Montag, 27. Januar 2014

Lateinamerika, gegen den Strich gebürstet

Kürzlich habe ich hier anhand dreier Beispiele die spanische DVD-Box "Del Éxtasis Al Arrebato" vorgestellt, die von der Firma Cameo in Zusammenarbeit mit diversen kulturellen und politischen Körperschaften herausgebracht wurde. Dieselben Herausgeber stellten als Nachfolgeprojekt unter dem Titel "Cine A Contracorriente" - was ungefähr "Film gegen den Strom" oder "gegen den Strich" bedeutet (auf Englisch als "against the grain" wiedergegeben) - ein Filmprogramm und eine DVD auf die Beine, die sich dem lateinamerikanischen Avantgardefilm widmen, was der Untertitel "Un recorrido por el otro cine latinoamericano" (A journey through the other Latin American cinema) zum Ausdruck bringt. Wieder ist das Booklet zweisprachig Spanisch/Englisch, und im Menü und bei den Untertiteln ist sogar noch Portugiesisch als weitere Sprache dazugekommen. Hier also nicht zwei, sondern nur eine DVD, aber immerhin fast drei Stunden, die sich auf 19 Filme verteilen. Diesmal will ich nicht einige YouTube-Videos herausgreifen, sondern alle Filme kurz vorstellen. Die Anordnung auf der DVD ist chronologisch, und ich folge diesem Schema.



TRAUM
2:18, 16mm
Deutschland 1933
Regie: Horacio Coppola und Walter Auerbach


Nicht nur der älteste und zweitkürzeste Film in der Kompilation, sondern auch der einzige, der gar nicht in Lateinamerika entstand. Horacio Coppola war ein argentinischer Fotograf und (gelegentlich) Filmemacher, der seinerzeit am Bauhaus in Dessau studierte, und sein Freund und Coregisseur Walter Auerbach (nicht der gleichnamige SPD-Politiker) war ebenfalls am Bauhaus. Coppola heiratete die Fotografin Grete Stern, Auerbach Sterns Freundin und Kollegin Ellen Auerbach (geb. Rosenberg). Noch mehr über das Quartett, vor allem die beiden Frauen, erfährt man hier und hier. - TRAUM ist eine kurze surrealistische Fingerübung. Zwei Männer (vielleicht die Regisseure, aber ich weiß es nicht) begegnen und verfolgen sich, Dinge (darunter Hüte) fliegen durch die Luft, am Ende gibt es eine Serie von Jump Cuts. TRAUM ist sicher von den diversen europäischen surrealistischen Filmen beeinflusst, die es damals schon gab, am meisten vielleicht von Hans Richters VORMITTAGSSPUK, aber wie im Booklet der DVD ganz richtig angemerkt wird, weist er auch schon etwas auf Maya Deren voraus. Die verwendete Kopie ist schon von Zersetzung befallen, die Bildqualität ist also schlecht.



ESTA PARED NO ES MEDIANERA
9:31, 35mm
Peru 1952
Regie: Fernando de Szyszlo


Noch ein surrealistischer Film (der Titel bedeutet wohl ungefähr "Diese Wand ist keine Zwischenwand"). Ein junger Mann, der hinter (symbolischen) Gitterstäben gefangen ist - vielleicht ein Symbol für einen Ehe-Käfig -, bricht aus, trifft an einem Strand eine schöne junge Frau, kämpft mit einem anderen Mann, und am Ende landet er in einem Zirkus wieder hinter Gitterstäben und muss die Frau mit dem anderen Mann davongehen sehen. - Der lange verschollene Film tauchte als Betamax-Kopie wieder auf, die ebenfalls sehr schlechte Bildqualität trägt aber vielleicht gerade zum visuellen Reiz mancher Szenen bei. Fernando de Szyszlo hatte einige Zeit in Paris verbracht, wo er die modernen avantgardistischen Strömungen kennenlernte, bevor er nach Peru zurückging und den Film drehte.



LA CIUDAD EN LA PLAYA
11:52, 16mm
Uruguay 1961
Regie: Ferruccio Musitelli


Veristische bis poetische Impressionen von einem Badestrand bei Montevideo, für die Nationale Tourismuskommission gedreht. Was eine dröge Auftragsarbeit hätte werden können, geriet dem vor einem Jahr mit 85 Jahren verstorbenen Ferruccio Musitelli zu einer gut komponierten und unterhaltsam gefilmten Studie, die den Bogen spannt von der noch menschenleeren Küste im Morgengrauen bis zu Hubschrauberaufnahmen über dem dicht bevölkerten Strand am Nachmittag. Die variable und bisweilen kommentierende Musik von einem Eduardo Gilardoni komplettiert den schönen Film, der wie die beiden vorhergehenden und der nächste ohne Worte auskommt. LA CIUDAD EN LA PLAYA erhielt eine lobende Erwähnung beim Festival in Karlovy Vary.



REVOLUCIÓN
9:10, 16mm
Bolivien 1963
Regie: Jorge Sanjinés


Jorge Sanjinés ist einer der führenden progressiven Regisseure seines Landes, und sein früher Kurzfilm REVOLUCIÓN macht schon im Titel klar, worum es geht. Es beginnt mit Bildern der Armut der (vorwiegend indigenen) Bevölkerung, der Minenarbeiter, Bauern und Bettler, deren Realismus nur durch die Musik abgemildert wird. Aufnahmen aus der Werkstatt eines Sargmachers, der Kindersärge in Serie fertigt, sind ein unmissverständlicher Hinweis auf hohe Kindersterblichkeit. Danach spricht ein Politiker oder Gewerkschaftsführer vor einer jubelnden Masse, doch paramilitärische Polizei schießt die Versammlung zusammen. Man sieht Tote, Inhaftierte, und eine Hinrichtung Gefangener durch ein Erschießungskommando. Aber das ist nicht das Ende: Arbeiter bewaffnen sich, es kommt zum Aufruhr, zur Revolution. Die Armee rückt aus, doch das Ergebnis der Konfrontation wird nicht gezeigt. Am Ende des Films hört man Schüsse fallen, doch die Kamera blickt in die Gesichter von Kindern, die so oder so zu den Opfern gehören. In Bolivien fand 1952 eine Revolution statt, doch gerade die dadurch an die Macht gekommene Regierung war es, die nach einer Vorführung im Präsidentenpalast die öffentliche Aufführung von REVOLUCIÓN untersagte. So kann es gehen. Dafür gewann der Film bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche einen nach Joris Ivens benannten Preis.



NOW!
5:27, 35mm
Kuba 1965
Regie: Santiago Álvarez


Nach der Vorspann-Sequenz, die mit einer jazzigen Instrumentalversion von "Hava Nagila" unterlegt ist, besteht der Soundtrack der restlichen gut vier Minuten aus "Now!" von Lena Horne, das auf derselben Melodie beruht. Lena Horne war nicht nur eine große Sängerin und brauchbare Schauspielerin, sondern auch langjährige Bürgerrechtsaktivistin, und passend zum Thema des Songs zeigt der Film dazu Fotos und dokumentarische Filmschnipsel von zeitgenössischen Rassenunruhen in den USA, insbesondere von Polizei, die Demonstranten verprügelt. In einer kurzen und vielleicht allzu polemischen Sequenz ist auch eine Aufnahme von einer Nazi-Parteiveranstaltung eingeschnitten. Am Ende wird der Titel des Songs und des Films mit einer Maschinenpistole in eine Wand geschossen (wie man es ähnlich im einen oder anderen Edgar-Wallace-Film sah). Santiago Álvarez hat mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eine zornige Anklage gegen den Rassismus in den USA gestaltet. Man könnte kleinlich beanstanden, dass er (im Gegensatz zur Bürgerrechtsbewegung) seine Attacke gegen den Klassenfeind aus sicherer Distanz geritten hat, doch andererseits: Welcher US-Regisseur hätte statt seiner diesen tollen Film gemacht? Auch NOW! errang einen Preis in Leipzig, nämlich eine "Goldene Taube". - Hier gibt es noch etwas über Lena Hornes Song, und als Zugabe den kompletten Film.



FOME
5:07, Super 8
Brasilien 1972
Regie: Carlos Vergara


Aus Bohnen ist ein Quadrat und darin in den Ecken die Buchstaben des Filmtitels (Portugiesisch für "Hunger") ausgelegt. Die Bohnen keimen aus, wodurch im Zeitraffer die Buchstaben langsam verschwimmen, dazwischen gibt es Makroaufnahmen der sprießenden Pflänzchen, und am Ende zeigt sich der bärtige Künstler selbst, halb verdeckt von seinem Miniatur-Urwald aus Bohnen. Nette Idee, aber wirklich vom Hocker gerissen hat mich der gänzlich stumme Super-8-Film nicht.



OFRENDA
4:18, Super 8
Argentinien 1978
Regie: Claudio Caldini


In einer Zeit, in der in Argentinien unter der Militärjunta Tausende gefoltert wurden und "verschwanden" (viele wurden aus dem Flugzeug ins offene Meer geworfen), machte Claudio Caldini diesen erstaunlichen Film, dessen Titel "Opfergabe" bedeutet. Man sieht: Gänseblümchen. Genauer gesagt, Blüten von Gänseblümchen vor einem schwarzen Hintergrund, immer mehrere in (scheinbar) willkürlicher Anordnung, schräg oder frontal von oben. Die Bilder wechseln in rasendem Tempo, synchron zur Musik, die von perlenden Harfenklängen dominiert wird (gespielt von Alice Coltrane, Witwe von John Coltrane und eine Pianistin und Harfenistin von Rang). Von hohem ästhetischen Reiz, und zugleich von einer künstlerischen Stringenz, die an Filme von Stan Brakhage erinnert (vergleiche etwa MOTHLIGHT).



AGARRANDO PUEBLO (auch LOS VAMPIROS DE LA MISERIA)
28:33, 16mm
Kolumbien 1978
Regie: Luis Ospina und Carlos Mayolo


Mit einer knappen halben Stunde ist AGARRANDO PUEBLO der deutlich längste Film in der Kompilation, und der erste mit Dialogen. Der Titel bedeutet wörtlich ungefähr "das Volk anfassen" oder "ergreifen", bei den Oberhausener Kurzfilmtagen 1979 lief er als DAS VOLK VERLADEN/VAMPIRE DES ELENDS. Es beginnt wie ein Film der Nouvelle vague: Auf den Straßen der Großstadt Cali dreht ein (fiktives) kleines Filmteam mit mobiler Kamera und rückt einem Bettler auf den Leib, unbeteiligte Passanten schauen zu. Von diesen in Schwarzweiß gedrehten Bildern wechselt es kurz zu Farbe: Die eben vom Team gedrehte Szene mit dem Bettler. So geht es weiter: Lange schwarzweiße Passagen, in denen man dem Filmteam über die Schulter schaut, dazwischen kurze farbige Sequenzen mit dem "dokumentarischen" Material. Aus Unterhaltungen der Teammitglieder erfährt man, dass sie im Auftrag des deutschen Fernsehens unterwegs sind, um möglichst malerisch Not und Elend an diesem Brennpunkt der Armut zu dokumentieren. Dass die Subjekte ihres Interesses gar nicht gefilmt werden wollen, interessiert sie wenig. In einer längeren Passage in ihrem Hotelzimmer beraten die Filmleute mit einem der Geldgeber und untereinander das weitere Vorgehen, dann geht es wieder auf die Straße. Mit einer "Familie" aus bezahlten Komparsen wird eine Szene gespielt, dann spricht der Reporter sein "aufrüttelndes" (und schon im Hotel durchgesprochenes und aufgeschriebenes) Fazit direkt in die Kamera - doch dabei geht etwas gründlich schief ... Und am Ende erklimmt der Film eine weitere Meta-Ebene.

