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Dienstag, 27. Februar 2024

Moonwalk in der Zahnarztpraxis und weitere Lustbarkeiten

Bericht vom 21. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (4.-7. Januar 2024)


Donnerstag, 4. Januar 2024


Nürnberg, KommKino

ab 15.00 Uhr


SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER
Regie: Harald Reinl
BRD/Italien 1972
35mm, dt. OV
Der Maler Stefan verliebt sich in die Krankenschwester Claudia. Dem trauten Liebes- und Eheglück steht nichts mehr im Weg, denn Stefan erhält von einem italienischen Mäzen einen großen Auftrag. Doch Claudia wird bei einem Unfall im Krankenhauslabor einer tödlichen Dosis radioaktiver Strahlung ausgesetzt...

Reinls Melodrama im Fahrwasser von LOVE STORY zeichnet durch eine ausgezeichnete Inszenierung im visuellen Bereich aus: den über Jahrzehnte gereiften Routinier sieht man in fast jeder Einstellung an, der Film ist wunderschön anzusehen und strotzt vor kleinen visuellen Einfällen (da ist natürlich immer wieder der Schwenk zur Büste von König Ludwig I. in Stefans Wohnung, oder der Einfall, das gemeinsame Einschlafen Stefans und Claudias mit einem Schwenk auf Claudias Pantoffeln zu beenden – die Pantoffeln, die dann nach einem Schnitt weg sind, wenn Stefan aufwacht und nach Claudia sucht, die sich im Badezimmer gerade übergibt). Im zweiten Teil des Films, wenn das Paar seine "Hochzeitsreise" in Rom feiert, kann der Film geradezu genüsslich in wunderschönen Postkartenmotiven schwelgen. Das sieht auch trotz des vorangeschrittenen Rotstichs der Kopie sehr beeindruckend aus.

Weniger beeindruckend sind das Drehbuch und die beiden Hauptdarsteller Amadeus August und Gundy Grand: die zentrale Liebesgeschichte (über die dann auch die großen Gefühle des Melodrama ausgelöst werden sollten) hat für mich einfach nicht funktioniert. Dass August mit wenig und Grand mit gar keinem Charisma gesegnet ist und beide überhaupt gar keine Chemie haben – geschenkt. Dass Stefan als manipulativer Stalker rüberkommt, der seine Angebetete auf Arbeit verfolgt, ihr Auto besetzt und seinen Ausweis in ihrer Handtasche "verliert", um ein Date zu erpressen, lässt ihn schon maximal dubios wirken – aber keinesfalls romantisch. Zudem ist SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER furchtbar verbos, zugekleistert mit furchtbaren, hölzernen Dialogen, bemüht witzig – es soll wohl Screwball-Comedy sein, aber meist ist es teutonischer Schraubenball-Klamauk.

Und wie Claudia durch schiere Dummheit den Unfall mit dem Strahlengerät im Labor auslöst (sie spielt mit einem nicht-gesicherten Prototypen rum – und lässt diesen mitten beim Rumspielen strahlend stehen, um mit Stefan zu telefonieren), lässt schon an ihre Eignung für irgendwelche Tätigkeiten außerhalb eines sehr passiven Trophy-Wife-Daseins zweifeln. Die Szenen mit dem Strahlengerät sind eh eine Sache für sich: innerhalb eines extrem detailverliebt ausgestatteten Films sind es karge, triste Studioräume, ein riesiger Hebel mit den Aufschriften "An" und "Aus" markieren den Eingang des Strahlungsraums (und auf etwas unterkomplexe Weise die Funktionalität des Geräts). Wenn es "spannend" werden soll, dröhnt eine karikatureske, plumpe "Spannungsmusik" aus der Dose – während das Hauptthema, das Liebesthema, eine aufwändig auskomponierte, filigrane und wunderschöne Musikbegleitung zum Film ist. Das wirkt fast so, als wäre der Erzählstrang zur Erkrankung Claudias später mit hurtigen Nachdrehs in den Film reingeschmuggelt worden.

Ich kann nicht drüber hinwegsehen, dass ich Stefan als absolut unsympathische Figur empfinde. Seine zwei Nachbar-Buddies hingegen haben einen Platz in meinem Herzen gefunden: da ist Boris, der Typus des "dicken Schlemmers", der bei einem Besuch bei Stefan schon mal die Hälfte von dessen Brot wegschneidet, dick (wirklich dick! also wirklich!) mit Butter bestreicht und schwärmt, wie toll es schmeckt – und zur Vermittlung einer Blutspende die "Dauerwurscht" aus dem Esspaket als "Kommission" verlangt. Und der Italiener Nino, der sich in eine bezaubernde junge Dame namens Rosy verliebt, die ihn nicht nur mit ihrer Präsenz, sondern auch mit schönen Geschenken beglückt – das Geld dafür sammelt sie ohne Ninos Wissen auf dem Straßenstrich, wie Stefan und Claudia bei einem späten Bummel durch die Straßen erschrocken und leicht angewidert merken. Angewidert sollte wohl auch das Publikum sein – als geneigter Besucher des Hofbauer-Kongresses wünscht man sich aber natürlich lieber einen eigenen Film zu Ninos und Rosys Geschichte.

Nach einer ersten Sichtung im Kommkino im September 2023 habe ich SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER nun zum zweiten Mal gesehen. Ich mag den Film als Gesamtpaket immer noch nicht, auch, wenn mir einzelne Elemente sehr gefallen. Eine gewisse Faszination kann ich nicht leugnen.



ab 17.00 Uhr


LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE ("Das Teufelsweib von Santa Margarita")
Regie: Carlos Hugo Christensen
Argentinien/Venezuela 1949
35mm, DF
Der Schiffskapitän Segundo führt ein bescheidenes, aber grundsolides und gutbürgerliches Leben mit kleinem Eigenheim am Strand, liebevoller Ehefrau und heranwachsendem Sohnemann. Aber ist es wirklich so grundsolide? Bei Überfahrten zur Insel Santa Margarita verfällt er dort im Rotlichtviertel der Femme Fatale Esperanza.

Nach Salzwasser, Blut, Tränen und Schweiß schmeckt dieses noir'ische Melodrama des dänisch-stämmigen Argentiniers Christensen (seines Zeichens eine tragende Säule des argentinischen Kinos der Zeit). Besonders der Schweiß hat es Christensen und dem spanischen Kameramann José María Beltrán (der dafür bei Cannes einen Preis gewann) angetan: das tropische Klima in Venezuela ist natürlich schweißtreibend, aber noch mehr scheint es die innere Glut, ja die schiere Geilheit zu sein, die den Figuren Strömen von Schweiß ins Gesicht treibt. Bei Segundo ist der Fluss dieses Körpersafts nach Ankunft in Santa Margarita fast unaufhörlich. Bei Esperanza ist er kontrollierter – ein dünner, öliger Schweißfilm bedeckt ihr Gesicht und lässt sie dadurch nicht nur in der schummerigen Beleuchtung der Rotlichtviertel-Kaschemmen, sondern nachts besonders im hellen Mond-Licht als wahrlich verführerische Femme Fatale der Tropen erstrahlen.

Der Mexikaner Arturo de Córdova und die Argentinierin Virginia Luque sind vielleicht nicht die charismatischsten Schauspieler der Welt, aber sie machen ihre Sache gut (und feucht). Die Charisma-Kracher gibt es in den Nebenrollen: die Kubanerin América Barrios als komplett entrückt-verrückte Prostituierte Maria, die in ihrer eigenen Parallelwelt lebt und zwischendurch die Handlung aufbricht, wenn sie Segundo oder andere Seemänner in ein irrsinniges, absurd-surreales Gespräch verwickelt – eine Straßenphilosophin im Rotlichtviertel. Ihre lebensweltliche Cousine sitzt in der Kaschemme, in der Esperanza auftritt: eine ältere Frau, die von allem um sie herum – sei es Esperanzas expressiver Gesangsauftritt oder eine wüste Kneipenschlägerei – völlig kalt gelassen wird und ganz entspannt, wortlos ihr Bier trinkt, komme was möge. Ein weiterer Hingucker ist der Venezolaner Tomás Henriquez als Voodoo-Zauberer und Betrüger: ein Mann der wenigen Worte, der mit seinem markanten, vernarbten Gesicht alles Bedrohliche der Welt ausdrückt.

LA BALANDRA ISABEL LLEGÓ ESTA TARDE hat mir gut gefallen mit seinen Zutaten aus Melodrama, Noir-Elementen, Rotlicht-Seediness und tropischer Hitze. Inszenierung und Schnitt sind nicht immer ganz on point, aber der Film ist trotzdem voller beeindruckender und markanter Bilder: natürlich das schweißge Tête-à-tête zwischen Esperanza und Segundo im Mondschein, der von Regen- und Abwasser triefende Aufstieg zur Kaschemme auf der Anhöhe und beim Höhepunkt natürlich Esperanza, die bedrohlich vor einer lichterloh brennenden Hütte in einem geradezu apokalyptischen Tableau ihre Frau steht.



ab 21.15 Uhr


WUNDERLAND DER LIEBE – DER GROSSE DEUTSCHE SEXREPORT
Regie: Dieter Geißler
BRD 1970
35mm, dt. OV
Wie steht es um die Liebe im Land der teutonischen Begrenztheiten? Und was ist eigentlich mit Sex?

Auch wenn WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN im gleichen Zeit-Slot am nächsten Tag der emotionale Höhepunkt dieses Kongresses war – WUNDERLAND DER LIEBE war der Kracher to bang'em all! Eine Tour de Force des Unfassbaren und ein Strudel des Unglaublichen. Kinobesucher, Kondom-Produzenten, Kommunenbewohnerinnen und -bewohner, Aktionskünstler, homosexuelle Renegaten des katholischen Klerus, nordische Gigolos, Bewohner und Besucher von Sylt, provinzielle Stripclub-Betreiberinnen zwischen den Geschlechtern, Begründer exotischer Randparteien und Jürgen Drews als Liebhaber und Modellflugzeug-Liebhaber sind die Protagonisten dieser trotz rotstichiger Kopie kunterbuntester Nummer des diesjährigen Kongresses. Manch gestandener HK-Besucher sprach von "bester Reportfilm überhaupt".

Natürlich strotzt der Film nur so von unglaublichen Personen. Der Publikumsliebling der HK-affinen Herzen dürfte der Hamburger Gigolo sein, der in einem ununterbrochenen, stromartigen und mehrminütigen Monolog seine Tätigkeit als männlicher Prostituierter erklärt, diverse pikante, absurde und groteske Geschichten über seine verschiedenen Kundinnen preisgibt (manche wünschen sich eben, mit Bratkartoffeln beworfen zu werden) und seine teils libertären, teils zynischen Lebensweisheiten verrät (bei ihm sagen die Frauen offen, wenn sie sich lecken lassen wollen, weil ihre Männer zu sehr mit Arbeit beschäftigt sind, um das zu tun und ihre Frauen zu befriedigen) – 99% aller Poetry-Slammer und Rapper dieser Welt können sich nur im Traum wünschen, einen derartig dichten Strom der Gossenpoesie von sich zu geben. Knapp am Publikumslieblingspreis schrammte der Gründer der Deutschen Sex-Partei (Joachim Driessen), der in seinem biederen Anzug und dem Gesicht eines Schwiegermutter-Lieblings von der befreienden Kraft des Sex und einer gemeinsamen, deutsch-polnischen Anstrengung zur Erotisierung der Oder-Neisse-Grenze schwärmte, während seine leicht, na ja, eigentlich unbekleidete Sekretärin ihm ab und zu einen Zettel in die Hand drückte. Einer der denkwürdigsten Details des Kongress-Wochenendes gab es im Interview mit den Mitgliedern des Musiker-/Aktionskunst-Duos "Anima-Sound" zu sehen: beide Duo-Mitglieder und Eheleute saßen während der Befragung am Wohnzimmertisch und bissen zwischendurch in ihre Schnittchen – er hielt allerdings sogar mitten in seiner Antwort an, nahm das Konfitürenglas und tropfte die Konfitüre aus dem Glas geduldig auf seine Brotschnitte.

À propos Essen: besonders bizarr war das Buffet mit den Mitgliedern einer Kommune. Als Bedingung, um sich filmen zu lassen, hatte diese bei der Filmcrew ein großes Catering bestellt, knabberte einen Teil des Buffets an – und feierte mit den noch großen Mengen an Resten eine Art Essensschlacht. Da wurden nicht nur Erinnerungen an Chytilovás "Tausendschönchen" wach – sondern auch Gedanken über bourgeoise Verschwendung geweckt, die die Kommune durch ihren Lebensstil eigentlich überwinden wollte/sollte. Aber noch unbehaglicher wurde die Kombination aus Performance und Essen dann bei der Dokumentierung einer Kunstaktion von Otto Muehl an der Kunsthochschule Braunschweig, bei der ein Schwein auf der Bühne live geschlachtet wurde und eine Perfomance-Teilnehmerin nicht nur mit Schweineblut beschmiert, sondern auch von Muehl angepinkelt wurde.

Für eine der größten Überraschungen sorgten allerdings zwei ältere Herren in einer Sylter Kneipe, die zum naheliegenden FKK-Strand befragt wurden. Sichtlich nicht mehr beim ersten Bier, mit leicht angeschwitzten, roten Gesichtern – eigentlich Kandidaten für Tiraden über die heutige Jugend. Aber nein: zum FKK-Strand gehe man selbst nicht, denn "im Alter wird alles etwas kleiner" – aber die heutige Jugend solle mal schön selbst in Ruhe machen und ausprobieren und herausfinden, was sie wolle.

Klingt alles wüst? Damit WUNDERLAND DER LIEBE nicht komplett auseinanderfällt, gibt es eine Art Rahmenhandlung mit einem Liebespaar: Sabine Clemens als sie und Jürgen Drews als er. Sie dürfen am Ende dann auch Sex haben – also, na ja, nackt zusammen im Bett herumtoben, in eleganter Zeitlupe und in einem Kaleidoskop überlagerter Bilder gefilmt, während der fetzige Sound der Krautrock-Band Apocalypse (hier nach knapp 2 Minuten das Hauptthema des Films) sich auch noch drüber legt. Womit wir beim nächsten wichtigen Punkt wären: WUNDERLAND DER LIEBE ist absolut fantastisch anzuschauen und anzuhören! Regisseur Dieter Geißler war der Hauptdarsteller in Klaus Lemkes 48 STUNDEN BIS ACAPULCO, deutscher Co-Produzent für italienische Co-Produktionen wie MALASTRANA (durch Aldo Lados Prag geistert ein Straßensänger, der von Jürgen Drews verkörpert wird), CHI L'HA VISTA MORIRE, Roman Polanskis CHE?, Luchino Viscontis LUDWIG II, später Produzent von DIE UNENDLICHE GESCHICHTE (1 bis 3): WUNDERLAND DER LIEBE ist die erste von nur zwei Regiearbeiten.

Aber als umtriebiger Produzent schien er einen Riecher für die richtigen Leute zu haben: Hubertus Hagen an der Kamera, ein Veteran der Schwabinger Nouvelle Vague (und später von Lederhosen-Sexfilmen) und Jutta Brandstaedter an der Schere (Cutterin für Klaus Lemke, Roger Fritz, Rudolph Thome und Aldo Lado). Denn WUNDERLAND DER LIEBE ist auch ein Film der entfesselten Bilder und der wahnsinnigen Montagen. Nervenzerfetzende Thrills gibt es ebenso wie brüllende Lacher. Befragungen von Fabrikarbeitern sowie Marketing- und Produktmanagern einer Kondomfabrik werden montiert mit Bildern einer Qualitätskontrolleurin, die an einer Maschine Luft in ein Kondom strömen lässt und die Liter abzählt: "5 Liter" – O-Töne – "10 Liter" – O-Töne – "20 Liter"... und so weiter. Es steigert sich immer mehr, bis bei 50 Litern und der Offenbarung, dass die Geschmacksrichtung Pfefferminz am beliebtesten bei Nutzern abschneidet, schließlich die kathartische Explosion erfolgt! Toben im Kommkino-Saal! Und dass das Anbringen des Kondoms während des Liebesspiels, wie ein Marketing-Mensch der Fabrik versichert, keineswegs Erotik und Zärtlichkeit zerstört, wird in der Montage auch schön veranschaulicht: Schnitt zur Qualitätskontrolleurin, die mit ordentlich Schmackes Kondome auf die langen Phallen eines Kontrollfließbands zieht. Das Publikum im Komm tobt weiter!



ab 23:30 Uhr


SCREWBALLS ("Screwballs – Das affengeile Klassenzimmer")
Regie: Rafal Zielinski
Kanada 1983
35mm, DF
Fünf Jungs der Taft and Adams High School (abgekürzt: T & A) versuchen in gemeinsamer Anstrengung, endlich einen Blick auf die Brüste von Purity Bush zu werfen, dem schönsten Mädchen der Schule.


Ein Perpetuum-Mobile ist physikalisch nicht realisierbar. Aber das Großartige an Kino ist, dass da alles möglich ist: SCREWBALLS dürfte eine Art Perpetuum-Mobile der wüst-zotigen Teenager-Sexkomödie sein. Ein wildes Ungestüm, das, nachdem einmal in Gang gesetzt, im Autopilot-Modus wütet, nicht zu stoppen ist und ohne Energieverlust auf seinem Weg alles komplett verwüstet. SCREWBALLS ist vor allem auch ein sehr puristischer, in seiner geradlinigen Konsequenz fast radikaler Exploitationfilm, vollkommen auf seine Schauwerte konzentriert, die er als eine Art Nummernrevue aufzieht: natürlich gibt es – leichtes Zugeständnis an das klassische Erzählkino – eine Art Aufhänger als roten Faden. Aber SCREWBALLS ist vor allem an seinen Eskalationen interessiert, ja ist gar ein Kaleidoskop der Eskalationen, von denen jede einzelne minutiös vorbereitet und ausgeführt wird. Aus einer Idee wird eine kleine Zote, aus einer Zote ein größerer Unfug, der größere Unfug verwandelt dann beispielsweise die Turnhalle in ein Orgien-Schlachtfeld – vom Kauf des Extrakts spanischer Fliege im Sex-Shop über das versehentliche Verschütten in den Punsch bei der Schulfeier bis zur Orgie. Die Erwartung der Zuschauer wird immer sehr schön angefächert, angeteast, aufgebaut und schließlich befriedigt – dabei gibt es aber trotzdem immer einen Moment der Überraschung, denn wer hätte ernsthaft erwartet, dass eine Partie Strip-Bowling damit endet, dass eine Bowling-Kugel sich auf dem eregierten Penis eines Spielers festklemmt und diese erst durch Stimulation der weiblichen Mitspielerinnen orgiastisch und Strike-markierend abgestoßen werden kann? Wer?

