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Donnerstag, 3. Mai 2012

Warum der Film mit der toten Titelfigur funktioniert

Für die schlaflosen Nächte, die mir diese Spoiler nach Möglichkeit umgehende Besprechung bereitete, ist ein sympathischer junger Film-Freak und Musik-Spezialist zuständig, der als "travel" mit mir über den Score von "Rebecca" korrespondierte. Er hielt ihn für alles andere als gelungen, was mich zum Nachdenken und zum ihm widersprechenden Schreiben anregte. Wer mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, möge sich an "travel" wenden; denn ohne ihn, dem ich meine Auseinandersetzung mit Hitchcock's Hollywood-Erstling hiermit widme, fände man an dieser Stelle die Besprechung eines grandiosen Schlachten-Epos aus dem Fürstentum Liechtenstein.

Rebecca
(Rebecca,  USA 1940)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: Laurence Olivier, Joan Fontaine, George Sanders, Judith Anderson, Nigel Bruce, Reginald Denny, C. Aubrey Smith, Gladys Cooper, Florence Bates, Leo G. Carroll u.a.


Alfred Hitchcock drehte zwei Filme, deren Titel auf eine Frauenfigur verweisen. Einer dieser Filme, "Marnie" (1964), sollte dem mittlerweile zum Meister herangereiften Regisseur eigentlich vollumfänglich gelungen sein. Und doch müssen Verehrer wie ich ihn immer wieder vor Angriffen in Schutz nehmen. Von "Rebecca" wiederum könnte man aus verschiedenen Gründen annehmen, er sei - obwohl er mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde - gar nicht in der Lage, zu funktionieren. Trotzdem bestätigt jede Sichtung, dass ihm mit Recht der Ruf anhaftet, ein kleiner Klassiker mit verzeihlichen Schwächen zu sein. Man sagt zwar, er stehe irgendwo zwischen der "britischen" und der "amerikanischen" Phase des Meisters; seiner Bedeutung tut dies keinen Abbruch. - Diese Besprechung möchte sich mit der Frage beschäftigen, warum "Rebecca", das Werk mit der toten Titelfigur, eigentlich nicht funktionieren kann - und warum es dies dennoch tut.


Hollywood-Mogul David O. Selznick verführte den mittlerweile erfolgreichen Briten 1938 bekanntlich  zur Unterschrift eines seiner berüchtigten Sieben-Jahres-Verträge und stellte ihm die Regie eines "Titanic"-Films  in Aussicht.  Da Hitch an einem solchen Streifen überhaupt nicht interessiert war, schlug er dem Produzenten die Verfilmung des erfolgreichen Romans "Rebecca" von Daphne du Maurier als erstes gemeinsames Projekt vor. Die Reaktion auf sein Drehbuch, das in britischer Manier dem Film zuliebe von der Romanvorlage abwich und deren altmodischen "Gothic"-Touch mit Humor zu kontern versuchte, liess ihn aber erkennen, wie wenig ein Regisseur in Hollywood und speziell unter Selznick zu sagen hatte. Selznick, Verfechter möglichst dem Werk getreuer Verfilmungen mit vielen Zitaten aus dem Roman, liess den Neuen in einem seiner Memos wissen: "We bought 'Rebecca', and we intend to make 'Rebecca'." - Dieses Memo mit seiner mehr als deutlichen Botschaft stellte Hitchcock vor ein grosses Problem. Denn Selznick verlangte nicht nur die Verfilmung einer hoffnungslos altmodischen Geschichte, sondern die eines Romans, der sich gar keinem eindeutigen Genre zuordnen lässt. "Rebecca" schwankt unverkennbar zwischen Romanze, "Gothic"-Melodrama und Kriminalgeschichte. Er ist, und das fällt jedem Leser unangenehm auf, eine seltsame Mischung, die vor allem auf weibliche Leser abzielt und nicht so recht funktionieren will. Ein Stoff, der dem Thriller-Spezialisten in "Reinform" sicher nicht zusagen konnte. - Hinzu kam, dass Selznick im Grunde genommen einen britischen Film forderte, jedoch einen, der in den Staaten gedreht werden sollte. All dies beschäftigte den Regisseur, der später gegenüber Truffaut behaupten sollte, "Rebecca" sei gar kein Hitchcock-Film, mehr als das Getue um die Besetzung, das die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Projekt lenken sollte wie kurz zuvor bei "Gone With the Wind" (1939).