AGARRANDO PUEBLO von Ospina und Mayolo ist eine äußerst sarkastische und gut gemachte Fake Documentary, die sich über Journalisten und Filmemacher echauffiert, die - im übertragenen Sinn natürlich - Vampire sind, die das Elend der Dritten Welt ausbeuten, ohne sich wirklich für die Ursachen und mögliche Lösungen der Probleme zu interessieren. Das Team im Film dreht, wie ein aufgebrachter Passant schimpft, einen "Armutsporno", mißachtet die Würde der Gefilmten aufs Gröbste, inszeniert bei Bedarf auch gefälschte Szenen, ist letzlich nur am Honorar und an möglichen Festivalpreisen im Ausland interessiert. Ironischerweise gewann auch AGARRANDO PUEBLO Preise - neben einem nationalen in Bogotá internationale in Bilbao, Lille, und den evangelischen Interfilm-Preis in Oberhausen (geteilt mit einem indischen Film).



AMA ZONA
10:37, Super 8
Argentinien 1983
Regie: Narcisa Hirsch


Bei dem Titel könnte man zunächst an den Amazonas denken, doch der Film kommt aus Argentinien, das bekanntlich ein gutes Stück vom Strom der Ströme entfernt ist. Tatsächlich geht es um Amazonen - irgendwie jedenfalls. Zur kontemplativen Musik von Stephan Micus gibt es anfangs Bilder von Gewässern und von einem Volleyballspiel auf einem Hof, ohne (für mich erkennbaren) Zusammenhang. In der dann folgenden langen zentralen Sequenz, die bewusst äußerst unscharf gefilmt ist, legt eine Frau langsam ihre Oberkleidung ab und zieht sich etwas, das Klebestreifen sein könnten, sukzessive von der Brust ab. In kurzen Momenten, wenn das Bild etwas schärfer wird, erkennt man, dass eine Flüssigkeit (Blut?) an ihrer rechten Brustseite herabfließt. Das ganze ist wohl eine Anspielung darauf, dass sich Amazonen in manchen Versionen des Mythos die rechte Brust abschnitten, um besser mit Pfeil und Bogen schießen zu können. Dann folgt eine schwarzweiße und ebenfalls unscharfe Sequenz, in der Trapezkünstler ihre Arbeit ausüben - dieser Abschnitt, der wiederum keinen für mich erkennbaren Zusammenhang mit dem Rest aufweist, hat mich etwas an Jonas Mekas' NOTES ON THE CIRCUS erinnert. Und schließlich wird ein Bogen (kein antikes Gerät und auch keine Indianerwaffe, sondern ein moderner Sportbogen) in Zeitlupe vom Boden aufgenommen, gespannt und in mehrfacher Wiederholung auf eine Zielscheibe abgeschossen. Der Pfeil trifft ins Schwarze, er federt aus, der Film ist zu Ende. AMA ZONA hat mich etwas ratlos zurückgelassen, trotzdem hat mir der Film nicht schlecht gefallen. - Die 1928 in Berlin geborene Narcisa Hirsch war 2012 Gast auf der Viennale, unter den dort gezeigten Filmen von ihr war auch AMA ZONA.



CHAPUCERÍAS
10:46, 35mm
Kuba 1987
Regie: Enrique Colina


CHAPUCERÍAS (was ungefähr "schlampige Arbeit" oder "Pfusch" bedeutet) von Enrique Colina ist eine wilde Collage: Es gibt Ausschnitte aus DR. JEKYLL AND MR. HYDE (die Version von 1931 mit Fredric March), eine Szene mit Laurel & Hardy, immer wieder eine Folge eines kubanisches Fernsehquiz im Stil von WAS BIN ICH, in dem ein Rateteam dem Moderator Ja/Nein-Fragen stellt, um einer Person oder einem Begriff auf die Schliche zu kommen. Und dazwischen ständig dokumentarische Szenen aus der kubanischen Gegenwart, die eines gemeinsam haben: Im Arbeits- oder Wirtschaftsleben geht etwas gründlich schief, aus Unfähigkeit oder Schlamperei. Da verliert ein LKW mitten in der Fahrt einen Teil der Ladung, da entpuppt sich ein Rohbau als Fehlkonstruktion, und dergleichen mehr. Im vorletzten Ausschnitt aus dem Quiz verrät der Moderator, dass der Gesuchte "schlimmer als AIDS" sei, und im letzten Ausschnitt wird seine Identität enthüllt: "der schlampige Arbeiter". Spätestens beim zweiten Sehen begreift man auch, wie Mr. Hyde da hineinpasst: Auch der Wissenschaftler Dr. Jekyll hat schlampig gearbeitet, schließlich lässt sich nicht bestreiten, dass sein Experiment gründlich in die Hose ging (und Laurel & Hardy versenken einen Wagen in einem großen wassergefüllten Loch in der Straße). Was sich am Anfang des Films schon angedeutet hat, erfüllt sich am Ende: Die Filmemacher werden von ihrer eigenen Inkompetenz eingeholt, und sie verpfuschen den Schluss komplett ... natürlich nicht wirklich, sondern nur inszeniert. Ich bin nicht ganz sicher, wie man CHAPUCERÍAS verstehen soll: Prangert er den Schlendrian an, der sich in vielen Ländern des "real existierenden Sozialismus", offenbar auch in Kuba, im Lauf der Jahrzehnte eingeschlichen hat? Oder gab es staatliche Kampagnen gegen solchen Schlendrian, und der Film macht sich darüber lustig? Das Booklet der DVD legt erstere Variante nahe. Für uns Außenstehende, im zeitlichen Abstand eines Vierteljahrhunderts, spielt es keine große Rolle - CHAPUCERÍAS ist in jeden Fall eine überraschende, witzige und handwerklich kompetente Auseinandersetzung mit der kubanischen Gegenwart der 80er Jahre.



ILHA DAS FLORES
13:13, 35mm
Brasilien 1989
Regie: Jorge Furtado


Der sehr, sehr böse ILHA DAS FLORES von Jorge Furtado beginnt mit drei Texteinblendungen: "Dies ist kein fiktionaler Film", "Es gibt einen Ort namens Ilha das Flores [Blumeninsel]", "Gott existiert nicht". Den ganzen Film hindurch doziert unermüdlich ein Sprecher im trocken-sachlichen Ton einer Lektion des TELEKOLLEG über den Lebensweg einer Tomate: Vom Anbau auf dem Feld eines japanischstämmigen Farmers über den Supermarkt in die Küche einer Mittelstandsfamilie. Doch statt verzehrt zu werden, landet die Tomate im Mülleimer und schließlich in Ilha das Flores - so heißt eine Müllkippe bei Porto Alegre (der Heimatstadt des Regisseurs). Eingestreut in den Text des Sprechers sind immer wieder in diesem Kontext absurde pseudo-formelle Definitionen wie "ein Mensch ist ein Wesen mit Großhirn und opponierbarem Daumen". Gezeigt wird dazu eine ebenso absurde Abfolge an Filmschnipseln, Collagen und Info-Grafiken. Das alles ist recht komisch - bis es in den letzten Minuten gar nicht mehr komisch wird. Wie man vom Sprecher (im selben nüchternen Tonfall wie bisher) nämlich erfährt, ist es mit der Ankunft der Tomate in der Müllkippe noch nicht zu Ende. Denn jetzt dürfen sich Schweine und arme Menschen über den Müll hermachen - und zwar in dieser Reihenfolge. Zwar haben Schweine kein Großhirn und keinen Daumen (wie man erfährt, falls man es noch nicht gewusst hat), doch Schweine haben Besitzer, und diese Besitzer haben nicht nur ein Großhirn und (sogar opponierbare) Daumen, sondern auch Geld. Arme Menschen dagegen haben weder Geld noch Besitzer, und damit sind die Prioritäten festgelegt. Damit das alles geregelt zugeht, werden abgezählte Gruppen von je zehn Menschen für fünf Minuten in die umzäunten Pferche eingelassen, und sie dürfen einsammeln, was die Schweine übriggelassen haben. Fünf Minuten sind 300 Sekunden. Seit 1958 ist eine Sekunde definiert als 9.192.631.770 Schwingungszyklen eines Cäsium-Atoms. Cäsium ist eine anorganische Substanz, die ... wie gesagt, ILHA DAS FLORES ist ein sehr böser Film. Er gewann jede Menge Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



CORAZÓN SANGRANTE
4:18, Video
Mexiko 1993
Regie: Ximena Cuevas


Ximena Cuevas lernte ihr Handwerk in der mexikanischen Filmindustrie, bevor sie sich der Videokunst zuwandte. CORAZÓN SANGRANTE (Blutendes Herz) ist ein Musikvideo, das sie gemeinsam mit der Sängerin und Schauspielerin Astrid Hadad gestaltete. Hadad singt ihr wie der Film betiteltes Lied, in dem es in verschiedenen Bedeutungsebenen um den aztekischen Brauch des Heraustrennens des Herzens und um eine Frau, die ihrer Liebe nachtrauert, geht. Das Video ist farbenfroh, üppig-barock und (vielleicht ironisch gebrochen, aber das ist für mich schwer zu entscheiden) bewusst kitschig-naiv (manche Bilder haben mich an frühe Pathécolor-Filme von Ferdinand Zecca, Segundo de Chomón und Gaston Velle erinnert). CORAZÓN SANGRANTE errang zahlreiche Preise.



HAMACA PARAGUAYA
8:17, Video
Paraguay 2000
Regie: Paz Encina


Irgendwo im Wald, es regnet. Ein älteres Ehepaar geht (in gemäßigter Zeitlupe) auf einem schlammigen Weg auf eine im Bildvordergrund aufgespannte Hängematte zu (der Titel des Films bedeutet "Paraguayanische Hängematte"), setzt sich darauf und beginnt (in der indigenen Sprache Guarani) eine Unterhaltung über belanglose Dinge. Irgendwo im Hintergrund bellt ständig ein Hund. Am Ende der Unterhaltung kommen die beiden auf ihren Sohn zu sprechen, dessen Rückkehr sie erwarten, dann stehen sie auf und gehen den selben Weg zurück. Es donnert einmal kräftig, und eine Einblendung informiert uns darüber, dass jetzt auch der Hund aufgehört hat zu bellen. Aus dem Booklet erfährt man, dass es 1935 ist und der Sohn als Soldat in einen Krieg zwischen Paraguay und Bolivien gezogen ist. 2005 drehte dieselbe Regisseurin mit denselben beiden Darstellern auf 35mm unter demselben Titel eine 78 Minuten lange Fassung des Stoffes (in dem der Sohn wohl nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrt). Diese Langfassung gewann einen FIPRESCI-Preis in Cannes und den Prix de L'Âge d'Or in Belgien, die kurze Urfassung hat mich jedoch gelangweilt.



CAMAL
15:50, 16mm
Ecuador 2001
Regie: Miguel Alvear


Dokumentarische schwarzweiße Aufnahmen aus dem städtischen Schlachthof von Quito ("camal" heißt in diesem Zusammenhang "Schlachthaus"), ohne Text, nur mit getragener Musik und wenigen dezenten Hintergrundgeräuschen unterlegt. Der Soundtrack besteht aus "Salvation" von Ryūichi Sakamoto - ich wusste nicht, dass Sakamoto, den ich bisher vor allem als Elektropop-Musiker (und als Schauspieler) kannte, auch solche neutönend-ernsten Klänge geschaffen hat. Für westeuropäische Augen befremdlich wirkt die Tatsache, dass auch kleine Kinder ganz unbefangen im Schlachthaus zugange sind. Die Bilder sind weniger krass als in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES, empfindsame Tierfreunde seien aber trotzdem gewarnt: Auch bei diesem Film könnte sich ihnen der Magen umdrehen. Doch ebenso wie LE SANG DES BÊTES, übt auch CAMAL einen großen poetischen Reiz auf den Betrachter aus. Inspiriert wurde Alvear aber nicht von Franju, sondern von dem mir unbekannten THE HART OF LONDON des Kanadiers Jack Chambers. Gedreht wurden die Aufnahmen zu CAMAL schon 1991, aber nach Experimenten mit verschiedenen Schnittfassungen wurde er erst 2000 fertiggestellt. Angeblich ist ein Teil der Aufnahmen in Farbe entstanden, auf der DVD ist der Film aber komplett in Schwarzweiß.