Ja, SCREWBALLS ist zotig, schmierig, früh-pubertär (ob manche der Slapstick-Geräusche, wie Katzenfauchen zum Silhouetten-Sex, im Original zu hören sind oder das Zusätze der deutschen Synchronfassung sind, weiß ich nicht) und völlig geschmacklos. In Sachen komödiantischen Inszenierungshandwerk sind wir allerdings schon in der Top-Klasse. Der Versuch eines Schülers, bei Purity einzubrechen, ist ein Paradebeispiel dafür, wie gut SCREWBALLS ist: ein notgeiler Schüler, zwei Räume, eine Treppe, Purity kurz vor dem Einschlafen, eine sexuell frustrierte Dame, ein paranoid-antikommunistischer Herr mit Flatulenzen und einem geladenen Gewehr – Zutaten für darauffolgende raunende Lachsalven!


Nach dem letzten offiziellen Film des Programms wurde für die Hartgesottenen noch ein "Videoknüpel" kredenzt. Es war ein Film, den ein Mitglied des Hofbauer-Kommandos bei einem noch lebenden Co-Produzenten in 35mm für eine frühere, andere Filmreihe angefragt hatte – der Produzent reagierte sehr unfreundlich bei der Vorstellung, dass "dieser Scheiß" öffentlich gezeigt würde.

Am Ende lief der Film also von DVD auf dem Hofbauer-Kongress unter der Bitte, nicht zu offen mit Nennung von Titel und Namen darüber zu schreiben. Fällt mir nicht schwer: eine romantische Liebeskomödie, die weder romantisch, noch liebevoll und vor allem durch und durch unlustig war.




Freitag, 5. Januar 2024


ab 15:00 Uhr


UN ÉPAIS MANTEAU DE SANG ("Heiße Haut")
Regie: José Bénazéraf
Frankreich 1968
35mm, DF
Zwei Söldner klauen Diamanten in Katanga. Später betreibt einer von ihnen eine Klinik in Südfrankreich und ist der Liebhaber der Ehefrau des anderen, verschollen gegangenen Mannes. Das geht so lange gut, bis die Ehefrau sich einen einfachen Taucher als Liebhaber nimmt und der Ehemann wieder auftaucht.

"Ein paar Leute hängen am Strand in Südfrankreich ab und schauen mal, was so passiert" – so fasste ein Co-Kongressnik Bénazérafs Film zusammen (danke für diesen schönen O-Ton, Marcel!). Tatsächlich hat der "Godard du X" hier erst einmal einen schönen Atmosphärenfilm, ein Stück Kino zum Abhängen geschaffen, in dem nicht viel "passieren" muss, damit es sich toll anfühlt. Sex, Tanzen, Schauen, Sich-schaukeln-lassen auf dem Boot und ein bisschen Ringen – viel mehr braucht es zunächst nicht. Als Projektionsfiguren reichen da Valérie Lagrange mit ihrem blonden Bubikopf und Hans Meyer mit seinem bedrohlichen Narbengesicht völlig aus. Sie hat zwischendurch mit einem örtlichen Taucher Sex am Strand und er macht zum Training einen kleinen Ringkampf mit seinem Bodyguard (der verblüffenderweise wie der junge John Milius aussieht) – beide Tätigkeiten montiert Bénazéraf zusammen in einer gemeinsamen, sehr bizarren Szene. Nach dieser Anstrengung ein bisschen auf dem schaukelnden Fischerboot abhängen, während der Postkarten-Hintergrund in den Meereswellen auf- und abwippt...

War Bénazéraf dazu verpflichtet, einen als Thriller vermarktbaren Film abzuliefern? Der Prolog, die letzten 20 bis 25 Minuten und zwischendurch einige mysteriöse Expositionsdialoge scheinen ein wenig darauf hinzudeuten, dass da irgendetwas war. Leute beim Abhängen zu stören ist ja nie eine gute Idee, und die lange Verfolgungsjagd zwischen Auto und Schnellboot mit anschließender Schießerei in den Küstenfelsen zeigt, dass Bénazéraf wohl kein gutes Händchen und scheinbar sehr wenig Interesse für Thrills und Action hatte. Nein, gutes Nichtstun ist besser als halbgares Hetzen!



ab 17:00 Uhr


EIN HERZ VOLL MUSIK
Regie: Robert A. Stemmle
BRD 1955
35mm, dt. OV
Ein Spitzensportler, der auf allen Alpenpisten als "No 7" für Furore sorgt, muss zwischen den Wettkämpfen bei Hotels als Kellner anheuern, singt aber auch ganz gerne. Eigentlich ist er der Sohn eines reichen Hotelketten-Besitzers, verliebt sich zu dessen Leidwesen aber trotzdem in das Blumenmädchen eines Hotels. Eine reiche Millionärin aus den USA möchte ihren aktuellen Toyboy auch lieber mit "No 7" austauschen. Dessen Anstellung als Sänger im renommierten Orchester Mantovani stehen die Intrigen des Vaters und eines leicht bestechlichen Pianisten entgegen.


EIN HERZ VOLL MUSIK ist vor allem ein Vehikel für den schweizerischen Sänger Vico Torriani, der hier als singender Industriellensohn die Herzen der jungen Blumenmädchen, reiferen Millionärinnen und geneigten Zuschauer erobert. Komödie, Romantik, einige mehr oder minder fetzige Musik- und Tanznummern sowie eine ganze Riege an lieben oder kauzigen Charakteren geben sich die Klinke in die Hand – das ganze ansehnlich inszeniert und gespielt, und heraus kommt ein angenehmer, wohliger Nachmittagsfilm.

Wie das so oft ist bei solchen Filmen sind die zwei zentralen liebenden Protagonisten vielleicht die uninteressantesten – oder sagen wir mal: die glattesten Figuren. Wesentlich spannender war das Double aus Fita Benkhoff als reiche Amerikanerin Ellinor Patton und Boy Gobert als Baron Karl-Heinz von Schlankenhalten und Ellinors Toyboy (und nebenbei: Sekretär und Mädchen für alles): die erste Komödiennummer ist dann auch ein Dinner, bei der sie alles in die Küche zurückschickt, weil es zu kalt, zu warm, nicht gut genug etc. ist, während der Baron nebenbei und heimlich versucht, beim Kellner (unserem lieben "No 7") die Wogen zu glätten.

Der Anti-Held (aber auch heimliche Held) des Films war aber der Pianist, Peer, gespielt von Wolfgang Wahl: als Mitglied des Orchesters Mantovani ist er beauftragt, Vico mit allen Mitteln als Sänger zu akquirieren, von Vicos reichem Vater wird er beauftragt, die Aufnahme des Sohnemanns mit allen Mitteln zu verhindern – ideal, um von beiden Seiten Kommissionen (aka Schmiergeld) zu kassieren und sich lächelnd-genüsslich in die Jackett-Innentasche zu stecken. Dennoch: er ist kein Bösewicht, möchte nur ein bisschen Startkapital für die künftige Ehe mit seinem Blumenmädchen (einer Kollegin der Protagonistin) aufbauen. Das Miteinander und die Zwistigkeiten dieses "Neben-Paars", beide nicht mehr jung und schlank "genug" für erste Rollen, ist gewissermaßen die Herz-Nebenkammer des Films.

Und einen spektakulären, vom Publikum gefeierten und schließlich lautstark mitten im Film applaudierten Kurzauftritt gegen Ende, als Vico endlich seine Revue-Premiere hat, hatte ein besonders beweglicher Tänzer, der sich wie Gummi bewegte und leichtfüßig durch die Theaterkulisse moon-walkte.

Nach EIN HERZ VOLL MUSIK war das Publikum gespalten: einige trällerten "Blauäugelein", andere trällerten "Der neue Frühjahrshut" – ich gehörte zu letzteren. Die Nummer "Der neue Frühjahrshut" zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass sie tatsächlich ein wenig wie eine US-amerikanische Musical-Nummer als Bewegungskino durchchoreografiert war, mit eleganten Tanzschritten durch Rom (das gleiche Rom wie SIE LIEBTEN SICH EINEN SOMMER übrigens, denn eine Panorama-Ansicht mit einem schönen Palmengarten im Vordergrund war klar wiedererkennbar). "Der neue Frühjahrshut ... und was sich drunter tut" wurde von einem Co-Kongressnik gar zum Lieblingsmotto der diesjährigen Kongressausgabe gekürt!



ab 21:15 Uhr


WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN
Regie: Tillmann Scholl
BRD 1985
16mm, dt. OV
Über 10 Jahre lang sammelt Tillmann Scholl dokumentarisches Material in St. Pauli und zeigt Impressionen von einer Jubiläumsfeier des Stadtviertels, portraitiert Stammkunden und Wirte von Eckkneipen, befragt zufällige Passanten, durchreisende Touristen und windige Geschäftsmänner, stellt Fragen über die Gentrifizierung Hamburgs.

Wenn WUNDERLAND DER LIEBE der lachende Geist dieses Kongresses war, dann war WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN dessen schlagendes Herz: eine emotionale, persönliche Liebeserklärung an Hamburg und St. Pauli, ein zärtliches Portrait seiner Bewohnerinnen und Bewohner, ein zorniges Manifest gegen die Marginalisierung des Unbürgerlichen durch das Kapital. Irgendwo zwischen impressionistischem Dokumentarfilm und politischem Essayfilm angesiedelt, hat WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN vor allem durch seine Pièce de Résistance, das Portrait der Eck- und Absturzkneipe "Am Schauermann", den Weg in die Herzen der meisten Kongressniki gefunden. Im Dunkeln der Nacht, bei schummeriger Beleuchtung versammelten sich hier die Glücklosen, die Kaputten, die Randgestalten, die Gescheiterten, die Kranken, die Sterbenden, die Lachenden und die Weinenden und die Ganoven bei Bier und Schnaps. Die ersten Reaktionen der Kneipenbesucher auf die Kamera, die sie filmt, ist sichtlich eher feindlich – der Blick der Kamera bleibt dennoch voller Zärtlichkeit, und obwohl hier das gleiche "Material" zu sehen ist, das etwa in einem Mondo-Film der Häme oder in einem "wohlmeinenden" Dokumentarfilm dem selbstgefälligen Mitleid freigegeben würde, ist hier davon nichts zu spüren. Nach der anfänglichen Feindlichkeit kommen die Performances: einige Gäste scheinen vor der Kamera zu "spielen", sich selbst oder wie sie sich vorstellen, dass ein Publikum sie sehen möchte – ein betrunkener Sturz vom Barhocker wird effektvoll demonstriert. WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN stellt hier auch grundsätzliche Fragen über das Wesen des Dokumentarischen: es mag keine Sicherheit über die "Wahrheit" des Gefilmten geben – doch die Zärtlichkeit des Kamerablicks, sie bleibt immer.

Auch wenn der Fokus auf den "Schauermann" (der etwa einen Drittel der Filmlaufzeit ausmachen dürfte) verschwindet: der eloquente, charismatische Kneipenwirt Jürgen bleibt als "roter Faden", als Leitfigur des Films den Zuschauern weiter erhalten – als Marker für die (scheinbaren?) Erfolge und die eklatanten Misserfolge der Gentrifizierung Hamburgs. Über seine Tage als Kneipenwirt, der auch mal mit Fäusten zwischen randalierende Gäste eingreifen muss, sinniert er auf einer von Müll und Bauschutt bedeckten Baustelle – der Ort, an dem sein früherer Arbeitsplatz stand, an dem jetzt finanzkräftigere Unternehmungen ihren Platz einnehmen. Immer wieder wird der O-Ton einer älteren Touristin, die davon erzählt, das "was Neues" gebaut wird, über die Bilder als elektronisch verfremdetes Echo gesampelt. Dass am Ende nicht nur Gebäude, sondern auch Menschen weichen müssen, wird immer wieder deutlich. Zunächst auf sehr lustige, humorvolle Weise: Gentrifizierung ist eben auch, wenn der Straßenstrich sich verschiebt, der geneigte Freier die Prostituierten nicht direkt vor noch existierenden Eckkneipen stehen hat, sondern (O-Ton) "ganze 10 Minuten" laufen muss. Am Ende gibt es aber für die Zuschauer trotzdem eine stahlharte Faust in die Fresse und einen harten Tritt in den Bauch: So abgrundtief traurig und niederschmetternd endete bei dieser Kongress-Edition kein anderer Film.


Als weitere Lektüre empfehle ich auch André Malbergs Text über den Film auf Eskalierende Träume

Als ich einem hamburgophilen Freund, der Ende 2023 auch nach Hamburg gezogen ist, von WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN schwärmte, schrieb er mir, dass der Film durchaus eine Hamburger Lokal-Berühmtheit sei.


ab 23:45 Uhr


HAKUJITSUMU ("Träume im Zwielicht")
Regie: Takechi Tetsuji
Japan 1964
35mm, DF
Ein Mann und eine Frau werden beim Zahnarzt behandelt. Unter dem Schleier der Narkosen verfallen sie in wüste, gewalttätige, erotische Träume.


Unter den sinnlichen Erfahrungen, die man als Mensch so macht, gehören Zahnarztbesuche zu den wahrscheinlich abscheulichsten: ich glaube, ich bin nicht der einzige Mensch, dem flau im Magen wird beim Gedanken an eine zahnärztliche Behandlung. Umso interessanter, wie "Träume im Zwielicht" zu Beginn fetischistische Erotik, quasi-pornografische Symbolik und zahnärztliches Unbehagen zusammenbringt: extreme Nahaufnahmen auf Münder, deren Lippen gestreichelt werden, in denen aber auch Spiegel und Bohrer reingesteckt werden, aus denen Unmengen an Speichel schaumig wie Sperma heraustropft, unterlegt von einer Kakophonie nervzerfetzender Zahnarztbohrergeräusche.

Ist das noch Exploitation oder ist das ein Experimentalfilm? Eine Frage, die so einige Exploitationfilme aus Japan bei mir auslösen. HAKUJITSUMU gilt als früher Vertreter des japanischen Pink-Film, als Meilenstein in der Darstellung von Nacktheit und Sex im japanischen Kino. Ein einfacher, gefälliger Film ist er keineswegs, und als kontemplativer, stark entschleunigter Avantgarde-Horrorfilm (der er auch ist) war er als Spätfilm keineswegs leichte Kost. Vom Prolog in der Zahnarztpraxis arbeitet sich der Film Stück für Stück durch verschiedene Set-Pieces, durch Fragmente eines großen Alptraums: ein Film-Noir-Nachtclub mit Gesang, eine lange Folter-Session beobachtet durch die Fenster-Fassade eines Hochhaus-Apartments, eine Konfrontation zwischen dem Protagonisten und der Frau (die sich zwischendurch in einen Affen verwandelt!) auf einem futuristischen Spielplatz, eine quälende Verfolgungsjagd durch ein Kaufhaus inklusive einem Spießrutenlauf auf einer Rolltreppe, eine belebte Straße mit einem brutalen Mord der komplett von den Passanten ignoriert wird.

HAKUJITSUMU lässt seine beiden Protagonisten durch einen qualvollen Alptraum taumeln (wobei aber mehrheitlich die Frau die Leidtragende der Folterungen und Quälereien ist). Zu Beginn scheint festzustehen, dass wir SEINEN Alptraum sehen, in denen seine Geilheit für die Co-Patientin Stück für Stück von zunehmend extremen Fantasien aufgelöst wird. Die bereits erwähnte lange Folterung in der Hochhaus-Wohnung, bei der die Frau vom Zahnarzt in bürgerlicher Zivilkleidung gefoltert wird (er schlägt sie, peitscht sie aus, verabreicht ihr Elektroschocks) beobachten wir als Zuschauer durch das Terrassenfenster – der Protagonist selbst steht auch als machtloser Beobachter auf dem Balkon, und wir sehen ihn auch beim Beobachten zu, während er teilweise von einer mysteriösen Alptraum-Kraft, teilweise vom Zahnarzt mit einer Pistole davon abgehalten wird, einzugreifen. Gerade diese Szene demonstriert die formale Radikalität und die gnadenlose Grimmigkeit von HAKUJITSUMU, die für einen Film von 1964 (und nicht aus den späten 1970er Jahren) verblüffend ist, den Atem stocken lässt – und auf gewisse Weise die Vierte Wand durchbricht: dieser Film-als-Alptraum quält nicht nur seine Figuren, sondern die Zuschauer auch mit, verhindert, dass sie sich gemütlich berieseln lassen, lässt sie Teil werden. Angenehm ist das nicht, aber sehr konsequent.

Die Verschiebung der Grenzen zwischen den Figuren und den Zuschauern schreitet im Lauf des Films immer mehr voran: es beginnt als SEIN Alptraum, aber der männliche Protagonist macht sich im dritten Viertel des Films rar, und langsam kommen wir in einen Zustand, in dem offensichtlich IHR Alptraum durchlebt wird. Bei ihrem endlosen langen Marsch entgegen der Fahrtrichtung einer Rolltreppe, ihrem erfolglosen, strapaziösen Versuch, nach unten zu kommen, war der männliche Co-Patient komplett aus den Augen und aus den Sinnen.

Takechi Tetsuji war ein Außenseiter in der japanischen Filmindustrie, da er von seinem Hintergrund ein Mann des Theaters war: ein experimenteller Erneuerer, der in den 1950er Jahren umgedeutete traditionelle japanische Theater-Formen, avantgardistische Experimente sowie Burlesque und Striptease zusammenbrachte, Schoenbergs "Pierrot lunaire" in japanische Ausdrucksformen adaptierte und erotisch gewagte Theaterstücke im Fernsehen präsentierte. HAKUJITSUMU war sein zweiter Film, war in Japan kommerziell erfolgreich, löste aber auch Kontroversen aus: der Film passierte erst nach dem "Fogging" einer Szene die Zensur und wurde sowohl von der japanischen Regierung (für seinen sexuellen Inhalt) wie auch von der Interessensvertretung der japanischen Zahnärzte angegriffen. Takechi Tetsuji selbst verfilmte den gleichen Stoff 1981 noch einmal in einer Farbfilm- und Hardcore-Variante (und inszenierte damit den ersten in Kinos gezeigten japanischen Hardcore-Porno).


Gegen Ende des Films bekommt der männliche Patient, dem ein Zahn gezogen wird, übrigens einen Cognac serviert. Bei meinem nächsten Zahnarzt-Besuch fände ich das auch ganz nett – also... nicht einen Zahn gezogen zu bekommen, sondern den Cognac!


so gegen 2:15 Uhr


KOKAIN – DAS TAGEBUCH DER INGA L.
Regie: Günter Schlesinger
BRD 1986
VHS, dt. OV
Der Dealer Bobo ist der neue, ganz heiße Typ in der Hamburger Unterwelt. Um beim großen Drogenhai Stone Eindruck zu schinden, zieht er brisante Deals ab und hinterlegt seine Freundin Inga als "Pfand" in einem von Stones Bordellen. Doch die macht sich aus dem Staub und rettet dabei noch eine minderjährige Kollegin.

