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Montag, 15. Juli 2013

Ein Sperling und ein Krieg

DER SPERLING (LE MOINEAU, AL ASFOUR bzw. AL USFUR, العصفور)
Ägypten/Algerien 1972
Regie: Youssef Chahine
Darsteller: Seif El Dine, Habiba, Salah Kabil, Mohsena Tawfik, Salah Mansour, Aly El Cherif, Miriam Fakr Eldine, Ragaa Hussein
(Es ist mir nicht gelungen, eine Zuordnung der Darsteller zu den Rollen aufzutreiben. Ich gebe die Namen hier in der Schreibweise und Reihenfolge wider, wie sie in den Credits am Anfang des Films aufscheinen.)

Ein Kairoer in der Provinz
Der Sechstagekrieg im Juni 1967 veränderte das Koordinatensystem im Nahen Osten grundlegend und zeitigte Folgen, die bis heute nachwirken. In Ägypten bewirkte die demütigende Turbo-Niederlage gegen Israel in der Bevölkerung, unter Intellektuellen ebenso wie in der breiten Masse, geradezu eine Traumatisierung. Wie konnte es dazu kommen? lautete die Frage, die man sich allgemein stellte, und Youssef Chahine stellte sich diese Frage ebenfalls. Seine Antwort: Es war die allgemein verbreitete Korruption, die den ägyptischen Staat (und damit auch die Armee) geschwächt hatte. Und weil der Fisch vom Kopf her zu stinken beginnt, suchte Chahine die Hauptschuld bei der politischen Führung des Landes. Chahine hatte früher schon politische Themen aufgegriffen, etwa die schlechte Lage der ägyptischen Bauern in IBN EL-NIL (1951) und SIRAA FIL-WADI (1954), in dem Omar Sharif in seiner ersten Rolle den Helden spielt, oder die Gründung einer Gepäckträger-Gewerkschaft (als Nebenthema in diesem erstaunlichen Film) in BAB EL HADID (TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO, 1958). Aber erst durch die Ereignisse von 1967 wurde Chahine im eigentlichen Sinn politisiert, wie er später selbst sagte. DER SPERLING ist der dritte und expliziteste Film einer informellen Trilogie, die den Ursachen des Debakels nachspürt.

Raouf (links) und Youssef
Bis 1967 war Chahine - wie damals die weit überwiegende Mehrheit der Ägypter - eigentlich ein Anhänger von Gamal Abdel Nasser und seiner Politik. Der Kampf gegen die feudalen Verhältnisse, die noch unter dem 1952 gestürzten König Faruk geherrscht hatten, das selbstbewusste Auftreten gegenüber den früheren Kolonialmächten England und Frankreich (mit der Verstaatlichung des Suezkanals als Höhepunkt), der gemäßigte Sozialismus im Rahmen einer blockfreien Außenpolitik, der panarabische Nationalismus - all das fand Chahines volle Zustimmung. Gänzlich ungetrübt war sein Verhältnis zum Regime dennoch nicht: Nach Querelen mit der Bürokratie der seit 1961 verstaatlichten Filmindustrie ging er 1965 ins freiwillige Exil in den Libanon (das Land seines Vaters), wo er das sehr erfolgreiche Musical DER RINGVERKÄUFER drehte, das von einem Kritiker einmal als die beste Musikkomödie der gesamten arabischen Welt bezeichnet wurde. Chahine kam dann aber doch zum Schluss, dass er nur in Ägypten vernünftig arbeiten konnte, und kehrte nach gut anderthalb Jahren zurück. Kurz danach kamen der Krieg und die Niederlage, und Chahine begann, seine Positionen zu überdenken. Zunächst inszenierte er noch als ägyptisch-sowjetische Coproduktion einen Film, der vor dem Hintergrund der Errichtung des Assuan-Damms spielt (und der in beiden Ländern auf wenig Gegenliebe stieß und in Ägypten wegen Schwierigkeiten mit der Zensur erst 1972 herauskam), dann folgte die erwähnte informelle Trilogie. AL-ARD (DIE ERDE, 1969) spielt ebenso wie der zugrundeliegende Roman in den 1930er Jahren, es lag also am Publikum, die aktuellen Bezüge herauszulesen. Auch in AL-IKHTIYAR (DIE WAHL, 1970), bei dem der spätere Nobelpreisträger Nagib Mahfuz am Drehbuch mitschrieb (wie zuvor schon bei zwei Filmen Chahines), ging er die Analyse der ägyptischen Gegenwart indirekt und allegorisch an (ein schizophrener Autor, der seinen Zwillingsbruder ermordet, um neben seinem eigenen Leben auch dessen Rolle auszufüllen, symbolisiert die in sich gespaltene ägyptische Gesellschaft).