JUQUILITA
2:22, 16mm
Mexiko 2004
Regie: Elena Pardo


Semi-abstrakte Stop-Motion-Animation, bunt und funkelnd wie ein Kaleidoskop. Einige kurze Bildfolgen wirken wie ein farbiges Update zu Man Rays LE RETOUR À LA RAISON. Der schöne kurze Film ist Nuestra Señora de Juquila gewidmet, einer regionalen Ausprägung des Madonnenkults im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Soundtrack besteht aus der Toccata des holländischen Percussionisten Henk de Vlieger und wurde von der Gruppe Tambuco eingespielt, und er komplettiert JUQUILITA zu einem sehr ansprechenden Werk.



GALLERY DOGS
2:19, Video
Peru 2005
Regie: Diego Lama/Quentin Tarantino


Der Film besteht komplett aus einem Ausschnitt aus Tarantinos RESERVOIR DOGS: Harvey Keitel, Steve Buscemi, Tarantino selbst und noch zwei oder drei weitere Männer sitzen diskutierend an einem Tisch und werden langsam von der Kamera umkreist. Laut Booklet will Lama damit diesen "extrem gewalttätigen Film dekontextualisieren", mit der Rekreation einer Szene, die "eine Gesellschaft, die zu weit gegangen ist, hinterfragt und kritisiert". Was sich mir aber nicht erschlossen hat.



DOCUMENTAL
2:13 (auf DVD 1:06), Video
Venezuela 2005
Regie: Alexander Apóstol


In einem dunklen, in Braun gehaltenen Raum läuft im Fernseher ein Bericht aus den 50er Jahren über den damaligen Bauboom in Caracas, der von den Petrodollars befeuert wurde: Alte Gebäude wurden abgerissen, dafür neue Hochhäuser errichtet. Von der Einrichtung des Raums oder von den Bewohnern bekommt man nicht viel mit (was aber möglicherweise auf einer schlechten Kopie oder schlechtem Mastering beruht, denn auf diesen beiden Screenshots ist das Bild viel heller, und man erkennt alles bestens), aber aus dem Booklet erfährt man, dass es sich um eine Wohnung in den Chabolas handelt, Slum-ähnliche Bezirke am Stadtrand, die gerade in jener Zeit des Baubooms entstanden. Als der Sprecher des Fernsehberichts als Fazit den Fortschritt preist, beginnt die Kamera plötzlich entfesselt und wie im Delirium um den Fernseher zu kreisen. Aus mir unerfindlichen Gründen ist von dem ohnehin sehr kurzen Film nur die Hälfte auf der DVD enthalten. Ich bin zwar nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, dass es die erste Hälfte ist, so dass das visuelle Delirium noch eine Minute weitergehen könnte. Schade, denn vom enthaltenen Ausschnitt sind die letzten Sekunden am interessantesten - davon hätte es noch mehr geben können.



OPUS
4:49, Video
Kuba 2005
Regie: José Ángel Toirac


Man hört die etwas mühsam, machmal fast verzweifelt klingende Stimme eines (vermutlich älteren) Mannes, die Zahlen aufsagt, kleine und große Zahlen, ohne irgendein erkennbares System. Synchron dazu sieht man diese Zahlen in nüchternen weißen Ziffern vor einem schwarzen Hintergrund. So geht das knapp fünf Minuten dahin, und so unvermittelt, wie der Film begonnen hat, hört er auf. Was soll das nun wieder bedeuten? Die äußerst verblüffende Auflösung erfährt man aus dem Booklet: Die Stimme gehört keinem Geringeren als Fidel Castro, und man lauscht einer Rede, die der Comandante zum Beginn des Schuljahres 2003/2004 auf einem öffentlichen Platz in Havanna gehalten hat. Die Rede wurde nur etwas gekürzt: Alles außer den enthaltenen Zahlwörtern wurde rausgeschnitten. José Ángel Toirac weist so dezent auf die Zahlenhuberei in (nicht nur) Castros Reden hin. Und wenn schon diese eingedampften Zahlen fast fünf Minuten brauchen, dann wird man auch daran erinnert, dass der Máximo Líder für seine oft stundenlangen Reden berüchtigt war.



OJO DE PEZ
15:16, Video
Kolumbien 2008
Regie: Gabriel Enrique Vargas


Vargas' Abschlussfilm an einer Filmschule in Bogotá, dessen Titel "Fischauge" bedeutet. In einem quadratischen Filmformat mit unscharfen Rändern, in kontrastreichem Schwarzweiß, sieht man, wohl in und um einen Bauernhof, Tiere: Nutztiere, eine Katze, Insekten. Und immer wieder einen Fisch, der auf einer Tischplatte liegt und nach Luft schnappt. Dazwischen auch Menschen, die man aber nur in Ausschnitten, in einzelnen Körperteilen sieht. Vor allem eine Frau, die sich die Hände wäscht, Verrichtungen in der Küche ausführt, und dergleichen. Zu so etwas wie einer Handlung verdichtet sich das ganze nicht, was es für mich etwas mühsam machte, bei der Stange zu bleiben. Ebenso prägnant wie die Bilder ist der Soundtrack, der aus Naturgeräuschen besteht: Fließen von Wasser, Zwitschern von Vögeln, Summen von Insekten, das Miauen der Katze. Die als "Appendix" vom Rest abgetrennten letzten zwei Minuten gehören dem (immer noch lebenden) Fisch und einer Biene, die sich auf ihm niederlässt, scheinbar, um interessiert seinen Körper zu untersuchen. Als sie mitten über sein offenes Auge krabbelt, hätte ich dem Fisch einen schnellen, schmerzlosen Tod gewünscht. Diese zwei Minuten waren für mich unangenehmer anzusehen als jede einzelne Szene aus dem Schlachthof von Quito.



Fazit

Für mich eine interessante Exkursion in eine unbekannte Welt - von keinem der Filme oder Regisseure hatte ich zuvor gehört. Meine Favoriten sind LA CIUDAD EN LA PLAYA, REVOLUCIÓN, NOW!, OFRENDA, AGARRANDO PUEBLO, CHAPOCERÍAS, ILHA DAS FLORES, CAMAL und JUQUILITA. Die wenigen Filme, die mir wenig oder gar nicht gefallen haben, konnte ich problemlos verschmerzen. Wie man sich denken kann, findet man etliche der Filme auch auf den üblichen Videoportalen. Aber wer jetzt neugierig geworden ist, sollte in Erwägung ziehen, die durchaus preiswerte DVD zu kaufen.

Montag, 13. Januar 2014

Stalins letzter Furz, oder: Khroustaliov, fahr schon mal den Wagen vor!

KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN! (russ. KHROUSTALIOV, MASCHINU!, franz. KHROUSTALIOV, MA VOITURE!)
Russland/Frankreich 1998
Regie: Alexej German
Darsteller: Juri Tsurilo (General Klensky), Nina Ruslanowa (seine Frau), Michail Dementjew (sein Sohn), Jüri Järvet jr. (finnischer Reporter), Alexander Baschirow (Idiot)

General Klensky
Sowjetunion im Februar 1953: Stalin hat noch ungefähr einen Monat zu leben, aber noch ahnt natürlich niemand, dass der Diktator bald von einem Schlaganfall dahingerafft wird. General Klensky ist ärztlicher Offizier und Leiter einer Klinik, in der es zugeht wie im Irrenhaus. Doch nicht nur die Anstalt ist ein Tollhaus, sondern auch die jüdische Familie von Klenskys Frau - und letztlich auch das ganze Land, in dem völlig willkürlich Menschen von der Geheimpolizei verhaftet oder ermordet werden. Klensky fühlt sich nicht bedroht, doch plötzlich steht auch er auf der Abschussliste. Er versucht unterzutauchen, doch bald wird er von einem staatlichen Schlägertrupp gestellt, verprügelt und inhaftiert. Beim Transport in den Gulag scheint jede Hoffnung zunichte, doch dann wird Klensky in seiner Eigenschaft als Arzt unversehens zu einem ganz besonderen Patienten gebeten ...


KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN! ist eine wüste, sehr eigenwillige und nicht immer leicht verständliche Abrechnung mit dem Stalinismus. Es handelt sich aber keineswegs um eine vorwiegend allegorische Abrechnung (wie etwa DIE REUE von Tengis Abuladse), sondern die Handlung hat trotz aller absurden bis leicht surrealen Elemente einen sehr konkreten Hintergrund, nämlich die sogenannte Ärzteverschwörung, ein von Stalin und seinen Helfern erfundenes Mordkomplott jüdischer Ärzte, das Teil einer von oben verordneten antisemitischen Welle in der Sowjetunion der frühen 50er Jahre war (die freilich auch auf große Resonanz in der Bevölkerung stieß, siehe dazu auch den Absatz über das "Jüdische Antifaschistische Komitee" in Davids Text über DIE KOMMISSARIN). Zugleich wurde KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN! aber auch von "In eineinhalb Zimmern" inspiriert, einem autobiografischen Bericht des russisch-amerikanischen Literatur-Nobelpreisträgers Joseph Brodsky, der in einer jüdischen Familie im damaligen Leningrad aufgewachsen war (auf Deutsch als Teil des Bandes "Erinnerungen an Leningrad" erhältlich). Ich kenne diesen Text nicht, aber ich nehme doch an, dass vor allem die Szenen mit General Klenskys Familie auf Brodsky beruhen. Ein Teil dieser Szenen wird aus der Perspektive von Klenskys Sohn erzählt, der damit sozusagen die Stelle von Brodsky als Kind einnimmt. Das Drehbuch zu KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN! schrieben German und seine Frau Swetlana Karmalita.


Das filmische Werk von Alexej German (1938-2013) ist ziemlich überschaubar: Gerade einmal sechs Spielfilme von 1968 (den ersten inszenierte er gemeinsam mit einem Grigori Aronow) bis 2013 (zwei davon beruhen auf Werken von Germans Vater, des Schriftstellers Juri German). Dass es nicht mehr wurden, lag einerseits an massiver staatlicher Behinderung Germans während der Sowjet-Ära. So wurde sein zweiter Film STRASSENSPERRE von 1971 umgehend verboten und erst 1986 aus dem Giftschrank entlassen. Und angeblich wurde German nach jedem seiner Filme der Sowjet-Zeit von seinem Stammstudio Lenfilm gefeuert, um dann für den nächsten durch die Hintertür wieder hereingelassen zu werden. Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wirklich stimmt, aber wenn nicht, dann wäre sie wenigstens gut erfunden. Zum anderen aber scheint German auch ein sehr langsamer Arbeiter gewesen zu sein. KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN!, der insgesamt vorletzte und zugleich der erste Post-Sowjet-Film Germans, erschien volle 14 Jahre nach dem vorhergehenden (die Dreharbeiten hatten schon 1992 begonnen). Und bei seinem letzten Werk TRUDNO BYT' BOGOM (nach dem gleichnamigen Roman von Arkadi und Boris Strugazki, dt. "Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein", der 1990 auch schon von Peter Fleischmann verfilmt wurde) dauerten die Dreharbeiten von 2000 bis 2006 - und als German vor einem knappen Jahr starb, war er mit der Postproduction immer noch nicht fertig. Allerdings musste nur noch etwas am Ton gearbeitet werden. Swetlana Karmalita und Alexej German jr., der Sohn der beiden und ebenfalls ein namhafter Regisseur, besorgten die endgültige Fertigstellung des Films, der im letzten November beim Internationalen Filmfestival in Rom Premiere hatte.