Obwohl sich Selznick mehr als erwünscht in die Dreharbeiten einmischte, hatte Hitchcock Glück: Der Produzent war noch so sehr mit der Post-Production des Mega-Hits um die schöne Scarlett  beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie sein "Knecht" heimlich alles unternahm, um  möglichst viel vom drohenden Durcheinander einer "werkgetreuen" Verfilmung abzuwenden. Und da er sich an seine aus England importierte Arbeitsweise hielt, nur das zu drehen, was für den fertigen Film benötigt wurde, blieb dem Produzenten, der es liebte, seine Filme im Schneideraum selber zusammenzusetzen, letztlich nur das Toben und die Flucht in eine Depression. - Hitch hatte (vom geforderten Ende abgesehen) weniger auffallende Veränderungen an der Vorlage vorgenommen; er hatte ihr jedoch mit allen erdenklichen filmischen Mitteln so etwas wie Einheitlichkeit zu verleihen versucht, den zitierten (!) Worten des Romans durch die Kraft der Bilder  gelegentlich sogar subtil widersprochen. - Das Resultat entsprach zwar nicht seinem gewohnten Desinteresse an Werktreue, wenn es um Adaptionen ging; es sollte aber eine gute Vorbereitung für spätere Psychothriller werden.

„Rebecca“ beginnt mit einem Traum der namenlosen Hauptfigur, der vom düsteren Anwesen Manderley handelt, das sie einst zusammen mit ihrem Mann bewohnte. Die eindringlichen, wortgetreu vom Roman übernommenen Bilder („It seemed to me I stood by the iron gate, … and for a while I could not enter for the way was barred to me. Then, like all dreamers, I was possessed of a sudden with supernatural powers…“) müssen zwangsläufig in eine zum Traum gehörende Geschichte münden, in der sich der Zuschauer mit der Erzählerin identifizieren kann. Könnte er dies nicht, würde sie im Gegensatz zum Roman leicht als übermässig tollpatschiges, höchstens Gelächter auslösendes Wesen wirken. - Da diese Geschichte aber auch Bestandteil des Traums ist (man beachte den Übergang vom eigentlichen Traum zu den Schuhen des Fremden, der an der Klippe steht und sich scheinbar das Leben nehmen will!), gilt für sie das, was für alle Träume gilt: Es gibt nichts Eindeutiges, Gesehenes und Wirkliches stimmen nicht unbedingt überein, können sich sogar widersprechen. Auch darauf weisen die ersten Traumbilder bereits raffiniert hin: Die beinahe singende Frauenstimme aus dem Off erzählt von der „perfect symmetry of those walls“, deren sie ansichtig wurde. Was ihr Traum jedoch zeigt, ist die hinter Ästen verborgene dunkle Ruine eines wirren, unheimlichen Gebäudes, wie es mit seinen verschiedenen Flügeln höchstens jenem Baustil entsprungen sein konnte, der im Zeitalter der Romantik als „Gothic“ beliebt war. Von Symmetrie keine Spur. Der Zuschauer ist vorbereitet: Er muss sich mit der Hauptfigur identifizieren, aber auch alles mit ihren – unzuverlässigen - Augen  wahrnehmen:

Eine schüchterne junge Frau arbeitet als Gesellschafterin für eine unsympathische amerikanische Matrone. Während eines gemeinsamen Aufenthalts in Monte Carlo lernt sie den Engländer Maxim de Winter kennen, dessen erste Frau Rebecca ein Jahr zuvor unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Obwohl Maxim ihren Tod offenbar noch nicht überwunden hat, freundet er sich rasch mit dem unscheinbaren Wesen, das er schroff mit „you little fool“ anredet, an. Die beiden heiraten und begeben sich nach Cornwall, wo die „zweite Mrs. de Winter“ zusammen mit ihrem Mann in dessen düsteren Anwesen Manderley leben soll. Dieses Anwesen ist, wie sie rasch erkennen muss, noch völlig durchdrungen vom Geist der Verstorbenen, deren Schönheit eine Macht auf alle, die sie kannten, ausübte. Insbesondere Mrs. Danvers, die Haushälterin, begegnet dem zunehmend unsicheren Wesen mit unverhohlenem Hass. Sie scheint derart von der Toten besessen zu sein, dass sie deren Nachfolgerin auf jede erdenkliche Weise vertreiben will ("She's too strong for you. You can't fight her."). Was aber denkt Maxim, der seine zweite Frau vorgewarnt hat ("I'm very difficult to live with") und nun zu allem zu schweigt? 