Ein idealer Film für den Videoknüppel-Slot: trance-artig und vollkommen hinüber. No-Budget-Schlock, der so dermaßen versumpft statisch ist, dass es irgendwie auch eine eigene Faszination entwickelt. Stones raumeinnehmender Pornobalken und Bobos eklatant weiße Haifischzähne, die sichtbar werden, wenn er anfängt, grundlos psychopathisch vor sich hinzukichern (und das macht er sehr oft!) sind die eigentlichen Helden des Films. Die Handlung spielt sich zu etwa einem Drittel darin ab, dass Figuren sie sich gegenseitig mit sehr vielen, langen Pausen zwischen den Repliken erzählen. Stellenweise fühlt sich das eher nach einer sperrigen Avantgarde-Kunstperformance als nach einem Hamburg-Gangster-Thriller an, der KOKAIN "eigentlich" ist. Das völlig konzeptlos einmontierte Fremdmaterial, stets sichtbar, weil sich das Bildformat so deutlich ändert, ist wohl so etwas wie das Herz des Films: in einer Laufzeit von bestimmt etwa einem Viertel des Films gab es nicht nur eine komplette Nebenhandlung mit zwei anderen Prostituierten, die in einer "normalen" Umgebung unterwegs waren (und nicht in den absolut desolaten, tristen Abrissbuden, in denen KOKAIN sonst angesiedelt ist), nicht nur die immer gleiche Ansicht einer hübschen Villa, aus der ein für die Handlung völlig irrelevanter, elegant in Weiß gekleideter Gentleman immer wieder ins Freie tritt, sondern auch "zauberhafte" Ansichten vom Hamburger Hafen, seinen pittoresken Baustellen und Müllhalden (die Ansicht eines Bauschutt-Panoramas ließ mich ab dem zweiten Mal in meinem übermüdet-benebelten Zustand unkontrolliert kichern – und kam bestimmt sechs, sieben, acht Mal!). Ja, der Bauschutt ließ KOKAIN wie eine Art Kommentar zu WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN lesen. Und dann gab es natürlich noch der Moment, in dem sich Inga und Kollegin in einem Schiff verstecken und dafür durch endlose Schiffskorridore laufen, und laufen, und weiter laufen, und noch mal weiter laufen, und noch mal ein Weilchen weiterlaufen (bis sie schließlich ein sicheres Versteck gefunden haben) – wie ein Nachklang zur langen Rolltreppen-Szene in "Träume im Zwielicht".



Samstag, 6. Januar 2024



ab 14:45 Uhr


WANTED: BILLY THE KID
Regie: Jack Deveau
USA 1976
16mm, OV
Billy hat seinen Durchbruch als Schauspieler in New York noch nicht richtig vollbracht. In der Zwischenzeit verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Prostituierter für zahlungskräftige Herren und Paare.

WANTED: BILLY THE KID lief im September 2020 im Rahmen der kleinen Retrospektive des Filmkollektiv Frankfurt zu Filmen aus Jack Deveaus Produktionsfirma Hand in Hand in der "Pupille": warum auch immer, aber dort plätscherte der Film etwas gleichgültig an mir vorbei. Die Wiedersichtung in Nürnberg war nun eine kleine Offenbarung: ein sehr intimer, zärtlicher, ab und an auch sehr witziger Film. Die ersten zwei Sex-Nummern wirkten nun außerordentlich intim und erotisch. Zunächst Billy mit einem Freier bei sich zuhause: sehr schön, wie das Gefühl der Intimität beim After-Sex-Smalltalk behalten wurde, wenn sich der Kunde langsam beim Gespräch wieder anzog (und sich als gutbetuchter Anzugsträger offenbarte). Später die "Hausmeister-Sex"-Nummer im tiefen, dunklen, staubigen und vollgerümpelten Keller eines Brownstones: auch hier verzichtet Deveau komplett auf den Einsatz der Musik, und die Erotik im Sex zwischen Billy und dem Hausmeister (bzw. wie später klar wird: ein für ein Rollenspiel als Hausmeister gekleideter, reicher Anzugsträger) steigerte sich nur durch die zunehmend lauter werdenden Stöhngeräusche und vor allem das Knarzen von Billys Lederjacke.

Deveau interessierte sich immer wieder für Klassenunterschiede, in keinem Film wohl so explizit wie in WANTED: BILLY THE KID, in dem der mittellose Schauspielstudent Billy von einer Vielzahl reicher Freier bezahlt wird, die vielleicht gerade auch das Überschreiten der Klasse interessiert, oder das Tauschen der Identität: so ist Billy bei der "Hausmeister-Sex"-Nummer zunächst der anspruchsvolle Mieter, der seinen tropfenden Wasserhahn repariert haben möchte – und sein Freier der Hausmeister. Gängige Grenzen, Eindeutigkeiten werden hier wie so oft in Schwulenpornos der Zeit wieder mit einer bisexuellen Sexszene, einem Dreier mit Billy und einem Ehepaar überschritten – hier zur Abwechslung mit dem ironisch-witzigen Song "Sheltered Life" von Lou Reed unterlegt (in der Version aus dem Solo-Album "Rock & Roll Heart" – der Song geht aber zurück zu den Anfängen von Velvet Underground, ich persönlich bevorzuge die Demo-Version mit John Cale an der Viola und zwei Kazoo-Soli von Lou Reed).

Noch mehr Grenzen werden in der Zahnarztpraxis-Szene überschritten – die wunderbarerweise gleich einen inhaltlichen Anschluss an den letzten Film des offiziellen Kongressprogramms bildete: der Freier ist hier der Zahnarzt, aber wir sehen das Ganze aus Billys möglicherweise narkotisierten Perspektive – und in dieser Vision hat Billy Sex mit sich selbst. Eine surreale, beunruhigende, mit extremen, verzerrten Weitwinkelbildern und dissonanten elektronischen Klängen leicht in Horrorgefilde weisende Szene.

Wen das zu sehr beunruhigt: Yoga soll wohl ganz gut sein zum Runterkommen. Deshalb gibt es immer wieder Fragmente aus einem Yoga-Kurs, den Billy besucht: ein Wintergarten voller grünender Pflanzen, dazwischen ein Dutzend Männer in knappen weißen Slips, die entschleunigte Bewegungsübungen machen. Diese Fragmente werden in die "normale" Handlung, manchmal aber auch in Sexszenen eingestreut – Sex und Sport zusammen montiert, auch ein wiederkehrendes Motiv dieses Hofbauer-Kongresses!



ab 16:30 Uhr


AAN
Regie: Mehboob Khan
Indien 1952
35mm, OV mit englischen Untertiteln, internationale Exportfassung (ca. 135 statt 161 Minuten)
Der Bauer Jai bezwingt bei einem Wettbewerb die unzähmbare Stute der Prinzessin Rajshree, die aufgrund ihres hohen Adelsbewusstseins davon gar nicht begeistert ist. Während Jai versucht, das Herz Rajshrees zu erobert, spinnt ihr Bruder Putsch-Intrigen, um seinen Vater, einen reformerischen Fürsten, zu beseitigen.

Die Bollywood-Premiere des Hofbauer-Kongresses versprach interessant zu werden – aber so einen unfassbaren Knaller? Die Kopie wurde durch das britische Archiv fast nicht verliehen, weil es sie als "praktisch unspielbar" klassifizierte: zu sehen war eine absolut prachtvolle Technicolor-Kopie mit nur gelegentlichen Andeutungen von leichten, sehr oberflächlichen Laufstreifen. Man muss sagen: Rotstichige Kopien gab es bei diesem Kongress doch sehr viele zu sehen, und AAN war hier farblich eine absolute Wohltat für die Augen. Eine Explosion der Farben mit knallgelben blühenden Blumen auf saftig grünen Wiesen unter einem strahlend blauen Himmel. Barocke Dekors in allen möglichen Schattierungen von Farben, von zartem Pastell bis zu psychedelisch leuchtenden Tönen. In einem Film, der Abenteuerfilm, Action, Musical, Komödie, Melodrama, wüsten Klamauk, psychosexuelle Abgründe und eine Schmierigkeit, wie sie in dieser Form nur selten auf diesem Kongress sonst zu sehen war, freudig ineinander krachen ließ. Nicht nur, aber auch durch die Schnitte in der Exportfassung bedingt schlug AAN erzählerisch mit zunehmender Laufzeit immer größere Kapriolen – auf Kosten der Kohärenz zwar, aber dafür mit einem umso größeren Gewinn in Sachen Tempo, Geschwindigkeit und einem allgemeinen Gefühl des cineastischen Wahnsinns. Die oben aufgeschriebene, kurze Synopsis ist nur eine sehr ungefähre Annäherung an das, was AAN so alles entfesselt.

Fliegt das alles bei 135 Minuten nicht um die Ohren? Nein, denn die Cine-Göttin Nadira kam in ihren Hosen und manchmal einer Reitgerte in der Hand, um das alles zusammenzuhalten und wenn nötig mit bösen Blicken und harten Schlägen wieder auf seinen Platz zu bringen! Nadira, die ich ganz spontan die "indische Joan Crawford" gennant habe, besonders in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen der Prinzessin und Vienna aus JOHNNY GUITAR: wie Rajshree in eleganten Reiterhosen und hohen schwarzen Lederstiefeln gekleidet und mit drohendem Blick eine lange Treppe hinuntersteigt, nimmt um zwei Jahre Viennas ähnlichen Gang in JOHNNY GUITAR vorweg. Nadira – Rajshree, Hosenträgerin, Göttin des arroganten Blicks, des expressiv-entfesselten Zorns im Antlitz, des unendlich gekränkten Gesichtsausdrucks, Herrin über ungeheure Gefühle – nicht nur Jais, das ist noch konventionell. Nein, Rajshree scheint mit ihrer Hausdame zu Beginn eine sadomasochistische Beziehung zu unterhalten, denn sie ohrfeigt sie immer wieder genüsslich – und die Hausdame reagiert darauf immer mit einem lustvollen Blick, reibt sich wohlig die Wange, als wäre sie eben zärtlich gestreichelt worden, guckt dabei mit sanft-verliebten Augen. War das indische Zensursystem nur wenige Jahre nach der Staatsgründung wohl noch nicht so effizient? Oder ein Moment, in dem sich Rajshree den Annäherungsversuchen ihres Verehrers Jai in ihrem Schlafzimmer widersetzt, und die Kamera schwenkt auf die Statue eines Elefanten, dem ein rasender Tiger die Klauen in den langen phallischen Rüssel hineinkrallt – ich bin nur zu 95% sicher, dass ich das wirklich gesehen habe, so unfassbar ist das! Aber AAN strotzte vor solchen Momenten...

Komplett ins Delirium schlägt dann der Film in einer langen Fantasie- bzw. Traumsequenz, die ein wenig an den Traum in SINGIN' IN THE RAIN bzw. an die fantastische Ballettaufführung in THE RED SHOES erinnerte. Eine Allegorie auf die Demokratisierung von Rajshrees Haltung (nachdem sie, von Jai entführt, in einer Art perversen Proto-VERTIGO-Prozedur zur Doppelgängerin einer verstorbenen Bäuerin degradiert wird, damit sie den "peasant way of life" kennenlernt), die sich ganz in barocken Traumdekors und psychedelischen Farben auflöst.


Den Hunger passenderweise im indischen Restaurant in unmittelbarer Kinonähe gestillt. 



ab 21:15 Uhr

Bruno-Sukrow-Programm


DER WAHRE FROSCHÖNIG
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2000er
digital, dt. OV
Die wahre, ungeschönte Geschichte des Froschkönigs...

...mit Flatulenzen, Schimpfwörtern und dem wahren Twist. Noch als "konventionelle" Animation und daher nur durch die unverkennbare Synchronstimme als Film Bruno Sukrows erkennbar. Im Hauptfilm des Abends kam dann der "typische" Sukrow-Stil zu voller Blüte.



IM NAMEN DES KÖNIGS
Regie: Bruno Sukrow
Deutschland 2015
digital, dt. OV
Sachsen im Mittelalter: der Sohn des Königs ist ein echter Frauenheld, doch sein Vater lässt die nicht-standesgemäßen Liebschaften gerne ermorden. Bei Kunigunde verpatzt der Knappe des Königs absichtlich den Mordanschlag und verhilft ihr zur Flucht in eine Bärenhöhle. Währenddessen sucht der König eifrig nach einer standesgemäßen Partie für einen Sohn.

Ein alter Mann über 80 Jahre erfindet an seinem Wohnzimmerrechner als One-Man-Show das Kino neu: ich habe beim letzten Hofbauer-Kongress einen ersten Einstieg in die wunderbar poetischen, fantastischen Filmwelten Bruno Sukrows erhalten, nun habe ich mich weiter in sie verliebt (zusammen mit vielen anderen Co-Kongressniki). Sukrow ist nicht nur ein begnadeter Erzähler, ein liebevoller Erschaffer unvergesslicher Figuren, sondern erfindet wirklich in jedem Film ein eigenes kleines Cine-Universum. Trotzdem es rein digital entstandene Filme sind, spürt man in jedem Frame das liebevoll Handgemachte: Imperfektionen bei den Bewegungen der Figuren, beim Freistellen von Formen, leichtes Pixelrauschen an den Rändern, Überlagerungseffekte – alle machen die Filme zu Wunderwerken eines sehr persönlichen Kinos, die UI-Bugs werden zum Gehilfen des Film-Auteurs.

Trotz des oberflächlich "rohen" Looks sind Sukrows Filme voll mit witzigen, mehr oder minder sichtbaren kleinen Details, die oft neben der "eigentlichen" Haupthandlung laufen: dazu gehören die unzähligen Tier-Figuren, die Sukrow sichtlich liebt und aufwändig in seine Filme integriert. Watschelnde Enten, huschende Mäuse, faulenzende Cocker-Spaniels. Tierischer Star von IM NAMEN DES KÖNIGS war der vegetarische (und daher harmlose) Bär Beppo, in dessen Höhle der mitfühlende Knappe die flüchtende Kunigunde versteckt: sein verdutzt fragender Blick, wenn er den Kopf zwischen dem Knappen und Kunigunde während ihres Gesprächs langsam hin- und herbewegte – unbezahlbar! Auch merkwürdige (und im Rahmen dieser Geschichte nicht in die Zeit passende) Gegenstände streut Sukrow immer wieder ein: ein Windrad am Horizont, ein filigranes Damenfahrrad im Burginnenhof, eine Flasche Duschgel neben dem Waschzuber. Und natürlich immer wieder Bierflaschen und Bierkästen der Marke Grolsch an passenden Stellen (in der rustikalen Schänke etwa) oder an den absolut unmöglichsten Orten – als die Handlung uns in den Thronsaal des Königs von Burgund führte, musste ich laut auflachen: ein Kasten Grolsch hatte sich neben dem Thron des Königs reingeschmuggelt.

Bei aller Erzähllust sind Sukrows Filme auch Oasen der Entschleunigung. Pferdekutschen bewegen sich langsam durch reale Standbilder von Straßen, Reiter durchschreiten im gemäßigten Tempo die ganze Breite der Leinwand, Figuren schreiten in Sukrow-typischen, elastischen Moonwalk-Schritten langsam zu ihrem Ziel.


Ein entspanntes Programm, bevor es dann mit rasenden und hosenlosen Verfolgungsjagden weiterging.


ab 23:30 Uhr


OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG
Regie: Hubert Frank
BRD 1975
35mm, dt. OV
Der deutschstämmige Texaner Joe Schmidinger ("Schmid'intscher" auszusprechen!) kommt nach dem Tod eines entfernten Verwandten nach Deutschland, um dort seine Erbschaft, ein Hotel, zu übernehmen. In München wird ihm erst mal der Koffer geklaut. In Heidelberg stellt sich heraus, dass das Hotel eigentlich ein Bordell ist – und trotz seiner Prüderie schafft es Schmidinger immer wieder, seine Hose zu verlieren!

OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG aka MEI HOS' IST IN HEIDELBERG GEBLIEBEN aka JAGDREVIER DER SCHARFEN GEMSEN: die Editionsgeschichte dieses Films ist wohl ebenso kompliziert und bewegt wie die Geschichte des Joe Schmidinger selbst, mit mehreren Titeln und Laufzeiten. Das widerspiegelte sich auch in der gezeigten Kopie, die offensichtlich aus mehreren Quellen unterschiedlichen Materials zusammengestellt war (aufgrund von mechanischen Schäden zu Beginn des ersten Akts war kein Titel mehr zu sehen). Farbechte Agfa-Akte mit hoher Bildschärfe und rotstichige (bzw. genauer gesagt: orange-stichige) Eastmancolor-Akte mit eher mittlerer Bildschärfe waren durcheinander geworfen. Filmarchäologisch interessant, ohne, dass es dem Vergnügen des Films irgendeinen Abbruch tat. Denn OH SCHRECK MEI HOS' IS WEG (ein Originalplakat war im Foyer des KommKino zusammen mit anderen Plakaten von Filmen dieser Kongress-Edition ausgestellt worden, deshalb nutze ich diesen Titel) war tatsächlich ein Sexklamauk-Kracher, ein Gag-Feuerwerk, ein mit dreifacher Geschwindigkeit laufendes Zoten-Fließband erster Güte, ein entfernter Verwandter von SCREWBALLS aus dem gleichen Zeit-Slot zwei Tage zuvor.

Während SCREWBALLS in Bezug auf die Charaktere doch sehr abstrakt blieb, war Josef Moosholzer als Mister Schmid'intscher das charismatische Herz und die menschliche Seele des Films – und eine Slapstick-Ikone vor dem Herren. Indem er seine Hose verliert, gewinnt er die Zuneigung des Publikums. Wenn er allerdings auf das Heck eines anfahrenden Cabrios springt und sich hartnäckig an der Kante der Hintersitze festhält, während das Auto durch die Straßen Münchens rast, wähnt man sich fast in einem italienischen Polizeifilm der gleichen Ära: war es ein hosenloses Double? Oder hat Moosholzer höchstpersönlich nach dem Rezept des Slapstick-Gottes Buster Keaton höchstselbst diesen Stunt ausgeführt? Wer weiß... Weniger gefährlich für Moosholzers Leib, aber durchaus ein Stresstest für die Lachmuskeln des geneigten Zuschauers ist seine "missglückte" Begehung seines geerbten "Hotels": durchaus ganz unmetaphorisch stolpert Joe durch verschiedene besetzte Zimmer, kann kurz das Treiben der angestellten Damen mit den Freiern beobachten, bevor er panisch hinausstolpert oder hochkant rausgeworfen wird: in ihrer rasendem Eskalation war diese Szene zweifelsohne der Höhepunkt des Films.