Klenskys Sohn Alexej
KHROUSTALIOV, MEIN WAGEN! ist in der ersten Hälfte trotz hier schon stattfindender staatlicher Übergriffe vor allem eine wilde Farce, in der zweiten Hälfte, nach Klenskys Flucht und Verhaftung, wird der Ton dann zunehmend bitter, obwohl immer noch reichlich absurde Momente vorhanden sind. Eine Stärke ist die überaus kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografie (German hat überhaupt fast nur mit Schwarzweiß gearbeitet), und ein beträchtlicher Teil der Innenaufnahmen wurde mit Handkamera gedreht, wobei offenbar ein leicht verzerrendes Weitwinkelobjektiv zum Einsatz kam, was den engen und dicht bevölkerten Innenräumen eine labyrinthische Atmosphäre verleiht. Ein faszinierender Film, der aber sicher nicht jedermanns Sache ist, denn wie schon angedeutet, ist es nicht ganz einfach, den roten Faden zu finden und zu behalten. - Es gibt zwei Versionen, eine mit 150 und eine mit 137 Minuten. Erstere ist auf einer russischen DVD mit engl. Untertiteln erhältlich. - Zum Weiterlesen sei dieser Text von Tony Wood empfohlen.

Der General in Zivil will untertauchen

Sonntag, 5. Januar 2014

2013 – eine persönliche Retrospektive in etwa 11 ½ Listen



Und wieder ein Jahr voller Filme rum!
Was meine Kino-Erfahrungen betrifft, wird 2013 für mich in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem ich das Konzept „Sneak Preview“ kennen lernte – mit global gesehen sehr zwiespältigen Ergebnissen; nicht nur, was die Qualität der Filme betrifft, sondern auch, was die Vorlaufzeit betrifft (zumindest in einem Fall): an einem Montag zwei Tage vor der Mittwochsvorpremiere einen Film zu „sneaken“, ist irgendwie witzlos. Mittlerweile würde ich Sneaks dennoch als gute Gelegenheit für Kino-Besuche zu zweit und in der Gruppe sehen (denn geteilte Qual ist bekanntlich halbe Qual) wie auch als Gelegenheit, Filme zu schauen, die man sonst nie sehen würde, und potentiell auch die eine oder andere Perle zu entdecken.
Geordnet nach Präferenzen:


Ein Jahr – sieben Sneaks

1 ALL IS LOST (J. C. Chandor, USA 2013)
Ein minimalistisches Meisterwerk, oder: wer braucht schon Dialoge und nachvollziehbare Figuren, wenn es Robert Redford in Hochform gibt. Ein Kandidat für die Top-Liste 2014! Mehr Worte von mir zu diesem Film gibt es hier.

2 WARM BODIES (Jonathan Levine, USA 2013)
Meine allererste Sneak! Erfindet das Zombie-Genre letztendlich doch nicht neu, bleibt aber trotzdem bis zum Ende unterhaltsam.

3 IRON MAN 3 (Shane Black, USA / China 2013)
Erstaunlich nett – dafür, dass ich weder IRON MAN noch IRON MAN 2 kannte (und bis heute nicht kenne).

4 SNITCH (Ric Roman Waugh, USA / Vereinigte Arabische Emirate 2013)
Wenn bloß das nervige Rumgewackel nicht gewesen wäre (da wollte wohl wieder jemand einen auf „Realismus“ machen)! Hätte hervorragendes Schauspieler-Kino werden können, nicht trotz, sondern gerade wegen des hervorragenden Dwayne „The Rock“ Johnson.

5 RIDDICK (David Twohy, USA / UK 2013)
Lähm-Gesicht Vin Diesel jagt CGI-Viecher mit CGI-Stöckchen durch eine CGI-Wüste. Der Rest ist weder nennenswert, noch halbwegs so unfreiwillig witzig.

6 THE WAY WAY BACK (Nat Faxon/Jim Rash, USA 2013)
Aua! Autsch!!!

7 PAULETTE (Jérôme Enrico, Frankreich 2012)
Autsch! Aaarrrggghhh!!!


Da ich gerade SNITCH erwähnt habe: Der verrückte Zufall will es, dass ich dieses Jahr nicht nur Dwayne Johnson alias „The Rock“ zum ersten mal bewusst als Schauspieler wahrgenommen habe, sondern dass ich tatsächlich auch alle fünf Kinofilme mit dem Schwergewicht gesehen habe, die 2013 im Kino und im Heimkino herauskamen. Ich muss sagen: ich lernte diesen Mann als Schauspieler zunehmend zu schätzen, und zwar so sehr, dass ich ihn sogar zu meinem Schauspieler des Jahres erklären würde.
Geordnet nach Darstellungs-Leistung (wobei bis auf die Plätze 4 und 5 diese tatsächlich mit der Qualität der Filme korrelieren) folgen die:


Fünf Facetten des Dwayne Johnson 2013

1 Paul Doyle in PAIN & GAIN
Vielleicht die beste Schauspielleistung in einem Film, der sowieso voller lauter toller Darsteller ist: Ein großer, grenzdebiler, tumber, christlicher Bodybuilder, in seiner naiven Einfältigkeit eigentlich herzensgut, in seiner grenzenlosen und kokainverstärkten Dämlichkeit aber auch der grausamste Gewalttäter der Bande.
2 John Matthews in SNITCH
„The Rock“ als mittelständischer Unternehmer und Familienvater. Weint zwischendurch und wirkt dabei nicht nur keineswegs lächerlich, sondern durch und durch glaubwürdig und rührend.
3 Detective Ransome in EMPIRE STATE
Nur eine kleine Nebenrolle, aber ein Lichtblick in einem völlig ausdruckslosen Ensemble.
4 Hobbs in FAST & FURIOUS 6
Dito. Neben Vin Diesel zu glänzen ist zugegebenermaßen keine hohe Kunst.
5 Roadblock in G.I. JOE – RETALIATION
Johnson ist zweifelsohne der charismatischste der Joes. Allerdings stinkt er dann am Ende doch gegen die Geheimwaffe des Films ab (Bruce Willis).



Aktuellste Trends im Kino: die Digitalisierung und ihre Folgen
Um wieder kurz zum allgemeinen zu kommen: für mich persönlich am auffälligsten war die nunmehr wirklich hegemoniale Durchsetzung der DCP-Projektion im Kino und das Quasi-Ende der klassischen 35-Millimeter-Projektion. Eine Entwicklung, die ich als aktiver Kinobesucher mit gemischten Gefühlen beobachte und miterlebe.
Die DCP-Projektion bringt zumindest eine erfreuliche und positive Erneuerung. Kinos können sich nunmehr (wenn sie sich denn dafür entscheiden) vom Verleih einen Film in zwei Sprachfassungen geben lassen, und müssen sich nicht mehr zwischen Synchron-Kopie oder OmU/OV-Kopie entscheiden (oder beide für doppeltes Geld bestellen). So kommt es allmählich zur stärkeren Repräsentation von OmU- und OV-Vorstellungen in provinziellen, kleinstädtischen Programm-Kinos – in Orten also, in denen diese vorher meist randständige Mangel- und Nischenerscheinungen waren. 15 Filme habe ich dieses Jahr im Rahmen regulärer Kinovorstellungen in OV/OmU-Repräsentation gesehen bzw. besser gesagt sehen können: wahrscheinlich ein Rekord (Festivalvorstellungen, Pressevorführungen, Spezialaufführungen und natürlich auch deutschsprachige Filme sind nicht mit eingerechnet).
Im Bereich der Bildqualität allerdings bringt die DCP-Projektion meiner Meinung nach auch merkliche Rückschritte gegenüber guten 35-Millimeter-Kopien. Schlechte DCPs assoziiere ich bereits mit unappetitlichem Pixel-Matsch, sei es jetzt bei neueren Filmen wie ich es bei THE GRANDMASTER oder QUELLEN DES LEBENS erlebt habe, aber auch bei umformatierten Stummfilmen wie METROPOLIS oder – noch schlimmer – DIE AUSTERNPRINZESSIN. Wirklich gute DCPs scheinen nicht die Mehrheit zu sein, und diese haben dann oft ein exzellentes, aber steriles und lebloses Bild, was mir besonders bei DJANGO UNCHAINED aufgefallen ist. Wie wunderbar das gute alte 35-Millimeter-Format im Gegensatz dazu aussehen kann, merkte ich bei meiner Kino-Sichtung von Danny Boyles TRANCE – rein bildlich der allerschärfste und farbenprächtigste Film des Jahres.
Dass trotzdem nicht alles Gold ist, was das Label „35 Millimeter“ hat, zeigte sich bei einer sehr denkwürdigen Aufführung von VERTIGO beim monatlichen Jenaer 35-mm-Kino – eine Vorführung, auf die ich mich wie ein kleines Kind gefreut habe. Die Kopie jedoch war farbentsättigt, sehr stark verschlissen, teils regelrecht beschädigt und die Tonspur in einem noch desolateren Zustand. Die Projektion im falschen Bildformat (seitlich auffallend beschnitten), eine vollkommen sinnlose 10-minütige Pause nach der vierten (?) Rolle und die lebhafte „Beteiligung“ von einem Teil des Publikums (hämische Lacher bei melodramatischen Szenen, munterer Permanent-Audiokommentar und laute Zwischenrufe à la „Was hat die da gerade gemacht?“) haben die Bedingungen der Sichtung nicht gerade verbessert. Dass Hitchcocks impressionistischer Türkis-Film auch unter diesen Umständen beeindruckend war, spricht allerdings für seine zeitlose (geradezu material-unabhängige?) Qualität.

À propos Qualität: gehen wir doch über zu den besten und schlechtesten Filmen des Jahres 2013 (selbstredend meine subjektive Einschätzung, was hiermit ebenso selbstverständlich auch für alle vorherigen wie auch nachfolgenden Listen gilt). 


Die Top-10 2013

1 STOKER (Park Chan-Wook, USA / UK 2013)
Atemberaubend in vielerlei Hinsicht. Die ständig bewegte Kamera, die kunstvollen und asymmetischen Kadragen, der assoziative Schnitt-Rhythmus. Mia Wasikowska ist sowieso immer toll, Matthew Goode kann herrlich psychopathisch lächeln und Nicole Kidman beweist, dass es ein Schauspieler-Leben auch jenseits von Botox geben kann. An anderer Stelle habe ich den Film als „Coming-of-age-Sexkomödie“ bezeichnet, und tatsächlich ist es erstaunlich, wie humorvoll dieser eigentlich zappendustere Film ist – ätzender, schwarzer, grenzwertig perverser Humor!

2 LA VÉNUS À LA FOURRURE (Roman Polański, Frankreich / Polen 2013)
Der große Schauspieler-Film des Jahres. Wie Emmanuelle Seigner und Mathieu Amalric in kleinsten, geradezu mikroskopischen Nuancen mit ihren Körpern, ihrer Stimme, ihrer Mimik, ihrer Intonation, ihrem Atmen agieren und interagieren, ist verblüffend. Auch eines der „filmischsten“ Kino-Werke des Jahres: LA VÉNUS À LA FOURRURE ist trotz des Settings und der Thematik von „abgefilmtem Theater“ ungefähr so weit entfernt wie etwa PAIN & GAIN oder SPRING BREAKERS. Er hat mir außerdem auf sehr plastische Art und Weise deutlich gemacht, was den Kern vieler Polański-Filme eigentlich ausmacht: es gibt keine Unterschiede zwischen Liebesfilm, Komödie und Horrorfilm.