Was als romantische Liebesgeschichte begann, wandelt sich in Manderley zum "Gothic"-Melodrama, das die Stimmung des einleitenden Traums aufnimmt. Und in diesem Teil des Films tobt sich Hitchcock aus, findet erfolgreich Mittel und Wege, um aus dem banalen Roman ein Leinwandereignis zu machen, das zwar nicht mit einer Thriller-Handlung glänzt, aber eine Atmosphäre zu erzeugen vermag, die den Worten der Vorlage weit überlegen ist. - Die Geschichte der namenlosen Frau ist, wie der Regisseur gegenüber Truffaut erwähnte, eine Aschenputtel-Geschichte, und als Aschenputtel lässt er Joan Fontaine auch auftreten: Die Räume des Anwesens sind viel zu gross für sie, deren Alltagskleidung (die Jacke, die sie trägt, wurde sehr beliebt und ging als "Rebecca"-Jacke in die Geschichte ein) einer Schlossherrin gar nicht angemessen ist. Sie versucht sich in den riesigen Sesseln noch kleiner zu machen als sie in Wirklichkeit ist (als möchte sie in ihnen verschwinden). Und während sie sich in diesem Labyrinth von einem Anwesen verliert, triumphiert die Tote an jeder Ecke, hinter jeder Türe, die aufgeht, erstrahlt das Licht Rebecca's  ("The most beautiful room in the house. It was Mrs. de Winter's room."). - Im Büro der Verstorbenen, das jetzt zum Büro der Namenlosen wird, zeugt jedes geschwungene "R" (Selznick tat sich schwer mit der Auswahl aus verschiedenen Vorschlägen) auf Briefpapier und Notizblöcken von ihrer bleibenden Anwesenheit und Macht. Diese schüchtert die junge Frau dermassen ein, dass sie prompt eine kleine Statue umstösst und die Scherben in einer Schublade versteckt - Und während Aschenputtel, sich vergeblich an ihren Mann klammernd, von diesem Toten-Schrein immer mehr vereinnahmt wird, nicht einmal die Aufmunterungsversuche von Maxim’s Schwester wahrnimmt, scheint Mrs. Danvers (eine der unheimlichsten Frauengestalten, die ich kenne) sich nicht schreitend zu nähern, sondern zu schweben. Plötzlich steht sie hinter ihr und bringt den Geist der Verstorbenen, die sich der Zuschauer selber ausmalen muss, weil man kein Bild von ihr sieht, mit sich.

