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Samstag, 5. August 2017

Ritter Eisenstein erstürmt La Sarraz

Der erste Internationale Kongress des Unabhängigen Films, 1929 in der Schweiz

Es gibt ein Foto, das Sergej M. Eisenstein (nicht besonders gut erkennbar) zeigt, wie er im Stil eines Ritters von der traurigen Gestalt auf einem Gestell sitzt, vor sich auf dem Boden den Brustharnisch einer Rüstung. Auf dem Kopf trägt Eisenstein einen Ritterhelm mit Straußenfedern, und unter dem Arm hat er eine lange Lanze, an der etwas befestigt ist, das verdächtig nach einer Filmapparatur aussieht. Was hat es damit auf sich? Ist es ein bloßer Jux im Stil des in Mexiko entstandenen Fotos mit dem Peniskaktus? Oder legt Eisenstein eine Rüstung an, um sich bei den Dreharbeiten zu ALEXANDER NEWSKIJ unter sein Riesenheer an Komparsen zu mischen, mit dem er die Ritterschlacht auf dem zugefrorenen Peipussee nachstellt? Etwa im Stil eines Königs oder Feldherrn in einem Shakespeare-Drama, der sich in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht inkognito unter seine Soldaten mischt, um die Stimmung zu erkunden?

Nein, natürlich alles Blödsinn. Das Foto entstand 1929 in einem Ort in der Westschweiz, wo Eisenstein am ersten Internationalen Kongress des Unabhängigen Films (Congrès international du cinéma indépendant, CICI) teilnahm. Bei dieser Gelegenheit drehte er mit seinen anwesenden Kollegen als Abwechslung zu den teilweise trockenen Debatten einen kurzen allegorischen Film über den siegreichen Kampf des Avantgardefilms gegen den Kommerzfilm. Dieses Kuriosum ist leider seit 1930 (wo es in Tokio gezeigt wurde) verschollen, aber zum Glück gibt es wenigstens viele Fotos von den Dreharbeiten.

Man erkennt ihn nicht gut, aber es ist Eisenstein als General Don Quijote
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)

DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ / TEMPÊTE SUR LA SARRAZ, auch STURM ÜBER LA SARRAZ und weitere Abwandlungen (alles informelle Titel), KOKUSAI DOKURITSU EIGA KAIGI (Japan)
Schweiz 1929 (verschollen)
Regie: Sergej Eisenstein und (wahrscheinlich) Hans Richter
Darsteller: Teilnehmer des Kongresses

La Sarraz und der Kongress


Im Kanton Waadt (franz. Vaud) liegt ungefähr 15 km nördlich des Genfer Sees das Städtchen La Sarraz, das heute ungefähr 2500 Einwohner hat. Zu den Sehenswürdigkeiten des Orts zählt das Château de La Sarraz, architektonisch mehr eine Burg als ein Schloss. Seinerzeitige Eigentümerin und Bewohnerin des Château war Madame Hélène de Mandrot (1867-1948). Sie entstammte dem Genfer Großbürgertum, und ihr 1920 verstorbener Mann Henry de Mandrot hatte in Texas zusätzlich Geld gemacht und das Château geerbt. Mme de Mandrot war den modernen Künsten zugetan. Sie hatte selbst in Genf, Paris und München Kunst studiert und sich auch als Kunsthandwerkerin betätigt, als sie in Paris lebte. Sie und ihr Mann sammelten nicht nur Kunstwerke, sondern sie betätigten sich auch als Mäzene. 1922 gründete Hélène de Mandrot das Maison des Artistes de La Sarraz als ein Versammlungszentrum. Im Juni 1928 lud sie zum ersten der beiden Kongresse, die ihr bleibenden Nachruhm eintrugen, ins Château: Zum Congrès International d'Architecture Moderne (CIAM). Der CIAM wurde zu einer festen Organisation, die solche Größen wie Le Corbusier und Walter Gropius zu ihren Mitgliedern zählte. Bis 1959 gab es in wechselnden Städten zehn Nachfolgekongresse, die sich jeweils Fragen der zeitgenössischen Architektur und Stadtplanung widmeten. Damit erwies sich der erste Kongress von 1928 als Ausgangspunkt einer einflussreichen Entwicklung.

Nach diesem Erfolg sollte es nun 1929 beim nächsten größeren Kongress um den "unabhängigen Film" gehen, was in etwa gleichbedeutend mit "Avantgardefilm" verstanden wurde. Die Eingebung zu diesem Thema wird je nach Quelle Robert Aron von der progressiven Pariser Filmzeitschrift Du cinéma (die unmittelbar nach dem Kongress in La Revue du cinéma umbenannt wurde) oder Robert Guye vom Genfer Ciné-Club zugeschrieben. Beide waren schon länger mit Mme de Mandrot bekannt und auch schon mehrfach im Château gewesen, wären also plausible Kandidaten für die Idee zum Kongress. Robert Aron wurde jedenfalls mit der Organisation betraut, anscheinend als Teil eines Komitees, dem außer ihm auch noch u.a. André Gide, Luigi Pirandello und Filippo Tommaso Marinetti angehört haben sollen. In La Sarraz anwesend war dann von diesem Komitee aber nur Aron, der den Vorsitz des Kongresses führte. Der Arbeitsplan wurde aber schon in der Vorbereitungsphase recht detailliert festgelegt, denn er findet sich in den von Aron verschickten Einladungsschreiben (mindestens eines davon, nämlich das an Alberto Sartoris, hat die Zeiten überdauert und kann hier gelesen werden). Neben den Debatten war für die Abende auch die Vorführung aktueller Avantgardefilme vorgesehen. Der Kongress fand schließlich vom 3. bis zum 7. September 1929 im Château von La Sarraz statt.

Die Teilnehmer


Die Teilnehmer des Kongresses setzten sich grob betrachtet aus drei Kategorien zusammen: Filmschaffende aus dem Avantgardesektor, progressive Filmkritiker sowie Gründer und Betreiber von Filmligen, Ciné-Clubs und dergleichen (aber natürlich konnte man auch mehr als nur einer dieser Kategorien angehören). Die Teilnehmer wurden zu nationalen Delegationen zusammengefasst (wobei man auch ein anderes als sein Herkunftsland vertreten konnte), insgesamt waren so elf Länder vertreten, nämlich Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, Spanien, die Sowjetunion und die USA. Die Delegationen bestanden aus folgenden Mitgliedern:

Deutschland
Béla Balázs, Hans Richter, Walter Ruttmann

Frankreich
Robert Aron, Jean George Auriol, Janine Bouissounouse, Alberto Cavalcanti, Léon Moussinac

Großbritannien
Jack Isaacs, Ivor Montagu

Italien
Enrico Prampolini, Alberto Sartoris

Japan
Hiroshi Higo, Moichiro Tsuchiya

Niederlande
Mannus Franken

Österreich
Fritz Rosenfeld

Schweiz
Robert Guye, Arnold Kohler, Alfred Masset, Georg Schmidt

Spanien
Ernesto Giménez Caballero

Sowjetunion
Grigori Alexandrow, Sergej Eisenstein, Eduard Tissé

USA
Montgomery Evans


Eisenstein vor dem Château
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)

Der damals schon bekannte Filmtheoretiker Béla Balázs (1884-1949), wiewohl Ungar, war also Mitglied der deutschen Delegation - er lebte seit 1926 in Berlin und schrieb seine filmtheoretischen Hauptwerke auf Deutsch. Er schrieb auch Drehbücher, u.a. war er an Leni Riefenstahls DAS BLAUE LICHT beteiligt (Riefenstahl prellte ihn aber um sein Honorar dafür). Als Jude und Kommunist emigrierte er nach Moskau, nach Kriegsende kehrte er nach Ungarn zurück. Hans Richter, sein schwedischer Freund und Kollege Viking Eggeling (die beide der Dada-Bewegung angehörten) und Walter Ruttmann (eigentlich Walther Ruttmann, aber seit 1929 ließ er das "h" im Vornamen weg) lieferten sich Anfang der 20er Jahre so etwas wie ein Wettrennen um den ersten deutschen abstrakten Film (das Ruttmann gewann). Eggelings Rollenbilder wie "Horizontal-Vertikal-Messe" (1919) waren direkte Vorläufer davon, und auch Hans Richter (1888-1976) versuchte sich darin, dann arbeiteten er und Eggeling in einem kleinen Ort in Brandenburg an ihrem jeweils ersten Film, wobei sie von zwei Tricktechnikern der UFA unterstützt wurden. Richters RHYTHMUS 21 war in einer vorläufigen Fassung 1921 fertig (worauf der Titel anspielt), aber er arbeitete weiter daran, und unter dem neuen Titel FILM IST RHYTHMUS war er dann 1923 endgültig fertig. Danach drehte Richter etliche dadaistische bis surrealistische Filme, wie VORMITTAGSSPUK (1928). 1933 ging er in die Emigration, ab 1940 war er in den USA. Dort realisierte er von 1944 bis 1947 den surrealen DREAMS THAT MONEY CAN BUY, bei dem Freunde und Kollegen von Richter wie Max Ernst, Fernand Léger, Man Ray und Marcel Duchamp mitwirkten und Teile der Regie übernahmen. Produziert wurde der Film von Richter und Kenneth Macpherson, dem früheren Mitherausgeber von Close Up, mit Geld von Peggy Guggenheim. Viking Eggelings DIAGONAL-SYMPHONIE wurde 1924 fertig, und auch er geriet zu einem Klassiker des abstrakten Films. Wenn Eggeling nicht schon 1925 gestorben wäre, wäre er bestimmt auch nach La Sarraz eingeladen worden. Walter Ruttmann (1887-1941) vollendete sein abstraktes LICHTSPIEL OPUS 1 1921 und kam Richter damit knapp zuvor. OPUS 1 wird gelegentlich als erster abstrakter Film überhaupt bezeichnet (das stimmt allerdings nicht, weil die beiden italienischen Brüder Bruno Corra und Arnaldo Ginna, die dem Futurismus nahestanden, schon um 1910 welche machten - diese sind allerdings verschollen, es existieren nur verbale Beschreibungen). OPUS 1 zeichnet sich (im Gegensatz zu den Filmen von Richter und Eggeling) durch Farbe aus, und es gab auch eine Originalmusik, die Ruttmanns Freund Max Butting komponiert hatte. Es folgten noch drei weitere abstrakte OPUS-Filme, und Ruttmann arbeitete auch an Lotte Reinigers DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED mit, und er steuerte zu Fritz Langs DIE NIBELUNGEN die kurze Falkentraumsequenz bei. Für all diese Projekte hatte Ruttmann einen Tricktisch mit drei horizontalen Glasplatten konstruiert, den er sich patentieren ließ. 1927 folgte sein nächster Streich mit BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT, der klassischen Großstadtsymphonie, die dem Genre den Namen gab. Ruttmann war auch ein Pionier des Tonfilms in Deutschland, und er schuf mit "Weekend" eines der ersten experimentellen Hörspiele, vielleicht das erste überhaupt (aber mit solchen Zuschreibungen muss man ja vorsichtig sein). Und ab 1933 machte er dann Propagandafilme für die Nazis - eine schwer begreifbare Entwicklung. Ruttmanns Tod 1941 verhinderte, dass er sich dazu erklären musste. - Aus Deutschland wurden möglicherweise auch noch Lupu Pick und G.W. Pabst eingeladen, aber falls das wirklich so war, konnten oder wollten sie nicht kommen - sie waren jedenfalls nicht da.