3 PAIN & GAIN (Michael Bay, USA 2013)
Irgendjemand sollte Michael Bay mal die ganzen Spielzeug-Autos aus den Fingern reißen und ihm das Budget auf maximal 25 Millionen $ pro Film begrenzen: wenn dann immer so etwas rauskommt, gibt es von diesem Mann noch vieles zu erwarten! Denn PAIN & GAIN ist der unglaublichste Film des Jahres. Wie eine Parodie auf einen Michael-Bay-Film oder seine radikale dialektische Umkehrung: je protziger, schneidiger, geiler, aufgepumpter, schweißig-glitschiger und bling-bling-mäßiger er sich gibt, um so tiefer starrt er auf die verrottete Schimmel-Seite des amerikanischen Traumes. Ein Paradies auf Erden, voller jovialer Nachbarn (die beherzt Leichenteile auf den Grill werfen), tüchtiger Geschäftsmänner (Spezialgebiet: Entführung, Folterung & Mord) und kerngesunder Gewinner-Typen (die sich nach einem Blutbad erstmal eine Runde „aufpumpen“). Unerhört, ungeheuerlich, unglaublich.

4 THE WORLD‘S END (Edgar Wright, UK 2013)
Dieses vom Alkohol, von jahrelangen Exzessen, von langen Partynächten verwitterte und gerötete Gesicht, diese absolute Sturheit, Sachen (egal, wie sinnlos, dumm, gescheitert und ziellos sie sein mögen) bis zum absolut bitteren Ende, ja bis zum Ende der Welt durchziehen zu wollen, diese fettigen Haare und der lange schwarze Mantel: Gary King ist zweifelsohne die faszinierendste, aber auch die tragischste Figur der „Cornetto-Trilogie“. Ein Mann ohne jeglichen Anschluss an die Gesellschaft. Der weiß, wie traurig das letzte Bier ist. Loser, würden viele Leute sagen. Ich sage: „nur“ ein fehlbarer Mensch. Diese melancholische Nachdenklichkeit ist natürlich eher eine Unterschwelligkeit in diesem flott durchgezogenen Binge-Drinking- & Alien-Invasions-Szenario. Aber sie ist die Würze, die schon SHAUN OF THE DEAD ausmachte (und bei HOT FUZZ fehlte).

5 TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT (Dominik Graf, Deutschland 2013)
Reisszooms, skurrile Figuren, absurder Nonsens-Humor, diese völlig wahnsinnige Detailbesessenheit und dann gehen die Bild- und Tonspur auseinander, um fröhlich umeinander im Kreis zu tanzen. Ein Film wie eine entfesselte Bebop-Improvisation, in der Akkorde in rasendem Tempo schichtweise übereinander gestapelt werden. Die empörten Reaktionen der Format-Liebhaber, die eher an leichten, gemächlichen und vom Blatt gespielten Melodien gewöhnt sind, waren fast so unterhaltsam wie der Film selbst, aber eben nur fast.

6 PAZIRAIE SADEH / MODEST RECEPTION (Mani Haghighi, Iran 2012)
Ein Mann und eine Frau fahren durch die Berge, um den Bewohnern Unmengen an Geld in die Hand zu drücken. Die wehren sich dagegen, und das Spender-Paar muss zu immer ausgeklügelteren und schließlich drastischeren Methoden greifen, um die Beschenkten zu ihrem Glück zu nötigen. Der Film Mani Haghighis, der auch die männliche Hauptrolle spielt, fängt absurd an, und zieht irgendwann die Daumenschrauben drastisch an, bis die Knochen zu krachen anfangen und das nackte Grauen auftaucht. Unwohlfühl-Kino vom Feinsten!

7 7 DÍAS EN LA HABANA: DIARY OF A BEGINNER (Elia Suleiman, Frankreich / Spanien 2012)
Insgesamt betrachtet ist 7 DÍAS EN LA HABANA ein ziemlicher Mist. Zwischen den ganzen Kuba-Klischees, billigen Schnulzen-Melos, durchformatierten Latino-Gemeinplätzen, überdimensionierten Sozialkritik-Keulen und peinlichen Exotik-Lüsternheiten findet sich Elia Suleimans Perle, die Donnerstags-Episode DIARY OF A BEGINNER. Der palästinensische Regisseur füllt seine 16 Minuten mit bizarren Tableaus und assoziativen Ellipsen und verwandelt die fast menschenleere kubanische Hauptstadt in ein abstraktes Stillleben. Asketisches Kino als Seelenfutter.

8 SPRING BREAKERS (Harmony Korine, USA 2012)
Der style-over-substance-Gewinner des Jahres. Die Geschichte über die vier Spring-Break-Besucherinnen und den Gangster Alien ist ein hanebüchenes Nichts. Im Gegensatz etwa zum ebenso hanebüchenen ONLY GOD FORGIVES, dem man die verkrampfte Suche nach (letztendlich küchenpsychologischer) „Substanz“ zu deutlich ansieht, ist bei SPRING BREAKERS dieses „Nichts“ auch die beste Voraussetzung für die Stärke des Films: ein faszinierendes Experiment in sich überlappenden Bild- und Ton-Montagen, in das man sich immer tiefer verlieren kann.

9 BEHIND THE CANDELABRA (Steven Soderbergh, USA 2013) 
Steven Soderbergh sollte wesentlich öfter seine Kinokarriere beenden! Und seine potthässlichen Gelb- und Grünblenden in der Schublade stecken lassen. Vom „Weder-Fisch-noch-Fleisch“-Regisseur, der nicht gerade für seine humanistischen Charakterzeichnungen berühmt ist, kommt plötzlich dieser konsequente Film, diese wunderbare und tragische Liebesgeschichte, die voller Respekt, Zuneigung und Empathie für ihre zugegebenermaßen hochneurotischen Figuren ist. Aber meiner Einschätzung nach sind für das Gelingen des Films sowieso auch primär Michael Douglas (kaum wieder zu erkennen und selten so gut) und Matt Damon (so stark, dass man schon nach wenigen Sekunden nicht mehr ständig „Määäääät Dääääämon“ rufen möchte) verantwortlich.

10 IM WEIßEN RÖSSL – WEHE DU SINGST! (Christian Theede, Deutschland / Österreich 2013)
Douglas Sirk (auf dessen Wege entfernt das Melodrama BEHIND THE CANDELABRA wandert) hat einmal gesagt, dass Trash mit einer ordentlichen Prise Verrücktheit ein naher Verwandter von hoher Kunst ist – womit wir bei dieser Adaption der klassischen Operette „Im Weißen Rössl“ wären. Irgendwo zwischen diesem ganzen aufgeblasenen Kitsch, diesen irgendwie lächerlichen Bollywood-Nummern, diesem völligen Nonsens-Showdown, diesen ausgedehnten selbstreferentiellen Musical-Nummern muss sich ganz große Kunst versteckt haben. Wer sie nicht findet (ich selbst bin mir wirklich alles andere als sicher) kann sich zurücklehnen und das ganze genießen. Und zum Beispiel über den Österreich-Internet-Witz lachen.

Für erwähnenswert halte ich außerdem Paul Thomas Andersons faszinierende 70-Millimeter-Collage über eine Hass-Liebe-Beziehung THE MASTER, Jan Bonnys und Günter Schütters POLIZEIRUF 110: DER TOD MACHT ENGEL AUS UNS ALLEN (insgesamt erschütternd, und mit der niederschmetterndsten Schluss-Szene des Jahres), Haifaa Al-Mansours kraftvolles Außenseiterin-Portrait WADJA, Pedro Almodóvars schrill-vergnügte Komödie LOS AMANTES PASAJEROS, Baz Luhrmanns THE GREAT GATSBY (nach einem holprigen Start irrsinnig mitreißend!) und Quentin Tarantinos mittlerweile fünfter Western DJANGO UNCHAINED (nicht annähernd so gut wie seine letzten beiden Filme, aber trotzdem vergnüglich).
Vollkommen aus dem Rennen genommen habe ich dieses Jahr Filme, die nicht „regulär“ in Deutschland liefen, also besonders solche, die ich beim goEast-Festival gesehen habe und die größtenteils keinen aktuellen Kinostart hatten (und oft: leider nicht haben werden). An Kandidaten für die Top-Liste hätte es nicht gemangelt (meine Einschätzungen sind hier und hier zu lesen), eine Ausnahme – also mit deutschem Kinostart – findet sich bei den Rest-Flops.

EDITORISCHE ERGÄNZUNG IN LETZTER MINUTE:
Technisch nicht 2013, sondern erst 2014 gesehen, aber dennoch ein stürmender Kandidat für die Top-10 ist zweifelsohne
ONLY LOVERS LEFT ALIVE (Jim Jarmusch, UK / Deutschland / Frankreich / Zypern / USA 2013)
Ich mag Jarmuschs Filme ja so oder so, und vielleicht wirkt eine große Leinwand gefühlsverstärkend, aber hier bleibt mir nur zu sagen: wow! Ein hypnotischer Film über eine erwachsene Liebesbeziehung, über die Liebe zu den kleinen Freuden des Lebens (und sei es nach dem biologischen Tode), über die grenzenlose Kraft von Musik und Literatur, über die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und die Tatsache, wie wichtig „Helden“ (ob Tesla, Monk oder Keaton) in unserem Leben sind. Alles freilich über weite Strecken als Zwei-Personen-Kammerspiel inszeniert. Tilda Swinton als reifer Part des Vampiren-Pärchens ist so ätherisch leicht wie atemberaubend wunderschön, und Tom Hiddleston ist wunderschön schwermütig (wer halt auch ständig mit diesen französischen Romantik-Spinnern rumhängt!). Mia Wasikowska war insofern wenig überraschend, als dass ich von ihr mittlerweile nicht mehr weniger als pure Verzauberung erwarte. Der Soundtrack ist absolut göttlich wie bei den meisten Jarmuschs (warum wird immer nur Tarantino als feinfühliger Musik-Auswähler zitiert?), und zwischendurch fahren wir einfach nur ziellos durch die Gegend, wie schon in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI. Langsam kann er sich tatsächlich selbst zitieren, dieser verrückte kleine weißhaarige Regie-Punker aus dem mittleren Westen.
Die Sichtung liegt nur sehr wenige Tage zurück: zu wenig, um wirklich über den Film zu reflektieren. Die Eindrücke liegen noch offen rum; zucken und schlagen um sich bei der geringsten Berührung. Sollte ONLY LOVERS LEFT ALIVE tatsächlich die heimliche „Nummer 0“ meiner diesjährigen Top-10 sein?

Und jetzt leider zu den unerfreulichen Dingen des Filmjahres.


Die Flop-10 2013

1 PAULETTE (Jérôme Enrico, Frankreich 2012)
Mehr als die vollkommen öde Dramaturgie nach Schema F ärgert mich der ungeheure Zynismus dieses Films, der sich als nette Sommerkomödie gibt und aus einer Bilderbuch-Front-National-Wählerin eine coole Kiez-Oma machen möchte. Bei einer Sneak in einem Saal voller Gäste „aus den umliegenden Dörfern“ zu sitzen, die bei jeder weiteren rassistischen Bemerkung noch lauter vor Lachen wieherten, war nicht nur die gruseligste Filmerfahrung des Jahres, sondern auch eine der unangenehmsten in meinem Leben. Dass dann auch noch ausgerechnet dieser Film DER (!) GANZ GANZ GROßE Programmkino-Hit des Jahres wurde, ist schier unfassbar.