Das von Rebecca beherrschte Manderely, vom Zuschauer zum grossen Teil mit den Augen der zweiten Mrs. de Winter wahrgenommen (man beachte die langen Tische, die sie zunehmend von Maxim trennen), ist ein derart von Geheimnissen durchdrungener Ort, dass ihm der intensive Einsatz von Licht und Schatten angemessen ist. Ein virtuoses Spiel mit den Schwarzweiss-Bildern erweckt den Eindruck, die Tote sei überall, könne jederzeit Gestalt annehmen. Als sich die Namenlose in Rebecca’s Zimmer wagt, entdeckt sie – zusammenfahrend - hinter Seidenvorhängen eine dunkle Gestalt. Es ist jedoch nicht Rebecca, sondern Mrs. Danvers, die ihrer früheren Herrin noch immer ergeben ist und der Unerwünschten deren auserlesene Kleidung zeigt (sie streichelt ihre Wange an einem der Pelzmäntel), ihr sogar vorführt, wie sie ihr einst die Haare bürsten durfte. Man erkennt in dieser Szene gern Andeutungen einer einstigen lesbischen Beziehung, die sich  nun ins Nekrophile gewendet hat. Vor allem aber ist es der Wahnsinn, der vom Gesicht und den Worten der Haushälterin Besitz ergreift: „Do you think the dead come back and watch the living?“ – Die Szene endet mit dem vieldeutigen übermässigen Weiss der Gischt, die gegen die Klippen unter Rebecca’s Fenster schlägt, aus dem die Hauptfigur hier noch einen unschuldigen Blick warf, an dem sie aber später aufgefordert wird, in den Tod zu springen, damit sie Rebecca nicht länger ihren Platz an der Seite von Maxim de Winter wegnähme.
Besonders intensiv setzt Hitchcock Licht und Schatten in einer Szene ein, in der sich das junge Ehepaar Filme aus den unbeschwerten Flitterwochen anschaut. Die Haushälterin betritt den Raum und berichtet von der verschwundenen Statue im Büro. Als Maxim’s Frau ihrem Mann anschliessend von dem Missgeschick erzählt, fordert er sie auf, auch Mrs. Danvers aufzuklären. Und plötzlich verändert der Projektor, der Licht und Schatten auf die Gesichter der beiden wirft, ihre Ausdrücke ungemein, möglicherweise trügerisch: Während „Aschenputtel“ den letzten Rest ihrer Hoffnung verliert, wirft ihr Maxim einen Blick entgegen, der so furchterregend ist, dass er einen Mann zeigt, dem alles, auch das Grausamste zuzumuten ist. Und im Hintergrund tobt noch immer das unbeschwerte junge Glück in seinen Flitterwochen herum… 

Die Notwendigkeit, sich auf das Atmosphärische konzentrieren zu müssen, war für Hitchcock eine hervorragende Vorbereitung für seine späteren Psycho-Thriller, die von „Rebecca“ mehr profitieren sollten, als er je zugegeben hätte. Hinzu kam, dass er in Franz Waxman einen Komponisten fand, mit dem er sich von Anfang an hervorragend verstand. Selznick hatte Waxman ursprünglich als „Sicherheits“-Komponisten für sein Grossprojekt „Gone With the Wind“ engagiert; jetzt sollte er den Score zu „Rebecca“ schreiben. Und auch Waxman schaffte es, den Produzenten in den Wahnsinn zu treiben: Er begann, was damals unüblich war, erst zu komponieren, als ihm der fertige Schnitt vorlag. Seine Musik mag zwar heute etwas altmodisch erscheinen, das taktgenaue Komponieren kam aber dem musikalischen Regisseur sehr entgegen und half ihm zusätzlich, den Roman zu einem spannenden Psychothriller zu verarbeiten. – Waxman, der später seine Musik zu „Rebecca“ als seine gelungenste Arbeit betrachtete, leistete in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Der Einsatz verschiedenster Stilmittel, die es ihm ermöglichten, jeder Figur ein Leitmotiv zuzuordnen (die tote Rebecca bekam ein regelrechtes „Gespensterorchester“, das aus einer elektrischen Orgel und einem Novachord bestand), entfaltete eine ähnlich eindringliche Wirkung wie das durchgehende erzählende Begleiten, das bis zum „Mickey-Mousing“ ging (die Musik trippelt mit dem frisch verheirateten Paar die Treppe vom Standesamt herunter). Und wenn sich das Orchester zusammen mit der Hauptfigur zögernd dem Bootshaus, in dem noch Licht brennt, nähert, entsteht eine nicht zu überbietende Gänsehaut-Stimmung.
Was Waxman’s Musik für den Film bedeutet, zeigt sich an dessen letztem, enttäuschenden Viertel. Das „Gothic“-Melodrama verwandelt sich, worauf bereits hingewiesen wurde, gegen Ende in eine Kriminalgeschichte, an deren Verlauf nicht zuletzt Rebecca’s Cousin und ehemaliger Liebhaber (hervorragend verkörpert von einem jungen George Sanders) beteiligt ist. Diese Kriminalgeschichte ist derart dialoglastig, dass die Musik kaum zur Geltung kommt. Dementsprechend wirkt der letzte Teil von Hitchcock’s Hollywood-Einstand mit seiner Polizei-Befragung im Vergleich zum Rest nicht nur dilettantisch gemacht, sondern derart einschläfernd, dass selbst Kenner (inklusive Truffaut!) einzelne Aspekte nicht mitbekommen, weil sie an einem simplen "Whodunit" nach dieser überwältigenden Atmosphäre gar nicht interessiert sind. Man würde gern erfahren, was der Regisseur aus diesem abschliessenden Teil des Romans (Daphne du Maurier hielt ihn wohl für notwendig, weil über den "Gothic Hero" Maxim Klarheit herrschen musste) gemacht hätte, wäre er nicht zu einer „werkgetreuen“ Verfilmung verpflichtet gewesen.