Raouf und Scheich Achmed
Umso direkter war der Zugriff auf das Thema in DER SPERLING. Eine Texttafel (in der vorliegenden Fassung des Films auf Französisch) am Anfang macht klar, worum es geht:
In den Straßen von Kairo, Algier, Tunis und Bagdad, ja in allen arabischen Hauptstädten, und in den kleinsten Dörfchen, fragen mich die Jugendlichen: "Sag, Youssef, was ist denn im Juni '67 passiert? Woher kam diese Niederlage? Weshalb? Wir waren doch alle bereit, den Angriff zu ertragen?"

Für all die mutigen Menschen, einfache "Sperlinge", die ich so liebe, die ihrerseits am 9. Juni keine einzige Minute zögerten, auf die Straßen zu gehen, entschlossen, sich dem Feind gegenüberzustellen, da man ihnen in den Gassen ihrer Quartiere den Schwung genommen hat; für sie alle versuchen wir heute, mit "Le moineau", einige Aspekte der nationalen und internationalen Aufmachung aufzuhellen, denen sie ahnungslos zum Opfer gefallen sind.

          Youssef Chahine             (Übersetzung von der Schweizer DVD)
Als Aufhänger dient ein fiktiver (aber wohl wirklichkeitsnaher) Skandal: Eine Fabrik in der Nähe der Stadt Assiut in Mittelägypten, rund 400 km südlich von Kairo, wird seit sechs Jahren gebaut, ohne je fertig zu werden, was die nötige und eigentlich mögliche Verbesserung der lokalen Wirtschaft (und damit der Versorgungslage der einfachen Bevölkerung) hintertreibt. Grund dafür ist systematische Korruption und Unterschlagung: Maschinen und Bauteile, die tagsüber angeliefert werden, werden nächtens gleich wieder mit unbekanntem Ziel abtransportiert. Lokaler Drahtzieher der dubiosen Verschiebeaktionen ist der Bandit Abu Khedr, aber die wahren Hintermänner sind andere, und sie dürfen in den höheren Kreisen Kairos vermutet werden. Gleich mehrere Personen brechen von Kairo in die Gegend um Assiut auf, um sich Abu Khedrs zu bemächtigen. Raouf ist ein junger Polizeihauptmann, der mit einer schwer bewaffneten Kompanie ausgeschickt wurde, um den Banditen tot oder lebendig zu fassen, doch zunächst bleibt Abu Khedr ein Phantom für ihn. Ihm eine Nasenlänge voraus ist Youssef, ein idealistischer Journalist, der die Hintergründe des Fabrikskandals recherchieren will. Es ist ihm gelungen, Abu Khedr aufzuspüren und ein Interview mit ihm zu führen, und dieser ließ dabei durchblicken, dass er in der Lage sei, die Hintermänner auffliegen zu lassen. Das sorgt in Kairo für Unruhe - auch bei Youssefs Vater, einem reichen Geschäftsmann. Und dann ist da noch der etwas grobschlächtige und polternde, aber eigentlich recht liebenswürdige Scheich Achmed, der aus der Gegend stammt, aber schon lange in Kairo lebt und ein Freund von Youssef ist. Er will aus Rache Abu Khedr töten, weil sein Cousin kürzlich bei einer der nächtlichen Transaktionen bei der Fabrik erschossen wurde. Angestachelt von der Mutter des Toten, gibt Achmed Abu Khedr die Schuld, ohne genau zu wissen, was eigentlich vorgefallen ist. Die Wege der verschiedenen Parteien, die alle hinter Abu Khedr her sind, kreuzen sich schnell. Raouf und Youssef kommen ins Gespräch und sind sich sympathisch, obwohl sie nicht ganz dieselben Ziele verfolgen. Scheich Achmeds Verhältnis zu Raouf ist dagegen zunächst mal gespannt. Weil er fürchtet, dass Scheich Achmed selbst getötet werden könnte, und damit er die Polizeiaktion nicht stört, lässt Raouf ihn kurzerhand verhaften. Dann trifft noch jemand aus Kairo ein, nämlich Raoufs Stiefvater Ismail, ein hoher Polizeioffizier. Er will die Aktion gegen Abu Khedr jetzt selbst leiten, weil er von Youssefs Vater inoffiziell damit beauftragt wurde. Und sein Erscheinen zeitigt das in Kairo gewünschte Resultat: Abu Khedr wird aufgespürt und in einer nächtlichen Aktion erschossen. Damit sind die verschiedenen Missionen erledigt, und man kann wieder nach Kairo zurückkehren, wo die zweite Hälfte des Films spielt.