2 GLORIA (Sebastián Lelio, Chile / Spanien 2013)
Auch hier hat mich der grenzenlose, aber unter der Oberfläche der netten Sommer-Drama-Komödie versteckte Zynismus zutiefst schockiert. Wollen jene, die Gloria als „starke Frau“ und „Heldin“ voller „Tiefe“ bezeichnen, der man „stundenlang zusehen“ will, gar nicht merken, wie narzisstisch, paranoid, grenzwertig sadistisch und vor allem zutiefst heuchlerisch die Titelfigur eigentlich ist? Die ihrem neuen Liebhaber am liebsten jeglichen Kontakt zu Ex-Frau und Kinder untersagen möchte, während sie selbst permanent bei ihren eigenen Kindern auf der Matte steht? Ihn letztendlich als Wurm betrachtet, nur weil er nicht so gefühlstot wie sie selbst ist und durch seine Scheidung existentielle Ängste erleidet, während ihr so etwas schnuppe ist. Ihn am Schluss dafür sogar erschießt (nun ja: mit Paintballs), nur um sich dann durch Mitträllern kitschiger Schlager aus dem Autoradio bei den Zuschauern anbiedern zu dürfen?

3 WE‘RE THE MILLERS (Rawson Marshall Thurber, USA 2013)
Der beste Witz am ganzen Film ist wohl, dass er von vier (4!) Drehbuchautoren geschrieben wurde. Vielleicht auch ein Grund, warum er sich so qualvoll lange 110 Minuten hinzieht, von einem abgeschmackten Witzchen zum nächsten homophoben Kalauer. Die Vermählung aus vermeintlicher Frivolität und erzreaktionärem Gesellschafts- und Familienbild gibt dieser unlustigen „Komödie“ einen Beigeschmack wie aus der Hölle.

4 THE WAY WAY BACK (Nat Faxon, Jim Rash, USA 2013)
Im Grunde die „Indiefilm“-Variante von WE‘RE THE MILLERS.

5 LO IMPOSIBLE (J. A. Bayona, Spanien 2012)
Ein Film, der möglicherweise den Begriff „Exploitation“, hinter dem sich manch eine kleine Perle verbirgt, für immer pervertiert: wie hier aus einer zeitlich gar nicht so weit zurückliegenden Katastrophe, die über 200.000 Menschen das Leben gekostet hat, mit einem zynischen und rassistischen Blick ein Tearjerker-Märchen gemacht wird, lässt zumindest mir kalte Schauer über den Rücken laufen.

6 PARKER (Taylor Hackford, USA 2013)
Der erste Film aus der Flop-Liste, den ich im Grunde „nur“ schlecht finde. Das bizarre Frauenbild, das spätestens im unnötigen Nebenplot mit der vollkommen talentfreien Jennifer Lopez offenbar wird, ist ja ein Stückchen weit immanent für das Genre des „harten Männer-Actionfilms“. Nicht immanent ist allerdings die zu Tode verschnittene und verwackelte „Action“, die diesen ohnehin spannungsfreien Film ohne jegliche halbwegs interessante Figur komplett obsolet macht.

7 FAST & FURIOUS 6 (Justin Lin, USA 2013)
Alles, was es hier gibt, ist ganz viel Wackel-Wackel-Schnitt-„Action“ und Vin Diesels vollkommen ausdruckslose Visage. Zugegeben: wenn Dwayne Johnson Snack-Automaten kaputt schießt, ist das relativ witzig, aber dann bleiben immer noch über 129 Minuten!

8 TO THE WONDER (Terrence Malick, USA 2012)
Vor 40 Jahren inszenierte einst ein genialer Mann BADLANDS (eines der ganz großen Meisterwerke des „New Hollywood“). Heute dreht Malick überdimensionierte christliche Werbeclips, deren dröhnend-pompöse Monologe und Voice-Overs gerne mal als „tiefgründig“ bezeichnet werden, nur weil der gute Mann einen akademischen Abschluss in Philosophie hat. Tatsächlich wirken aber seine Filme seit seinem Comeback wie Parodien ihrer selbst, und TO THE WONDER ist bislang das nervtötendste Resultat dieses „neuen Malick-Genres“.

9 NOW YOU SEE ME (Louis Leterrier, USA / Frankreich 2013)
Schmerzhaft anzusehen, wie hier eine wunderbare Schauspielerriege (Michael Caine, Morgan Freeman, Mélanie Laurent, Woody Harrelson, Jesse Eisenberg, Mark Ruffalo) durch ein solch peinliche CGI-Klamotte rennt.

10 KÖNIG VON DEUTSCHLAND (David Dietl, Deutschland / Frankreich 2013)
Eine Satire mit der Bissigkeit einer Ölsardine. Dass er derartig mittelmäßig und spießig inszeniert ist, könnte angesichts der Tatsache, dass hier Mittelmäßigkeit und Spießigkeit satirisch in die Mangel genommen werden sollen, als interessante ästhetische Strategie erscheinen – dieser Umstand dürfte allerdings eher unfreiwillig sein. Außerdem reagiert der Film auf die charakterisierten Missstände mit Parolen wie von einem stark alkoholisierten Stammtisch und mit Aussteiger-Dogmatismus: das macht ihn weder klüger, noch sympathischer.

In der Kategorie mutwillige Schändungen von (Davids) Seele und Körper liefen weiterhin: Jon M. Chus G.I. JOE – RETALIATION (Wackel-Wackel-Schnitt-Action meets Popel-3D), Fliegauf Benedeks CSAK A SZÉL / JUST THE WIND (potthässliche Billigdigital-Bilder, die zeigen, dass gut gemeint nicht gut gemacht ist), YI DAI ZONG SHI / THE GRANDMASTER von einem offensichtlich übernächtigten Wong Kar-wai (oder: was Sie schon immer über nervende Ruckel-Zeitlupen wissen wollten, sich aber nie zu fragen trauten), Noah Baumbachs FRANCES HA (vermeintlich cinephil erzählte Kuschel- und Wohlfühlgeschichte einer extrem anstrengenden Möchtegerne-Rebellin, oder: Jim Jarmusch greift wegen des „quirky“-Alarms zur Pistole) und David O. Russells SILVER LININGS PLAYBOOK (keine Ahnung, wie diese überlange Melo-Schlaftablette einen solchen Hype verursachen konnte).


Spezialrubrik: The Angels‘ Share, Jahrgang 2013

Auch der fleißigste Filmegucker muss zwangsweise viele aktuelle Filme bei ihrem Kino- bzw. DVD-Start verpassen. Da kann man nichts machen – außer, sie im nächsten Jahr nachholen. Ken Loachs THE ANGELS‘ SHARE, der 2012 auf internationalen und deutschen Leinwänden lief, war selbst weder vergnüglich noch ärgerlich genug, um in eine der beiden folgenden Kategorien reinzupassen. Doch sein titelgebendes Phänomen (die Verdunstung von Whisky während der Fasslagerung) schien mir einfach die passende Bezeichnung für eine solche „Nachhol“-Rubrik. Zum Glück verdunsten Filme nicht so wie Whisky (zumindest in der Regel und heutzutage).

Top:
1 MANIAC (Franck Khalfoun, Frankreich / USA 2012)
2 UNIVERSAL SOLDIER: DAY OF RECKONING (John Hyams, USA 2012)
3 PREMIUM RUSH (David Koepp, USA 2012)
4 WAR HORSE (Steven Spielberg, USA 2011)
5 OH BOY (Jan Ole Gerster, Deutschland 2012)

Flop:
1 LIFE OF PI (Ang Lee, USA / Taiwan / UK 2012)
2 HOPE SPRINGS (David Frankel, USA 2012)
3 THE BEST EXOTIC MARIGOLD HOTEL (John Madden, UK / USA / Vereinigte Arabische Emirate 2011)
4 HOBO WITH A SHOTGUN (Jason Eisener, Kanada 2011)
5 TO ROME WITH LOVE (Woody Allen, USA / Italien / Spanien 2012)

„Aktualität“ ist eine Kategorie, die hier bei „Whoknows Presents“ nicht gerade die allergrößte Priorität genießt. Daher folgt nun das Herz dieses Jahres-Rückblicks:


2013: ein persönlicher Kanon der Neuentdeckungen

Beeindruckende Filme, die ich dieses Jahr erstmals gesehen habe... Das eine oder andere Werk wurde bereits von Manfred oder mir hier besprochen (entsprechende Links gibt es dazu). Und bestimmt werde ich 2014 auf einen oder mehreren dieser Filme hier in diesem Blog näher eingehen (wie ich das schon 2013 mit vier Filmen meiner großen 2012er-Liste gemacht habe: ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, KONTO AUSGEGLICHEN, THE THIN RED LINE, BLOOD BEACH).
Wer jeden Film gucken möchte (was bei einigen wohl leider nicht so leicht möglich sein wird), hätte gewissermaßen 2014 eine Woche Zeit für jeden.