„Rebecca“ ist ein Film mit Schwächen, und man mag Selznick die Schuld für diese Schwächen in die Schuhe schieben. Dennoch gilt er zu Recht als Klassiker, der zugleich ein echter Hitchcock war, weil er dem Regisseur viel für spätere Arbeiten mit auf den Weg gab. Die namenlose Hauptfigur, die sich anfangs zögerlich, später entschlossen ihrem Mann an den Hals wirft (Hitch behauptete, die Aktivität der Frau wirke so echt, weil Laurence Olivier Joan Fontaine nicht als Partnerin gewollt habe), sollte ihn in mancherlei Hinsicht auf Frauenfiguren vorbereiten, die in seinen Meisterwerken (Ingrid Bergman in „Notorious“, 1946, ‚Tippi‘ Hedren in „Marnie“) auch zu Identifikationsfiguren wurden, dem Zuschauer als "Augen" dienten. – Wer an „Rebecca“ zurückdenkt, erinnert sich vor allem an das verängstigte Geschöpf in einem düsteren Anwesen, das scheinbar von einer Toten beherrscht wird. Dass man die Schwächen des Films, insbesondere dessen letzten Teil auszublenden vermag, zeigt, wie gut wenigstens die erste Zusammenarbeit mit dem gelegentlich hintergangenen Selznick funktionierte. Der vom "Master of Suspense" als Frauenfilm deklarierte Hollywood-Einstand erwies sich als Lehre, wie sie besser nicht hätte sein können. Hätten seine Meisterwerke ohne den Zwang, sich wenigstens ein einziges Mal intensiv auf eine Vorlage einlassen zu müssen, ihre atmosphärische Klasse je erreicht? --- Man darf in diesem Zusammenhang abschliessend darauf hinweisen, dass die Werke der einst gern gelesenen Daphne du Maurier grundsätzlich erst zu erblühen begannen, wenn ein guter Regisseur sie verfilmte.

Freitag, 29. April 2011

Plädoyer für Hitchcock's "Marnie"

Marnie
(Marnie, USA 1964)

Regie: Alfred Hitchcock
Darsteller: 'Tippi' Hedren, Sean Connery, Diane Baker, Martin Gabel, Louise Latham, Bruce Dern u.a.

Hitchcock's "Marnie" ist so bekannt, dass man sich mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen und auch einige Spoiler in Kauf nehmen kann (ohne das Ende zu verraten, versteht sich). Gleichzeitig scheut man vor einer halbwegs umfassenden Interpretation des Films zurück, wurde er doch vielleicht noch mehr als andere Werke des Regisseurs von allen erdenklichen Seiten durchleuchtet. - Dass ich mich trotzdem an ihn heranwage, hat einen anderen, sehr persönlichen Grund: Ich möchte der Frage nachgehen, warum ich zu der zahlenmässig sicher kleineren Gruppe gehöre, die den umstrittensten Hitchcock für ein (verkanntes) Meisterwerk hält, wie ich meine Einstellung begründe und ob es mir gelingt, sie anderen halbwegs glaubwürdig zu verkaufen. Eine wirklich überzeugende Erklärung habe auch ich nicht zu bieten - was vielleicht den Reiz des Films ausmacht, aber nach einer Menge Arbeit aussieht.

Die Kleptomanin Marnie lässt sich als unscheinbare Sekretärin engagieren, um bald darauf die Tresore ihrer Chefs auszuräumen. Wieder einmal ist ihr eine perfekte Flucht gelungen, und nach ein paar Tagen bei ihrer stets kalt wirkenden Mutter lässt sie sich vom Witwer Mark Rutland anstellen, dem sie bereits an ihrem vorherigen Arbeitsplatz auffiel. Mark wartet förmlich darauf, dass die junge Frau, die eine unerklärliche Angst vor Gewittern und der Farbe Rot hat, sich auch über seinen Tresor hermacht. Er stellt die Flüchtige, fährt mit ihr zu seinem Familiensitz - und zwingt sie zur Heirat! Während Mark's eifersüchtige Schwägerin Lil  Marnie zu kompromittieren versucht, will er selber dem Problem seiner frigiden Frau auf die Spur kommen. Eine Reise in Marnie's Kindheit beginnt...