Drei der offiziellen französischen Kongressteilnehmer (sowie zwei Dolmetscher) kamen von der monatlich erscheinenden, progressiven Pariser Filmzeitschrift Du cinéma bzw. La Revue du cinéma, wie sie ab der Ausgabe Nr. 4 im Oktober 1929 hieß, nämlich Aron, Auriol und Bouissounouse. Robert Aron (1895-1975), wie schon erwähnt der Hauptorganisator und Leiter des Kongresses, war Mitherausgeber und Kritiker bei der Zeitschrift. Als Gaston Gallimard, der Verleger des Blatts, Anfang der 30er Jahre die kurzlebige Filmproduktionsgesellschaft Nouvelle société de films (NSF) gründete, war Aron in diesem Zusammenhang an der Produktion von Jean Renoirs MADAME BOVARY beteiligt. Später betätigte sich Aron zeitweise in der Politik sowie als Schriftsteller und Historiker. Für seine Meriten auf diesen Gebieten brachte er es bis zum Mitglied der Académie française und zum Offizier der Ehrenlegion. Jean George Auriol (1907-1950) war Gründer und Herausgeber von Du cinéma/La Revue du cinéma. Mit 22 Jahren war er der jüngste Kongressteilnehmer. In den 30er und 40er Jahren schrieb Auriol auch etliche Drehbücher. La Revue du cinéma stellte 1932 nach 29 Ausgaben ihr Erscheinen ein, von 1946 bis 1949 gab es aber eine Neuauflage mit 20 weiteren Ausgaben, wiederum mit Auriol als Herausgeber. Zu den Mitarbeitern der Zeitschrift in dieser Spätphase zählten André Bazin, Jacques Doniol-Valcroze und Joseph-Marie Lo Duca. Nachdem Auriol 1950 bei einem Autounfall starb, gründeten die genannten drei Mitarbeiter 1951 in seinem Geist eine neue Zeitschrift, die als Cahiers du cinéma in die Geschichte einging. Janine Bouissounouse (1903-1977/78, je nach Quelle), die einzige weibliche Kongressteilnehmerin, war Kritikerin bei Du cinéma/La Revue du cinéma. 1927 wirkte sie als Regieassistentin und Darstellerin bei zwei Filmen von Alberto Cavalcanti mit. Später war sie Romanautorin und Historikerin, teilweise in Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann Louis Héron de Villefosse. Der Brasilianer Alberto Cavalcanti (1897-1982) lebte und arbeitete in den 20er Jahren in Frankreich, wo er sich seine ersten Lorbeeren als Regisseur erwarb, etwa mit der Pariser Proto-Großstadtsymphonie RIEN QUE LES HEURES von 1926. 1933 ging Cavalcanti nach England, wo er sich der Dokumentarfilmbewegung um John Grierson anschloss und bald eine führende Rolle darin übernahm. Den einen oder anderen Spielfilm drehte er aber auch. Léon Moussinac (1890-1964) war seinerzeit wohl der bekannteste kommunistische Filmkritiker Frankreichs. Neben anderen Blättern schrieb er für die kommunistische Parteizeitung L'Humanité. Arnold Kohler schrieb 1963, dass Moussinac "zu den kultiviertesten Menschen gehörte, die man sich vorstellen kann", und Hans Richter bezeichnete ihn in seinen Memoiren "Köpfe und Hinterköpfe" von 1967 als den "bedeutendsten französischen Filmkritiker jener Tage". Moussinac war auch Organisator diverser Ciné-Clubs, so brachte er etwa 1926 als erster PANZERKREUZER POTEMKIN nach Frankreich. Während der Besatzung war er in der Résistance, und nach dem Krieg leitete er zwei Jahre lang die Pariser Filmhochschule IDHEC. Schon 1927 hatte Moussinac in Moskau Freundschaft mit Eisenstein geschlossen, und nun in La Sarraz sowie in den folgenden Monaten mehrfach in Frankreich konnten die beiden ihre Freundschaft erneuern. Danach blieben sie brieflich in Kontakt. Als etwa Eisenstein einmal aus Kalifornien schrieb, dass in Hollywood alle außer Lubitsch und Sternberg Idioten seien, waren Moussinac und seine Frau die Adressaten. 1964 veröffentlichte Moussinac ein Buch über Eisenstein und seine Freundschaft mit ihm. Mit Béla Balázs und Wsewolod Pudowkin war er auch befreundet.

Der Geist des unabhängigen Films (Janine Bouissounouse)
ist an das finstre Gemäuer des Kommerzfilms gekettet
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Ivor Montagu (1904-1984), als Sohn eines aristokratischen Bankiers in London geboren, war eine äußerst illustre Persönlichkeit. Er hatte Botanik und Zoologie studiert und war ein linker Politiker und Aktivist, zuerst in der British Socialist Party und dann in der Communist Party of Great Britain. 1925 gründete er zusammen mit dem späteren Medienunternehmer Sidney Bernstein und weiteren Mitstreitern die London Film Society, die nicht nur einer der ersten, sondern auch mitgliederstärksten, erfolgreichsten und langlebigsten Filmclubs überhaupt war (wobei später auch der Regisseur Thorold Dickinson als technischer Direktor eine wichtige Rolle spielte). In den 20er und 30er Jahren war Montagu auch wiederholt als Cutter und Produzent im kommerziellen Film tätig, und in diesen Funktionen war er an einigen Filmen von Alfred Hitchcock beteiligt. In derselben Zeit inszenierte er auch selbst einige Kurzfilme. Montagu war auch ein erstklassiger Tischtennisspieler, und 1926 gründete er sowohl den britischen als auch (mit anderen) den Tischtennis-Weltverband, und beiden Verbänden stand er vier Jahrzehnte als Präsident vor. Als ob das alles noch nicht reichen würde, war Montagu möglicherweise auch ein sowjetischer Spion (aber wenn, dann kein bedeutender), während sein älterer Bruder Ewen Montagu gleichzeitig Agent im MI6 war. Ivor Montagu schloss in La Sarraz enge Freundschaft mit Eisenstein, er lud ihn dann nach London in die Film Society ein, und 1930 begleiteten Montagu und seine Frau Eisenstein, Alexandrow und Tissé nach Hollywood. Darüber schrieb er 1968 das Buch "With Eisenstein in Hollywood". Jack Isaacs (1896-1973), eigentlich Jacob Isaacs, war ein frühes und sehr aktives Mitglied der London Film Society, aber er führte ein weit ruhigeres Leben als Montagu, das er der Lehre der englischen Literatur widmete. Zu Isaacs' Spezialgebieten zählten Shakespeare und seine Zeitgenossen sowie englische Literatur des 19. Jahrhunderts. Nach seiner Assistentenzeit in Wales war er in den 20er und 30er Jahren Dozent am King's College in London. Von 1942 bis 1945 war er Professor für Englisch an der Hebräischen Universität in Jerusalem (obwohl er zunächst überhaupt nicht Hebräisch konnte), dann wieder in England, zuletzt als Lehrstuhlinhaber am Queen Mary College in London.

Enrico Prampolini (1894-1956) und Alberto Sartoris (1901-1998) repräsentierten die italienischen Ciné-Clubs. Prampolini, ein Vertreter des Futurismus, war abstrakter Maler sowie Bühnen- und Filmarchitekt. Und ebenso wie der futuristische Vordenker Filippo Tommaso Marinetti, war er ein Anhänger des italienischen Faschismus. Alberto Sartoris war ein italienisch-schweizerischer Architekt (er lebte meist in Genf), und in der ersten Hälfte der 20er Jahre war auch er Mitglied der Futuristen. Er setzte sich zeitlebens für moderne, rationelle Architektur ein und gab 1948-57 eine dreibändige Enzyklopädie zu diesem Thema heraus. Sartoris war auch schon 1928 Teilnehmer des Architekturkongresses in La Sarraz.

Hiroshi Higo und Moichiro Tsuchiya (es kursieren auch andere Schreibweisen der Namen) repräsentierten Japan in La Sarraz. Hiroshi Higo war von der japanischen Liga für den proletarischen Film (Pro-Kino), die 1928 von einem Künstler- und Schriftstellerverband gegründet worden war, der der Kommunistischen Partei Japans nahestand (und 1934 von der Regierung verboten wurde). Higo betrieb auch seit 1927 ein Kino in Tokio, und er verbrachte 1929 längere Zeit in Europa, um das hiesige Filmwesen zu studieren, und um Filmkopien für die Mitnahme nach Japan auszuwählen. Ein Hiroshi Higo taucht 1950 als einer der Produzenten von Yasujiro Ozus DIE SCHWESTERN MUNEKATA auf, aber ich bin nicht sicher, ob es sich um denselben handelt. Moichiro Tsuchiya war Pariser Korrespondent von Kinema Junpo, der ältesten und bedeutendsten japanischen Filmzeitschrift.

Mannus H.K. Franken (1899-1953) ging nach einer Zeit als Filmkritiker in Paris zurück in die Niederlande und drehte einige Kurzfilme, teils allein und teils gemeinsam mit seinem Landsmann Joris Ivens. In Amsterdam und in Rotterdam wurde 1927 je ein Filmclub unter dem Namen "Filmliga" gegründet, woraus die Niederländische Filmliga entstand, in der Franken aktiv war. Später ging er als eine Art filmischer Entwicklungshelfer nach Indonesien. Der österreichische Schriftsteller und Journalist Fritz Rosenfeld (1902-1987), auch unter dem Namen Friedrich Feld bekannt, war Kulturredakteur bei der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung in Wien. Nach dem kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934, der den Sieg des Austrofaschismus brachte, ging Rosenfeld/Feld zunächst nach Prag, wo er für die dortige Niederlassung der Paramount arbeitete, 1939 zog er weiter nach England. Er war aber auch schon vorher zumindest zeitweilig dort, denn 1936 war er Zeuge bei den Dreharbeiten zu Friedrich Fehérs THE ROBBER SYMPHONY (worüber er in REQUIEM VOOR EEN FILM berichtet). Nach dem Krieg blieb er in England, und 1948 wurde er britischer Bürger, aber er schrieb dann bis 1956 wieder Filmkritiken für die Arbeiter-Zeitung.

Die Schweiz stellte nach Frankreich die größte Delegation auf dem Kongress. Robert Guye, Arnold Kohler (1899-1991) und Alfred Masset (1903-1969) waren alle vom Ciné club de Genève. Was Guye sonst noch so gemacht hat, ist mir nicht bekannt, aber wie schon erwähnt, könnte er eine der treibenden Kräfte hinter dem Kongress gewesen sein. Arnold Kohler war Kritiker, und Alfred Masset war 1928 Mitgründer der Genfer Produktionsgesellschaft Cinégram, die u.a. eine Wochenschau produzierte, die jahrzehntelang in der Schweiz gezeigt wurde. Der Kunsthistoriker Dr. Georg Schmidt (1896-1965) vom Schweizerischen Werkbund war damals Bibliothekar des Basler Gewerbemuseums, von 1939 bis 1961 dann Direktor des Basler Kunstmuseums. Sein Bruder, der Architekt Hans Schmidt, hatte 1928 am Architekturkongress teilgenommen.

An der Schärpe erkennt man es: Hier kämpft einer der Guten
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Der spanische Schriftsteller und Diplomat Ernesto Giménez Caballero (1899-1988) war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift La Gaceta Literaria in Madrid. Einige Filme hat er auch inszeniert, und in La Sarraz war er als Vertreter des Cine Club Español. Aus mir nicht bekannten Gründen erschien er erst am 5. September, also am dritten Kongresstag. Giménez Caballero war ein Vordenker und prominentes Mitglied der faschistischen Falange, die ein Wegbereiter und Stützpfeiler der Franco-Diktatur wurde. Dafür bekam er dann später einen Posten als Botschafter in Paraguay. Angeblich verfolgte er zeitweise den Plan, Pilar Primo de Rivera, die Schwester des Falange-Gründers, mit Hitler zu verheiraten. Montgomery Evans II (1901-1954) besaß und betrieb 1925/26 das Arthouse-Kino Fifth Avenue Playhouse in Greenwich Village in New York, das dort 1925 an der Stelle eines abgebrannten Theaters eröffnete, und er stellte in dieser Zeit Filmprogramme für die New Yorker Screen Guild zusammen. In Quellen, die sich auf La Sarraz beziehen, wird er auch als Kritiker bezeichnet, aber das dürfte kaum seine Hauptbeschäftigung gewesen sein - die bestand offenbar darin, ein wohlhabender Büchersammler zu sein.

Warum Sergej M. Eisenstein, Grigori Alexandrow und Eduard Tissé 1929/30 in verschiedenen europäischen Ländern herumfuhren, und was sie dann in Hollywood erlebten, habe ich schon in diesem Artikel erzählt und will es hier nicht wiederholen. Trotz der Anwesenheit von Ruttmann und Richter war Eisenstein zweifellos der Star in La Sarraz. Das sahen auch die meisten Teilnehmer so. Janine Bouissounouse etwa erinnerte sich 1977: "Unnötig zu sagen, was für uns, die demütigen Bewunderer des PANZERKREUZER POTEMKIN, diese Begegnung mit dem großen Regisseur bedeutete. Wir erwarteten ihn mit Ungeduld, neugierig auf das, was er uns sagen würde und bedacht auf die Fragen, die wir ihm stellen wollten." Und Arnold Kohler schrieb 1963 in einem Erinnerungstext: "Eisenstein war eine Art mythologischer Halbgott." Auch Hélène de Mandrot war von den drei Russen angetan, vor allem wegen ihrer vorzüglichen Manieren. "Ach, die Bolschewiki, die Bolschewiki - das sind die einzigen Gentlemen" soll sie beim Abschied gesagt haben - so behauptet es jedenfalls Eisenstein in seinen Memoiren "Yo. Ich selbst". Und Kohler im gerade erwähnten Text: "Und so kamen eines Tages nicht drei Schurken mit Verbrechergesicht an, sondern drei gewandte und vornehme Herren. Besonders Eisensteins Manieren waren von ausgesuchter Höflichkeit. Hélène de Mandrot warf uns einen triumphierned-ironischen Blick zu und sagte: 'Sie sind besser erzogen als wir alle!'"