Später gibt es auch Helikopterflüge, Fallschirmsprünge und Verfolgungsjagden auf Fahrrädern – und im letzten Drittel auch ab und an ein paar spürbare Längen. Was soll's – eine erfrischende, hosenlose Frechheit von einem Film!


so gegen 2:15 Uhr


VIRIGNIA
Regie: François About
Frankreich 1990
VHS, dF
Die Deutsche Virginia, die von einer Schauspielkarriere in Paris träumt, muss sich zunächst mit etwas weniger glamourösen Jobs begnügen. Eine Stelle als Vorleserin für einen reichen, blinden Mann klingt zunächst einfach, aber dessen Gelüste jenseits der Lektüre werden zunehmend fordernd.

Es ist das Frühjahr 1990, es gibt noch zwei deutsche Staaten, aber keine Mauer mehr: die Titelfigur (und mit ihr die Filmcrew) nimmt das zum Anlass zu einem kleinen Spaziergang durch Ostberlin (inkl. Besuch der Mauerruinen), und so fängt VIRGINIA zunächst als Berliner Promenier-Film an, bevor das Schlendern dann in Paris weitergeht, durch die alten, ehrwürdigen, ein bisschen auch angestaubten Viertel der Stadt, dann aber auch durch die Neubauten, die gentrifizierten Viertel. Dieser Prolog hat mit der "Haupthandlung" wenig zu tun, aber gibt Tempo und Atmosphäre vor: schlendernd, langsam, kontemplativ, zu den Seiten blickend. Ein Atmosphärenfilm, der sich – für ein noch waches Publikum – als ideales Spätnachtprogramm erwies. Nachdem erst mal ziellos durch europäische Hauptstädte geschlendert wird, konzentriert sich die Stimmung im Hauptteil, in der ländlichen Villa des reichen Blinden, auf ein elegisches, erotisches, melancholisches, leicht gotisch angehauchtes Unbehagen. Dass das Dienstmädchen Virginia erst einmal K.O.-Tropfen mit dem Kräutertee verabreicht und die vernebelte junge Frau anschließend im stroboskobischen Blitzlicht eines Gewitters verführt, ist natürlich erst mal ein Knüppel (ein visuell spektakulärer, sehr markanter Moment, der in einem ansonsten größtenteils in elegische, sanft ausbeleuchtete Tableaus inszenierten Film hervorsticht). So schleicht sich für den Rest des Films ein leises Unbehagen ein, die unbewusste Ahnung, dass da irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wahrscheinlich spüren das auch die zahlreichen Tiere auf dem Anwesen. Sex-Filme mit Animal-Reaction-Shots sind natürlich grundsätzlich großartig: hier gibt es zunächst einmal Pferde – unter anderem ein Hengst namens Igor – die das Treiben der Ehefrau des Blinden mit ihrem heimlichen oder nicht so heimlichen Liebhaber beobachten ("Ich gehe Igor reiten", teilt sie morgens ihrem Mann mit). Später ist es eine Gans, die ganz verdutzt durch das Fenster schaut ob des Treibens des Blinden mit seiner Lektorin.

Der dramatische Höhepunkt wird schließlich noch von einem Twist getoppt, bei dem Brian De Palma wohl glatt seine Hose verloren hätte! Ein erschütternder, lange nachhallender Abschluss für einen größtenteils unaufgeregten, kontemplativen und sehr schön inszenierten Film: eine von wenigen (Softcore-)Regiearbeiten des Kameramanns François About, einem der großen Handwerker der französischen Pornoindustrie (hetero und schwul) – er fotografierte mehrere Filme Jacques Scandelaris, unter anderem NEW YORK CITY INFERNO und den erzählerisch wesentlich experimentelleren und abstrakteren, aber atmosphärisch durchaus mit VIRGINIA verwandten ÉQUATION À UN INCONNU.



Sonntag, 7. Januar 2024


ab 14:45 Uhr


I MIRACOLI ACCADONO ANCORA ("Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle")
Regie: Giuseppe Maria Scotese
Italien 1974
35mm, DF
Nach einer wahren Geschichte: die junge Juliane Koepcke überlebt den Absturz eines Flugzeugs über den Amazonas und irrt danach tagelang durch den Urwald auf der Suche nach Rettung.

"Familienfreundliche Exploitation" – diese Begriffs-Kombination geisterte mir während und auch nach dem Film etwas im Kopf rum. Vielleicht bin ich von nicht ganz so familienfreundlichen, italienischen Exploitationfilmen, die im südamerikanischen Urwald spielen, etwas zu sehr "verdorben", aber "Ein Mädchen kämpft sich durch die grüne Hölle" war ganz und gar nicht meins. Nach meinem Gefühl kam die endlose Exposition mit der abfliegenden Maschine und den am Boden verbliebenen Familienmitgliedern und Flughafenmitarbeitern einfach nicht aus den Puschen: übertrieben umständlich wurde erzählt, teilweise auf komplizierte Weise Figuren eingeführt, die dann später einfach nicht mehr aufgetaucht sind (umso verwunderlicher, dass der Film am Ende auf eine Wiedersehensszene mit dem Vater einfach verzichtet). Hinzu kam, dass die Darstellerin der Juliane Koepcke zwar in einem kurzen, durch das beständige Regnen am Körper eng klebenden Minikleid durch den Urwald läuft, von Susan Penhaligon allerdings auch recht persönlichkeitsfrei gespielt wird. Da helfen auch Nahaufnahmen auf Maden, die aus Hautwunden herausgekratzt werden, nicht.

Dennoch ein sehr schöner Moment: der erste Nachtanbruch in Julianes Abenteuer. Das Licht wird gedimmter, die Geräusche im Urwald werden lauter und bedrohlicher, die Schnittfrequenz nimmt zu und überschlägt sich schließlich in Bildern von Extremnahaufnahmen auf Julianes Augen und die Augen diverser Urwaldtiere.


ab 17:00 Uhr


OTTO UND DIE NACKTE WELLE
Regie: Günther Siegmund
BRD 1968
35mm, dt. OV
Der Schauspieler Otto geht gerne in der Lüneburger Heide wandern. Was er nicht so gerne hat, ist diese "nackte Welle" mit dem ganzen Sex. Als er erfährt, dass ein konkurrierender Schauspieler nebenbei "Nackedeifilme" dreht und seiner Tochter auch noch Avancen macht, gerät Otto vollends in Panik – aber... vielleicht bietet die "nackte Welle" trotzdem auch wirtschaftliche Chancen?

"Was für eine Stahlbombe!" sagte mir ein Co-Kongressnik lachend, als wir uns während des Films auf dem Weg in Richtung Toilette kreuzten. Recht hat er!

OTTO UND DIE NACKTE WELLE war "der Sexfilm des Ohnsorg-Theaters", gespielt von Schauspielern des berühmten Hamburger Theaters und inszeniert vom späteren, langjährigen Intendanten Günther Siegmund. Diese Kuriosität ist dann auch das einzige interessante an dieser "Stahlbombe". Ja, der Spruch "Auch ein blindes Huhn findet mal ein Doppelkorn" war ganz witzig, ansonsten war der Film schon von einer sehr porentiefen Unwitzigkeit, gespickt mit eher peinlichen schulterklopfenden Momenten der Selbstreferentialität, wenn Otto Lüthje verkrampft-kumpelhaft in die Kamera hineinzwinkert und inszenatorisch von einer nägelrollenden Tristesse. Etwa eine Viertelstunde (?) des Films besteht aus Inserts aus frühen Sexploitationfilmen des Briten George Harrison Marks: ganz offensichtlich auch keine grandios inszenierten Filme, aber im direkten Vergleich mit den trist-grauen, statisch gefilmten Intérieurs wirkten sie geradezu perlend-spritzig, aufregend, ja fast genial. Kein großes Kompliment für einen Film, wenn die Inserts besser sind als der "Hauptteil".


ab 21:15 Uhr


ANNA UND ELISABETH
Regie: Frank Wisbar
Deutschland 1933
35mm, dt. OV mit englischen Untertiteln
Ein Dorf in Deutschland zu einer unbestimmten Zeit: die reiche Elisabeth ist an einen Rollstuhl gefesselt und eine ärztliche Untersuchung bestätigt, dass sie nie wieder wird gehen können. Derweilen ist der kleine Bruder von Anna, einer Bauerstochter, gestorben. Nachdem Anna intensiv für dessen Seelenheil gebetet hat, erwacht er wieder zum Leben. Fortan hat Anna den Ruf einer Wunderheilerin und weckt besonders Elisabeths Interesse.


Auch viele Tage später bleibt es dabei: ANNA UND ELISABETH war der bei weitestem bizarrste, eigenartigste Film, den ich bei diesem Hofbauer-Kongress gesehen habe. Auf der oberflächlichen Erzählebene scheint ANNA UND ELISABETH banal zu sein, etwas trocken. Aber "Der neue Frühjahrshut... und was sich drunter tut" – ja, was sich hier so drunter tut, was zwischen den Zeilen schlummert, was in der Luft liegt: ein Film der Unterschwelligkeiten.

Natürlich zunächst die angedeuteten lesbischen Vibes zwischen den beiden Titelfiguren: die beiden Hauptdarstellerinnen Hertha Thiele und Dorothea Wieck hatten bereits in MÄDCHEN IN UNIFORM von 1931, einem Pionierwerk in der Darstellung lesbischen Begehrens im Kino, zusammen gearbeitet. In ANNA UND ELISABETH interessiert sich die gelähmte Elisabeth vor allem für die angeblichen Wunderheilkräfte Annas, die sie von ihrer Lähmung – ihrer sexuellen Blockade? – befreien wird. In den lustverzehrten Blicken, die Elisabeth auf Anna wirft, im zerschmelzenden Ton, mit dem sie Annas Namen ausspricht, liegt aber mehr als nur Interesse an medizinischen Heilkräften. Als der Tag sich nähert, an dem Anna auf Drängen Elisabeths ihre Wunderheilkräfte öffentlich demonstrieren soll, werden beide Frauen im wohl explizitesten Bild des Films vereinigt: Elisabeths Kopf schräg unter Annas Kopf, beide sich tief in die Augen schauend, sagt Elisabeth "Morgen" – nach einem Schnitt ist Elisabeth über Anna gebeugt und haucht "Heute".

Wahrscheinlich weit noch wichtiger ist die Grundatmosphäre religiöser Hysterie und abergläubischen Wahnsinns, die sich über den ganzen Film wie ein halbdurchsichtiger Schleier legt. Ein Teil des Konflikts des Films besteht darin, dass eine einfache junge Frau unter dem psychischen Druck, vom ganzen Dorf für eine Wunderheilerin gehalten zu werden, immer mehr zerfällt – sich aber auch fängt, als sie selbst beginnt, ihre Wunderheilkräfte als reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Auch sie wird Stück für Stück vom religiösen Fieberwahn ergriffen, der Elisabeth geradezu zum Brennen bringt und die ganze Dorfbevölkerung in Aufruhr bringt, zu latent bedrohlichen Massenversammlungen vor Annas Wohnhaus führt, sämtliche Leute leicht wahnsinnig schauen lässt. Ausgerechnet der Dorfpfarrer ist der größte Skeptiker, wahrscheinlich aber vor allem, weil die abergläubische Bewegung von unten der offiziellen Kirchendoktrin zuwiderläuft.

Es gibt zwar nur eine klerikale Person im Dorf und kein Nonnenkloster, aber ANNA UND ELISABETH hat mit seiner Thematik religiöser Hysterie durchaus eine assoziative atmosphärische Geistesverwandtschaft mit späteren, an Nunsploitation angrenzenden Filmen wie Michael Powells und Emeric Pressburgers BLACK NARCISSUS, Jerzy Kawalerowicz' MATKA JOANNA OD ANIOŁÓW und Ken Russells THE DEVILS.

ANNA UND ELISABETH startete im April 1933 in den deutschen Kinos. Die Nazis verboten den Film nicht, warfen ihm aber vor, das "gesunde Volksempfinden" zu verletzen. Frank Wisbar hatte bei den Nazis schlechte Karten, emigrierte 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA. ANNA UND ELISABETH startete gemäß IMDb auch in Japan, in Großbritannien, in Ungarn, Spanien, Schweden und in den USA. In der New York Times wurde der Film im Grundton positiv besprochen, die Leistung von Dorothea Wieck als herausragend hervorgehoben, Hertha Thiele als eher schwach bezeichnet und die Langsamkeit von Wisbars Inszenierung kritisiert. Ich würde dem widersprechen insofern vor allem Hertha Thiele als Anna für mich heraussticht: neben Nadira in AAN für mich die zweite große Schauspiel-Ikone dieses Kongresses. Die Langsamkeit der Regie ist hingegen quasi ein Wunder: viele Szenen sind tatsächlich von der spektakulären, trance-artigen Langsamkeit eines die Sinne und den Verstand vernebelnden Fiebertraums. Zugleich aber war ANNA UND ELISABETH in der gefühlten Laufzeit der kürzeste Film des Kongresses: die 70 Minuten fühlten sich eher wie 45 an (ein Gefühl, das einige Co-Kongressniki in der anschließenden Pause auch so bestätigten). Das bestätigt meine anfängliche Annahme: der merkwürdigste Film dieses Kongresses.


ab 23:15 Uhr


AMERICAN FLYERS
Regie: John Badham
USA 1985
35mm, engl. OV
Der begeisterte Hobby-Rennradfahrer David Sommers bricht mit seinem älteren Bruder, dem Sportmediziner und ehemaligen Profi-Rennfahrer Marcus, zum berüchtigten "Hell of the West"-Wettkampf auf. Der frühe Tod des Vaters durch ein Aneurysma hat die Beziehung der Brüder überschattet – und die Möglichkeit, dass die Krankheit vererbt wurde, macht den gemeinsam angetretenen Wettkampf umso wichtiger.


Eine der größten Vorfreuden des Kongresses: AMERICAN FLYERS sollte ursprünglich in der Samstagabend-Prime-Time des Karacho-Actionfilm-Festivals im November 2023 laufen, die Kopie blieb allerdings im deutschen Zoll hängen, als würdiger Ersatz wurde der sehr eigensinnige Boxerfilm DIGGSTOWN gezeigt. Schon beim Karacho versprach der Hofbauer-Kommandant im Karacho-Orgateam, AMERICAN FLYERS beim nächsten Kongress zu zeigen.

"Wie ein Schwulenporno, bei dem die Sexszenen entfernt wurden" – so ungefähr wurde die HK-Relevanz des Films seitens des Hofbauer-Kommandos in der Einführung begründet. Ganz so würde ich das nicht sagen, auch wenn das Bonding zwischen den beiden Brüdern untereinander und jeweils zu ihren Stahlhengsten sehr fetischistische Züge hatte. Der pornöse Schnurrbart, den Kevin Costner in diesem Film trägt und ihn wie der vergessene Cousin Harry Reems' (danke an jemand aus der Reihe hinter mir, der ganz erstaunt "Oh, Harry Reems" geflüstert hat, als Costner das erste mal auftauchte) aussehen lässt, hätte aber als Begründung auch ausgereicht. Na ja, und das Motto des medizinischen Sportzentrums, in dem Your Porn Moustache Highness arbeitet: Once you get it up, keep it up!

Von diesen Überlegungen abgesehen: mit John Badham, einem journeyman extraordinaire des Post-New-Hollywood-Genrekinos, kann man ja eigentlich nie etwas falsch machen. Er macht meistens Filme, die zwar gut inszenierte Attraktionen des Genrekinos abliefern, aber eben auch von den Charakteren her entwickelt werden. In AMERICAN FLYERS geradezu idealtypisch: die erste Hälfte dient erst einmal dazu, die Figuren einzuführen und sie erst einmal in Ruhe miteinander abhängen zu lassen. Das fängt an mit Davids langer Radtour unter den Anfangs-Credits: ein Obsessiver, der nicht nur draußen auf den Straßen Fahrrad fährt, sondern auch, mit einem ganz kurzen Absteigen im Fahrstuhl, bis in seine Wohnung hinein sein Drahtesel reitet und erst einmal beim Stoppen davon stürzen muss, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Marcus hat natürlich seinen ultra-pornösen Schnurrbart, ist aber auch der "bürgerliche", ältere Bruder, der seiner Mutter immer noch nicht ihren Umgang mit dem Tod des Vaters verzeihen kann. Zum "Hell of the West" kommt auch Marcus' Lebensgefährtin Sarah (Rae Dawn Chong in einer wunderbaren Rolle) und irgendwann gabelt das Trio unterwegs die Tramperin Becky auf, die schließlich mit David anbandelt. Von einigen Geschwindigkeitsspitzen abgesehen – die Fahrradverfolgungsjagd mit dem bissigen Hund und das kleine Wettrennen mit den Cowboys auf den Pferden aus Fleisch und Blut – hat AMERICAN FLYERS in der ersten Hälfte das tiefenentspannte Tempo einer kleinen Urlaubsspritztour...

...um dann in der zweiten Hälfte umso mehr die Geschwindigkeit anzuheben und die Spannungsschrauben (und die Emotionalitätsschrauben im eskalierenden Melodrama!) anzuziehen, wenn es zunächst um die Qualifikation zum "Hell of the West"-Rennen geht, dann um den Wettkampf selbst. Da gibt es nicht nur die harten Anstiege in den Bergen von Colorado zu besiegen, sondern auch einige wunderbar fiese Konkurrenten, den "Cannibal" zum Beispiel (pikanterweise Sarahs Ex-Mann) und um noch ein wenig Kalte-Kriegs-Atmosphäre reinzubringen den bärig-bärbeissigen Russen Belov. Point-of-Views aus der Fahrerperspektive und Hubschrauber-Panoramen der verschlungenen Wege in der kargen Berglandschaft Colorados (das Cinemascope kommt hier im Kino ganz besonders schön zur Geltung) sorgen für einen andauernden Nervenkitzel. Vor extremer Anspannung habe ich im Showdown in der letzten Viertelstunde meine rechte Hand krampfhaft in die Armlehne gekrallt: robust gebaut das Ding, ansonsten hätte ich es wohl komplett zerbröselt! Großes Kino kann eben auch ein Stresstest für Kinositze sein.


EPILOG

"Once you get it inside, keep it inside!"


Mittwoch, 7. Februar 2024

Jena, Kino im Schillerhof, 20.00 Uhr

Die Organisatoren des 35mm-Kino beim Film e.V. Jena haben AMERICAN FLYERS aufgrund einer etwas früheren Abreise schweren Herzens verpasst (einer hat aber kurz vor Abfahrt des Zuges einen Blick in die ersten 20 Minuten geworfen). Das Programm des Jenaer 35mm-Kinos war noch nicht festgelegt. Die Kopie von AMERICAN FLYERS war noch im Lande... Kurz: Synergieeffekte wurden geschaffen, AMERICAN FLYERS zum Eröffnungsfilm 2024 des 35mm-Kinos auserkoren und die Reihe "Auto & Geschwindigkeit" mit "Geschwindigkeit Teil 2" verlängert. Genial!