 

Der Film wurde im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern kein Erfolg; und Hitchcock reagierte ein wenig pikiert, als ihm François Truffaut diese Tatsache in seinem berühmten Interview ("Le cinéma selon Hitchcock", 1966) dezent unter die Nase rieb. Das Publikum empfand "Marnie" als altbacken und langweilig, Kritiker warfen dem Film vor, sich einer überholten Psychologie zu bedienen und in tricktechnischer Hinsicht eine Peinlichkeit zu sein. - Tatsächlich wirken Mark's Versuche, seiner Frau mit amateurpsychologischen Methoden zu helfen, mehr als veraltet (bewusst?), und die plötzliche Erinnerung an Verdrängtes am Ende erscheint lediglich formal begründet. Zu den tricktechnischen Nachlässigkeiten werden der leicht als zweidimensionales Bild erkennbare Hintergrund der Hafenstrasse, in der Marnie's Mutter lebt, ein höchst künstlich wirkendes Gewitter (es verhilft Mark immerhin zu seinem ersten Kuss!) und eine offensichtlich im Studio aufgenommene Reitszene gezählt. - Andererseits: Hitchcock legte oft nicht besonders grossen Wert auf tricktechnische Perfektion, wenn es ihm auf den eigentlichen Effekt der Szene ankam (ich denke etwa an die Autofahrten in "North by Northwest", 1959, oder sogar "Family Plot", 1976) - ohne dass man es ihm zum Vorwurf machte!

Meines Erachtens müssen zwei weitere Faktoren berücksichtigt werden, wenn man die teilweise bis heute anhaltende laue Aufnahme des Films verstehen will: Erstens hatte das Publikum einen neuen Schocker erwartet und war enttäuscht über die Rückkehr des Meisters zum Thriller-Melodram (auch die nach "Marnie" gedrehten Spionagefilme fanden bekanntlich nicht den erhofften Beifall, der erst mit dem überschätzten "Frenzy", 1972, zurückkehrte). Es ist deshalb absurd, "Marnie" als Abschluss einer sich mit psychologischen Themen befassenden Trilogie, die mit "Psycho" angefangen habe und mit "The Birds" fortgesetzt worden sei, zu betrachten; der Film knüpft - ich komme später darauf zu sprechen - vielmehr bewusst an frühere Filme an, bedeutet eine Abkehr vom Schocker. - Zweitens spielen Gerüchte um Hitchcock's Umgang mit seinem "Besitz" 'Tippi' Hedren (er verpasste ihrem Künstler-Vornamen sogar die einfachen Anführungszeichen) eine Rolle. Die Schauspielerin, die schon die Dreharbeiten zu "The Birds" als grauenvoll empfunden hatte, fühlte sich während der Arbeit an "Marnie" vom Regisseur sexuell belästigt. Man weiss nichts Genaues, bloss, dass Hedren ihren Kontakt zu Hitchcock beendete und von ihm nicht wieder eingesetzt wurde. - 1983 erschien jedoch eines der für den Ruf des Regisseurs nachhaltig schädlichsten Bücher: Donald Spoto's höchst unbeglaubigte Biographie "The Dark Side of Genius: The Life of Alfred Hitchcock". Spoto genoss es regelrecht, den Regisseur zum seinen unterdrückten sexuellen Begierden ausgelieferten Monster zu machen, das während der Dreharbeiten zu "Marnie", bereits dem Alkohol verfallen, sich nicht mehr wie bei Grace Kelly habe zurückhalten können. Der Autor, dem zwei kurze Interviews mit Hitch gewährt worden waren und dem sich alle dem Regisseur verbunden Fühlenden verweigerten, weiss natürlich im Detail, was sich genau bei der Entstehung von "Marnie" ereignete - und leider wurde vieles von dem, was er schrieb, kolportiert und blieb in den Köpfen des Filmpublikums hängen. Besonders hübsch: Hitchcock's Interesse am Film habe nach dem Konflikt mit Hedren nachgelassen, was die vielen oben erwähnten "Flaws" erkläre. Wäre Spoto tatsächlich ein Hitchcock-Kenner, wüsste er, wie minutiös der "Master of suspense" seine Filme vorplante, so minutiös, dass er - möge es sich nun um Narkolepsie oder einen Fimmel gehandelt haben - am Set oft den Eindruck eines Schlafenden erweckte. Der Film war also im Grunde genommen bereits "fertig", als er gedreht wurde; und die Beziehung zu einer Hauptdarstellerin konnte daran kaum etwas ändern.