Dabei war Eisenstein nur die Zweitbesetzung. Eigentlich war nämlich Dsiga Wertow, der 1929 einige Zeit in Deutschland verbrachte, als sowjetischer Vertreter eingeladen, und er wollte auch kommen. Doch aus verschiedenen Gründen kam das doch nicht zustande, und so wurde Eisenstein, der erst am 21. August in Berlin angekommen war, von Hans Richter, der auch gerade in Berlin war, kurzfristig nachnominiert. Mit dem Segen der zuständigen Behörden in Moskau versehen, war Eisenstein nun der offizielle sowjetische Delegierte, und Alexandrow und Tissé fuhren auch mit. Doch es gab ein bürokratisches Problem: Die Schweiz unterhielt keine diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion, und deshalb erhielten Sowjetbürger normalerweise keine Visa für die Schweiz. Schon 1928 hatten deshalb El Lissitzky und zwei weitere vorgesehene Delegierte nicht an der CIAM-Konferenz in La Sarraz teilnehmen können, und jetzt erhielten Eisenstein und seine beiden Genossen auch keine regulären Visa. Da kam die Rettung in Person von Lazar Wechsler, der sich gerade anschickte, mit seiner 1924 gegründeten Praesens-Film der führende Produzent des frühen Schweizer Films zu werden. Wechsler war zufällig gerade in Berlin, und als er von Eisensteins Problem hörte, erbot er sich, die drei Russen mit seiner Limousine über die Grenze zu bringen. Über die genauen Umstände des Grenzübertritts kursieren schöne Geschichten. Laut der Eisenstein-Biografin Oksana Bulgakowa gab Wechsler die drei Russen an der Grenze als seine Söhne aus. Das klingt allerdings wenig plausibel, schließlich war Wechsler gerade mal ein bzw. zwei Jahre älter als Tissé und Eisenstein. Ebenfalls bei Bulgakowa findet man die Behauptung, Wechsler habe an der Grenze darauf bestanden, dass sein Auto so etwas wie eine (ziemlich mobile) Immobilie sei, also rollender Privatgrund, und dafür brauche es überhaupt keine Visa. Ob er wirklich mit dieser eigenwilligen Argumentation die Schweizer Grenzer überzeugen konnte, sei dahingestellt, aber jedenfalls schaffte er es irgendwie, die Russen nach La Sarraz zu chauffieren. Sie kamen am 4. September an, dem zweiten Kongresstag.

Auch Auriol gehört zu den Guten - die um den Arm gewickelte Ausgabe
von Du cinéma beweist es. Eine Schreibmaschine wird zum Maschinengewehr
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Wechsler hatte sich als Gegenleistung ausbedungen, dass die drei für ihn einen Film in der Schweiz drehen sollten, der Propaganda gegen die Schweizer Abtreibungsgesetze machen sollte, die damals (wie fast überall in Europa) sehr streng waren. Auch diesen Film, der schließlich unter dem Titel FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK realisiert wurde, hätte ursprünglich eigentlich Dsiga Wertow drehen sollen. Nach Ankunft in La Sarraz waren die bürokratischen Hemmnisse noch nicht vorbei. Die Polizei wusste von Anfang an über die Anwesenheit der Russen Bescheid und hätte sie sofort wieder abschieben können. Doch laut Oksana Bulgakowa war der zuständige Kommandeur ein Fan von Eisenstein und erteilte deshalb eine Sondererlaubnis. Laut Arnold Kohler waren allerdings erst hartnäckige Verhandlungen seitens Hélène de Mandrot nötig, die ihre erstklassigen Beziehungen spielen ließ. Aber jedenfalls erhielten die Russen eine Sondergenehmigung, allerdings unter der Auflage, das Gelände des Château nicht zu verlassen. Dagegen verstießen sie aber nach dem Kongress, als sie in Zürich FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK drehten (sie wohnten dort bei Wechsler), und Eisenstein ließ es sich auch nicht nehmen, in Zürich den einen oder anderen Vortrag zu halten. Das ging natürlich nicht ohne Aufsehen, und schließlich verloren die Schweizer Behörden die Geduld. Am 18. September wurden die Russen mit sofortiger Wirkung ausgewiesen, und schon am nächsten Tag waren sie wieder in Berlin. Die bürokratischen Schikanen veranlassten einige von Eisensteins Freunden zu ironischen Bemerkungen. Hans Richter etwa schrieb 1967 in "Köpfe und Hinterköpfe": "Die Schweizer Fremdenpolizei, in Besorgnis, was S.M. Eisenstein, dieser weltberühmte Russe, eventuell an Weltrevolutionen anstellen möchte, hatte ihm ausdrücklich verboten, sich auch nur einen Schritt ohne spezielle Erlaubnis von Madame de Mandrots Schloß zu entfernen. Man konnte ja nie wissen?" Noch süffisanter Léon Moussinac in einem Brief an Eisenstein: "Wer weiß, was diese Bolschewiki alles anstellen können! Womöglich stürzen sie die Regierung oder entführen den Genfer See, um ihn ins Asowsche Meer zu gießen."

Neben den offiziellen Delegierten nahmen noch zwei Mitarbeiter von Du cinéma als Dolmetscher teil: André R. Maugé für Englisch und Jean Lenauer für Deutsch. Der in Wien geborene Lenauer (1904-1983) war auch einer der beiden Pariser Korrespondenten von Close Up (sein Bericht über den Kongress erschien in der Ausgabe vom Oktober 1929). 1936 übersiedelte er in die USA, und wenige Jahre vor seinem Tod ging er unter die Schauspieler: In Louis Malles MY DINNER WITH ANDRE spielte er den Kellner. Mit seiner Aufgabe als Übersetzer stieß er jedoch zumindest beim anspruchsvollen Vortrag von Eisenstein über "Nachahmung [in der Kunst] als Beherrschung" (den dieser auf Deutsch hielt) an seine Grenzen, wie Kohler 1963 berichtete: "In weiser Voraussicht hatte Robert Aron für alle Fälle einen jungen Mann mitgebracht, der als Übersetzer dienen sollte. Ach! Besagter junger Mann, der keine Erfahrung in diesem schwierigen Metier besaß und schon gleich zu Beginn den besonders schwierigen Eisenstein dolmetschen sollte, verfiel in ein totales Abracadabra. Nach drei Sätzen stimmten diejenigen, die Deutsch konnten, ein solches Protestgeschrei an, daß der Unglückliche seine Glanzleistung abbrach. Allerdings rächte er sich dafür. In die Enge getrieben, war keiner von uns Germanisten in der Lage, ihn zu ersetzen. So blieb der Vortrag von Eisenstein für zwei Drittel der Kongreßteilnehmer unverständlich."

Am einen oder anderen Kongresstag waren auch Gäste im Château anwesend, die eingeladen wurden oder aus eigenem Antrieb vorbeischauten: Neben Wechsler beispielsweise die Schriftsteller Paul Budry und Charles-Ferdinand Ramuz, der Genfer Maler Gustave François, der Zeichner und Karikaturist Géa Augsbourg und der Werbegrafiker und Maler Pierre Zénobel (1905-96), der ein Vertrauter von Mme de Mandrot war. Zénobels Anwesenheit erwies sich im Nachhinein als wichtig, weil er eine Menge Fotos von den Kongressteilnehmern und insbesondere von den Dreharbeiten zu DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ geschossen hat, die nun, da der Film selbst verschollen ist, wichtige und interessante Dokumente darstellen - hier sind einige davon versammelt, aber es gibt noch viel mehr. Es war aber auch ein professioneller Fotograf anwesend, Jéchiel Feldstein (bzw. Feldstein-Imbert) aus Lausanne (ursprünglich kam er aus Odessa), der einige Gruppenfotos der Teilnehmer anfertigte. Zumindest ein Foto bei den Dreharbeiten (mit Eisenstein, der Auriol instruiert) hat aber auch er geschossen, denn ein Set mit fünf Abzügen wurde 2009 für 1250 € versteigert. Wahrscheinlich haben auch einige der Kongressteilnehmer Fotos geknipst, aber die dürften in alle Winde zerstreut sein. Aber die Fotos von Feldstein und Zénobel, die nach dem Kongress in La Sarraz verblieben, befinden sich heute in der Obhut der Cinémathèque suisse in Lausanne.

Gruppenbild mit Dame


Foto von Jéchiel Feldstein (Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Links stehend Robert Aron; jeweils von links nach rechts: hintere Reihe Jean George Auriol, André R. Maugé, Arnold Kohler, Jack Isaacs, Fritz Rosenfeld, Enrico Prampolini, Montgomery Evans, Moichiro Tsuchiya; mittlere Reihe Ivor Montagu, Alberto Sartoris, Jean Lenauer, Alfred Masset, Robert Guye, Mannus Franken, Georg Schmidt; vordere Reihe Léon Moussinac, Walter Ruttmann, Béla Balázs, Sergej Eisenstein, Hiroshi Higo, Hans Richter; ganz vorne Grigori Alexandrow, Eduard Tissé, Janine Bouissounouse. Es fehlen Alberto Cavalcanti und Ernesto Giménez Caballero. Identifizierung der Abgebildeten nach Roland Cosandey.

Debatten und Ergebnisse


Am ersten Kongresstag erstatteten zunächst die Delegationen Bericht, wie es um den unabhhängigen Film im jeweiligen Land bestellt sei. Positiv war die Situation in den Niederlanden, in der Schweiz und in Großbritannien, wo es erfolgreiche, mitgliederstarke Filmclubs bzw. -ligen gab, und wo man auch wenig oder gar nicht unter Zensur oder Kontingentierung (also Quotenregelungen, was die Einfuhr ausländischer Filme betraf) litt. Auch in den USA zeigte die Entwicklung nach oben, aber für alle anderen Länder wurde die Situation als eher schlecht bis düster dargestellt. Dann ging man ans eigentliche Arbeitsprogramm (das, wie oben schon angedeutet, teilweise schon im Voraus festgelegt war): Es sollte eine unabhängige Produktionsgesellschaft auf genossenschaftlicher Basis gegründet werden, die die Produktion von Avantgardefilmen frei von kommerziellen Zwängen ermöglichen sollte; es sollte eine weitere Organisation ins Leben gerufen werden, die die internationale Distribution unabhängiger Filme gewährleisten sollte; und es sollte die Frage von Zensur und Kontingentierung erörtert werden. Zu diesen Zwecken wurden die Delegierten auf drei Arbeitsgruppen verteilt. Bei den Debatten kam es zu Meinungsverschiedenheiten darüber, was genau eigentlich ein "unabhänhgiger Film" sein soll. Dabei ging es vor allem darum, wie massenkompatibel so ein Film sein kann, darf oder muss. Die Hauptantipoden waren dabei Balázs und Richter. Balázs drängte darauf, dass auch Avantgardefilme ein möglichst großes Publikum erreichen sollten. "Falls das Wort 'unabhängig' die gleiche Bedeutung wie 'abstrakt' bekäme, könne der Kongreß seine Arbeit auch gleich einstellen", so Balázs nach einem Kongressbericht von Mannus Franken. Richter dagegen erklärte den Spielfilm für "überwunden" und meinte, ein Avantgardefilmer müsse nicht die geringste Rücksicht auf den Massengeschmack nehmen. Letztlich konnte man sich bei der Definition von "unabhängiger Film" nur auf eine ziemlich blumige, aber wenig trennscharfe Formel von Aron einigen: "Der unabhängige Film muss sein wie ein Eisenbahnunglück - das heißt, er erklärt sich nicht, er wird gespürt." Balázs hatte übrigens auch Einwände gegen den oben erwähnten Vortrag von Eisenstein (er war einer derjenigen, die ihn verstanden). Eisenstein konstruierte darin einen Gegensatz zwischen dem (oberflächlichen) Erscheinungsbild und dem "Wesen" der Dinge, und er forderte, dass sich filmische Nachahmung auf den zweiten und nicht den ersten Punkt konzentrieren müsse. Balázs hielt diesen konstruierten Gegensatz für eine Illusion. In seinem 1930 erschienenen Buch "Der Geist des Films" ging er darauf ein und bezeichnete Eisenstein diesbezüglich als "rettungslos kantianischen Dualisten". Hans Richter hinwiederum bezeichnete Balázs eine Woche nach dem Kongress in einem Brief an Dsiga Wertow (mit dem er befreundet war) als "Spielfilmreaktionär", und er unterstrich das Wort sogar.

Es gab also ideologischen Streit, aber bei den organisatorischen Aufgaben, die man sich gesetzt hatte, kam man ans Ziel. Es wurde ein internationaler Dachverband der Filmligen und Ciné-Clubs (Ligue Internationale du Film Indépendant) mit (vorläufigem) Sitz in Genf gegründet, der den gegenseitigen, internationalen Austausch von Avantgardefilmen bewerkstelligen sollte. Als Vorbild für Organisationsform und Statuten diente die Niederländische Filmliga und der Ciné club de Genève. Mitgliedsländer waren zunächst Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Spanien, Schweiz und die USA. In den anderen am Kongress teilnehmenden Ländern gab es wohl gar nicht ausreichend Filmclubs, um überhaupt beitreten zu können. Auch die avisierte Produktionsgenossenschaft wurde gegründet, die Coopérative du Film Indépendant, mit Sitz in Paris - allerdings noch nicht mit Kapital ausgestattet, das musste erst aufgetrieben werden. Etwas überrascht hat mich der Teil der Schlussresolution, der sich mit Zensur und Kontingentierung beschäftigt:
1) Neben den Zensurbestimmungen, die für kommerzielle Kinos gelten, soll eine spezielle, weniger strenge Zensurbestimmung eingeführt werden. Diese soll für Kinos und Organisationen gelten, die regelmäßig unabhängige Filme spielen. Das dementsprechend kleinere und ausgewähltere Publikum stellt vom moralischen und politischen Standpunkt her nicht die gleiche Gefahr dar, wie das Publikum der anderen Kinos.