AMERICAN FLYERS war zweifelsohne ein toller Kongress-Abschlussfilm, aber diese haben natürlich immer auch den Haken, dass man sie durch einen etwas getrübten Schleier der angesammelten Festivalmüdigkeit sieht. Die Zweitsichtung genau einen Monat später hat den Film bei mir noch mal gesteigert: ganz großes, mitreissendes Kino, ein Fest der großen Gefühle, der herzlichen Lacher, des adrenalintreibenden Geschwindigkeitsrausches. Definitiv ein Nachrücker in die Reihe meiner diesjährigen Kongress-Lieblinge (WUNDERLAND DER LIEBE, WIR LASSEN UNS DAS SINGEN NICHT VERBIETEN, IM NAMEN DES KÖNIGS).

Nach dem Ende dieser Vorstellung war ich mental bereit, mit Kevin Costners Schnurrbart bis in die höchsten Gipfel der Berge von Colorado zu radeln, von Glenn Shorrocks ohrwurmigem Titelsong zu pedaltretender Trance angetrieben!


Sonntag, 19. November 2023

Heiße Leidenschaften, schwitzende Körper und unerhörte stille Örtchen

Bericht vom 20. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos 


5. Januar 2023 – Beginn des ersten Nürnberger Hofbauer-Kongresses seit Januar 2020. Vorfreude besonders hoch – und wieder mal nicht zu hoch, sondern völlig berechtigt, denn der erste Film, gleich eine Huldigung an den Namenspatron der Veranstaltung, war ein absoluter Knaller, ein wilder Ritt durch zahlreiche Genres innerhalb der Klammer Reportfilm, eine Kino-Offenbarung.



Donnerstag, 5. Januar 2023



ab 15:00 Uhr


HK-Teaser: MAN & WOMAN & ANIMAL. Geschlechterfragen im Spiegel des 70er-Populärkinos


DIE DRESSIERTE FRAU

Regie: Ernst Hofbauer

BRD 1972

35mm, dt. OV

DIE DRESSIERTE FRAU nimmt Esther Villars antifeministisches Buch "Der dressierte Mann" und Hannelore Schütz' und Ursula von Kardorffs Replik "Die dressierte Frau" als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen in Form eines Reportfilms mit vielen kleinen Episoden.



Zwischen den schwierigen Debatten über Geschlechterbeziehungen wird auch Motorrad gefahren

In meinem lediglich fünften (und vorerst auch bester) Hofbauer zeigt sich der gebürtige Wiener wieder einmal als begnadeter formaler Könner, der aus praktisch jeder Szene ein bestaunenswertes Ereignis voller liebevoller oder skurriler Details und voller pfeffriger Energie zaubert.

Man bestaune nur einmal die Episode mit dem Konfirmandenunterricht, bei dem der lehrende Priester im Klassenzimmer stets so gefilmt wird, dass rechts im Hintergrund ein großes Kruzifix ragt und links ein Poster, das offenbar zum Biologieunterricht dient und unzählige Fische abbildet. Beim Gegenschnitt sieht man dann die Klasse mit den Jungs und Mädels, die sich lautstark und teils sehr vulgär streiten, während im Hintergrund durch die Klassenzimmerfenster ersichtlich ist, dass draußen gerade leise der Schnee rieselt. Vulgarität und Poesie, Derbes und Erhabenes stehen in DIE DRESSIERTE FRAU stets nahe beieinander.

Da gibt es die Episode mit dem Paar, das in der Wohnung lautstark Sex hat, die Nachbarin so stört, dass sie es sich noch lautstärker mit dem Vibrator selbst besorgen möchte, um es den Nachbarn heimzuzahlen – doch oh weh, der Vibrator fällt aus. "Wenn's Gerät ist im Eimer, kommen Sie zu Heimer!" liest die Frau in einer Werbeanzeige für einen Elektriker und ruft dort an – bloß dass der diensthabende Elektriker der Mann im Nebenzimmer ist, der nun die Gelegenheit hat, sich einen kleinen Seitensprung zu gönnen. Warum ein elektrisches Gerät nehmen, wenn es auch ein richtiges Gerät gibt? Ja, Hofbauer zeigt sich hier nicht nur als Meister des Schmiers, wenn die zweite Sexrunde von allerlei Wortwitzen zu Lötstellen und Wackelkontakten begleitet wird, er zeigt hier schon, dass er auch Ansätze zum Slapstick hat...

... die er dann in der großen "Eierszene" vollkommen aufblühen, eskalieren und explodieren lässt! Im weiteren Verlauf des Kongresses blieb diese eines der meistdiskutierten Highlights unter dem Publikum. Wir haben ein Ehepaar, das sich immer streitet, weil er ihr keine Spülmaschine kauft (Hausarbeit – das ginge doch in zwei Stunden pro Tag). Davon hat sie eines Tages die Schnauze voll und verlässt ihn, während er derweilen in seinem eigenen Dreck versinkt, größtenteils in Gesellschaft eines Kumpels, der den Dreck noch potenziert. Als die Ehefrau viele viele Tage später dann doch ihre sehr spontane Rückkehr ankündigt, ist für die beiden Männer klar: die paar dreckigen Teller und das bisschen Schmutz auf dem Boden kriegen sie schon alsbald weg. Was darauf folgt ist nicht weniger als die systematische, restlose Verwüstung der kompletten Wohnung, als beide Männer versuchen, "aufzuräumen": Eimer mit Seifenwasser werden umgeworfen, Porzellan so staubfein zerschlagen, dass es mit dem Staubsauger weggesaugt werden kann, Hosen werden mit dem Bügeleisen durchgeschmort, fliegendes Geschirr lässt Trennfenster zwischen Wohnzimmer und Küche bersten. Das ganze endet schließlich damit, dass der Kumpel, sich an der Gardinenschnur festhaltend, aus dem Fenster im zweiten Stock hängt, hungrig ist und von Rühreiern mit Speck schwärmt, während das Ehepaar (sie ist mittlerweile zurückgekommen und musste schon erste Schneisen der Verwüstung konstatierten) in der Küche hockt, sich etwas befummelt, während die auf dem wackeligen Küchenschrank liegenden Eier Stück für Stück auf ihre Köpfe fallen und platzen.

Diese explosive Lachsalve war aber keineswegs der Höhepunkt von DIE DRESSIERTE FRAU, denn Hofbauer hat seinen Sirk genau studiert und kann auch Melodrama, in einer Episode um einen Konzertpianisten, der sich eine Geliebte in einer separat bezahlten Wohnung hält und irgendwann von seiner Ehefrau zur Rede gestellt wird. Der berühmte erste Satz von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert zieht sich als Leitmotiv durch diese Episode. Von zwei Streits mit Geliebter und Ehefrau aufgebracht, fährt sich der Pianist halsbrecherisch ins eigene Verderben: Unfall auf der Straße, Explosion des Autos... mit lauttönender Tschaikowski-Begleitung verschwimmen einzelne Bilder der Episode in einer wilden Montage mit einer animierten Partitur, die sich über die Mehrfachbelichtungen legt. Der erste große Wow-Moment des Kinos dieses Jahr.

Hofbauer kann auch beklemmend, in der Episode, die auch in dem Film direkt als jene der "sexuellen Hörigkeit" betitelt wird: eine Frau himmelt ihren Liebhaber (und dessen sehr bizarr vorstehendes Kinn) an, wird aber von ihm verächtlich, sogar übergriffig behandelt. Nachdem er ihr nach dem Sex, beide nebeneinander im Bett liegend, sehr kalkuliert "nebenei" offenbart hat, dass er nächste Woche heiraten wird, ist sie sichtlich schockiert. Weinend, von seelischem Schmerz sichtlich gequält beginnt sie, ihn zu reiten, und die Kamera weicht nicht von ihr, die sich mit Sex versucht zu betäuben, während sie eigentlich verzweifelt – eine quälend lange, unglaublich abgründige und finstere Einstellung.

Ohne Hofbauer als heimlichen Feministen zu bezeichnen, aber es doch manchmal verblüffend, wie "progressiv" manch vermeintlich "reaktionäre" Sexfilme sind: Frauen sind hier über weite Strecken die mutigen, regelbrechenden und tragischen Figuren, und Männer die feigen, spießigen und schuftig-niederträchtigen Figuren. Vor allem charakterisiert DIE DRESSIERTE FRAU Strukturen von Machtgefällen und Ungleichheit wahrscheinlich wesentlich treffender als so manch ein wohlwollender und "seriöser" Film.

Das Ende mit einem quasi-mustergültigen "gleichberechtigen Ehepaar" nimmt auf gewisse Art und Weise die "triviale" Auflösung von Monty Python's MEANING OF LIFE vorweg: irgendwie liegt es auf der Hand, dass das Leben angenehmer und einfacher wird, wenn man respektvoll und liebevoll miteinander umgeht, jeder mal ein bisschen was für den Haushalt tut und es im Bett um Liebe, Respekt, gemeinsames Lachen und Blödeln geht.



ab 17:00 Uhr


BIRDIE

Regie: Hubert Frank

BRD 1971

35mm, dt. OV

Ein Computer, der dafür programmiert ist, den idealen Partner aufgrund eines ausgefülllten Fragebogens zusammenzubringen, "matcht" die Teenagerin Birdie mit dem Fotografen Frank (oder vielleicht ist das ganze doch nur ein Werbe-Gag oder ein übler Witz von Franks Zeitungsredaktion). Frank, der gerne ein freies Leben führt, ist davon gar nicht begeistert, doch er hat nicht mit Birdies Hartnäckigkeit gerechnet, die mit allen Mitteln versucht, ihn zu verführen.

Als Teil der Hommage des Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt lief BIRDIE als eine von mehreren kleinen "Sensationsfunden": der Film wurde wohl kurz nach der Premiere vom Distributor Paramount einkassiert und in den Giftschrank eingesperrt. Die gezeigte Kopie war dann auch quasi ungespielt (aber leider rotstichig).

Ob die Liebesgeschichte zwischen einer Teenagerin und einem Anfangdreißiger als zu "heikel" galt, oder die zerfahrene, launig-anarchische Erzählweise des Films (so eher die Vermutung eines Co-Zuschauers) den Film in den Giftschrank brachte, sei dahingestellt. Insgesamt kommt der Film wenig zotig daher, sondern eher wie die bundesdeutsche Variante einer Neo-Screwball-Komödie: er würde eigentlich ganz gut in ein Double-Feature mit WHAT'S UP, DOC? passen (ohne jedoch das irre Gag-Tempo, den treibenden Drive und die exquisite Chemie der beiden Hauptdarsteller aus Bogdanovichs Film zu erreichen).

BIRDIE war ohne Zweifel ein schöner kleiner Gute-Laune-Film, angenehme anderthalb Stunden Filmspaß – höchstens leicht getrübt davon, dass die Titelprotagonistin stellenweise in ihrem obsessiven Bestreben, mit Frank anzubandeln, durchaus Züge einer bedrohlichen, psychisch labilen Stalkerin an den Tag legt (was der Film offenbar nicht beabsichtigt und auch nicht weiter verfolgt) und dass Frank-Darsteller Walter Wilz mit seinem Bart eine irritierende Ähnlichkeit mit Robert Hossein hatte (aber eben nicht Robert Hossein war). Ansonsten ist der Film eine schöne Explosion unzähliger kleiner Einfälle, die meisten schwungvoll inszeniert, viele witzig, vielleicht nicht alle ganz so gelungen. Eine ausgedehnte Schachpartie Birdies mit einem Hund in ihrer Pension bleibt mir als kleiner, "unscheinbarer" Höhepunkt im Gedächtnis. Und der leicht durchgeknallte Filmemacherkollege von Frank, der immer wieder mit verrückten Einfällen um die Ecke kommt und irgendwann seine Idee von Aufklärungsfilmen für den Tiermarkt pitcht ("Wieviele Orgasmen pro Tag braucht ein Hund, um glücklich zu sein?").


BIRDIE war der erste Teil einer kleinen Hommage dieses Hofbauer-Kongresses an Eckart Schmidt (der mit Hubert Frank das Drehbuch schrieb). Schmidt war eingeladen, hatte zugesagt, musste leider aufgrund von Krankheit kurzfristig seine Anreise absagen.



ab 21:00 Uhr


GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2020

digital, dt. OV

Einige Episoden aus dem Leben junger Frauen in München.

Hofbauer-Kommandant Andi erklärte in seiner Einführung, dass Eckart Schmidt in den 2010er Jahren eine Art Renaissance erlebte und bis heute eine extrem produktive Schaffensphase führt, mit weit über Hundert Filmen, meist sehr spontan und kostengünstig digital gedreht.

Ich kann nicht behaupten, dass mich GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL wirklich begeistert hat, aber der Film hat in seinen besten Momenten die rohe Energie einer Art von Filmemachen, bei der der Prozess wichtiger ist als das Endergebnis und die Sorglosigkeit eines Altmeisters, der die Regeln "guten Filmemachens" mit Schmackes über Bord geworfen hat, um das Kino oder zumindest sich selbst neu zu erfinden (eine Parallele wären wohl die späten digitalen Filme Giulio Questis).

Der Film entstand in Zusammenarbeit mit Schauspielstudentinnen. Die erste Episode dreht sich um eine junge Frau, die sich in der Münchener Innenstadt in einem Monolog zunehmend in Rage redet und von diffusem Weltschmerz allmählich ein Vergewaltigungstrauma aufarbeitet. Es ist die vielleicht schlüssigste Episode des Films, von großer emotionaler Intensität und mit nur wenigen Schnitten gedreht: am späten Nachmittag gedreht bricht die Dämmerung allmählich ein, das Licht ändert sich Stück für Stück, die Straßenlaternen werden irgendwann eingeschaltet.

Die Performances werden auf verschiedenen Straßen und Plätzen Münchens ausgetragen, dadurch schafft der Film einen Sense of Place, weil jeder Moment auch eine "Dokumentation" Münchener Straßenimpressionen ist. Kleine "spontane" Elemente im Hintergrund machen das ganze in den besten Momenten besonders lebendig: ein Bäckereiplakat, das ein Brot mit 92% Dinkelanteil als "nussig & saftig" anpreist; Obdachlose im Gespräch bei spirituösen Getränken auf einer Parkbank im Hofgarten; ein "Achtung: Dachlawine"-Schild beim Dianatempel; eine lebhaft-laute Kindergartengruppe, die im Hintergrund im gemächlichen Tempo eine Straße überquert; unzählige Passanten, die manchmal teilnahmlos vorbeilaufen, manchmal aber auch in die Kamera schauen.

Die klassisch-erzählerischen Elemente von GENERATION Z – DA WAR EIN HIMMEL sind vielleicht weniger gelungen als die impressionistisch-poetischen: einige der ziellos mäandernden Monologe (darunter bei einem Spaziergang durch den sonnengefluteten Hofgarten) sind wesentlich mitreissender als einige der längeren Dialoge am Telefon oder der Zwei-Personen-Dialogimprovisationen.



ab 23:55


HK-Teaser: WET BODIES – DER GANZ HEISSE WORKOUT aka #SPÜF: Der sportliche Überraschungsfilm


Vor der Anmoderation wurde zwecks Aufwärmung ein kleiner Musik-Clip digital kredenzt, nämlich "Upside Down" von Vanessa (hier zu sehen, zu bewundern)


PERFECT

Regie: James Bridges

USA 1985

35mm, engl. OV mit finn. & schwed. UT

Adam (John Travolta), Reporter für Rolling Stone, recherchiert einen Artikel über einen inhaftierten Geschäftsmann, der in eine Mafia-Drogengeschichte (möglicherweise auch mit politischem Sprengstoff) verwickelt ist. Als zweite Story arbeitet er nebenbei an einem Artikel über ein Fitness-Studio, das sich auch als idealer Treffort für Singles vermarktet. Verliebt in die Aerobic-Trainerin Jessie (Jamie Lee Curtis) verliert er langsam die Aufmerksamkeit für seine "Haupt-Story".


Aus den End-Credits (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)

Der erste Film des Tages mit einem klassischen, durchstrukturierten Drehbuch (was vielleicht nicht ideal für Mitternacht war). Oder: Was wäre eigentlich passiert, wenn Alan J. Pakula oder Brian De Palma (letzterer bei BLOW OUT, auch mit Travolta) bei ihren finsteren Paranoia-Thriller-Geschichten... in ein Fitnessstudio gegangen wären?

Der dubiose Geschäftsmann McKenzie und das Fitness-Studio "Sport Connection" (mit der heißen Aerobic-Trainerin Jessie) laufen für Adam größtenteils parallel. Ab und zu nur kreuzen sich die Geschichten, wenn Travolta das heiße Vorspiel mit Curtis und ihrem Tutorial über das Aufwärmen der Muskeln und die erhöhte Blutzirkulation unterbricht, weil er ein Telefonat mit einem Interviewangebot erhält. Zwei Filme laufen also parallel in diesem gleichen Stück Zelluloid – irgendwie bizarr, befremdlich und um halb zwei Uhr morgens nicht ganz schlüssig. Im Nachhinein fügt sich das aber zusammen, und PERFECT erzeugt fast schon ein authentisches Gefühl für die "Abgehacktheit" des Arbeits- und Lebensalltags eines Journalisten, der natürlich mehr als ein Thema auf einmal beackert und irgendwann bei zwei sehr unterschiedlichen Geschichten den Kopf verliert.

PERFECT begibt sich zwischendurch auch auf eine Nebenstraße mit einem längeren Subplot um die Fitness-Studio-Stammkundin Linda, die hinter ihrem Rücken als "The most used piece of equipment at Sport Connection" betitelt wird. Adam interviewt sie in einem Male-Stripper-Club, begleitet sie dann auf einer Geburtstagsfeier, die dann auch aufgrund von zu vielen Drogen und Schnaps eskaliert. Linda war vorher so etwas wie die etwas durchschnittliche Besucherin von Sport Connection, die den Club wirklich als Treffbörse nutzen möchte – und wird in dem ihr gewidmeten Nebenpfad des Films zu einer wahrhaftig tragischen Figur, die verzweifelt nach menschlicher Wärme sucht und deswegen davon träumt, sich ihr Gesicht bei einer ästhetischen OP von einem kalten Skalpell bearbeiten zu lassen. Düsteres gibt es sicherlich bei McKenzie-Geschichte (gefühlt dem ungefilmten vierten Teil von Pakulas Paranoia-Zyklus), aber hier bei Linda blickt PERFECT auf die ganz finstere Seite des Reaganomics-Selbstoptimierungswahns.