1 LE QUAI DES BRUMES (Marcel Carné, Frankreich 1938)
Vielleicht ist es Maurice Jauberts Musik, die diesem poetischen „noir“ den perfekten Feinschliff gibt.
2 TRI (Aleksandar Petrović, Jugoslawien 1965)
Der Partisanenfilm, zur reinen, fast wortlosen Poesie zusammengedampft.
3 SNOW (Geoffrey Jones, UK 1963)
Montage, Trains & Rock‘N‘Roll! (mehr dazu hier)
4 THE GRISSOM GANG (Robert Aldrich, USA 1971)
Der schweißigste Film aller Zeiten? Jedenfalls eine (Schweiß-)Perle, mit der Aldrich auf sehr knallige Art „Adieu“ zu seiner kurzweiligen völligen Unabhängigkeit sagte.
5 DEATH WISH (Michael Winner, USA 1974)
Ein stinknormaler Mann entdeckt den Mörder in sich und verlässt Familie, Gesellschaft und Zivilisation für ein Paralleluniversum der Gewalt: Eher eine Melville‘ianische Todesmeditation als die so oft kolportierte Selbstjustiz- oder Rache-Exploitation.
6 BADLANDS (Terrence Malick, USA 1973)
Malick will der größte Tanz-Regisseur der Welt werden, aber auch der Rest (mit dem Auto rumfahren, Leute abknallen, Toaster klauen, James-Dean-Posen einnehmen) lässt sich (mehr als) sehen.
7 EL PLACER DE MATAR (Félix Rotaeta, Spanien 1988)
Melville meets Buñuel, und zwischendurch wird herrlich ziellos durch Einkaufsgalerien geschlendert. (mehr dazu hier).
8 EXistenZ (David Cronenberg, Kanada / UK 1999)
Fickt Verstand und Seele wesentlich intensiver als alle gängigen Möchtegerne-Mindfucks (und ist natürlich der bessere MATRIX).
9 LA CHAMBRE VERTE (François Truffaut, Frankreich 1978)
Möglicherweise mein neuer Liebling (oder Zweitliebling) Truffauts – sein artifizielles, gestelztes, holpriges und „Schauspiel“-fremdes Schauspiel ist so wunderschön.
10 KOROSHI NO RAKUIN (Suzuki Seijun, Japan 1967)
Irgendjemand hat einmal gesagt, dass Suzuki keine Genres dekonstruiert, sondern sie mit der Maschinenpistole niederschießt und am Wegrande liegen lässt... Ja, passt!
11 CARNIVAL OF SOULS (Herk Harvey, USA 1962)
Ein Regisseur für Industrie- und Erziehungsfilme erklärt mit einer kleinen Fingerübung George Romero, David Lynch und Christian Petzold, wie man einen modernen Horrorfilm dreht. 
12 AI NO MUKIDASHI (Sono Shion, Japan 2008)
Aus Pulp einen Monumentalfilm erschaffen: der GONE WITH THE WIND unter den Unterhöschenfotografen-&-Sektenverschwörungs-Liebeskomödien.
13 THE NAKED DAWN (Edgar G. Ulmer, USA 1955)
Ulmers Western fängt im Bereich Melodrama da an, wo JOHNNY GUITAR aufhört: man siehe nur die so albern-lächerliche wie schaurig schöne Bar- und Tanz-Szene. Ein ganz großer Weirdo unter den durchgeknallten Westerns.
14 LAKAT KAO TAKAV (Ante Babaja, Jugoslawien 1959)
Zeitlich zwischen LES 400 COUPS und À BOUT DE SOUFFLE erschienen: die erst 10 Jahre später so genannte „Jugoslawische Schwarze Welle“ rollt an. (ein etwas längerer Kurzkommentar von mir hier)
15 LA CODA DELLO SCORPIONE (Sergio Martino, Italien / Spanien 1971)
Kein Giallo-Killer könnte jemals so verrückt und obsessiv sein wie Sergio Martino und Kameramann Emilio Foriscot. Die wunderbare Musik Bruno Nicolais stellt dabei sowohl einen Kontrapunkt wie auch das Sahnehäubchen dar.
16 THE BRIDGE ON THE RIVER KWAI (David Lean, UK / USA 1957)
Auf seine eigene Weise noch wesentlich radikaler und subversiver als PATHS OF GLORY aus dem selben Jahr... „Madness, madness!“
17 SPLENDOR IN THE GRASS (Elia Kazan, USA 1961)
Kazans heimliches Magnum Opus?
18 CITIZEN TOXIE: THE TOXIC AVENGER IV (Lloyd Kaufman, USA 2000)
In Tromaville hört dich niemand nach Film-Konventionen schreien!
19 TATORT: FRAU BU LACHT (Dominik Graf, Deutschland 1995)
Hinter dem Orientalismus taucht allmählich diese Klarheit auf – bezüglich der asiatischen Figuren – während München und seine Notabeln immer mehr zum dunklen Sumpf geraten. Und für diesen Prozess dienen Monty-Python-Witze als Katalysator.
20 THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (Martin Ritt, UK 1965)
Diese diamantenharte Schwarzweiß-Fotografie: man kann jeden Bartstoppel und jede einzelne Pore in Richard Burtons Gesicht zählen!
21 LONELY ARE THE BRAVE (David Miller, USA 1962)
Nicht ganz so harte Schwarzweiß-Fotografie, aber nicht weniger schön. Bestätigt den Verdacht, den wir alle hatten: Rambo war ursprünglich tatsächlich ein Linksradikaler.
22 BEAU-PÈRE (Bertrand Blier, Frankreich 1981)
Trotz seiner extremen Subthemen ein erstaunlich sensibler Film mit einem Dewaere in Flammen.
23 SPY GAME (Tony Scott, Deutschland / USA / Japan / Frankreich 2001)
Eine Hawks‘ianisch-Borzage‘ianische transzendentale Romanze? Oder geht es um einen alternden Zauberlehrling, der sein eigenes alter ego schuf? Die Training-Montage-Sequenz könnte ich mir jeden morgen zum Frühstück anschauen.
24 FEMINA RIDENS (Piero Schivazappa, Italien 1969)
Ein Feminismus-Manifest als knallbunte Pop-Art-Exploitation-Klamotte? Enthält jedenfalls das wahrscheinlich beste Italowestern-Duell außerhalb eines Italowesterns.
25 LA PASSION DE JEANNE D‘ARC (Carl Theodor Dreyer, Frankreich 1928)
Stummfilme sind an sich nicht emotional stärker als Tonfilme – auch wenn Dreyers ikonischer Klassiker ein gutes Argument gegen diese Aussage wäre. (mehr dazu hier)
26 THE LONGEST YARD (Robert Aldrich, USA 1974)
Albern, ernsthaft, corny, elegisch, düster, ausgelassen, zynisch, humanistisch, spannend, erratisch – alles immer im genau richtigen Moment.
27 WHAT‘S UP, DOC? (Peter Bogdanovich, USA 1972)
Komödie als Action, Action als Komödie – oder die Essenz von Slapstick. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so sehr in Barbara Streisand verlieben könnte.
28 TWO-LANE BLACKTOP (Monte Hellman, USA 1971)
Ein Film, der seine dramaturgischen Entwicklungen dadurch kenntlich macht, dass der Pullover einer der Hauptfiguren die Farbe wechselt, kann doch nur großartig sein.
29 PRINCE OF THE CITY (Sidney Lumet, USA 1981)
SERPICO goes ambiguity? Wahrscheinlich der qualvollste Film der diesjährigen Kanon-Liste – für die Figuren genau so wie für den Zuschauer. Und der traurigste.
30 LE DEUXIÈME SOUFFLE (Jean-Pierre Melville, Frankreich 1966)
Die Gangster kommen langsam aber sicher in Melville‘istan an. (mehr dazu hier)
31 POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG (Dominik Graf, Deutschland 2011)
Auf den Dächern deutscher Polizeireviere Tauben mit wilden Reißzooms zu erschießen, um sich vor Samuel Fullers TATORT zu verbeugen... nur eine der vielen tollen Ideen (hier der Text von Christoph bei „Eskalierende Träume“, der mich – und hoffentlich andere – so neugierig machte)
32 ST. PAULI ZWISCHEN NACHT UND MORGEN (José Bénazéraf, Bundesrepublik Deutschland / Frankreich 1967)
Der spätere „Godard des Porno“ verwandelt eine Hamburger Gangster-Klamotte in eine Art hochlebendiger Kunstinstallation – mit tanzenden, mehr oder minder nackten Frauen und einem Rolf Eden in ausgesuchten Gangsterposen.
33 LISTZOMANIA (Ken Russell, UK 1975)
Wären alle Biopics doch nur so [bitte Begeisterung ausdrückendes Adjektiv selbst einfügen]. Dass er im Wagner-Jahr nicht wesentlich öfter in Kino und TV hoch- und runtergespielt wurde, ist geradezu unverständlich.
34 CSILLAGOSOK, KATONÁK (Jancsó Miklós, Ungarn / UdSSR 1967)
Ein Film, der über Kriegsgewalt wahrscheinlich mehr zu sagen hat als jeglicher „realistische“ Zugang es könnte. Markerschütternd (besonders auf großer Leinwand): der kollektive Marsch in den Tod mit der Arbeiter-Marseillaise. (ein etwas längerer Kurzkommentar von mir hier)
35 THE HUMAN FACTOR (Otto Preminger, UK 1979)
Die detailreiche, fast schon liebevolle Zeichnung der biederen Geheimdienst-Angestellten macht diesen „revisionistischen“ Agentenfilm zu einem bescheidenen, nüchternen und leider unterschätzten Abschluss einer großen Regie-Karriere.
36 WO IST COLETTI? (Max Mack, Deutsches Reich 1913)
100 Jahre alt und kein bisschen müde! Nimmt en passant einfach mal so Buster Keaton und Fritz Lang vorweg. (mehr dazu hier)
37 HWANYEO (Kim Ki-young, Republik Korea 1970)
Kims Variation seines HANYO / THE HOUSEMAID, oder: wie ein Giallo denn in Korea aussehen könnte?
38 LIMELIGHT (Charles Chaplin, USA 1952)
Ich mag Chaplin-Filme, die wenig... „Chaplin“ enthalten – er hätte wesentlich mehr Melodramen drehen sollen.
39 DIE GROßE LIEBE EINER KLEINEN TÄNZERIN (Alfred Zeisler, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1924)
Eine schmachtend tragische Liebesgeschichte wandelt sich zu einem frühen Stück „body horror“ – alles gespielt von Marionetten!
40 MUNICH (Steven Spielberg, USA / Kanada / Frankreich 2005)
Spielbergs bester „ernsthafter“ Film: ohne Schnörkel, ohne Kitsch, ohne Ausweg aus der moralischen Zwickmühle.
41 DÉJÀ VU (Tony Scott, USA / UK 2006)
Widerspricht vielleicht am vehementesten dem Klischee von Tony Scott als vermeintlich „seelenloser style-over-substance-Technokrat“. Ein wunderschöner Film, ein rührender Film, ein menschlicher Film.
42 LORD OF ILLUSIONS (Clive Barker, USA 1995)
Heruntergekommener „film noir“ trifft auf überkandidelten Supernatural-Horror – und damit ganz gut auf meinen Geschmack.
43 DER GROßE SPRUNG (Arnold Fanck, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1927)
Wer hätte ahnen können, dass Nazi-Leni (Riefenstahl) derartig sexy sein kann? Das passt aber auch zu einem Film, der so wirkt, als wäre „Arnold Fanck“ ein Pseudonym für Ernst Lubitsch.
44 EDWARD SCISSORHANDS (Tim Burton, USA 1990)
Balsam für die Außenseiter-Seele in uns allen.
45 JURASSIC PARK (Steven Spielberg, USA 1993)
Eine ausgelassene Screwball-Komödie mit einer Laura Dern, die in den potthässlichsten und kartoffelsack-artigsten Outdoor-Klamotten der Welt trotzdem einen Sex-Appeal wie Diven des klassischen Hollywoods in erlesensten Abendkleidern ausstrahlt. Und dazu gibt es auch noch Dinosaurier!
46 L‘AMI DE MON AMIE (Eric Rohmer, Frankreich 1987)
Diese modernistische Architektur mit diesen ganzen Passanten im Hintergrund – wie ein eigener, vom „eigentlichen“ Film unabhängiger Nebenfilm.
47 THE RETURN OF THE LIVING DEAD (Dan O‘Bannon, USA 1985)
Brraaaaaaiiiiiiinnnzzzz! Von wegen SHAUN OF THE DEAD hat den lustigen und 28 DAYS LATER den schnellen Zombie erfunden: O‘Bannon ist mit seinem Punk-Film sogar Peter Jackson um sieben Jahre voraus.
48 DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN (Dominik Graf, Deutschland 2011)
Einen Italo-Western in der fränkischen Provinz zu situieren ist eine tolle Idee – und wirkt hier wie die logischste Sache der Welt.
49 491 (Vilgot Sjöman, Schweden 1964)
Schon erstaunlich, wie nüchtern und nachdenklich so ein Skandalfilm heute sein kann. Wenn es allerdings eine ist, so ist die Hommage an Nicholas Ray trotzdem ziemlich abgefahren.
50 SPALOVAČ MRTVOL (Juraj Herz, ČSSR 1969)
Die Banalität des Bösen in nicht-banalen Bildern. (mehr dazu hier)
51 BABY DOLL (Elia Kazan, USA 1956)
Heiß, hysterischer, BABY DOLL.
52 MORTE A VENEZIA (Luchino Visconti, Italien / Frankreich 1971)
Ein Voyeur trifft auf seinen Todesengel und starrt sich ins Grab...