Was habe ich, der ich "Marnie" erstmals als zehnjähriger Bengel und seither unzählige Male sah, nun all den negativen Beurteilungen des Films entgegenzusetzen? Es ist nicht viel, lohnt aber vielleicht doch eine Überlegung: Man erhält insbesondere in gewissen melodramatischen Filmen des Regisseurs gelegentlich den Eindruck, er "leihe" seinen Protagonisten die Kamera für eine Weile, gebe sie ihnen als "Auge", damit sie dem Zuschauer für ein paar Momente die Welt zeigen können, wie sie sie sehen. Dieses Phänomen begegnete mir in aller Deutlichkeit erstmals bei "Rebecca" (1940): Die namenlose zweite Mrs. de Winter zeigt uns nicht bloss die im ganzen Haus scheinbar übermässig verstreuten Zeichen ihrer Vorgängerin, sie nimmt auch die Bewegungen von Mrs. Danvers, der unheimlichen Haushälterin, als nicht hörbares Schweben wahr und lässt es den Zuschauer als solches empfinden. In "Notorious" (1946) etwa ist es vor allem die berühmte Gleitfahrt der Kamera vom ganzen Festsaal bis zur Hand von Ingrid Bergman, die den Schlüssel zum Weinkeller hält, von der ich den Eindruck habe, es gehe hier um die Bewegung vom "Das seht ihr!" zum "Das spüre ich!". Und in "Vertigo" (1958) ist es letztlich neben der Musik nur die Kamera, die dem Zuschauer als Auge von James Stewart vermitteln kann, wie vom Tode umgeben er die Ausstrahlung der scheinbaren Madeleine wahrnimmt.

Bei "Marnie" scheint es mir, als würde diese eigenartige Funktion der Kamera beinahe zum Prinzip erhoben, was den Film über weite Strecken zum (ich möchte sagen: halluzinatorischen) Ereignis macht, das uns miterleben lässt, wie die Hauptperson sich und ihre Welt (die "Wirklichkeit" verdrängend?) wahrnimmt. Bereits der Beginn, der eine dunkelhaarige Frau zeigt, die selbstsicher einen Bahnsteig entlanggeht, erscheint wie ein Sich-Betrachten der gespaltenen Marnie von hinten: "Seht doch, wie gut ich das kann!". Die Hafenstrasse mit ihrem riesigen Schiff im Hintergrund, das so symbolträchtig ist, dass es in den jetzt kindlich gewordenen Augen ruhig zweidimensional wirken darf, offenbart dann einen anderen im Untergrund drohenden Teil der Geschichte dieses Wesens (man beachte auch die unbesorgt spielenden Kinder, zu denen Marnie nie gehören konnte!). Die Tresorräume wirken wie billige Theaterkulissen, und als solche nimmt sie Marnie auch wahr: Einzig der riesige, immer gleich aussehende Tresor spielt eine Rolle. - So gerät der Zuschauer zunehmend in die Welt dieser eigenartig-fremden Frau, empfindet das Gewitter so, wie sie es empfindet, lässt den Landsitz der Rutlands plötzlich im Vergleich zur bisherigen "Welt" so überreal erscheinen, dass er ihm beinahe Angst einjagt - und erlebt das Reiten als das einzige wirklich befreiende Erlebnis in diesem Traum, in dem sich das scheinbare tricktechnische Manko vielleicht sogar als Vorteil entpuppt (ein Reiten wie ein Schweben!). Man könnte einige dieser "Flaws" ins Gegenteil verkehren, wenn man der Welt von Marnie erst ausgeliefert ist.