Der unvergessliche Höhepunkt von PERFECT und sicherlich der Hauptgrund, warum dieser Film bei einem Hofbauer-Kongress lief, ist aber die schier U-N-F-A-S-S-B-A-R-E Aerobic-Trainings-Montage-Sexersatzszene, mit einem verschwitzten, voll Wunder, Freude, Anstrengung und Geilheit völlig gesichtsentgleisten John Travolta in (let's say: gemächtbetonten) kleinen Trainingsschlüppis, der in einer größeren Gruppe von Teilnehmnerinnen und Teilnehmern laszive Beckenbewegungen selig grinsend durchführt, während ihn aus einiger Entfernung Jamie Lee Curtis als Gruppentrainerin, die die Bewegungen und den Rhythmus vorgibt, ihn mit feurigen Blicken und nicht-hörbarem, aber dennoch auch ohne Worte spürbarem Dirty Talk anfeuert. Das ganze auf großer Leinwand und in Scope (hier ein Ausschnitt auf Youtube, leider im falschen Bildformat: totale Unfassbarkeiten ab 2:03)! Wow!


Der angeteaserte ganz heiße Workout (Hinweis: Bildformat ist falsch, der Film ist in Scope)




Freitag, 6. Januar 2023


ab 12:30 Uhr


LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE

Regie: Eckhart Schmidt

Deutschland 2019

digital, dt./engl./ital. OV

Impressionen aus dem zeitgenössischen Leben junger Frauen in Nürnberg, Frankfurt, Berlin und München, erzählt mit mythologischen, fantastischen, politischen und dadaistischen Backstories.

Die erste Stunde des Films hat mich ehrlich gesagt komplett abgehängt. Lange monologisierende Episoden mit jungen Frauen, die durch die genannten Städte laufen, mit jeweils etwas anderem Fokus hier und da: in Nürnberg geht es in die mythologisch-fantastische Richtung, in München leicht historisierend (der Hauptteil spielt an bei einem Münchner Prachtbauwerk aus dem 18. Jahrhundert, das ich nicht mehr benennen kann) in Berlin wird es irgendwie politischer, weil da gleich auch noch eine Demo mitgefilmt wird.

Wie bereits weiter oben erwähnt: ich glaube Eckhart Schmidts neuere Filme sprechen ich am meisten in den Momenten an, in denen sie sich ganz in ihren experimentellen Ansatz reinwerfen und die letzten Überreste klassischer Narration hinter sich lassen. In LOVE'S PLACES – PLÄTZE DER LIEBE passierte für mich dann die Magie in den letzten zwei Episoden (Berlin und Frankfurt?): die letzte Episode, bei der die junge Dame durch einen Innenhof (einen Schulinnenhof?) wandelt, habe ich als leichtfüßigen, für Quatschiges offenen, von Narrationsballast komplett ungebundenen Filmspaziergang empfunden.



Ab 14:45 Uhr


HK-Teaser: Ein saftiges Sittenbild aus Edos Opiumhöhle


PORUNO JIDAIGEKI: BOHACHI BUSHIDO ("Boachi Bushido: Code of the Forgotten Eight")

Regie: Ishii Teruo

Japan 1973

35mm, jap. OV mit engl. UT

Der Selbstmordversuch des Ronins Shino (Tanba Tetsuro) schlägt fehl, als er vom Clan der Bohachi gerettet wird. Die Bohachis leiten Edos Rotlichtviertel mit eiserner Hand und Terror und können Shino als Handlanger gut gebrauchen. Der findet schnell Geschmack an den sexuell-gewaltsamen Terror-Methoden der Bohachi.


Kampfsequenz im Prolog (hier in Farbe)


Ein ordentlicher Tritt ins Schienbein alles Anständigen, eine comichafte, psychedelische Feier von sexuellen oder mindestens stets sexuell konotierten Gewaltexzessen. Ein Herzstück des Films sind sicherlich die in Manier einer Trainings-Montage dem Neuankömmlich Shino erzählten Codizes der Bohachis, die ein wenig aussehen wie ein Regelwerk, das der Marquis de Sade bei einem imaginären Japan-Urlaub den Oberzuhältern von Edo geschenkt hätte: Verrat, Missgunst, bestialische Folter, sexuelle Unterwerfung und Erniedrigung.

Ishii drückt schon ordentlich auf die Tube, auf dass der geneigte Kongressbesucher stets etwas zu bestaunen hat. Ich kann nichts anderes sagen: ich hatte schon Spaß. Wirklich nachhaltig wirkte das ganze nicht, weil es mir dann vorkam, dass doch etwas zu viele Figuren austauschbar und die Hauptfigur (gespielt von Tanba Tetsuro, im Westen bekannt als Tiger Tanaka im Bond-Film YOU ONLY LIVE TWICE) eher rudimentär holzschnittartig und merkwürdig charismaarm wirkte. Vielleicht schwerwiegender ist, dass die gezeigte Kopie rotstichig war und die wahre Farbenpracht des Films nur erahnen ließ: gegen Ende wird Shino von einer Prostituierten mit Opium betäubt – er erlebt einen psychedelischen Farbenrausch, den man in dieser Aufführung nur erraten konnte.



Ab 17:00 Uhr


HK-Teaser: Eine Trouvaille aus dem Kleiderschrank der Verlorenen


SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN

Regie: Joseph W. Sarno

USA 1967

35mm (Interpositiv), engl. OV

Intrigen und doppelte Spiele in der New Yorker Modeszene...

...na ja, besser gesagt: einer Hinterhof-Klamottenklitsche. Abgesehen von einem Opening Shot, in dem tatsächlich ein klein wenig New York im Winter zu sehen ist, spielt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ausschließlich in einem leeren Studio, bei dem die Darsteller vor der gefühlt immer gleich flach ausgeleuchteten Studiowand agieren. Nur ein paar spärliche Möbel und die eine oder andere Wand-Deko (ein Gemälde mit galoppierenden Pferden bleibt da als kleiner kreativer Marker im Gedächtnis) zeigen an, dass die Räumlichkeit sich geändert hat.

SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN ist mein dritter Sarno-Film, und sicherlich der schwächste. A TOUCH OF GENIE sticht thematisch und atmosphärisch heraus in einer sehr bizarren Mischung aus jüdischem Borscht-Belt-Humor mit Slapstick-Elementen und Hardcore-Porno (er ist irgendwie faszinierend, nicht unbedingt in einem nur positiven oder nur negativen Sinne). DEEP INSIDE ("Das Strandhaus") ähnelt SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN in der eher ungelenken Inszenierung reduzierter Räume (gleichwohl die Lichtsetzung mir etwas kontrastreicher erschien), hat mich aber durch seine einlullende Abhäng-Atmosphäre gefallen: DEEP INSIDE will nichts Großes erzählen, sondern präsentiert nur ein paar Leute, die in einem Ferienhaus trinken, Karten spielen und Sex haben.

Hier scheint zumindest für mich das große Problem von SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN zu liegen: er versucht, eine halbwegs klassische A-Movie-Erzählung innerhalb eines B-Movie mit den inszenatorischen Fähigkeiten eines Z-Movie zu erzählen. Heißt: die Figuren erzählen in tristen Sets die Handlung in qualvoll langen Expositionsdialogen, manche Szene mit noch mal mehr Expositionsdialogen wird nur eingefügt, um die vorangegangene Szene dramaturgisch auszuerklären. Die Kamera bewegt sich im ganzen Film gefühlt vielleicht zwei bis drei Mal: die Figuren laufen in das Bild hinein, wenn sie reden müssen und entfernen sich aus dem Bild, wenn ihre Zeilen aufgesagt sind. In dieser immergleich bleibenden Form hat mich der Film ehrlich gesagt sehr schnell ziemlich genervt – wer geneigt ist, kann das auch als eine Form von Dilettanten-Avantgarde wahrnehmen, was ein nicht unbeachtlicher Teil des Publikums dann auch gemacht hat. Daher lade ich auch dazu ein, die größtenteils positiven Bewertungen einiger Kongressbesucher bei letterboxd hier zu lesen. SCARF OF MIST, THIGH OF SATIN war eine der großen archivalischen Entdeckungen dieses Hofbauer-Kongresses: der Film galt bis dato als verschollen, eine Interpositiv-35mm-Kopie wurde allerdings bei einem deutschen Filmarchiv vom Hofbauer-Kommando aufgespürt (insofern schmerzt es mich schon etwas, dass ich ihn nicht mag, aber ich wertschätze natürlich trotzdem, dass er gezeigt wurde).



ab 21:00 Uhr


WO DER WILDBACH RAUSCHT

Regie: Heinz Paul

BRD 1956

35mm, dt. OV

Der reiche Bauer Muralt, bei dem die meisten Dorfbewohner Schulden haben, liebt die Magd Maria. Doch diese liebt den Sohn des Bürgermeisters Lorenz und ehelicht ihn dann auch. Gekränkt schenkt Muralt dem Brautpaar eine übermäßig prunktvolle Kutsche und erscheint betrunken und pöblend zur Hochzeitsfeier. Muralts Ansehen im Dorf könnte nicht tiefer sinken – doch dann stürzt Lorenz bei einem Streit mit ihm auf einer Brücke über dem Wildbach in den Tod. Nach 20 Jahren Gefängnis kehrt Muralt zurück ins Dorf.

WO DER WILDBACH RAUSCHT war der diesjährige Vertreter des klassischen deutschen Heimatfilms auf dem Kongress – ein Genre, das vom Hofbauer-Kommando besonders geschätzt wird, weil es eben auch darum gehen soll zu zeigen, dass das gängige Urteil des Filmkanons (Heimatfilm = seichte idyllische Welten, die filmästhetisch eh nicht der Beachtung wert seien) auch überprüft gehört.

Und tatsächlich ist WO DER WILDBACH RAUSCHT nicht weniger als ein ebenso bretthartes wie meisterhaft inszeniertes Melodrama. Manche Zuschauer bezeichneten den Film in der darauffolgenden Pause sogar als bayerischen Western. Für mich noch auffälliger sind die Szenen in Muralts prachtvollem Haus, die weniger nach Heimatfilm oder nach Western aussehen als dass sie mit ihrer alles in intensive, dunkle Schatten tauchenden Low-Key-Fotografie irgendwo zwischen Gothic-Horror und Film Noir schwanken. Ein gemeinsames Abendessen mit Muralt und seinem Oberknecht Wolf könnte, wenn man sich die beiden Männer in großstädtischen Anzügen und nicht in bayerischen Trachten denkt, auch die Besprechung zweier Gangster in einem amerikanischen Noir sein.

Was den Gothic-Horror betrifft: eine Pferdekutsche, die Muralt der Braut als protziges Geschenk vorfahren lässt, wird von den Dorfbewohnern aus dem Dorf ins freie Feld gekarrt. Dort steht es herrenlos in der Dämmerung – eine einzelne Einstellung voller unterschwelliger Bedrohlichkeit, die sich erbarmungslos in den Kopf einbrennt (solche Einstellungen von omimösen "leblosen" Gegenständen, die bedrohlich in der Gegend rumstehen, kennt man besonders von John Carpenter – der das über zwanzig Jahre später gemacht hat).

Muralt, der arrogante "Geld-Adelige" des Dorfes, ist trotz einer gewissen Lächerlichkeit, auch trotz einer gewissen Bedrohlichkeit am Ende vor allem eine sehr tragische Figur. Im Laufe des Films wurde er (trotz seiner Schwächen, Fehler und zweifelsohne seiner Abgründigkeiten) für mich zum Helden, oder zumindest zum großen tragischen Anti-Helden des Films: trotz seines ganzen Gelds ein Außenseiter, ein "Freak". Die Dorfgemeinschaft hingegen: an der Oberfläche freundlich, idyllisch, "einfach" lebend – und wenn das Blut hochkocht ein wilder zorniger (Lang'ianischer) Lynch-Mob, das den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus offensichtlich nicht wieder gekittet hat. Einige Szenen zeigen auch, wie die "autochtonen" Einheimischen einen zugezogenen italienischen Dorfbewohner (aufgrund seines handwerklichen Könnens – war er der Dorfschneider? – eigentlich ein unverzichtbares Mitglied der Gemeinde) absolut aus dem Nichts als "Spaghettifresser" beschimpfen. Eine Szene, die möglicherweise als eine Art Comic-Relief gedacht war, aber das Profil der Dorfgemeinschaft als Missgunst-Gemeinschaft schärft.

Vergewaltigung, eine von Paranoia, Hass, Rassismus und toxischer Männlichkeit zerfressene und zersetzte Dorfgemeinschaft, die jegliche Abweichung erbarmungslos bestraft oder mit Gewalt verfolgt, unterschwellig inzestuöses Begehren, Lynchfantasien – zumindest WO DER WILDBACH RAUSCHT ist keineswegs die eskapistisch-seichte Friede-Freude-Eierkuchen-Unterhaltung mit idyllischem Dorfleben, auf die der Heimatfilm immer wieder reduziert wird. Die Erzählstruktur von WO DER WILDBACH RAUSCHT ist gleichzeitig sehr episch und elliptisch, eine Zeitspanne von zwanzig Jahren wird tatsächlich mit nur einem einzigen Schnitt und ohne jegliche Texttafel, Voice-Over oder sonst irgendwelche chronologischen Marker überbrückt. Einige Co-Kongressniki fanden das erzählerisch nicht besonders elegant gelöst, ich fand es auf eine faszinierende Weise bizarr, fast schon leicht exzentrisch. Passend zu diesem kleinen Prachtstück, einem der großen Höhepunkte dieser Kongress-Edition.



Speaking of Höhepunkte...



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: DEUTSCHLAND INTIM: WENN DIE SEKTKORKEN KNALLEN aka #SCHMÜF: Der außerordentlich schmierige Überraschungsfilm


Man könnte auch sagen: ein infernalisches Double-Feature aus Weihwasser und Sperma, Messwein und Natursekt


Kurzvorfilm:

CHRISTEN UND KIRCHEN: DIE TAUFE

Regie: Jürgen Grünler

BRD 1983

16mm, dt. OV

Was bedeutet eigentlich eine Taufe? Was ist die Konfirmation? Eine Gruppe jugendlicher Christen geht in diesem kurzen Dokumentarfilm diesen Fragen auf den Grund.

Bundesdeutscher 80er-Trist-Mief bildet das Hauptaroma dieses irgendwie charmanten Bildungs-Kurzfilms rund um Jugendliche, die in Konfirmationsvorbereitungskursen diskutieren. Eine gleichzeitig sehr unpassende und dann doch wieder sehr sehr passende Einführung zum Hauptfilm.

Die logische Überleitung: was machen denn diese Konfirmanden und Konfirmandinnen nach ihrer Konfirmation? Vielleicht... ausreißen?


Hauptfilm:

BIGGI – EINE AUSREISSERIN

Regie: Charles Köhn

BRD 1980

35mm, dt. OV

Biggi reisst aus und erlebt bei einem reichen Ehepaar, später in einem Bordell einige erotische Abenteuer.

Die Ankündigung "außerordentlich schmieriger Überraschungsfilm" war keineswegs zuviel versprochen, denn diese völlig unfassbare filmische Total-Eskalation namens BIGGI – EINE AUSREISSERIN lieferte eine der denkwürdigsten und sicherlich die verstrahlteste Vorstellung des 20. Hofbauer-Kongresses. Ein völlig wahnsinniger Film, dem mit gängigen Rezeptionsmitteln wohl kaum beizukommen ist. Ein beachtlicher Teil des Publikums tobte geradezu vor schierer Freude, vor totaler Unfassbarkeit, vor ungläubigem Staunen (oder feuerte Biggi auch mal begeistert an, wenn sie auf ihre Sexpartner*innen urinierte) während ein anderer Teil mit Brechreiz und Gehirnkernschmelze kämpfte.

Die Schublade "Porno" ist auf jeden Fall zu klein für BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Der Film ist eher eine Odyssee durch den versifften Unterleib des bundesdeutschen 80er-Trist-Miefs, ein Eintauchen in Dreck, Schmier, Vulgarität und literweise, wenn nicht gar hektoliterweise Pisse – und das ganze auch nicht als existentialistisch-transgressive Depri-Nummer, sondern als eine sich vergnügt, frisch-frech-fröhlich und lachend gebende Riesen-Gaudi (inklusive eines "Happy-Ends", bei dem Biggi wieder von ihren Eltern in einer tristen Straße mit grauen Reihenhäusern empfangen wird, der Vater, am hellichten Tag, stilecht mit einem geöffneten Bier in der Hand).

Teenagerinnen, die es mit fetten alten impotenten Männern mit Mikropenissen treiben, ein etwas potenterer Butler mit schweren Flatulenzen, Gruppensex im Handwerkerkeller mit diversen Farben die so aussehen als wären sie nicht gerade gut für die Haut und die durcheinandergemischt nur ein unappetitliches Matschebraun (auch trotz beigemischtem Urin) ergeben, eine Kneipe mit einem Oberkellner der einfach in das Sektglas pinkelt um aufzufüllen – und das ganze ist nur die Bildebene. Die Tonspur (komplett nachsynchronisiert und in der Lippensynchronität nur selten präzise, was die bizarre Atmosphäre des Films noch steigert) ist eine Dauerbeschallung aus sexuellen, aber durch und durch unerotischen Vulgaritäten, ein Vokabular fast aus einer Parallelwelt, in der alles nur noch in Bezug zu harter Fickerei (von Sex kann kaum noch gesprochen werden) gesetzt wird. "Was für ein schöner Diamantenring, den er mir schenkt" – würde es in einer normalen Welt heißen, aber hier wird daraus "Da steckt der mir doch echt einen Diamanten auf meine Wichsgriffel". Man könnte wohl nur anhand dieses Films ein Lexikon der vulgärsten Sexbegriffe zusammenstellen. Nur an einer Stelle wurde es undeutlich: eine Schimmelbeschädigung hatte einen Teil der Tonspur angegriffen, so dass für einige Minuten die Dialoge zu einem kleinen, stockenden und rauschenden Musique-Concrète-Experimentalstück verfremdet wurden – "Schimmel-Avantgarde" sagte voller Begeisterung einer der Hofbauer-Kommandanten!

Wie haben denn eigentlich Besucher halbseidener Pornokinos damals, 1980, auf diesen Film reagiert? Haben sie sich empört die Hose wieder zugeknöpft und haben an der Kasse ihr Eintrittsgeld zurückverlangt? Oder sind sie in eine Art Trance oder Hypnose gefallen angesichts dieser Unfassbarkeiten? "Ein dadaistisches Meisterwerk" lautete das Fazit eines Hofbauer-Kommandanten direkt nach dem Film. Dem würde ich nicht viel entgegensetzen.

Vielleicht nur hinzufügen: ein außerordentlich denkwürdiger Moment ist der Beginn einer lesbischen Sexszene auf der Toilette in der Villa des gutbetuchten alten Lustmolchs mit dem winzigen Penis. Da in Deutschland Ordnung herrscht, hängt da auch eine Tafel mit einer Toilettenordnung mit fein säuberlich angeordnten, durchnummerierten Punkten. Keine zwei Minuten später sind die beiden Damen in der Badewanne und urinieren sich gegenseitig an, in völliger Missachtung der vorher sehr markant gezeigten Toilettenordnung. BIGGI – EINE AUSREISSERIN mag durchaus sehr anarchisch sein, aber das war eine Stelle, wo man doch vermuten musste: der Wahnsinn hat System!



