und die Suche nach der passenden Schauspielerin für den Part der Adela Quested habe sich als schwierig erwiesen. Wer sich den Film heute anschaut, entdeckt schlicht Perfektion: James Fox ist ein herausragender Fielding und die grosse Dame Peggy Ashcroft wurde als dem Tode geweihte Mrs. Moore höchst verdient mit einem Oscar für die Beste Nebenrolle ausgezeichnet.


Ich konnte “A Passage to India” natürlich nicht gerecht werden, vermochte jedoch vielleicht wenigstens meine persönliche - leider späte! - Begeisterung halbwegs in Worte zu fassen. Und ich wünsche mir, dass jeder Filmfreund sich dieses Alterswerk des grossen  Regisseurs eines Tages im Kino anschauen und seine  Meisterschaft erfassen darf.