2) Für Filme, die für Vorführungen in Kinos und für spezialisierte Organisationen bestimmt sind, soll sich die Frage der Kontingentierung nicht stellen. Das sehr beschränkte Publikum dieser Kinos kann für die nationale Produktion keine Gefahr darstellen.

3) Aus den gleichen Gründen soll die Billettsteuer für die Filme, die für die gleichen Organisationen oder Kinos bestimmt sind, abgeschafft oder erweitert werden.
Man fordert also Exemtion nur für sich selbst, die Existenz, um nicht zu sagen Notwendigkeit, einer "normalen" Filmzensur wird dagegen anerkannt. Ich hätte eigentlich das Gegenteil erwartet, nämlich die Forderung nach einer allgemeinen Abschaffung oder zumindest Lockerung der Filmzensur.

Die japanische Hilfstruppe des Kommerzfilms (Moichiro Tsuchiya) - am Ende bleibt nur Harakiri
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Nicht alle Delegierten hatten Lust, den stundenlangen Debatten vom Anfang bis zum Ende beizuwohnen. Arnold Kohler schrieb in seinem Text von 1963: "Wenn die Diskussionen unergiebig wurden, sind wir, er [Moussinac] und ich, im Auto auf und davon, um die Landschaft zu erkunden (Romainmôtier wurde von uns bevorzugt). Ein anderes Mal sind wir frühmorgens losgezogen, um Krebse zu fangen ...". Wie schon erwähnt, gab es auch ein Filmprogramm, und La Sarraz wurde damit zu so etwas wie einem frühen Filmfestival, bevor es diesen Begriff überhaupt gab (das erste "richtige" Festival, das von Venedig, fand 1932 zum ersten Mal statt). Das Programm war nach Herkunftsländern der Filme geordnet. Am 3. September waren die USA und Großbritannien auf dem Spielplan, da wurde u.a. THE FALL OF THE HOUSE OF USHER von Watson & Webber, Len Lyes erster Film TUSALAVA, THE LOVE OF ZERO des Exilfranzosen Robert Florey und auch Filme von heute vergessenen Leuten wie der schöne PRELUDE (aka RACHMANINOV'S PRELUDE IN C SHARP MINOR) von Castleton Knight gezeigt. Am 4. September war Holland und Frankreich an der Reihe. Es liefen UN CHIEN ANDALOU von Luis Buñuel & Salvador Dalí, L'ETOILE DE MER von Man Ray, sowie DE BRUG von Joris Ivens und REGEN von Ivens und Mannus Franken. Am 5. war nochmals Frankreich in Gestalt von zwei Filmen Cavalcantis an der Reihe sowie Deutschland mit drei Filmen von Hans Richter und drei kurzen Naturdokumentationen des heute weitgehend vergessenen, aber seinerzeit sehr produktiven Ulrich K.T. Schultz. Am 6. lief JÛJIRO (IM SCHATTEN DES YOSHIWARA) von Teinosuke Kinugasa (der 1926 mit dem famosen expressionistischen EINE SEITE DES WAHNSINNS Aufsehen erregt hatte), es scheint aber nicht klar zu sein, ob er ganz oder nur in Auszügen gezeigt wurde, und es scheint nochmals eine Kompilation französischer Werke gegeben zu haben. Das bisher genannte Programm war den Kongressteilnehmern vorbehalten, aber am 6. September gab es zusätzlich eine öffentliche Vorführung für die Bevölkerung von La Sarraz, in der ein schweizerischer Dokumentarfilm über die RHÔNE, ein Film von Germaine Dulac und nochmals REGEN und DE BRUG sowie die Filme von Schultz gezeigt wurden. Das bisher von mir aufgezählte Programm scheint gesichert zu sein, darüber hinaus listen einige Quellen weitere Filme auf, die gelaufen sein sollen, etwa Eggelings DIAGONAL-SYMPHONIE, Dsiga Wertows EIN SECHSTEL DER ERDE, Eisensteins DIE GENERALLINIE (aka DAS ALTE UND DAS NEUE), Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSTADT, der surrealistische LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN von Germaine Dulac und RIEN QUE LES HEURES von Cavalcanti.

La Sarraz wird erstürmt


Am Vormittag des 5. September hatten die Debatten Pause, denn da wurde ein Film gedreht. "Zur Stunde tagt der Kongress nicht. Der Kongress amüsiert sich" schrieb Eisenstein (vielleicht in Anspielung auf den Wiener Kongress) dazu in seinen Memoiren. Die Idee dazu hatte nach einer Version (die z.B. Montagu in seinem Eisenstein-Buch vertrat) Eisenstein, Hans Richter dagegen schreibt sie sich in "Köpfe und Hinterköpfe" selbst zu, und Georg Schmidt schrieb in einem Text von 1959, dass es ein gemeinsamer Entschluss von ihm, Richter und Eisenstein gewesen sei. Auch bei der Frage, wer Regie führte, gibt es unterschiedliche Versionen. Laut Lenauers Artikel in Close Up war es Eisenstein allein, aber meist wird die Regie Eisenstein und Richter gemeinsam zugeschrieben. "Die Regisseure sind Eisenstein und Hans Richter", hieß es etwa am 1. Oktober in der Zeitschrift Le Cinéma Suisse. Kohler wiederum schrieb 1963, dass Eisenstein, Richter, Ruttmann und Franken jeweils eine Episode des kurzen Films inszeniert hätten. Worum ging es? Der Geist des unabhängigen Films (gespielt von Janine Bouissounouse in einem weißen Nachthemd) ist gefangen in den Klauen des Kommerzfilms, vertreten durch den Kommandanten von dessen Armee (Béla Balázs), Ritter Blaubart (Jack Isaacs in einer Ritterrüstung) und weiteren Bösewichtern. Da eilt die Armee des unabhängigen Films herbei, angeführt von deren General Don Quijote (Eisenstein auf einem uralten Filmprojektor sitzend), auch Moussinac (als D'Artagnan), Richter und Auriol gehören dazu, und es gibt auf beiden Seiten weitere Protagonisten, alle von Kongressteilnehmern gespielt. Nach kurzem, aber heftigem Kampf siegen die Guten, und der Film wird aus den Fängen des Kommerzes befreit!

Wenn man Eisenstein glaubt, waren die Dreharbeiten für Janine Bouissounouse nicht ganz ungefährlich: "Und der von mir in D'Artagnan verwandelte Moussinac steigt aufs Dach, um den Qualen der armen Mademoiselle Bouissounouse ein Ende zu bereiten, unter deren Füßen die alten Dachziegel wegrutschen und sowohl sie als auch das Kameragestell Eduard Tissés in die Tiefe mitzureißen drohen." Zur Ausstattung des Films wurden vorübergehend die Rittersäle und die Truhen des Château geplündert und Rüstungen, Schwerter, Lanzen, Tücher, Straußenfedern und dergleichen in den Schlosspark geschafft. Bezüglich der Frage, inwieweit Hélène de Mandrot darüber informiert war, gibt es wieder recht unterschiedliche Versionen. In der Darstellung von Hans Richter wurde de Mandrots vorübergehende Abwesenheit ausgenutzt, und als sie zurückkehrte, soll sie wegen der "Entweihung dieser Familienheiligtümer für unser Fabelspiel" sehr zerknirscht gewesen sein und in Hinkunft nichts mehr mit Filmleuten zu tun haben wollen. In Georg Schmidts Version von 1959 hingegen wurde er in aller Frühe, als er mit dem Ausräumen des Rittersaals begonnen hatte, von Mme de Mandrot (im Nachthemd, "wie ein Gespenst") überrascht. Als er auf ihre Frage, was das soll, antwortete, dass Eisenstein und Richter einen Film drehen wollen, gab sie ihre Zustimmung nur unter der Bedingung, dass am Abend wieder alles an Ort und Stelle ist, denn für den nächsten Tag war eine Inspektion durch eine Kommission des Denkmalsamts angesagt. Und in Eisensteins Memoiren liest sich das ganze so: "Die hochbetagte [hu? sie war 61], aber 'geistig ewig junge' Madame de Mandrot erstarrt jeden Augenblick vor Entsetzen darüber, wie man mit ihren Familienreliquien umspringt, beim Anblick des zertrampelten Rasens, der geknickten Geranien und des von Hellebarden zerschundenen wilden Weins. Letzten Endes aber lässt sich die nette Dame selbst mitreißen: eigenhändig bringt sie aus ihrer altertümlichen Truhe die von uns benötigten Laken für irgendeine Gespensterepisode und bewirtet die vor Hitze vergehenden Geharnischten, wie es dazumal den Kreuzfahrern erging, mit diversen wunderbaren Erfrischungsgetränken."

Eisenstein präpariert Moussinac als D'Artagnan
(Sammlung Cinémathèque suisse, alle Rechte vorbehalten)
Wer glaubt, dass es mit den verschiedenen Versionen bezüglich dieser oder jener Frage nun aber ein Ende haben müsse, sieht sich getäuscht, denn das Beste kommt erst noch. DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ, wie der Film auf Deutsch meist genannt wird, wurde in Europa nie vorgeführt, und er verschwand hier schon direkt nach dem Kongress spurlos. Auch die allermeisten Kongressteilnehmer sahen ihn nie und waren völlig ratlos, was seinen Verbleib betraf. Und, wie könnte es anders sein, im Lauf der Jahre und Jahrzehnte kursierten verschiedene Theorien über sein Verschwinden. In Eisensteins Memoiren (die er von 1940-46 verfasste) findet sich diese kurze Notiz: "Unser schöner Film aber ist in irgendeinem der unzähligen Zollämter, die das bunte und vielschichtige Bild Europas in ein System einzelner Staaten zerteilen, verlorengegangen ...". Das ist alles - kein konkreter Hinweis, um welche Grenze oder gar um welches Zollamt es sich handelte, so dass sich keine Anhaltspunkte für Nachforschungen ergeben. Ganz anders liest sich die Geschichte ohnehin in Hans Richters Memoiren: "Was aus unserem La Sarraz-Film geworden ist, der in der Tat ein Dokument ersten Ranges, wenn auch dadaistischer Färbung gewesen wäre, weiß niemand. S.M. [Eisenstein] beschuldigte mich, daß ich ihn nach Deutschland gebracht hätte, wohingegen ich genau wußte, daß er mit Tissés Kamera und Magazin nach Zürich zu Herrn Wechslers "Praesensfilm" gewandert sein mußte, um dort entwickelt und kopiert zu werden. Meiner Meinung nach hat Eisenstein ihn irgendwo in einer Pension unter dem Bett stehen lassen [...]". Richters Einwand, dass der Film zunächst in Zürich gelandet sein muss, klingt plausibel, denn Tissé war der Kameramann beim Dreh (wobei in manchen Quellen noch Ruttmann als zweiter Kameramann genannt wird), und die Einrichtungen der Praesens-Film waren die erste geeignete Anlaufstelle zur Entwicklung des Films. Lazar Wechsler hätte die Kosten für die (im Vergleich zu FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK) wenigen zusätzlichen Minuten sicher anstandslos übernommen - doch irgendwelche Belege gibt es nicht. Es gibt übrigens noch eine Variante der Version mit Richter als Beschuldigtem - nach dieser hätte er den Film im Zug vergessen, als er nach England fuhr (wo sich einige Wochen nach dem Kongress mehrere der Beteiligten wieder trafen).

Doch es wird noch spektakulärer. Bei Richter geht es nämlich noch weiter: "Wie dem auch sei, der La Sarraz-Film war und blieb verschwunden, ohne ein weiteres Lebenszeichen von sich zu geben ... bis im Jahr 1963 ein Genfer Skeptiker, A.C. in der Tribune de Genève, eine Lösung des Rätsels anbot mit der Überschrift "Le film du Congrès de La Sarraz n'a jamais existé" [Der Film des Kongresses von La Sarraz hat nie existiert]: Tissé habe auf Eisensteins Anordnung (sie hatten kein Geld, um Filme zu kaufen) mit leerer Kassette gedreht! Das ist nicht unmöglich. Eisenstein hatte von seiner Heimat keine Kopeke mitbekommen, und das genügte in der Tat nicht, Rohfilme zu kaufen. Aber auch wenn Wechsler ihm Rohfilme zur Verfügung gestellt hätte, wäre es fraglich, ob er wertvolles Rohmaterial für so ephemere Zwecke hätte verwenden wollen. Denn so sah es doch damals aus? Sehr schade!" Richter hat die Theorie, der Film sei nie gedreht worden, also nicht erfunden (auch wenn das gelegentlich so dargestellt wird), aber er scheint sie dann irgendwann geglaubt oder zumindest für möglich gehalten zu haben. Wie das allerdings mit der im selben Buch geäußerten Pensionsbetttheorie unter einen Hut passt, erschließt sich mir nicht. Es wäre interessant zu wissen, wer "A.C." war und wie er (oder sie) zu dieser Theorie kam. Von den Kongressteilnehmern passen die Initialen auf Cavalcanti, aber der war es wohl eher nicht. Vielleicht handelte es sich einfach nur um einen Wichtigtuer.