Eine Fabrik verrottet, bevor sie fertig ist
Raouf und Scheich Achmed fahren zusammen in einem Jeep, raufen sich dabei zusammen und werden ebenfalls Freunde. Das wird befördert dadurch, dass Raoufs toter Vater Gaber, ein Sänger, mit Achmed und Youssef gut befreundet war. Ebenfalls zu diesem Freundeskreis gehört Baheya, die mit ihrer erwachsenen Tochter Fatma davon lebt, dass sie Zimmer vermietet und Kleider für Filmproduktionen näht. Zuhause erfährt Raouf von Ismail, zu dem sein Verhältnis schon zuvor nicht ungetrübt war, dass dieser nicht nur sein Stiefvater, sondern auch sein biologischer Vater ist, weil er ein Verhältnis zu Raoufs Mutter hatte, als diese noch mit Gaber verheiratet war. Diese Tatsache war vielleicht der Grund dafür, dass sich Gaber das Leben nahm, und Raouf, der Gaber nach wie vor als seinen "richtigen" Vater betrachtet, packt jetzt seine Koffer und zieht aus. Er nimmt sich ein Zimmer bei Baheya, wo er als Sohn des toten alten Freundes Gaber sehr herzlich aufgenommen wird. Unterdessen arbeitet Youssef weiter an seinen Recherchen, und es gelingt ihm, Raouf, der offenbar Urlaub hat, dafür zu begeistern, und Scheich Achmed, Baheya und Fatma beteiligen sich ebenfalls. Tatsächlich gelingt es, die Spur der LKWs, mit denen das Material aus der Fabrik abtransportiert wird, in Kairo wieder aufzunehmen. Und es bestätigt sich, was sich schon angedeutet hatte: Youssefs Vater ist einer der Strippenzieher der Aktion. Doch Youssef hat Schwierigkeiten, die Story bei seiner Zeitung anzubringen. Einerseits bekommt der Chefredakteur Druck, nicht zuviel zu enthüllen, andererseits überschatten der unmittelbar bevorstehende Krieg, mit dessen Ausbrechen jedermann rechnet, alle anderen Themen. Dieser zeitgeschichtliche Rahmen des Films wird von Anfang an etabliert. Nicht nur durch die Texttafel, sondern auch durch Zeitungsschlagzeilen, die ebenfalls ganz am Anfang eingeblendet werden, und dann immer wieder mal durch Dialoge, wenn sich die Protagonisten über die aktuelle Lage unterhalten, sowie durch Briefe von Raoufs Bruder Riad, der als Soldat auf dem Sinai stationiert ist, dem Hauptaufmarschgebiet des bevorstehenden Kriegs.