Ab und zu will Hitchcock aber offenbar daran erinnern, dass es sich bei diesem Trip, dem wir zu verfallen drohen, durchaus um die Welt "in Marnie's Augen" handelt. Er tut dies raffinierterweise, indem er uns in Zweifel versetzt: Während der ersten Autofahrt zum Landsitz der Rutlands etwa wirft Sean Connery der Hedren einen derart ordinären "Dich nehm ich mir!"-Blick (den der hervorragend spielende Schauspieler nicht von seinen James Bond-Rollen her hat, sondern Hitchcock verdankt!) zu, dass man sich unweigerlich fragt, ob er bloss in Marnie's Wahrnehmung existiert oder real ist. Und ist das Gesicht, das wir von der Vergewaltigten sehen, das Gesicht, das ihr Mann sieht? Müsste er, der ihr doch helfen will, dann nicht von ihr ablassen? Sehen wir etwa vielmehr bloss das Gesicht, das Marnie ihm zu zeigen glaubt? - Eigenartige Situationen, die uns zumindest etwas erkennen lassen: Die Heldin sieht sich als in sich Brüchige umgeben von in sich selber brüchigen, z.T. zwielichtigen Gestalten (ich denke neben Lil an Strutt und den Mann, der sie beim Pferderennen erkennt: Beide begehren sie sexuell und wollen sie zugleich der Polizei ausliefern respektive erpressen). Wie aber soll sie in einer Welt voller in sich brüchiger Wesen, die wie ihre die Wahrheit verdrängende Mutter und der zwischen Begehrendem und Helfendem schwankende Mark nicht in der Lage sind, Macht über sich auszuüben, gesunden, "gut" werden? - Und letztlich: Wer ist in diesem Traum, den wir mitträumen, der Bösewicht, falls es überhaupt einen gibt?

Meiner Ansicht nach ist "Marnie" bleibend aktuell, von seiner Gestaltung her (und sie ist letztlich von grösserer Bedeutung als Mark's freudianische Spielchen!) auch in psychologischer Hinsicht keineswegs überholt. Der Film verfügt, wie sogar der "Biograph" Spoto zugeben muss, über eine eigenartige Anziehungskraft, zieht den Zuschauer auf seltsam traumhafte Weise in die gequälte Seele einer gebrochenen Frau hinein - und hebt die Zeit derart auf, dass man seine Länge gar nicht wahrnimmt. Dazu trägt die seltsam hypnotisierende, aber das Meer des Unbewussten immer wieder aufwühlende Musik von Bernard Herrmann wesentlich bei. Das erscheint mir einzigartig, meisterhaft. - Vielleicht haben letztlich das Erschiessen von Marnie's Lieblingspferd und das Aufdecken ihres Geheimnisses etwas Enttäuschendes, weil sie das Ende dieses Traums ankünden: Am Schluss verlässt eine mit dem Zuschauer "erwachte", ratlose Marnie in Mark's Armen das Haus ihrer Mutter.


Gegner von "Marnie" könnten mein höchst unvollständiges Plädoyer in der Luft zerreissen, wie ich ihre Argumente zu widerlegen versuche. Nicht viele Filme können sich rühmen, derart umstritten zu sein. Lynch's "Mulholland Drive" mit seinen ergebenen Verehrern und gandenlosen Verächtern gehört zu ihnen. Dies spricht meiner Meinung nach für "Marnie", der auf den ersten Blick sicher viel weniger komplex ist, jedoch eine Menge Stoff für Interpretationen, Liebe und Hass bietet. - Ich habe lange behauptet, "Marnie" sei nicht mein absoluter Hitchckock-Favorit; ich würde ihn lediglich zu meinen sechs, sieben Lieblingen (so viele muss man dem Regisseur schon zugestehen) zählen. Aber muss ein Film, den man, gerade weil er die Zuschauer derart dezidiert in zwei Lager spaltet, jederzeit mit viel Herzblut und wenig Verstand verteidigen würde, nicht mehr als alle anderen Arbeiten des Meisters geliebt werden? -  Es liesse sich sogar darüber spekulieren, ob Hitchcock die Hedren nicht bewusst mit sexuellen Anspielungen zur Leistung ihres Lebens getrieben habe; was allerdings nichts daran ändert, dass er anschliessend ihre Karriere kaputtmachte.