Denn die Theorie, der Film habe nie existiert, ist ohnehin hinfällig. Seit geraumer Zeit weiß man nämlich, dass DIE ERSTÜRMUNG VON LA SARRAZ am 13. Juni 1930 in Tokio gezeigt wurde, und zwar unter dem prosaischen Titel KOKUSAI DOKURITSU EIGA KAIGI, was schlicht INTERNATIONALER KONGRESS DES UNABHÄNGIGEN FILMS bedeutet, gemeinsam mit anderen Filmen in einer Abendveranstaltung der proletarischen Filmliga Pro-Kino (der, wie erwähnt, Hiroshi Higo angehörte). Mindestens zwei japanische Zeitungen oder Zeitschriften (Proletaria Film und Shingo Eiga) berichteten damals darüber, und es ist sogar das Freigabedokument der japanischen Zensur vom 11. Juni erhalten, aus dem hervorgeht, dass es sich um eine 16mm-Kopie mit einer Länge von 61 Metern handelte. Man kennt nicht die Vorführgeschwindigkeit bei dieser Veranstaltung, bei 18 Bildern pro Sekunde würden 61 m einer Laufzeit von 7:26 Minuten entsprechen, bei 24 Bildern pro Sekunde wären es 5:34 Minuten. Der Film hat also existiert, aber damit sind nicht alle genannten Theorien über sein Verschwinden widerlegt. Die Kamera, die Tissé auf der Reise bei sich führte, war eine Debrie für 35mm, und in diesem Format wurde der Film somit gedreht. Es wäre wenig plausibel, wenn man davon nur eine 16mm-Kopie angefertigt und dann das Negativ weggeworfen hätte. Wahrscheinlicher wäre, dass Eisenstein das Negativ zunächst behielt und ein Positiv in 16mm anfertigen ließ, vielleicht auch eines in 35mm. Das hätte in Zürich bei Praesens-Film geschehen können, vielleicht auch später in einem Labor in Berlin oder gar noch später in Paris. Hiroshi Higo stach erst am 28. Oktober 1929 von Neapel aus gen Japan in See, also auch wenn er die Kopie gleich selbst mitgenommen hätte (von einigen anderen Filmen ist sicher, dass er Kopien mitnahm), wäre genug Zeit für die eine oder andere Variante gewesen. Es ist also sehr wohl möglich, dass das Negativ oder ein 35mm-Positiv in den bürokratischen Mühlen des Zolls verlorenging - oder in einem Zug oder unter einem Pensionsbett vergessen wurde. Nach dem Juni 1930 verliert sich auch in Japan die Spur des Films, und er blieb seitdem verschollen. Aber wie heißt es doch in solchen Fällen immer in der IMDb: Please check your attic!

Wie es weiterging


Die organisatorischen Strukturen, die 1929 in La Sarraz ins Leben gerufen wurden, waren weit kurzlebiger als die der Architekten vom Vorjahr. Vom 27. November bis zum 1. Dezember 1930 fand in Brüssel der zweite (und letzte) Internationale Kongress des Unabhängigen Films statt. Veranstaltungsort war das Palais des Beaux-Arts. Zu den Teilnehmern zählten Charles Dekeukeleire und Henri Storck, Joris Ivens, Boris Kaufman, Jean Painlevé, Jean Vigo, Germaine Dulac, Oswell Blakeston sowie erneut Hans Richter, Robert Aron, Jean George Auriol und Léon Moussinac, und weitere Delegierte. Schon in La Sarraz wurde eigentlich eine belgische Delegation erwartet, der Storck hätte angehören sollen (vielleicht auch Dekeukeleire, aber darüber liegen mir keine Informationen vor), aber die ist aus mir nicht bekannten Gründen nicht erschienen. Auch in Brüssel gab es Filmvorführungen, gezeigt wurde dort auch BORDERLINE. Die Mehrzahl der Delegierten in La Sarraz stand politisch links, einige waren sogar Kommunisten, mindestens zwei der Südeuropäer, Prampolini und Giménez Caballero, standen dagegen ziemlich weit rechts außen (über Sartoris' damalige politische Einstellung weiß ich nichts). Um den Kongress nicht von vornherein an politischen Gegensätzen scheitern zu lassen, wurde das Thema Politik in La Sarraz strikt ausgeklammert. Das aber goutierten nicht alle Delegierten, und nun, beim zweiten Kongress in Brüssel, brachen die Gegensätze offen aus. Die Mehrzahl der Delegierten (besonders prononciert etwa Richter) plädierten dafür, dass der unabhängige Film einen Beitrag zur Eindämmung des Faschismus leisten solle. Das aber führte zum Auszug der italienischen und der spanischen Delegation und zum raschen Zerfall der erst in La Sarraz gegründeten Organisationen. So blieb von La Sarraz außer der Symbolwirkung nur eine Verstärkung der persönlichen Kontakte eines Teils der Teilnehmer. Für viele schien es so, als sei auch der Avantgardefilm selbst an einem Endpunkt angekommen. Das lag nicht nur an den politischen Gegensätzen, sondern auch am Einbruch des Tonfilms. Der war ja auch schon 1929 voll im Gang (wenn man von wenigen Ländern wie Japan absieht), aber die Filme, um die es in La Sarraz ging, waren im Wesentlichen noch Stummfilme. Zwar wurde das Thema Tonfilm nicht ausgeklammert (Ruttmann und Balázs hielten Vorträge darüber), fand aber wohl doch nicht die gebührende Beachtung. Einige Teilnehmer meinten möglicherweise, in den geschützten Biotopen der Ciné-Clubs könne der Stummfilm dauerhaft Widerstand leisten, aber das war eine Illusion. Der Tonfilm aber brachte eine deutliche Verteuerung mit sich, die es Avantgardefilmern und ambitionierten Amateuren deutlich schwerer machte als bisher. Trotzdem war der unabhängige Film natürlich nicht am Ende, aber der Schwerpunkt verlagerte sich langsam von Europa in die USA. In den 30er Jahren, dem Jahrzehnt des New Deal, gab es dort unabhängige linke Filmkooperativen wie die Film and Photo League, Nykino oder Frontier Films, und ab den 40er Jahren trat eine neue Generation von Avantgardisten hervor (Maya Deren, Marie Menken, Kenneth Anger, Stan Brakhage etc.), die freilich nicht aus dem Nichts kam, sondern auch schon in den 20er Jahren ihre Vorläufer hatte, wie etwa das unverzichtbare DVD-Set Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 belegt. Der Avantgardefilm war also Ende 1930 nicht tot, aber zumindest in Europa erlebte er eine deutliche Zäsur. Aber der kurzfristige Aufbruch von La Sarraz verdient doch etwas mehr Bekanntheit, als es derzeit (außerhalb der Schweiz) der Fall ist.

Donnerstag, 4. August 2016

Close Up und BORDERLINE: Beziehungskisten in der Schweiz

BORDERLINE
Großbritannien/Schweiz 1930
Regie: Kenneth Macpherson
Darsteller: Paul Robeson (Pete), Eslanda Robeson (Adah), H.D. (= Hilda Doolittle, Astrid), Gavin Arthur (Thorne), Bryher (Chefin des Lokals), Charlotte Arthur (Bardame), Robert Herring (Pianist), Blanche Lewin (alte Frau)


1930 drehte der schottische Schriftsteller, Kritiker und Fotograf Kenneth Macpherson mit einer Handvoll Laiendarsteller, die durch gemeinsame künstlerische, weltanschauliche und sexuelle Interessen mit ihm und miteinander verbunden waren, sowie mit dem professionellen schwarzen Sänger und Schauspieler Paul Robeson und dessen Frau Eslanda in der Westschweiz einen 73-minütigen avantgardistischen Stummfilm. (In IMDb und engl. Wikipedia wird eine Länge von 63 min angegeben, aber die in Deutschland und England auf DVD erhältliche Fassung hat umgerechnet eine Kino-Laufzeit von 73 min.) Der Film hat gerade mal 1000£ gekostet - auch damals schon eine lächerliche Summe (dabei hätten sich die Macher durchaus mehr leisten können, denn eine der Beteiligten war die designierte Erbin eines sehr üppigen Vermögens). Als BORDERLINE in die Kinos kam, wurde er von den meisten Kritikern heftig verrissen, und er verschwand in der Versenkung, und Macpherson drehte keine Filme mehr. Doch Jahrzehnte später wurde der Film als ein Werk der Avantgarde wiederentdeckt, das mit wenig Handlung auf damals gewagte Art sexuelle und emotionale Konflikte entlang der sich überkreuzenden Grenzlinien "Hautfarbe" und "Geschlechterrollen" erforscht. Es ist kein Zufall, dass abgesehen von den Robesons fast alle Beteiligten homosexuell oder bisexuell waren.

Astrid
Ein kleiner namenloser Ort, irgendwo in den Bergen der französischsprachigen Schweiz, um 1930. In einem Gasthaus mit Fremdenzimmern logiert eine Ménage-à-trois aus ausländischen Gästen (wohl Engländer oder Amerikaner, aber das wird nicht weiter thematisiert), die durch die Ankunft eines weiteren Gasts am Anfang des Films zu einer Ménage-à-quatre wird. Das weiße Paar Astrid und Thorne ist miteinander verheiratet, doch Thorne hat sich von ihr getrennt, weil er eine Affäre mit der schwarzen (oder "farbigen" - sie ist recht hellhäutig) Adah hat, die eigentlich mit dem schwarzen Pete liiert (oder verheiratet?) ist, aber momentan getrennt von ihm lebt. Astrid ist vor Eifersucht halb wahnsinnig, aber auch bei Thorne, der gerade einen Streit mit Adah hatte, sind die Nerven gespannt. In dieser Situation erscheint nun auch Pete als Neuankömmling im Ort, der Adah zurückgewinnen will. Und er scheint Erfolg zu haben - Adah hat anscheinend genug von Thorne, und sie zeigt sich Petes Avancen nicht abgeneigt.

Thorne
Mit distanziertem, aber wohlwollendem Interesse beobachtet wird das Treiben der freizügigen ausländischen Gäste durch einige Nebenfiguren: Der burschikosen, androgynen Besitzerin oder Geschäftsführerin des Gasthauses, ihrer stets gut gelaunten Bardame und dem Pianisten, der die Gäste des Lokals unterhält. Die einheimischen Gäste dagegen begegnen den Fremden (vor allem den dunkelhäutigen) mit einem gewissen Missfallen, wenn auch vorerst noch ohne öffentliche Unmutsäußerungen. Nur eine alte Frau mit freundlichem Gesicht meint, wenn es nach ihr ginge, dann wären in diesem Land keine Neger erlaubt. (Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun: Damals wurde das Wort "Negro" weit unbefangener verwendet als heute, nicht nur von Weißen, sondern auch von Schwarzen (einschl. Paul Robeson). In den Credits von BORDERLINE werden sogar Pete als "a negro" und Adah als "a negro woman" bezeichnet. Wenn ich das Wort aus der Äußerung der rassistischen Dame mit dem freundlichen Gesicht als "Neger" übersetze, heißt das natürlich nicht, dass ich diesen Begriff selbst verwenden würde.)


Nachdem ihm Adah abspenstig gemacht wurde, ist nun auch Thorne eifersüchtig und wütend. Er beschuldigt Astrid, dass sie es war, die Pete herbeigelockt hat, was Astrid auch ohne Umschweife zugibt. Ihr Plan war, dass Thorne zu ihr zurückkehrt, wenn er Adah erst einmal an Pete verloren hat. Doch wenn der erste Teil des Plans geklappt hat, so geht der zweite Teil gehörig in die Hose. Denn Thorne ist nun erst recht wütend auf Astrid. Als diese erkennt, dass Thorne nicht zu ihr zurückkommen, sondern sie endgültig verlassen wird, kommt es zum finalen Streit zwischen den beiden. Astrid fuchtelt mit einem Messer herum und verwundet Thorne leicht - und am Ende liegt sie tödlich verletzt am Boden. Anscheinend hat Thorne sie im Getümmel versehentlich getötet, doch so ganz klar ist das nicht, weil man den entscheidenden Moment nicht sieht - vielleicht hat er auch die Kontrolle verloren und selbst zugestochen. Doch die Polizei glaubt seiner Darstellung, und er wird nicht angeklagt. Nach Astrids Tod geht das Gerede unter den Einheimischen nun so richtig los, und Pete streckt einen, der ihn offenbar beleidigt hat, mit einem Kinnhaken zu Boden. Doch damit liefert er den Leuten nur einen bequemen Vorwand: Der Bürgermeister verfügt auf Beschluss des Stadtrats seine sofortige Ausweisung aus dem Ort. Die Chefin des Gasthauses bedauert das. "Was es noch schlimmer macht", meint sie resignierend zu Pete, "ist, dass sie glauben, im Recht zu sein. So sind wir eben." - "Ja, so sind wir", bestätigt Pete, und verwandelt damit eine Aussage über die Schweizer oder über alpine Kleinstädter in eine allgemein-(un)menschliche.