Samstag, 7. Januar 2023


ab 14:15


DER KONGRESS TANZT

Regie: Erik Charell

Deutschland 1931

35mm, dt. OV

Die Wiener Handschuhmacherin Christel verliebt sich in ihrer Heimatstadt anno 1815 in einen äußerst charmanten Mann – der zufälligerweise der russische Zar Alexander I. ist. Metternich sieht in dieser Liebelei Potential, um seinen Gegenspieler von den Verhandlungen beim Wiener Kongress abzulenken. Doch die russische Gesandtschaft hat auch einen Zaren-Doppelgänger im Köcher. Turbulenzen und Liebe, Lachen und Weinen folgen, wie es das "nur einmal gibt".


Metternich (Conrad Veidt) lässt sich die Morgennachrichten direkt ans Bett bringen


DER KONGRESS TANZT dürfte einer der "kanonisiertesten" deutschen Filme sein, die jemals auf dem Hofbauer-Kongress liefen. Die Programmierung beim Kongress hob natürlich noch mal die archäosleazologischen Aspekte (aka "Frühschmier") hervor und ermöglichte, diesen ohnehin wunderbaren Film noch mal in einer wunderbaren Form, also im Kino und auf einer exzellenten 35mm-Kopie zu erleben: die fetzigen oder wahlweise bittersüß-romantischen Musiknummern ("Das gibt's nur einmal" – natürlich mehr als einmal vorgetragen, "Wien und der Wein"), die spritzig-perlende Lilian Harvey als verliebte Handschuhverkäuferin, ein herrlich schmieriger Conrad Veidt als intrigant-gerissener Metternich, Willy Fritsch wahlweise als romantisch-verträumter Zar Alexander oder als entweder gelangweilter oder in Zarenkostüm überforderter Sicherheits-Double Uralsky, das heimliche Herz des Films Otto Wallburg als Zarensekretär Bibikoff (mit seinem Begehren, Leute immer auspeitschen und nach Sibirien verfrachten zu lassen), und nicht zu vergessen die absolut fantastische Kamera (Carl Hoffmann), die absolut federleicht durch gigantische Komparsenszenerien gleitet und tänzelt (und das nicht nur in der atemberaubenden "Das gibt's nur einmal"-Kutschenfahrt).

DER KONGRESS TANZT sah ich zum ersten Mal bei einem geselligen Adventsabend des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Uni Jena 2007 – der Film wurde von der Vertretungsprofessorin im Rahmen ihrer Vorlesung zu kulturgeschichtlichen Annäherungen an russische Diplomatiegeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert ausgewählt. Ein vergnüglicher Abend mit netten Kommilitoninnen und Kommilitonen, Glühwein und Plätzchen und DER KONGRESS TANZT auf dem Röhrenfernseher eines Seminarraums. Die Professorin wertschätzte im Anschluss auch den Wert der filmästhetischen Attraktionen über die trockene Faktenlage (in etwa: "In den Fakten nicht sehr akurat, aber trotzdem sehr unterhaltsam und schön... Nein, GERADE deswegen!").

DER KONGRESS TANZT ist auch ein Lichtblick des späten Weimarer Kinos bevor die Nazis der Freude ein Ende setzten. Ein großer Anteil der an zentralen Positionen vor und hinter der Kamera beteiligten Personen waren jüdischer Herkunft und mussten 1933 vor den Nazis fliehen. Bibikoff-Darsteller Otto Wallburg und Co-Drehbuchautor Robert Liebmann waren nicht weit genug bis ins sichere Hollywood geflohen und wurden in Auschwitz ermordet.



ab 16:45 Uhr


HK-Teaser: HEISSE SEHNSUCHT, KALTE KASTE. Schulmädchen-Liebesschicksale im indischen Ozean


GEHENU LAMAI ("The Girls")

Regie: Sumitra Peries

Sri Lanka 1978

35mm, singhalesische OV mit engl. UT

Ein junges Mädchen verliebt sich in einen Klassenkameraden aus einer höheren Klasse. Dieser wechselt nach seinem Abschluss die Seiten und wird Lehrer seiner Verehrerin – und schließlich auch ihr Geliebter. Die heikle Lehrer-Schülerin-Situation wird noch dadurch verschlimmert, dass sie zu einer niedrigeren sozialen Schicht gehört. 

Eine aus einer Retrospektive des Berliner Arsenal zu weiblichen Regisseurinnen mitgebrachte Rarität. Sumitra Peries arbeitete nach ihrem Abschluss an der London School of Film Technique (wo sie wohl die einzige Frau in ihrem Studiengang war) als Cutterin, unter anderem für die Filme ihres Ehemanns, dem Regisseur Lester James Peries. Ihr Debütfilm als Regisseurin GEHENU LAMAI war wohl erste von einer Frau inszenierte Film in Sri Lanka. In den 1990er Jahren arbeitete sie (ähnlich wie eine andere weibliche Pionierin ihres Kinolandes, Lana Gogoberidze) als Diplomatin in Europa, inszenierte aber weiterhin Filme bis Ende der 2010er Jahre. Die beim Kongress gezeigte Kopie stammte aus Peries' Privatbesitz und ist wohl besonders selten (vielleicht die einzige Kopie des Films). Wie mit der Kopie nach dem Kongress verfahren wurde, ist mir unbekannt: Sumitra Peries starb nämlich 12 Tage nach dieser Vorführung im Alter von 87 Jahren. Es ist also wahrscheinlich, dass dies die letzte öffentliche Vorführung dieses Films zu ihren Lebzeiten war.

Die Kopie war ehrlich gesagt "schwierig" und machte die Sichtungssituation auch eher sub-optimal: sie war sehr verwaschen, das Schwarzweiß extrem kontrastarm, die fest eingebrannten weißen Untertitel hatten keine Outline und verschwanden über weite Teile des Films in den fast immerzu blendend weißen Oberteilen der Figuren – wenn die Untertitel überhaupt erschienen, denn hier war wohl nach dem Motto "Wir fassen nur das wichtigste grob zusammen" verfahren worden und bestimmt ein Drittel, wenn nicht gar die Hälfte der Dialoge waren untertitelfrei. Manche Zuschauer gaben ganz auf und verließen die Vorstellung. Andere Zuschauer gaben dann wohl irgendwann die Mühe auf, den Untertiteln Aufmerksamkeit zu schenken und schauten den Film dann nur noch rein audiovisuell ohne Textverständnis – so zumindest ich nach wohl etwa 30 Minuten.

Und zu entdecken gab es in diesem leise (aber dennoch dialogreich erzählten) Liebesfilm visuell so einiges: eine extrem dynamische Kamera, die in langen Schwenks den Figuren folgt, durch Dickichte von Ästen oder kunstvollen verzierten Fenstergittern oder in Spiegelungen filmt, dazwischen immer wieder Zooms. Einige wenige ausgesuchte Closeups sorgten für besonders emotionale Momente. Das klingt nicht nach viel, aber trotzdem ich vor dem Film bei nicht mal der Hälfte in Sachen Textverständnis kapitulieren musste, hat mich der Film emotional immer wieder gepackt.

Ein Foto aus einer Vorführung des Films war auf dem Postkarten-Titelbild dieser Kongress-Edition vertreten, inklusive des perfekt zum Kongress passenden Untertitels "May be rubbish to you – but meaningful tu us."



ab 21:00 Uhr


HK-Teaser: DIE SPELUNKE DER FEURIGEN TRIEBE aka #BRÜF: Der brünftige Überraschungsfilm


AMARELO MANGA

Regie: Cláudio Assis

Brasilien 2002

35mm, port. OV mit UT

Leben, Essen, Lieben, Träume, Begehren, Obsessionen und Sterben verschiedener Hotel- und Kneipen-Wirte und -Gäste in einem Armenviertel von Recife.


Die resolute Kneipenwirtin Lígia und der zwielichtige deutsche Ex-Militär Isaac


Man stelle sich vor, Robert Altman hätte einen seiner Ensemblefilme nicht in der Country-Szene von Nashville, in den kleinbürgerlichen Vorstädten von Los Angeles oder in der Mode-Szene von Paris, sondern in den Elendsvierteln von Recife gedreht – und hätte sich vor Beginn jedes Drehtags noch einen starken Joint und eine halbe Pulle Cachaça reingepfiffen...

Die Struktur von AMARELO MANGA ("Mangogelb" – eine Haartönung, die man in diesem Film-Recife beim Straßenfriseur ordern kann) teilt sich mit Altmans Ensemblefilmen die lose, impressionistische, an zielgerichteter Narration wenig interessierte Erzählweise. Im Grunde ein "All character, no plot"-Film – und was für einer!

Warum nicht über die Figuren ein wenig diesen hochenergetischen, elektrisierenden Film erschließen? Es gibt zum Beispiel Lígia, die Besitzerin einer Eckkneipe, die uns in den Film einführt, deren Interaktionen mit ihren Gästen irgendwo zwischen warmer Herzlichkeit und einem sehr bestimmtem Abwehren sexueller Übergrifflichkeiten schwankt. Es gibt Wellington aka "Der Kannibale" (im Viertel so genannt, weil er wohl einmal einen Mann getötet hat), der Fleischereiarbeiter, der regelmäßig ein halbes Rind in das "Hotel Texas" liefert und eine Affäre mit der Kioskverkäuferin Daisy hat, von der seine Frau Kika, ein gläubiges Mitglied einer radikalen evangelischen Sekte, die Anfang der 2000er Jahre in Brasilien florierten, nichts weiß. Im "Hotel Texas" wohnt Isaac, ein "Deutscher" mit unklarer und dubioser Vergangenheit (in einem kurzen Kameraschwenk durch sein Zimmer, na ja, seine Absteige, sieht man eine Armeeuniform an der Wand hängen: NVA? Stasi?) und einem bizarren Hobby, das eine Pistole und aus dem Leichenschauhaus geschmuggelte Leichname benötigt. Eine andere Bewohnerin ist Dona Aurora, eine ältere Dame, die mit chronischen Lungenproblemen zu kämpfen hat und immer wieder auf ihr Zimmer muss, um dort an einem Sauerstoffgerät durchzuatmen. Gastronomisch verköstigt werden sie von Dunga, dem Hotelkoch, ein sehr exaltierter schwuler Mann, der offensichtlich ein Auge auf seinen Fleischlieferanten Wellington geworfen hat. Zum Essen kommt auch immer wieder ein "arbeitsloser" Priester, dessen "traditionelle" Kirche geschlossen wurde aufgrund der "Konkurrenz" durch radikale evangelische Sekten.

Wenn Lígia, die Kneipenwirtin, das Rückgrat des Films ist (mit ihr beginnt der Film und schließt der Film in einer Art Kreisbewegung im Epilog ab), dann ist Dunga, der Koch (und De-Facto-Geschäftsführer des "Hotel Texas" in Abwesenheit des eigentlichen Chefs – und dieser wird dann im Laufe des Films dann auch sehr "abwesend" sein) das emotionale Herz von AMARELO MANGA. In den ersten Momenten fast ein wenig eine "Tunten-Witzfigur", entwickelt er sich im Laufe des Films zu einer emotional sehr berührenden, charismatischen Hauptfigur, vielleicht auch, weil Darsteller Matheus Nachtergaele für mich ganz besonders herausstach – wohlgemerkt in einem fantastischen Ensemble von Darstellern.

Ein wichtiger Darsteller von AMARELO MANGA ist auch Recife: eine Stadt, die ich bislang nur vom Namen her kannte, und die mir nach dem Film wesentlich plastischer erscheint. AMARELO MANGA ist nicht nur ein Charakterfilm, sondern auch ein Stadtfilm, der immer wieder en passant das Gewusel auf den Straßen, die Architektur der Stadt und die beeindruckenden Panoramasichten (von einer eher ärmlichen Siedlung auf einem Hügel aus gesehen) zeigt – wenn er sich nicht gleich aus der "eigentlichen" Filmhandlung für eine Weile einfach mal komplett ausklinkt, um in semi-dokumentarischen Bildern vom pulsierenden Leben der Stadt oder in einzelnen individuellen Portraits von echten Charakterfressen der Straße zu schwelgen, deren Geschichte er vielleicht auch erzählen könnte...

In der englischen Wikipedia wird AMARELO MANGA als Low-Budget-Film bezeichnet, das sieht man ihm allerdings keineswegs an, mit seinen immer wieder spektakulären, schwebenden Overhead-Shots, die über Raumwände hinweggehen, seinen langen, kunstvollen Fahrten durch überfüllte Straßen oder durch die verschlungene Architektur des "Hotel Texas" – ein großartiges Filmset, das ein eigenes kleines Universum eröffnet.

Die Verbindungslinie ziehe ich daher bewußt zu Robert Altman, der einen sehr pessimistischen Blick auf die Menschheit hat, wenngleich er seine einzelnen Figuren auch in ihren Schwächen liebt – und nicht zum zynisch-kalten Post-Tarantino/Tarantino-Ripoff'ism-Kino (mit dem einige den Film fälschlicherweise assoziieren könnten). AMARELO MANGA ist keine Freak-Show, keine technokratische Fingerübung, sondern trotz einiger Härten ein warmer, ja warmherziger und auch ein sehr optimistischer Film. Die Essen im "Hotel Texas" sind bestimmt keine 5-Sterne-Büffets, werden aber voller Liebe zu den Figuren und zu kleinen Details gefilmt. Bei einem dieser Abendessen bekommt Aurora einen Hustenanfall: der "arbeitslose" Priester packt sie von hinten in einer Art Heimlich-Griff, aber offensichtlich nimmt er die Gelegenheit wahr, um ihre Brüste zu betatschen. Das anschließende Gespräch erhellt uns, dass Aurora wohl beim Essen immer wieder solche Anfälle hat – als chronisch lungenkranke Frau (sie muss in ihrem Zimmer regelmäßig Sauerstoff aus einem Gerät atmen) ist das nicht völlig abwegig, aber es scheint fast angedeutet zu sein, dass hier ein kleines Ritual der körperlichen Nähe und emotionalen Anteilnahme zwischen zwei einsamen Seelen in dieser Abstiege gefeiert wird. Und das Ende schließlich: Eine junge Frau, die sich offensichtlich aus den Griffen einer evangelischen Sekte ebenso gelöst hat wie aus einer tristen, kalten Ehe, läuft rasch und sehr bestimmt durch die Straßen, greift sich dabei an die Hand, streift ihren Ehering ab und wirft ihn weg, und (ohne auf den Klang zu reagieren, den der Ring macht, als er auf den Asphalt fällt – welch großartiges Detail!) läuft weiter schnurstracks auf ihr Ziel weiter... Was für ein Bild von neuentdeckter Lebenslust nach einer Zeit des persönlichen Stillstands.


Claudio Assis war 42 Jahre alt, als AMARELO MANGA seine Premiere hatte. Der Regisseur der Filme im nächsten Filmblock war etwa doppelt so alt...


ab 23:30 Uhr


Bruno-Sukrow-Programm


HEITER BIS WOLKIG

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Sukrow filmt sich selbst in seiner Wohnung, also sprich: in seinem persönlichen Filmstudio. Er tritt in Dialog mit animierten Figuren, die er über seinen Couchtisch gehen lässt oder auch mit sich selbst: manchmal sprechen zwei Bruno Sukrows miteinander (wenn er sich doppelt), oder aber nur zwei halbe Sukrows, wenn der schwebende, beinlose Oberkörper sich mit dem "oberkörperfreien", sich auf der Wohnzimmercouch fläzenden Rumpf streitet. Dazwischen immer wieder kleine Inserts mit Naturimpressionen.


DIE WAHRE TITANIC

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Die Titanic treibt in einem Bruno-Sukrow-Rhythmus durch einen blauen Pixel-Animationsrausch. Strandschönheiten sonnen sich am Deck, Heizer prügeln sich fröhlich im Heizraum und Abends steppt auf dem Parkett des Ballsaals der Bär, während sich der Eisberg immer mehr nähert... gibt es Rettung für ihn?


DER ALTE MANN UND DAS MEER

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2010

digital, dt. OV

Welch perfekt programmierter Film, knapp ein Tag nach WO DER WILDBACH RAUSCHT. Die Geschichte der Freundschaft eines jungen Mannes zu einem älteren Fischer – der von der Dorfgemeinschaft (diesmal nicht in den bayerischen Alpen, sondern an einem tropischen Strand – aber alle Figuren sprechen ein sehr dialektal eingefärbtes Deutsch) verstoßen wird, als eine junge Frau plötzlich verschwindet und er des Mordes beschuldigt wird. Lynchmobs formieren sich, während nur der junge Freund und die Wirtin der Dorfkneipe (ach... die ganzen Kneipenwirtinnen bei diesem Kongress!) zu ihm halten.

Die eigensinnige Poesie Bruno Sukrows dringt in diesem dritten Film des Abends in immer größeren Dosen zum Bewußtsein durch: unfassbare Tableaus mit sich in einer Art hypnotischen Trance-Zustand bewegenden Figuren, zusammengesetzt aus teils animierten Bildern, teils aus Real-Standbildern – an den Kanten immer etwas roh (das Freistellen mancher Bildelemente ist nicht immer perfekt) und dabei doch voller Herz.


GROLSCH

Regie: Bruno Sukrow

Deutschland 2018

digital, dt. OV

Im Weltall empfängt eine Gruppe von Aliens in ihrem Raumschiff ein Funksignal von der Erde. Der geübte deutsche Erdbewohner erkennt mühelos eine Bierwerbung der Marke Grolsch, die Aliens erkennen nur, dass das wohl ein ganz tolles Zaubergetränk ist, das sie auch mal ausprobieren müssen. Gesagt, getan: Kurs auf die Erde. Doch oh weh... aus Versehen legt das Raumschiff beim Flug gen Erde die Stromversorgung der Welt lahm.

Acht Jahre nach den vorher gezeigten Filmen gezeigt wirkte GROLSCH im kleinen Rahmen dieses Programms für einen Sukrow-Neuling wie mich wie sein Opus Magnum (es war ein mittellanger, etwa dreiviertelstündiger Film): der Humor, die Liebe, die Zärtlichkeit, die Poesie – vollkommen ausgereift zu einer singulären Handschrift. GROLSCH ist ein Alien-Sci-Fi-Film, eine Art Re-Imaginierung von INDEPENDENCE DAY, eine Screwball-Komödie, eine Anarcho-Komödie irgendwo zwischen Marx Brothers und Helge Schneider, eine Militär-Satire, ein Essayfilm über die Unbekümmertheit der Natur im Angesicht menschlicher Katastrophen, ja sogar ein Western steckt da drin! Liebevolle kleine Miniaturen und Sketche rund um die Welt (es geht ins Weiße Haus ebenso wie nach Polen, über Japan, Russland, das Ruhrgebiet und Hollywood) über die Menschen im Angesicht dessen, dass es keinen Strom mehr gibt: wenn man nicht kochen kann, kann man ja einen Obsttag einlegen, aber was ist mit dem Fernsehen? Während die Menschen in totale Ratlosigkeit versinken, bleibt die Natur davon unbekümmert: das sieht man besonders an den Enten, die es einmal als Real-Film-Insert gibt – und später als unbeholfen watschelnde Animationswesen.