Und dann ist es tatsächlich so weit: Während Raouf und Fatma, die sich schnell näher gekommen sind, miteinander schlafen, beginnen die israelischen Angriffe, was Chahine in einer Montagesequenz zeigt, in die dokumentarische Aufnahmen der Kämpfe eingeschnitten sind. Die detektivische Recherche der fünf Freunde ist nun bedeutungslos geworden, der Krieg dominiert das Geschehen vollständig. Chahine zeigt jetzt, wie in geschönten Radiomeldungen die Bevölkerung über den aus arabischer Sicht desaströsen Verlauf des Kriegs getäuscht wird. Erst am 9. Juni, dem vorletzten Tag des Kriegs, wendet sich Präsident Nasser in einer Fernsehansprache an das Volk, gesteht die Niederlage ein und erklärt seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern (dem nach Massendemonstrationen für seinen Verbleib bald der Rücktritt vom Rücktritt folgte). "Wir haben den Krieg verloren, ohne es zu merken", kommentiert Scheich Achmed fassungslos diese Ansprache, von der ein Ausschnitt im Film zu sehen ist. Doch das ist für Chahine nicht das Ende. Er inszeniert jetzt den erwähnten Massenprotest, und er macht ausgerechnet die jetzt sehr heroisch gezeichnete Baheya zu einer Anführerin dieser spontanen Aufmärsche, mit denen der Film dann tatsächlich endet. "Wer hat diese Demonstration bestellt? Waren wir das?" fragt sehr bezeichnend ein ratloser Funktionär. Und Chahine interpretiert diese Aufwallung der Massen so, dass hier nicht in erster Linie für Nasser, sondern für eine Fortsetzung des Kampfes gegen Israel unter allen Umständen demonstriert wird. In diesen letzten Szenen hat Chahine auch ein allegorisches Bild untergebracht: Ein Sperling entkommt aus seinem Käfig und fliegt in die Freiheit (zur symbolischen Bedeutung des eponymen Vogels siehe die Texttafel vom Anfang). Aus Chahines damaliger Sicht ist der Schluss des Films sehr konsequent und wirkungsvoll. Für mich als neutralen Betrachter aus großer zeitlicher Distanz ist das aber eine Nummer zu patriotisch, pathetisch und martialisch geraten. Die Möglichkeit eines Friedens mit Israel scheint Chahine damals nicht erwogen zu haben. Aber wer hat das schon im Ägypten von 1972 (oder gar 1967)? Erst nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 wurde langsam die Zeit dafür reif.

Nasser hält eine schwere Ansprache im Fernsehen
Ich hatte gewisse Schwierigkeiten, in den Film hineinzufinden. Zwar kreuzen sich, wie erwähnt, die Handlungsstränge schnell, aber trotzdem war für mich nicht so schnell zu erkennen, worauf das alles hinausläuft. Das Erzähltempo ist durchaus hoch, besonders am Anfang, dazu kommt eine nichtlineare Zeitstruktur. Die Geschichte wird insgesamt chronologisch erzählt, aber es gibt viele sehr kurze Flashbacks, die nicht deutlich abgegrenzt sind. So bekam ich erst ungefähr in der Mitte den roten Faden zu fassen, und eine zweite Sichtung war fällig. Die enthüllte dann einen komplexen, aber nie trockenen, sondern sehr lebendigen und in den Details liebevoll gezeichneten Film. Neben dem Hauptthema werden auch weitere Aspekte beleuchtet, beispielsweise das Aufeinandertreffen moderner Sitten (und insbesondere moderner Frauenbilder) aus Kairo und archaischer Vorstellungen in der Provinz am mittleren Nil. Trotz eines ideologisch etwas fragwürdigen Endes ist DER SPERLING ein sehr sehenswerter Film. Um ihn - in der inzwischen wieder weitgehend privatisierten Filmlandschaft Ägyptens - drehen zu können, hatte Chahine eine eigene Firma gegründet und das algerische Office National pour le Commerce et l'Industrie Cinématographique, das die Hälfte der Kosten trug, als Kooperationspartner an Bord geholt. Erst diese algerische Beteiligung (der bei späteren Filmen Chahines weitere folgen sollten) verschaffte ihm die notwendige Unabhängigkeit, um das nach wie vor unbequeme Thema des Films in Angriff nehmen zu können. Wie heikel das Thema noch war, zeigte sich schnell: Der Film wurde 1972 in Ägypten von der Zensur verboten und erst 1974 freigegeben. - DER SPERLING ist in der Schweiz bei trigon auf DVD erschienen, und zwar in einer Box, die auch TATORT HAUPTBAHNHOF KAIRO und DIE RÜCKKEHR DES VERLORENEN SOHNES (1976) sowie drei halbstündige Dokus als Bonus enthält. Eine französische DVD-Box mit DER SPERLING und drei weiteren Chahine-Filmen gibt es auch.

Frauen aus der Provinz und aus Kairo (oben Zebeida, eine Verwandte
von Scheich Achmed, l.u. Baheya, r.u. Fatma)