Adah
Noch einen Tiefschlag muss er hinnehmen: Adah fühlt sich mitschuldig an Astrids Tod, und um mit sich ins Reine zu kommen, verlässt sie Pete und reist ab. Sie verabschiedet sich nicht persönlich, sondern hinterlässt Pete nur einen Brief, so dass er nichts dagegen machen kann. Wenigstens verträgt er sich jetzt wieder mit Thorne, da nun keine Frau mehr zwischen ihnen steht. Am Ende steht Pete am Bahnhof und wartet auf seinen Zug, und Thorne sitzt grübelnd in einer Wiese und starrt ins Leere.

Pete
Von 1927 bis 1933 erschien die größtenteils englischsprachige Filmzeitschrift Close Up (ein kleiner Teil der Artikel war auf Französisch), die als eines der ersten europäischen Journale Film konsequent als eine Kunstform begriff. Die Zeitschrift erschien von Juli 1927 bis zum Dezember 1930 monatlich, dann bis Ende 1933 vierteljährlich, zusammen 54 Ausgaben in einer Auflage von 500 Stück. Gedruckt wurde Close Up zunächst in Dijon in Frankreich, dann ab September 1928 in London, doch konzipiert und redigiert wurde das Magazin in der Schweiz, und zwar von dem Trio Kenneth Macpherson, Bryher und H.D., die sich zusammen The Pool Group nannten. Die drei waren Herausgeber (wobei H.D. nicht im Impressum genannt wurde) und schrieben auch einen beträchtlichen Teil der Artikel. Daneben gab es feste Mitarbeiter, vor allem den Engländer Oswell Blakeston, der ab 1931 auch Mitherausgeber war. Die Zeitschrift unterhielt Korrespondentenbüros in Paris, London, Berlin, Hollywood und anderswo, zu den Korrespondenten zählte u.a. Marc Allégret, der zu jener Zeit auch seine ersten Filme als Regisseur drehte. Daneben gab es Beiträge von vielen Gastautoren - Schriftsteller wie (recht häufig) Dorothy Richardson, Gertrude Stein und André Gide, Psychologen und Psychoanalytiker wie Havelock Ellis, Barbara Low und Hanns Sachs (die Herausgeber hatten ein Faible für die Psychoanalyse, und H.D. ließ sich in den 30er Jahren von Sigmund Freud persönlich analysieren), und natürlich von progressiv bis avantgardistisch gesinnten Filmkritikern und Filmschaffenden aus aller Welt. So wurde etwa das Tonfilmmanifest, das Sergej Eisenstein, Grigori Alexandrow und Wsewolod Pudowkin im August 1928 in einer Leningrader Zeitschrift veröffentlicht hatten, in der Ausgabe vom Oktober 1928 in englischer Übersetzung nachgedruckt.

Die Bardame (links oben) und ihre Chefin
Damit sind wir bei einem der Schwerpunkte von Close Up: Das sowjetische Montage-Kino der 20er und frühen 30er Jahre wurde in der Zeitschrift ausgiebig gewürdigt, und insbesondere Eisenstein war einer der Helden der Herausgeber. Als sich Eisenstein 1929 längere Zeit in Berlin aufhielt, traf ihn Macpherson dort persönlich, und sie schlossen Freundschaft. Eisenstein veröffentlichte nach dem Tonfilmmanifest einige weitere Artikel in Close Up, etwa über Fragen zukünftiger Breitbildformate (im Jahr 1931!) oder über die staatliche Filmhochschule in Moskau, wo er nach seiner Rückkehr aus Mexiko selbst unterrichtete, und natürlich über seine sich im Lauf der Zeit weiterentwickelnde Montage-Theorie. Eisensteins Frau Pera Ataschewa war die Moskauer Korrespondentin von Close Up.

Der Pianist und sein Objekt der Begierde, an das Klavier geklemmt
Ein weiteres Idol der Pool Group war G.W. Pabst mit seinem der Neuen Sachlichkeit verpflichteten psychologischen Realismus. Bryher und Macpherson trafen Pabst erstmals im Oktober 1927, und der Regisseur war da schon seinerseits ein Fan von Close Up. Er fand es "so furchtbar funny" (Bryher in einem Brief), dass ausgerechnet Engländer so ein Magazin auf die Beine gestellt hatten. Pabst hatte auch mit GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) den ersten größeren Spielfilm vorgelegt, der explizit die Psychoanalyse thematisiert, und der oben erwähnte Hanns Sachs war Berater bei diesem Film. Eisenstein und Pabst, Montage und psychologische Durchdringung - zwischen diesen Polen bewegt sich auch BORDERLINE. Dazu weiter unten mehr. Kritisch ging man dagegen mit Hollywood um, wobei aber durchaus zwischen einzelnen Filmen bzw. Regisseuren differenziert wurde (so schätzte man King Vidor und insbesondere sein THE BIG PARADE), und noch kritischer mit dem zeitgenössischen britischen Film, der regelmäßig geschmäht wurde, so etwa von Robert Herring (dem Pianisten in BORDERLINE) in einem Artikel mit dem schön polemischen Titel Puritannia Rules the Slaves. Ein persönliches Anliegen war den Herausgebern der Kampf gegen die britischen Zensurbestimmungen.

Die alte Frau
Die aus Pennsylvania stammende Dichterin und Schriftstellerin Hilda Doolittle (1886-1961), die sich den Pen Name H.D. gab, gehörte in ihren jungen Jahren zur literarischen Bewegung der Imagisten (in den Credits von BORDERLINE wird sie "Helga Doorn" genannt, ein Name, den sie sonst meines Wissens nie benutzte). Schon während ihres Studiums in Pennsylvania lernte sie Ezra Pound kennen, der einer der Begründer des Imagismus war. Sie verliebte sich in ihn, und zeitweilig waren sie sogar miteinander verlobt. Ebenfalls noch in den USA hatte die bisexuelle H.D. ein Verhältnis mit der Dichterin Frances Gregg. Ezra Pound lebte seit 1909 in London, und 1911 folgten ihm H.D. und Gregg über den großen Teich. In London wurde sie von Pound schnell in die Literaturszene eingeführt, und sie begann, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Nach dem Ende ihrer Beziehung mit Gregg hatte sie wechselnde Verhältnisse mit Männern und Frauen, und 1913 heiratete sie den englischen Dichter Richard Aldington, der ebenfalls den Imagisten zuzurechnen war. 1919 wurde ihre Tochter Frances Perdita als ihr einziges Kind geboren ("Frances" nach Frances Gregg, aber ihr Rufname war "Perdita", nach einer Shakespeare-Figur). Zu diesem Zeitpunkt hatten sie und Aldington, der durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg schwer erschüttert wurde, sich auseinandergelebt und getrennt. Sie blieben aber befreundet und ließen sich erst 1938 scheiden. Sowohl H.D als auch später Perdita machten ein Geheimnis aus der Identität von Perditas Vater. Das führte zu allerlei Spekulationen, "verdächtigt" wurden u.a. Aldington, Pound und D.H. Lawrence (mit dem sie befreundet war, aber, soweit man weiß, kein Verhältnis hatte). Erst 1983 enthüllte Perdita, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um den schottischen Musikkritiker und Komponisten Cecil Gray handelte. 1918 lernte H.D. Bryher kennen, und sie wurden bald ein Paar und blieben es bis zu H.D.s Tod 1961. Es war aber eine offene Partnerschaft, und beide hatten gelegentlich noch weitere Partner, so hatte H.D. um 1927/28 ein Verhältnis mit Macpherson.

Einheimische
Nicht nur "H.D.", sondern auch "Bryher" war ein Pen Name, und seine Trägerin hieß ursprünglich Annie Winifred Ellerman (1894-1983). (In der IMDb ist sie gleich doppelt vorhanden, als "Winifred Ellerman" und als "Bryher MacPherson". Nicht nur die Verdoppelung ist unsinnig, sondern auch die letztere Schreibweise, denn der Name war einfach nur "Bryher" ohne "MacPherson", und nebenbei schreibt man Kenneth Macpherson auch ohne Binnenmajuskel.) Bryher war die Tochter des Schiffsmagnaten Sir John Ellerman, der zeitweilig als reichster oder zweitreichster Mann (nach dem König) Großbritanniens galt. Sie hatte also ein reiches Erbe in Aussicht und wurde schon zu Lebzeiten des Vaters finanziell üppig ausgestattet. Schon als Kind und Jugendliche war sie viel auf Reisen, was sie als Erwachsene fortsetzte. Bryher war lesbisch, und wie gesagt waren sie und H.D. seit spätestens 1919 ein Paar, und sie reisten fortan viel gemeinsam, wobei sie sich gelegentlich als Cousinen ausgaben, um keinen Anstoß zu erregen. 1920 nahm sie offiziell den Namen "Bryher" an, den sie von einer der Scilly-Inseln im Atlantik südwestlich von Cornwall entlehnte, wo es ihr auf einer Reise gut gefallen hatte. Um dem steifen Klima in England im Allgemeinen und ihrer in den Adelsstand versetzten Familie im Besonderen zu entgehen, verbrachte sie bis 1927 die meiste Zeit in Paris, wo sie zur großen anglo-amerikanischen Community gehörte, die man mit dem Namen Lost Generation belegt hat. Doch Paris ist nicht so weit von England entfernt, und auf Druck ihrer Eltern, die die gesellschaftlichen Konventionen gewahrt wissen wollten (anscheinend wurde sogar mit Enterbung gedroht), heiratete Bryher 1921 den bisexuellen amerikanischen Schriftsteller und Verleger Robert McAlmon, der ebenfalls zur Pariser Kolonie gehörte. Es war eine typische marriage of convenience, in der beide unter einem gesellschaftlich akzeptierten Deckmantel ihren sexuellen Neigungen nachgehen konnten. Zusammen gründeten sie in Paris den Verlag Contact Editions, der von McAlmon geleitet und von Bryher finanziert wurde, so dass man nicht auf Gewinne achten musste. Der Verlag veröffentlichte nicht nur Werke von H.D., Bryher und McAlmon selbst, sondern auch Bücher von Schriftstellern wie Hemingway, Gertrude Stein, William Carlos Williams, Ford Madox Ford und Djuna Barnes, die damit indirekt von Bryher subventioniert wurden. Einige Künstler unterstützte sie auch direkt finanziell, neben H.D. etwa die schrille Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.

Das tödliche Messer
1927 ließ sich Bryher scheiden, weil McAlmon zuviel trank (der Verlag existierte dann noch bis 1929), und ein Ersatz musste her. Der fand sich in Macpherson, der gerade der aktuelle Liebhaber von H.D. war, die er seit 1926 kannte. Kenneth Macpherson (1902 (nach einigen Quellen 1903)-1971) entstammte einer schottischen Künstlerfamilie, aber über sein Leben vor 1927 ist wenig bekannt. Der bisexuelle (aber wohl mehr den Männern zugeneigte) Macpherson hatte also eine Affäre mit H.D., die 1928 sogar von ihm schwanger war, sich aber zur Abtreibung entschloss, die in Berlin durchgeführt wurde (sie war schon nach der Geburt von Perdita fast gestorben). Geheiratet hat er aber nicht H.D., die ja ohnehin noch mit Aldington verheiratet war, sondern Bryher. Es war erneut eine marriage of convenience, die beiden Partnern die Gelegenheit bot, ungestört ihrem jeweiligen Privatleben nachzugehen. Doch während H.D. zuvor zu McAlmon wohl kein besonders enges Verhältnis hatte, entstand nun eine echte Ménage-à-trois. Die drei formierten sich zur Pool Group und riefen als deren wichtigste Aktivität Close Up ins Leben (daneben verlegten sie auch Bücher, vorwiegend eigene Werke und solche von Close Up-Mitarbeitern). Alle drei übersiedelten samt Perdita in die Schweiz und lebten und arbeiteten von 1927 bis 1931 in Territet am östlichen Ende des Genfer Sees, wo Bryher schon seit einigen Jahren ein Haus hatte. Daneben verbrachten sie aber weiterhin einen Teil ihrer Zeit in Paris, London oder Berlin. Alle drei kümmerten sich, sozusagen als erweitertes Elternpaar, um die Erziehung von Perdita, die keine Schule besuchte, sondern zuhause unterrichtet wurde. 1928 adoptierten Bryher und Macpherson das Kind, und aus Frances Perdita Aldington wurde Frances Perdita Macpherson. Die unorthodoxen Familienverhältnisse haben ihr offenbar nicht geschadet. Perdita Macpherson Schaffner (1919-2001), wie sie nach ihrer Heirat hieß, war im Zweiten Weltkrieg beim britischen Geheimdienst beschäftigt, zeitweise in Bletchley Park, wo die Chiffriermaschine Enigma entschlüsselt wurde. Nach dem Krieg ging sie in die USA, wo sie einen Literaturagenten heiratete und vier Kinder bekam. Sie betätigte sich als Essayistin und Philanthropin, die Theater und andere kulturelle Einrichtungen unterstützte.