Dabei ist es wirklich großartig, wie Sukrow im Grunde die latente Spannung über den ganzen Film erhält mit der Prämisse, nämlich: werden die Aliens an das Bier rankommen? Und wenn ja, wie? Und wie wird die Verkostung? So viel sei gesagt: Einer der großen magischen Momente dieses Kongresses war zu sehen, als die vier Aliens in einem tänzelnd-elastischen Gleichschritt marschierend Bierkästen zu ihrem Raumschiff tragen.



ab 1:30 Uhr (reale Startzeit irgendwann nach 2:00 Uhr)


HA LLEGADO UN ÁNGEL ("Ein steiler Zahn")

Regie: Luis Lucia

Spanien 1961

35mm, DF

Das Waisenkind Marisol (Marisol, bürgerlich Josefa Flores González) reist nach dem Tod ihrer Eltern in die Großstadt, um dort mit ihren nächsten Verwandten, also der Familie ihres Onkels, zu wohnen. Diese heftig zerstrittene Familie (der Onkel ist unter der Knute seiner tyrannischen Ehefrau, der älteste Sohn verbockt sein Studium weil er nur an Parties denkt, die Tochter geht mit einem Mann aus der ungefähr so alt aber wesentlich schmieriger ist als ihr Vater, mit dem Geld allgemein ist eher mau) ist von diesem "Glück" eher negativ überrascht, denn Marisol lässt keine Gesangseinlage verstreichen, um die Familie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Und ihre Teilnahme an Kino und Gesangswettbewerben soll auch das mit dem Geld richten.


Marisol bezirzt auch harte Professorenherzen mit ihrer Stimme


In einer besseren Welt wäre Marisol nach Italien gegangen, um dort als Sidekick bei einem Film mit Franco Franchi und Ciccio Ingrassia mitzuspielen (am besten von Lucio Fulci inszeniert), denn eines ist sicher: mit ihren grotesken, ultraelastischen Gesichtsverrenkungen hätte sie neben Franchis mimischen Total-Eskalationen durchaus eine ganz gute Figur gemacht.

Einen populären Schlagerfilm aus Spanien in der Hochzeit des Franquismus zu sehen, war schon faszinierend: eine antiautoritäre, fast anarchische Brise und ein autoritärer Mief, totale Selbstauflösung in Spiel, Spaß, Freude und ein heftiger sozialer Druck in Richtung Konformität und Wohlordnung, eine Sympathie für Empowerment von Außenseitern und ein mit "traditionell" noch nett umschriebenes Verständnis von Geschlechter-Beziehungen stehen sich immer wieder gegenüber. Marisol ist schon ein kleiner Wirbelwind von Lebensfreude, Spaß und Ausgelassenheit, aber wenn sie ein kreischend hohes Lied frühmorgens anstimmt, um alle im Haus zu wecken und besonders ihren noch leicht angetrunkenen bzw. schon leicht verkaterten Cousin, der eben erst ins Bett wollte, dann wirkt sie eben auch gleichzeitig wie ein eisener Besen der strengen (in einem deutschen Kontext würde man sagen: "preußischen") Ordnung. Die Szene, in der Marisol zusammen mit einer Gruppe von musikaffinen Studenten (die sie im Prolog im Zug getroffen hat), in das Haus eines emeritierten Professors einfällt, um ihn mit schmissigen Songs zu erweichen, ist schon herzallerliebst und ein Höhepunkt des Films (ein Still aus dieser Szene war auch das zentrale Anteaserungsbild für den Kongress). Ein weiterer Höhepunkt ist Marisols gesangliches Nachsynchronisieren des familiären Fernsehers, nachdem eines der Familienmitglieder durch zu viel Rumspielen an den Geräteeinstellungen den Ton lahmgelegt hat. Gleichzeitig gibt es eine Szene, in der Marisols Cousin seiner Schwester ins Gesicht schlägt (vielleicht sogar mehrmals?) und der Film findet das offensichtlich ganz ungeheuer witzig – das ist dann schon eher bestialisch.



Sonntag, 8. Januar


ab 14:30 Uhr


HK-Teaser: Geheimnisvolle Qualen der Erotik


VON HAUT ZU HAUT

Regie: Hans Schott-Schöbinger

BRD 1970

35mm, dt. OV

Nicki (Sophia Kammara) und Karen (Dagmar Lassander) sind Zwillingsschwestern, die eine telepathische Verbindung haben. Das ist nicht immer von Vorteil, wenn die eine in einem vielleicht nicht ganz passenden Moment spürt, wie die andere mit ihrem Partner (Karen) bzw. ihrer Partnerin (Nicki) Sex hat. Richtig unangenehm wird es aber, als Nicki von einem mysteriösen Mann verfolgt wird.

Eins vorweg: es machte mir tatsächlich mehr Spaß, über den Film im Nachhinein nachzudenken bzw. in Erinnerung an die Atmosphäre zu schwelgen als den Film tatsächlich zu sehen. Das muss aber nichts Schlechtes sein, denn wenn ich über Vergleichsreferenzen nachdenke, würde mir Aldo Lados LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO aka MALASTRANA einfallen: auch ein Atmosphären-Film (ein "Giallo") in einer alten mitteleuropäischen Stadt, die aufgrund ihrer Gruseligkeit für die Figuren zu einer Art riesigen Freiluft-Gothic-House wird. VON HAUT ZU HAUT wurde in Passau gedreht, einer Stadt, die ich persönlich nicht kenne, die mir aber als eine Art eigenständiger Charakter im Film sehr nahe gebracht wurde. Mit seinen wunderbaren Scope-Bildern der oft größtenteils entvölkerten Altstadt-Gässchen erschafft Schott-Schöbinger eine ganz eigene, unheimliche Atmosphäre, die den ganzen Film ansteckt: natürlich bei spannungsgeladenen Verfolgungsjagden, aber gerade eben auch, wenn die beiden Protagonistinnen einfach nur durch diese Gassen schlendern. Wie Prag (bzw. Zagreb und Ljubliana) für MALASTRANA scheint auch Passau einen natürlichen Gothic-Horror-Einschlag zu haben, der sich voll und ganz auf die Zuschauer überträgt, wenn man ihn nur richtig mit der Kamera einfängt.

Der große, fantastische Höhepunkt des Films bezieht sich darauf, wie unpassend es manchmal ist, durch Telepathie den Sex der Schwester mitzubekommen (und mitzuspüren): eine der Schwestern steigt in einen Bus ein (stilecht mit einer Jägermeister-Werbung), fährt zunächst nichtswissend mit, beginnt dann zu stöhnen, weil ihre Schwester zeitgleich Sex hat, zieht die Aufmerksamkeit der anderen Mitfahrer auf sich und bekommt schließlich einen Orgasmus. Hier explodiert die Szene in eine Nahaufnahme ihres vor Lust verzerrten Gesichts, die von einem psychedelisch animierten Blätterornament überlagert wird.



ab 16:15 Uhr


HK-Teaser: HOW I COME


SHARON'S ROSEBUD

Regie: Richard Wilton

USA 1976

16mm, OV

Die Porno-Darstellerin Sharon Thorpe erzählt in einem intimen Interview von ihren Fantasien.

"Cinéma vérité goes porn" – so ungefähr beginnt SHARON'S ROSEBUD, mit einer sehr langen ungeschnittenen Einstellung, in der Sharon sich mit dem Off-Kamera-Interviewer unterhält. Die Steigerung der "ungeheuren Gefühle", um jetzt mal ein Bonmot des Hofbauer-Kommandos zu benutzen, war am Anfang sehr langsam, graduell, in kleinen Häppchen voranschreitend – und dadurch erst recht extrem sexy, gerade weil die Befragte sehr lange Zeit bekleidet bleibt und nur durch ihre Erzählung und suggestive Blicke Erotik erzeugt. Dann wurde Sharons Wortwahl zunehmend explizit, sie entkleidete sich langsam, dann kam der "Helfer", um sie zu lecken und schließlich ließ sie die Zuschauer an ihren Fantasien mittels eigener Filmepisoden teilhaben. In diesem langen Prolog entwickelt SHARON'S ROSEBUD eine unglaubliche Unmittelbarkeit und Intimität – die vierte Wand wird praktisch aufgelöst. So konnte ich auch nicht anders, als von "ungeheuren Gefühlen" selbst etwas tangiert zu werden.

Danach wird der Film leider etwas zu routiniert, entwickelt sich zu einer reinen Nummern-Revue und wirkte im Rahmen dieses Kongress-Wochenendes in der Anhäufung von Sexszenarien mit strammem Dirty-Talk wie die stilvollere und elegantere Ausführung von BIGGI – EINE AUSREISSERIN. Die Einheit von Zuschauer, Interviewer, Helfer, Interviewten und ihren Fantasien löste sich und baute wieder eine gut spürbare vierte Wand ein. Eher verstörend war das Auftauchen eines Nebendarstellers, der wie der verlorene Zwillingsbruder von Herbie Hancock aussah. Eher amüsant hingegen dass ich ab jetzt "Die Nadel im Heuhaufen suchen" durch "Die Karotte im Heuhaufen suchen" ersetzen werde – nachdem die Karotte in der Inzest-und-Gärtner-Fantasie beim Liebesspiel im Heuschober gefunden und kreativ in die Aktivitäten eingebunden wurde, wird sie danach dann auch praktischerweise als After-Sex-Snack verspeist.



ab 21:00 Uhr


LUJURIA TROPICAL ("Tropische Sinnlichkeit")

Regie: Armando Bó

Argentinien 1963

35mm, DF

Die freigeistige Norma (Isabel Sarli) lässt sich in einem Fischerdorf nieder und heiratet dort den lokalen Kneipenwirt. Das hindert sie nicht daran, sich auch mit dem lokalen Strand-Beau (gespielt von Regisseur Armando Bó) einzulassen. Der will Norma jedoch komplett für sich allein haben und stößt damit eine Spirale der zunehmend gewaltsamen Eskalation an.

Nach einer sehr zärtlichen Einführung von Hofbauer-Kommandant Christoph zum Filmzyklus des argentinischen Regisseurs Armando Bó und seiner Hauptdarstellerin und Ehefrau Isabel Sarli ging es an den südamerikanischen tropischen Strand, um Melodrama-Leidenschaften, unerschütterliche weibliche Selbstbehauptung im Angesicht männlicher Dummheit und natürlich die Pracht von Isabel Sarlis Körper zu erleben.

Im englischen Wikipedia-Eintrag wird der Film als "verschollen" bezeichnet, aber das ist ja ganz offenbar Quatsch, wenn wir ihn beim Kongress gesehen haben – allerdings muss man sagen in einer schon recht lädierten Kopie, die die leuchtenden, satten, tropischen Farbenpracht nur noch in Resten durch einen Schleier von Rotstich in sehr diversen Ausprägungen approximativ erahnen ließ (manchmal intensiver, manchmal kaum bemerkbar, als wäre die Kopie aus Kopien in unterschiedlichen Verfallsstadien zusammengestückelt worden). Das hat das völlige Eintauchen in den Film angesichts der fortgeschrittenen Kongressdauer und der damit einhergehenden Müdigkeit doch etwas für mich erschwert. Die zweite Hälfte des Films war für mich leider etwas stockend und anstrengend, ich habe aber die Vermutung, dass die leichte Trägheit durch das Abendessen eine unheilige Allianz mit der allgemeinen Müdigkeit nach vier Festivaltagen einging.

Insofern war es auch etwas einfacher, sich ganz auf ein, ja das wichtigste Element des Films zu konzentrieren: auf Isabel Sarli. Sie ist keine besonders expressive Darstellerin, aber was sie außer ihrer Schönheit mitbringt ist ein alles zerfetzendes Charisma, eine alles einnehmende Leinwandpräsenz, die alles um sie herum an die Wand drückt. Wie sie die Männer (die mehr oder weniger alle erbärmliche Würstchen sind) um sie herum zur Sau macht, wenn sie ihr blöd kommen, ist die reinste Freude. Eine absolute Naturgewalt, und wie Christoph in seiner Einführung sehr schön erklärt hat: die Kamera bestaunt sehr wohl voyeuristisch ihren Körper, aber den Film auf "male gaze" zu reduzieren, greift zu kurz. LUJURIA TROPICAL ist für einen Film von 1964 und einen Film aus einem katholisch geprägten Land, das man als eher traditionell-patriachalisch einschätzen würde, verblüffend progressiv, um nicht zu sagen geradezu anarchisch in einem Verständnis von Geschlechterbeziehungen. Sarli hält nicht die andere Wange hin, wenn man sie (körperlich oder metaphorisch) schlägt, sondern haut beherzt zurück. Und einige Jahre, bevor es en vogue wurde, ist es ein Film, der Monogamie (und zwar für ALLE Beteiligten) als eher dubioses (zumindest aber nicht alleinseligmachendes) Konzept der Lebensgestaltung ansieht. Alle Männer in dem Film wollen Sarli "besitzen" und LUJURIA TROPICAL zeigt zweifelsohne, dass sie alle erbärmliche Würstchen sind. Nur der Ehemann, der macht im Laufe des Films einen Lernprozess durch, möchte sie am Ende nicht mehr nur "besitzen".

Hätte wahrscheinlich ein tolles Double-Feature mit DIE DRESSIERTE FRAU gegeben.



ab 23:15 Uhr


HK-Teaser: Eine Lustreise durch die Aborte der Republik


DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN

Regie: Marijan Vajda

BRD 1971

35mm, dt. OV mit finn. & schwed. UT

Schulmädchen-Report, Hausfrauen-Report, Ehemänner-Report, Lehrmädchen-Report, Krankenschwestern-Report – die können alle schön einpacken, denn jetzt kommt der... Toiletten-Report! Wasserlassen, Stuhlgang, Rauchen, Selbstbefriedigung, Nacktheit und sonstiges Freudiges rund um das stille Örtchen.

Ein Freund des Hofbauer-Kommandos sah ein Plakat zum Film... in einer Toilette in Finnland! Empfehlung weitergeleitet, Kopie in Finnland recherchiert und ausfindig gemacht – und bereit ist der schmissige, bizarre, brüllend komische und verblüffende Rausschmeisser dieses Kongresses. Und schloß genre-mäßig den Kreis zum Reportfilm, der diesen Kongress eröffnete.

Gemäß der Einführung von Hofbauer-Kommandant Felix wurde Marijan Vajda (1920-1997) in seiner jugoslawischen Heimat aus dem Berufsverband der serbischen Regisseure hinausgeworfen wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz. Vajda war gemäß den Daten bei IMDb schon seit 1951 tätig, vornehmlich als dokumentarischer Kurzfilm-Regisseur (von Filmen mit eher "trockenen" Titeln wie "Jugoplastika", "Die Industrie von Novi Sad", "Automechanik in Split", "Volksmuseen in Belgrad", "Nuklearreaktoren"), mit einer hohen Produktionsfrequenz, zwischen 1960 und 1962 gibt es drei Langfilme. Nach ganzen sieben Dokumentar-Kurzfilmen 1963 gibt es eine Lücke bis DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN 1971 (1976 dann sein letzter Film, die bundesdeutsch-schweizerische Koproduktion MOSQUITO DER SCHÄNDER). Auch wenn ich keine gesicherten Angaben dazu finde, scheint Marijan David Vajda, gebürtig 1950 in Belgrad, sein Sohn zu sein und war selbst als Regieassistent (u. a. bei Vajdas MOSQUITO DER SCHÄNDER, aber auch bei so unterschiedlichen Leuten wie Franklin J. Schaffner, Raúl Ruiz, Nicolas Roeg, James Mangold) und Regisseur tätig (OTTO – DER AUSSERFRIESISCHE sowie viele Filme und Episoden für das Fernsehen, u. a. POLIZEIRUF 110).

Wenn wir bei Vajda Sr. wieder zurückkehren zu Rausschmiss wegen Geschmacklosigkeit und Inkompetenz: für die Geschmacklosigkeit – sehr verdientermaßen! Und für die Inkompetenz: schwer verständlich. Was Vajda in DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN macht ist schon sehr erstaunlich: eine extrem gut gemachte Parodie des damals noch recht jungen Reportfilm-Subgenres, die so gut funktioniert, weil sie eben die Regeln und Funktionsweisen eines guten Genre-Vertreters vollkommen verinnerlicht hat; die Absurdität der Prämisse, Abenteuer durch verschiedene Klos Deutschland zu erleben, wird so weit getrieben und eskaliert, dass der Film teilweise fast schon die Anmutung eines Avantgarde-Films bekommt – der äußerst bizarre und absurde Humor, der Pointen manchmal verweigert und irgendwo zwischen Helge Schneider und einer tatsächlich recht osteuropäischen Form von Groteske schwankt, trägt seines dazu bei; und nicht zuletzt – Vajdas langjährige Erfahrung als Dokumentarfilmemacher kommt hier wohl zugute – wirkt der Film auch immer wieder wie eine Dokumentation bundesdeutscher Tristesse Anfang 1970er, nicht nur mit seinen dreckigen, schmuddeligen Klos, sondern auch mit verrauchten Eckkneipen, gänzlich unsanierten Hinterhöfen, maroden Zügen (na gut, das gibt es auch heute, aber in anderem Design), dazu – in besagter Kneipe – die faltigen Opa-Charakterfressen, die nicht nur lüstern jedem Rock hinterherschauen, sondern von früher, vom Krieg schwärmen.

Letzteres führte dann in einer kleinen Rückblende auch zu einer Episode, die das bereits leicht von den frühen Abreisen ausgedünnte Publikum zu rasendem Tosen brachte: das Gemeinschafts-Scheissen auf den Feld-Latrinen an der Front des (Ersten) Weltkriegs (ein Schild über den Latrinen verkündet "Für Kaiser, Volk und Vaterland"). DAS BUMSFIDELE HÄUSCHEN ist in der Erinnerung aufgrund seiner Programmierung als letzter Film nach einem langen Festival etwas verblasst, Details nicht mehr so präsent, aber diese Episode bleibt natürlich hängen! Eine Verfolgungsjagd, bei der Polizisten versuchen, Wildpinkler zu fangen, ist aufgrund des Pointen-Bonmots auch gut hängen geblieben: "Auch ein Hippie muss mal Pipi". Und besonders schön: eine unbekleidete Frau, die in ihrer Wohnung abhängt, eine Platte auflegt und dann mit einem roten Plastikvogel spielt, das von der Decke an einer Feder hängt – dieses einfach endlos auf- und abwippen lässt.