Der Schauplatz
1931 zogen die vier von Territet in die eindrucksvoll modernistische Villa Kenwin (von KENneth und WINifred), die Bryher und Macpherson im Bauhaus-Stil von den Architekten Sándor (Alexander) Ferenczy und Hermann Henselmann errichten ließen. Kenwin liegt einige Kilometer nordwestlich von Territet in La Tour-de-Peilz, ebenfalls am Genfer See, zwischen Montreux und Vevey. Die große mehrstöckige Villa sollte nicht nur als Wohnort und als Zentrale von Close Up dienen, sondern auch als Studio für neue Filme von Macpherson - die dann aber wegen der schlechten Kritiken für BORDERLINE nie gedreht wurden. Heute gehört die Villa zum offiziellen Kulturerbe der Schweiz.

Villa Kenwin (aus KENWIN von Véronique Goël)
Wer bei diesem ganzen komplizierten Beziehungsgeflecht den Überblick verloren hat, dem hilft vielleicht diese Grafik weiter. - Um dieses Thema abzurunden: Gavin Arthur (1901-72), der Darsteller von Thorne, war der Enkel eines US-Präsidenten und Sohn eines reichen Unternehmers in Colorado. Nach seinem abgebrochenem Studium an der Columbia University betätigte er sich in einer Organisation, die der IRA nahestand (und wurde deshalb auch einmal verhaftet). Er lebte damals in New York, Irland und Frankreich, aber ich weiß nicht, wie er mit der Pool Group in Kontakt kam. In den 30er Jahren zog es ihn nach Kalifornien, wo er eine Kunst- und Literaturkommune gründete und ein Magazin herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er in der Navy war, war das elterliche Vermögen offenbar aufgebraucht, denn neben seinen kulturellen Aktivitäten betätigte er sich auch als Zeitungsverkäufer und Goldsucher, noch später als Astrologe und als Sexologe (aus astrologischer Perspektive). Er war mit etlichen Vertretern der Beat Generation befreundet, darunter Allen Ginsberg, und war in der amerikanischen Schwulenbewegung aktiv, denn - Überraschung! - auch Gavin Arthur war bisexuell. Charlotte Arthur, die Barfrau in BORDERLINE, war von 1922 bis 1932 seine Frau (er war danach noch zweimal verheiratet), und sie hat 1930 auch einen zweiteiligen Artikel für Close Up geschrieben. - Robert Herring (1903-1975), der Pianist, war der Londoner Korrespondent und regelmäßiger Autor von Close Up. 1935 kaufte Bryher die Literaturzeitschrift Life and Letters Today, und Herring wurde für 15 Jahre ihr Chefredakteur. Die Zeitschrift war in gewissem Sinn ein Nachfolgeprojekt zu Close Up, und eine Reihe von Close Up-Autoren war auch hier wieder mit Artikeln oder literarischen Texten vertreten, darunter H.D., Macpherson und Eisenstein. Herring schrieb auch Gedichte und einen Roman, und auch er war homo- oder bisexuell. - Über Blanche Lewin, die alte Frau in BORDERLINE, konnte ich nichts Substanzielles herausfinden. Aber sie gehörte jedenfalls auch zum Dunstkreis der Pool Group und hatte schon in einem von Macphersons Kurzfilmen mitgespielt. Auf Paul und Eslanda Robeson komme ich weiter unten zu sprechen.


Mit der Ausgabe vom Dezember 1933 stellte Close Up das Erscheinen ein. H.D. schrieb nur in der Anfangszeit halbwegs regelmäßig Artikel, und in den 30er Jahren erschienen in Close Up überhaupt keine Beiträge mehr von ihr. Ihre Mitherausgeberschaft war ohnehin nur ideell, weil sie keinen Sinn für's Praktische hatte und psychisch labil war. Und Macpherson verlor nach dem ausbleibenden Erfolg mit BORDERLINE nicht nur die Lust, weitere Filme zu drehen, sondern langsam auch das Interesse am Film insgesamt. Sowohl seine eigenen Artikel als auch seine editorischen Aktivitäten gingen stark zurück, was zunächst dadurch kompensiert wurde, dass Oswell Blakeston, der fleißigste Schreiber der Zeitschrift, zum Mitherausgeber befördert wurde. Doch schließlich nabelte sich Macpherson ganz ab, er ging ab 1934 auf ausgiebige Reisen. Bryher und H.D. traf er nur noch selten, aber die Mitglieder der Patchwork-Familie und ihr großer Freundeskreis schrieben sich regelmäßig Briefe und blieben so in Kontakt. Anfang der 40er Jahre ließ sich Macpherson in New York nieder. Sein besonderes Interesse galt Harlem, sowohl in kultureller wie in sexueller Hinsicht. Er hatte damals aber auch eine Affäre mit der Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim, bei der er auch längere Zeit wohnte. Hier kehrte Macpherson noch einmal zum Film zurück: Er produzierte (letztlich mit Guggenheims Geld) ab 1944 den surrealistischen DREAMS THAT MONEY CAN BY, den der aus Deutschland emigrierte Dadaist Hans Richter konzipierte und zusammen mit Kollegen wie Man Ray und Max Ernst inszenierte. Der Film nahm einige Zeit in Anspruch und erschien 1947. In diesem Jahr wurde die Zweckehe mit Bryher, die längst keinen Sinn mehr hatte, geschieden. Ebenfalls 1947 übersiedelte Macpherson nach Italien, und für den Rest seines Lebens wohnte er nacheinander auf Capri, in Rom und in der Toskana, wo er 1971 starb.


Bryher war es, die bei der Herausgabe von Close Up die meisten praktischen Dinge erledigte, sie hatte die nötige Energie und das Organisationstalent dazu (auch bei der Erziehung von Perdita schien sie den Ton angegeben zu haben). Doch auch sie orientierte sich um 1933 neu. Einerseits wollte sie eine Ausbildung als Psychoanalytikerin absolvieren (nachdem sie sich von Hanns Sachs selbst hatte analysieren lassen), was sie dann aber nicht konsequent durchzog. Andererseits wurde sie durch die politische Entwicklung in Deutschland zu neuen Prioritäten geführt. Bei ihren häufigen Besuchen in Berlin hatte sie selbst sehen können, wie die Nazis das Land veränderten. Schon in der Close Up vom Juni 1933 veröffentlichte sie unter dem Titel "What Shall You Do in the War?" einen Artikel über Deutschland, in dem es etwa im zweiten Absatz heißt: "Tortures are freely employed, both mental and physical. Hundreds have died or been killed, thousands are in prison, and thousands more are in exile." Und der Artikel endet mit einer Art von Aufruf: "The future is in our hands for every person influences another. The film societies and small experiments raised the general level of films considerably in five years. It is for you and me to decide whether we will help to raise respect for intellectual liberty in the same way, or whether we all plunge, in every kind and colour of uniform, towards a not to be imagined barbarism." Fortan investierte sie viel Geld und Energie darin, Juden und anderen Verfolgten die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen, wobei Kenwin als Durchgangsstation diente. Sie hatte auch mehr denn je die Mittel dazu, denn im Juli 1933 starb ihr Vater. Zwar erbte den Löwenanteil des Vermögens, ca. 20 Mio. £, Bryhers jüngerer Bruder John, der die Schiffahrtslinien und sonstigen Geschäfte weiterführte. Auch John Ellerman jr. verwendete viel Geld darauf, Juden bei der Flucht aus Deutschland zu helfen, und nebenbei beschäftigte er sich als Gelehrter mit den Nagetieren. Doch Bryher erhielt aus dem Erbe auch noch üppige 900.000£, nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag.


Die Involvierung des Trios in Fragen der Psychologie und Psychoanalyse war tiefgehend und lang anhaltend. Schon in den frühen 20er Jahren waren Bryher und H.D. mit dem Psychologen und Sexualforscher Havelock Ellis auf Reisen, und nicht nur Bryher ließ sich von Hanns Sachs analysieren, sondern auch H.D.. Sachs gehörte zum engsten Kreis um Sigmund Freud, und er war einer der ersten, die die Psychoanalyse nicht nur rein medizinisch verstanden, sondern auf kulturelle Phänomene anwandten, insbesondere auf Literatur und dann auch auf den Film. Sachs und sein Kollege Karl Abraham, ebenfalls aus dem engen Kreis um Freud, waren die fachlichen Berater bei Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (Pabst und sein Produzent Hans Neumann wollten auch Freud als Berater, doch der lehnte kategorisch ab). Sachs' Theorien über Psychoanalyse und Film überzeugten auch Macpherson, und sie beeinflussten seine Art, wie er Eisensteins Montagetheorie verstand. Sachs emigrierte 1932 in die USA, ohne dass H.D.s Analyse schon abgeschlossen gewesen wäre. Deshalb setzte sie, mit einer Empfehlung von Sachs versehen, die Behandlung bei keinem Geringeren als Freud selbst in Wien fort.


Im Zweiten Weltkrieg lebten Bryher und H.D. zusammen in einer Wohnung in London. Ab 1946 wohnten sie nicht mehr zusammen, und die immer labile H.D. hatte in diesem Jahr einen Nervenzusammenbruch. Die beiden blieben aber auf einer loseren Ebene ein Paar, und Bryher sorgte weiterhin für H.D.s Lebensunterhalt und erledigte viele praktische Dinge, so dass sich H.D. ganz auf ihre Gedichte und sonstigen literarischen Aktivitäten konzentrieren konnte. Sie wohnte wieder in der Schweiz, und 1961 starb sie nach einem Schlaganfall in Zürich. Bryher schrieb in den 50er und 60er Jahren einige erfolgreiche historische Romane, die sie über die Avantgarde-Zirkel hinaus bekannt machten. Zeitweise wohnte sie auch wieder in Kenwin, und gestorben ist sie 1983 in Vevey, nicht weit von der Villa.


Ich habe es oben schon angedeutet: Vor BORDERLINE drehte die Pool Group schon drei Kurzfilme, nämlich WING BEAT (1927), FOOTHILLS (1928) und MONKEYS' MOON (1929), die alle in und um Territet entstanden. Die ersten beiden sind nur in Fragmenten erhalten, von letzterem wurde vor einigen Jahren eine Kopie wiederentdeckt. Die Arbeit an BORDERLINE begann im Mai 1929: Macpherson verfertigte das Drehbuch in Form eines umfangreichen kommentierten Storyboards mit fast 1000 Zeichnungen. Die Dreharbeiten in der Nähe von Territet begannen im März 1930, und sie dauerten keine zwei Wochen, denn es wurde kaum geprobt, und fast jede Einstellung wurde nur einmal gedreht. Macpherson war Regisseur und führte die Kamera (eine handliche 35mm-Kamera vom Typ Debrie Parvo L, die man sowohl kurbeln als auch elektrisch antreiben konnte), und sein Vater, der Maler John Macpherson, assistierte als Beleuchter. Den Schnitt besorgte das Pool-Trio gemeinsam, und im Juni war der Film fertig. Er wurde in ausgewählten Kinos und Filmclubs gezeigt, etwa in Berlin im Kino "Rote Mühle", und in Brüssel bei einem Filmkongress. Wie schon erwähnt, waren die meisten Kritiken ungnädig, und in England sogar ausgesprochen hämisch. BORDERLINE hätte 1931 auch in den USA gezeigt werden sollen, wurde aber bei der Einfuhr aus unbekannten Gründen vom Zoll konfisziert. Die häufigste Begründung für die schlechten Noten war, dass die Handlung "unklar" oder "obskur" und die Struktur "chaotisch" sei.


In der Tat ist die ohnehin knappe äußere Handlung auch recht elliptisch dargeboten, so dass man sich manches selbst zusammenreimen oder aus eher versteckten Details erschließen muss. So ist etwa ein im Lokal hängendes Plakat, das Reklame für die schweizerische Schifffahrtslinie auf dem Genfer See macht, der (wenn ich nichts übersehen habe) einzige Hinweis darauf, wo das Ganze ungefähr spielt. Aber auch im Beziehungsgeflecht der vier Hauptpersonen bleibt manches unklar und der Interpretation des Zuschauers überlassen. Denn die Beziehungen werden zum größten Teil nicht durch Dialoge oder gar erläuternde Texttafeln transportiert, sondern einerseits durch Gesten und Blicke, und andererseits durch symbolische Zwischenschnitte. Es wird viel geblickt in BORDERLINE, Blicke, die Begehren, Eifersucht oder Wut ausdrücken, aber wenig gehandelt und wenig geredet (in dem Sinn, dass es nur wenige Zwischentitel mit Dialogen gibt, die dann auch immer recht knapp ausfallen). Und zwischen den Einstellungen, die den Plot voranbringen, gibt es Bilder etwa von einer Katze auf der Straße, die sich aus einem Wasserglas einen Fisch angelt, von Bergen und einem ziemlich grandiosen Wasserfall, aber auch Großaufnahmen von den Körpern der Darsteller (und hier vor allem von Robesons Körper). Auch die Symbolik dieser Zwischenschnitte wird nicht auf dem Präsentierteller dargeboten, sondern bleibt offen für Interpretationen. Das Thema Homosexualität wird nicht offen angeschnitten, ist aber sehr wohl unterschwellig vorhanden. Der Pianist hat ein Foto von Pete an sein Klavier geklemmt, direkt neben den Noten, so dass er es jederzeit betrachten kann (womit wir wieder bei den Blicken sind). Und die Bardame und ihre Chefin wirken sehr vertraut miteinander, die eine krault der anderen auch mal das Haar - vielleicht sind sie mehr als nur Freundinnen. Andeutungen, Indizien ...

Zwischenschnitte
Das Schnitttempo von BORDERLINE ist über die gesamte Laufzeit gemessen nicht übermäßig hoch, er entspricht in dieser Hinsicht also keineswegs einem der Revolutionsfilme von Eisenstein oder Pudowkin. Doch an einzelnen Stellen, vor allem beim tödlichen Streit zwischen Astrid und Thorne, wird das Tempo stark angezogen. Es kommt hier zu regelrechten Ausbrüchen von Schnittgewittern, mit Einstellungen, die nur etwa vier bis sieben Frames lang sind und sich rasend schnell abwechseln, so dass ein stroboskopartiger Effekt entsteht. H.D. hat in einem Artikel über den Film von 1930 dafür den Ausdruck clatter montage geprägt. Ein derart hochfrequenter Schnitt kam auch bei Eisenstein selten vor, wenn überhaupt, wohl aber bei den französischen Impressionisten um Abel Gance (die natürlich auch auf dem Radar von Close Up waren).

Großaufnahmen von Körperteilen
Ein gemeinsames Interesse des Pool-Trios habe ich noch nicht erwähnt, nämlich die "Rassenfrage" (und damit kommen wir langsam zu Robeson). Alle drei (und auch Herring und andere Close Up-Autoren) interessierten sich für afroamerikanische und schwarzafrikanische Kultur und waren strikt gegen Rassismus eingestellt, auch gegen einen "wohlwollenden", paternalistischen Rassismus, wie er auch in vielen Hollywood-Filmen zum tragen kam. Ein besonderer Motor dieses Interesses war die Harlem Renaissance der 20er Jahre, in der urbane schwarze Intellektuelle und Schriftsteller wie W.E.B. Du Bois, Langston Hughes und Walter Francis White ebenso wie Blues- und Jazzmusiker wie Bessie Smith und Duke Ellington über die USA hinaus Strahlkraft entfalteten. Auch vom "schwarzen Paris" waren Macpherson, Bryher und H.D. beeindruckt, in dem Künstler wie Josephine Baker und Johnny Hudgins (die auch beide Bestandteil der Harlem Renaissance waren) reüssierten, ja geradezu Triumphe feierten (auch Eisenstein war davon ungemein beeindruckt, als er Anfang 1930 einige Wochen in Paris verbrachte, bevor er nach Hollywood aufbrach).

Astrids letzte Stunden
Die Close Up-Ausgabe vom August 1929 war ausschließlich der schwarzen Kultur, und insbesondere den Möglichkeiten des schwarzen Films, gewidmet. Das Trio war keineswegs frei von zeitgebundenen Klischees und Vorurteilen. Eslanda Robeson schrieb in ihrem Tagebuch, dass sie und Paul manchmal Tränen lachten über die naiven Vorstellungen von Macpherson und H.D. über die "Negroes" und dabei ihr Make-up ruinierten und sich neu schminken mussten. Aber das Interesse und Engagement war aufrichtig, und damit standen sie damals in Europa nicht allein da. So veröffentlichte etwa Nancy Cunard 1934 in London als Herausgeberin die eindrucksvolle, fast 900 Seiten starke Anthologie Negro, zu der ca. 150 Mitarbeiter (zwei Drittel Schwarze) beitrugen. Nancy Cunard (1896-1965) war sozusagen eine Kollegin von Bryher: Auch sie war die Erbin eines reichen Vermögens, das aus einer Reederei (der berühmten Cunard Line) stammte. Auch sie floh vor ihrer Familie nach Paris, wo sie alle maßgeblichen Künstler und Schriftsteller kannte und einen nicht gewinnorientierten Verlag gründete, und auch sie war stark antirassistisch und antifaschistisch eingestellt. Der Kreis ihrer Freunde und ihrer literarischen Schützlinge als Verlegerin überschnitt sich stark mit dem von Bryher, und (die heterosexuelle) Cunard und Bryher waren auch miteinander befreundet. Macpherson steuerte zur Anthologie Negro einen Artikel mit dem Titel "A Negro Film Union - Why Not?" bei.

Cover sowie Impressum und Inhaltsangabe der Ausgabe vom August 1929
1930 konnte Paul Robeson schon sehr ansehnliche Honorare verlangen, doch in BORDERLINE hat er offenbar - genau wie alle anderen Darsteller - umsonst mitgespielt. Man weiß nicht genau, wie er dazu überredet wurde. Paul Robeson (1898-1976) war von eindrucksvoller körperlicher Statur, und schon während seines Studiums an der Rutgers University betrieb er erfolgreich mehrere Sportarten, und er war sogar kurzzeitig Profi-Footballer. Nach Abschluss seines juristischen Examens an der Columbia University trat er in eine Anwaltskanzlei ein, doch als man ihm bedeutete, dass ihn nie ein weißer Klient als Rechtsvertreter akzeptieren würde, ließ er die Juristerei sein und wandte sich als Sänger und Schauspieler dem Showbusiness zu. (Man ist sich nicht ganz einig, ob seine überaus kräftige Singstimme ein Bass oder Bariton war - die ehrwürdige New York Times hat dieser Frage sogar einen tiefschürfenden Artikel gewidmet.) Seit 1923 stand er in New York auf der Bühne und wurde nun auch ein Bestandteil der Harlem Renaissance. Sein Durchbruch kam mit den Hauptrollen in zwei Stücken von Eugene O'Neill, und seine erste Filmrolle spielte Robeson in BODY AND SOUL (1925) von Oscar Micheaux, dem wichtigsten Produzenten und Regisseur des frühen afroamerikanischen Films (race films nannte man diesen Sektor damals). BORDERLINE war sein zweiter Film (wenn man die zusammengestückelte Obskurität CAMILLE des Cartoonisten Ralph Barton nicht mitzählt). Seit 1927 lebte und arbeitete Robeson vorwiegend in London, und er hatte in Sprechstücken ebenso wie in Musicals und mit Konzerten Erfolg. Zu seinen Markenzeichen zählten etwa die Rolle des Othello und seine Interpretation von "Ol' Man River" aus dem Musical "Show Boat".

Die Chefin raucht Zigarre
Von 1921 bis zu ihrem Tod war Robeson mit Eslanda (1895-1965) verheiratet. Sie hatte Chemie studiert und arbeitete in diesem Metier in einem Krankenhaus, und nach der Hochzeit wurde sie auch Pauls Managerin, zunächst nebenbei, und ab 1925 hauptberuflich. Robeson war ein Womanizer, und um 1930 herum übertrieb er es offenbar mit seinen Affären (u.a. mit seiner Bühnenpartnerin Peggy Ashcroft, seiner Desdemona in "Othello"). 1931 hatte Eslanda genug. Sie trennte sich von Paul, studierte in London nun auch noch Anthropologie, spielte nebenbei in drei Filmen mit und machte eine Forschungsreise nach Afrika (zu der später noch zwei weitere kamen), worüber sie ein Buch aus feministischer Sicht schrieb. Die zunächst geplante Scheidung wurde zwar schnell wieder abgesagt, aber die Ehe war nur noch eine Zweckgemeinschaft zur Erziehung ihres Sohnes Paul jr., sowie eine berufliche Gemeinschaft, denn Eslanda war nach wie vor Pauls Managerin. Die beiden engagierten sich auch gemeinsam in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung, wobei Eslanda auch ihren feministischen Standpunkt einbrachte, und unabhängig von Paul verfolgte Eslanda eigene Projekte, so schrieb sie weitere Bücher. Pauls Filmkarriere begann eigentlich erst 1933 so richtig, als er in englischen und amerikanischen "weißen" Filmen wie THE EMPEROR JONES, SANDERS OF THE RIVER, SHOW BOAT, SONG OF FREEDOM und der zweiten Verfilmung von KING SOLOMON'S MINES Hauptrollen spielte.


Robeson war schon früh an der Bürgerrechtsfrage interessiert, und in England wurde er auch für den Sozialismus gewonnen. Er las einerseits Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber andererseits unterstützte er ganz praktisch walisische Bergarbeiter, die unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen litten und zusätzlich gerade von einem schweren Grubenunglück heimgesucht wurden. Noch Jahrzehnte später hielt man im südwalisischen Bergbaugebiet Robeson ein ehrendes Andenken. 1934 besuchte er auf Einladung von Eisenstein, mit dem er sich befreundete, zum ersten Mal die Sowjetunion, wo er keinerlei Rassismus begegnete, was dazu führte, dass er lange - vielleicht allzu lange - dem Stalinismus völlig unkritisch gegenüberstand, als dessen Verbrechen längst bekannt waren. In den Zeiten des Roosevelt'schen New Deal und der kriegsbedingten Partnerschaft der USA und der UdSSR bescherte Robesons politische Einstellung ihm in der Heimat keine größeren Probleme, doch das änderte sich nach dem Krieg dramatisch. Er wurde nun als Kommunist scharf angegriffen, das FBI bespitzelte ihn nicht nur permanent, sondern behinderte auch aktiv seine Konzerte, und seine Schallplatten und Filme wurden mit einem Bann belegt. Als Höhepunkt der Hexenjagd wurde ihm 1950 vom Außenministerium der Reisepass entzogen, so dass er die USA nicht mehr verlassen durfte. Besonders perfide war, dass "patriotische" schwarze Sportler und Bürgerrechtler (die teilweise stark unter Druck gesetzt wurden) gegen den "Landesverräter" ausgespielt wurden. Internationale Proteste gegen den Entzug des Passes blieben ebenso erfolglos wie Robesons jahrelange Gerichtsprozesse dagegen. Erst nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, die nicht ihn persönlich betraf, aber allgemeine Geltung hatte, bekam er 1958 wieder einen Pass. Er nutzte das, um, wie schon rund 30 Jahre zuvor, wieder nach London zu ziehen, wo das Klima ihm gegenüber weit freundlicher war. In den Ostblockstaaten, wohin er jetzt wieder reisen konnte, wurde er mit Ehrungen überhäuft. Von den zermürbenden Auseinandersetzungen und von Krankheiten geschwächt, beendete er 1963 seine Karriere und zog wieder in die USA, wo er 1976 in Philadelphia starb. Ich könnte noch viele interessante Dinge über diesen in mehrerlei Hinsicht faszinierenden Künstler erzählen, z.B. wie Eisenstein mit ihm in der Hauptrolle einen Film über die erfolgreiche Sklavenrevolution in Haiti drehen wollte. Aber der Artikel ist schon ziemlich lang - vielleicht ein andermal ...


BORDERLINE ist in Deutschland bei arte (in Zusammenarbeit mit absolut Medien) auf DVD erschienen, mit einem gelungenen Soundtrack des englischen Saxophonisten Courtney Pine. In England gibt es BORDERLINE auf einem 2-DVD-Set vom BFI, mit demselben Soundtrack und einem Booklet mit drei Essays. Auf der zweiten Scheibe befindet sich der Dokumentarfilm KENWIN (1996) von Véronique Goël, den ich allerdings ziemlich frustrierend finde. In den USA gibt es von Criterion die 4-DVD-Box Paul Robeson: Portraits of the Artist, die sechs Spielfilme von BODY AND SOUL über BORDERLINE bis THE PROUD VALLEY (1940) ebenso enthält wie Leo Hurwitz' und Paul Strands klassisches Doku-Drama NATIVE LAND (1942), in dem Robeson als Erzähler fungiert, dazu noch die Doku PAUL ROBESON: TRIBUTE TO AN ARTIST und weiteres Bonusmaterial. Wenn man bezüglich Robeson nicht kleckern, sondern klotzen will, dann ist man hier richtig. Daneben gibt es in den USA und in England noch weitere Boxen und Einzel-DVDs mit Robeson-Filmen, sowie die empfehlenswerte zweistündige Doku PAUL ROBESON - HERE I STAND.


Irgendwann gelangten die Verwertungsrechte an Close Up an die amerikanische Kongressbibliothek, die sie als Public Domain freigegeben hat. Und erfreulicherweise hat man sich die Mühe gemacht und sämtliche Ausgaben gescannt und in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Man findet jetzt alle zehn Bände (von 1927 bis 1930 jeweils ein halbes Jahr und von 1931 bis 1933 jeweils ein Jahrgang) beispielsweise bei archive.org (hier verlinkt), wo man sowohl online stöbern als auch die Bände in verschiedenen Formaten komplett herunterladen kann. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann man das 340-seitige Buch CLOSE UP 1927-1933: Cinema and Modernism, das ausführliche Kommentare der Herausgeber und einen informativen Anhang mit ausgewählten, thematisch geordneten Artikeln aus Close Up vereint, komplett als PDF herunterladen. Da bleiben für den geneigten Hobby-Forscher kaum noch Wünsche offen!

Das Ende