Double-Features 2013: sieben tolle Vorschläge

Wer eins sagt, muss manchmal auch zwei sagen. Doch 1 + 1 ergibt nicht automatisch eine gute 2. Hier deshalb einige Film-Doppel-Programme, die ich dieses Jahr persönlich getestet und als in höchstem Maße erlesen empfunden habe:

1 „Ein Männerabend mit Bob“
     - ATTACK (Robert Aldrich, USA 1956)
     - THE LONGEST YARD (Robert Aldrich, USA 1974)
2 „Große Gefühle, kleine Gehirne und eine ganze Menge Sci-Fi-Trash“
     - METROPOLIS (Fritz Lang, Deutsches Reich-Weimarer Republik 1927)
     - CITIZEN TOXIE: THE TOXIC AVENGER IV (Lloyd Kaufman, USA 2000) 
3 „Mord und Totschlag – ein Rezept für Kleinbürger“
     - ARSENIC AND OLD LACE (Frank Capra, USA 1944)
     - DEATH WISH (Michael Winner, USA 1974)
4 „Der beste Freund eines Mannes ist sein Schwiegersohn“
     - RICHARD WAGNER (Carl Froelich, Deutsches Reich 1913)
     - LISZTOMANIA (Ken Russell, UK 1975)
5 „Spiel, Spaß und Idylle in den Bergen“
     - IM WEIßEN RÖSSL – WEHE DU SINGST! (Christian Theede, Deutschland / Österreich 2013)
     - THE SHINING (Stanley Kubrick, UK / USA 1980)
6 „Die reitende Dame mit der Peitsche züchtigt Beethovens Taube“
     - TATORT: TOTE TAUBE IN DER BEETHOVENSTRAßE (Samuel Fuller, Bundesrepublik Deutschland 1973)
     - FORTY GUNS (Samuel Fuller, USA 1957)
7 „Kleine Läden, große Leben“
     - SMOKE (Wayne Wang/Paul Auster, USA / Deutschland / Japan 1995)
     - CLERKS (Kevin Smith, USA 1994)
(WARNUNG: Die vorgeschlagenen Reihenfolgen sind selbstverständlich strengstens einzuhalten! Für etwaige Nebenwirkungen bei Umkehrung kann ich keine Verantwortung übernehmen!)



Steven Spielberg ist gewissermaßen der Fritz Lang des Jahres: „mein Filmschaffender 2013“. Der Regisseur, der mir im Jahr 2013 am häufigsten begegnet ist...
Als ich zu Jahresbeginn mit meinem liebsten Spezialisten für US-amerikanische Politik und Geschichte ins Kino gegangen bin, um LINCOLN zu schauen, musste ich mir schmerzhaft bewusst werden, wie unfassbar wenige Filme ich von Steven Spielberg zu diesem Zeitpunkt kannte – ein Umstand, dem ich Abhilfe schaffen wollte. Eine lückenhafte, aber dennoch recht umfangreiche Retrospektive später hat sich zumindest eine leichte Tendenz verfestigt, die schon zu erahnen war: Spielberg ist für mich ein ganz großer Regisseur des „Trivialen“. Seine „seriösen“ Filme erscheinen mir fast alle bestenfalls nett, oft jedoch mittelmäßig, schlimmstenfalls geradezu unerträglich: tun ernsthaft, prügeln sich aber mit Kitschkeulen selbst in die Bewußtlosigkeit. Als positive und besonders faszinierende Ausnahme stellte sich in diesem Bereich sein MUNICH heraus. Sehr positiv überrascht hat mich auch WAR HORSE: nicht nur wie üblich wunderschön fotografiert, sondern auch angenehm „unambitioniert“ – keine Geschichtslektion, sondern ein Period-Abenteuerfilm. Was die INDIANA JONES-Reihe betrifft: vor der Retrospektive stand in meiner Gunst noch LAST CRUSADE vor LOST ARK und TEMPLE OF DOOM (letzterer schon mit einer gewissen Distanz). Die Zweitsichtung von TEMPLE OF DOOM hat ihn extrem aufgewertet: als Spielbergs vielleicht wildesten und expressionistischsten Film. Mit Fritz Langs Indien-Dilogie (dem er viel verdankt) im Hinterkopf hat er einen herrlichen Schmelz. Short Round und Willie wirken auch nicht mehr so nervend, besonders, wenn man dann im Vergleich Shia LaBeoufs Rocker-Karikatur in CRYSTAL SKULL durchstehen muss, den ich als Film voller verschenkter Potentiale wahrgenommen habe.
Die Retrospektive ist natürlich nicht per se abgeschlossen. CLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND und E.T. – THE EXTRA-TERRESTRIAL warten auf Neusichtungen, alle anderen Werke des geschäftigen Filmemachers auf erstmalige Entdeckung.
Hier aber nun meine Ordnung nach Präferenz (die Lücken markieren einen Bruch in den „Qualitätsblöcken“, und es handelt sich, wenn nicht anderes angegeben, um Erstsichtungen):

1 RAIDERS OF THE LOST ARK (1981) 2. Sichtung
2 INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (1984) 2. Sichtung
3 INDIANA JONES AND THE LAST CRUSADE (1989) 3. Sichtung
4 MUNICH (2005)
5 JURASSIC PARK (1993)

6 DUEL (1971) 2. Sichtung
7 ALWAYS (1989) 4. Sichtung
8 WAR HORSE (2011)
9 JAWS (1975) „1½.“ Sichtung

10 THE SUGARLAND EXPRESS (1974)
11 COLUMBO: MURDER BY THE BOOK (1971)
12 LINCOLN (2012)
13 SCHINDLER‘S LIST (1993) 2. Sichtung

14 1941 (1979) 2. Sichtung
15 INDIANA JONES AND THE KINGDOM OF THE CRYSTAL SKULL (2008)
16 THE LOST WORLD: JURASSIC PARK (1997)
17 CATCH ME IF YOU CAN (2002)

18 SAVING PRIVATE RYAN (1998) 2. Sichtung
19 THE COLOR PURPLE (1985)



Dominik Graf ist in gewissen Filmblog-Kreisen (ich verlinkte ja schon einen vor Begeisterung fast platzenden Artikel aus „Eskalierende Träume“ weiter oben) ein gefeierter, um nicht zu sagen „gehypeter“ Regisseur, und vannorden droht mir bei the-gaffer.de in der Kommentarspalte gerne mit einem Graf-Zitat im Ärmel mit lebenslangen Kontaktsperren (die er – erfreulicherweise – doch nicht einhält). Ein TV-Tipp bei einer gelb-blauen Seite machte mich auf eine Wiederholung von POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG aufmerksam. Und was soll ich sagen: das Graf-Fieber befiel mich. Ein leidenschaftlicher, drängender Filmemacher, der großes Genre-Kino für den kleinen Bildschirm dreht, und dieses Jahr für einen teilweise höchst unterhaltsamen, oft aber auch höchst befremdlichen Shitstorm mit seinem ersten TATORT seit 18 Jahren sorgte (was befürchten lässt, dass es noch mal 18 Jahre dauern wird, bevor er wieder einen drehen kann/darf). Auch hier ist die Retrospektive natürlich nicht im engeren Sinne „abgeschlossen“.
Der erste Block der folgenden Präferenz-Liste verteilt sich komplett auf meine Kanon- und aktuelle Top-10-Liste, wo auch Kurzkommentare zu lesen sind (alles Erstsichtungen):

1 TATORT: FRAU BU LACHT (1995)
2 POLIZEIRUF 110: CASSANDRAS WARNUNG (2011)
3 DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN (2011)
4 TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT (2013)

5 DER FAHNDER: NACHTWACHE (1993)
6 DER FAHNDER: DER DICHTER VOM BAHNHOF (1985)
7 POLIZEIRUF 110: DER SCHARLACHROTE ENGEL (2005)
8 KALTER FRÜHLING (2004)

9 DER FAHNDER: LIEBE MACHT BLIND (1985)
10 DER ROTE KAKADU (2006)
11 TATORT: SCHWARZES WOCHENENDE (1986)

12 HOTTE IM PARADIES (2002)

13 DER FAHNDER: LAUTER GUTE FREUNDE (1986)



Robert Aldrich war mir bereits als Regisseur von THE DIRTY DOZEN (vor zu langer Zeit gesehen) und des überaus furiosen „noir-to-end-all-noirs“ KISS ME DEADLY bekannt. Es ist Oliver von „Remember It For Later“, der mir den guten Mann mit seiner wirklich wundervollen und fast allumfassenden Robert Aldrich-Retrospektive näher gebracht. Diese hat mich unendlich neugierig auf weitere Filme dieses subversiven „Hollywood maverick“ gemacht hat.
Mit lediglich 10 Filmen war meine persönliche Aldrich-Reihe alles andere als umfassend, aber nichtsdestotrotz stets höchst interessant (vom durch und durch öden THE BIG KNIFE abgesehen). Mein Überraschungsknaller war THE GRISSOM GANG, der letzte von vier Filmen, die Aldrich komplett „independent“ und in seinen eigenen Studios drehte, bevor er pleite ging und wieder „Auftragsregisseur“ wurde. Ein Film, der sich wie völlig neben der Spur anfühlt, von einer teils hysterisch anmutenden Bilder-Dichte. Ein Werk, das seine Dreckigkeit regelrecht ausstellt und dessen Figuren vollkommen jenseits von Gut und Böse sind. Letzteres passt zu einem Film, der sich kaum sinnvoll mit konventionellen Kategorien erklären lässt, und der stellenweise sogar den bizarren KISS ME DEADLY verhältnismäßig normal aussehen lässt: Als eine Art „New Hollywood“-Statement jedenfalls ist er wesentlich radikaler als der thematisch verwandte BONNIE & CLYDE, dem er natürlich einige Elemente verdankt.
Bei der Zweitsichtung hat KISS ME DEADLY nichts von seiner Faszination eingebüsst, auch wenn zumindest die Geschichte ein klein wenig mehr Sinn zu ergeben schien. Meinen Erklärungsnotstand aufgrund mangelnder Kenntnis des Klassikers THE LONGEST YARD konnte ich mit viel Genuss beseitigen. Auch die interessante und unterschätzte Facette Aldrichs als „Frauen-Regisseur“ hat mir gut gefallen, und macht mich neugierig auf weitere Filme wie THE KILLING OF SISTER GEORGE, THE LEGEND OF LYLAH CLARE sowie HUSH... HUSH, SWEET CHARLOTTE. Der solide APACHE sollte eine gute Grundlage für die berühmteren bzw. gelobteren Westerns VERA CRUZ und THE LAST SUNSET bilden.
Kurz, ich habe künftig noch wesentlich mehr zu sehen als das:

1 THE GRISSOM GANG (1971)
2 KISS ME DEADLY (1955), 2. Sichtung
3 THE LONGEST YARD (1974)

4 AUTUMN LEAVES (1956)
5 WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? (1962)
6 ATTACK (1956)

7 TWILIGHT‘S LAST GLEAMING – europäischer Cut (1977)
8 APACHE (1954)
9 THE ANGRY HILLS (1959)

10 THE BIG KNIFE (1955)



James Bond-Retrospektive

Vodka-Martini statt Glühwein, Beluga-Kaviar statt Christstollen, die coolste Titelfigur-Melodie der Welt statt Adventsgeträller, Ernst Stavro Blofeld statt Knecht Ruprecht, rasante Verfolgungsjagden statt Rumlümmeln am Weihnachtsmarkt – kurz: meine persönliche Alternative zum Adventstrubel war eine kompakte, zumindest die EON-Produktionen umfassende Retrospektive zum berühmtesten Geheimagenten der Welt. Einige große Überraschungen habe ich dabei erlebt!
In Klammern hinter dem Titel steht jeweils die mehr oder minder präzise Sichtungsanzahl:


001 THE SPY WHO LOVED ME (XY?)
Jaws, Union-Jack-Leap, Barbara Bach, Lotus Esprit, Jaws, Ägypten und eine Renoir-Connection: Nobody does it better...
002 LICENCE TO KILL (3?)
Eine neue Liebe, Nr. 1: Diente jahrelang als Staubfänger in der „Na ja, geht so“-Schublade. Wie konnte das passieren? Nicht nur der explosivste Bond, sondern paradoxerweise vielleicht auch der subtilste – so faszinierend in allem, was er nur andeutet und unausgesprochen lässt. 
003 CASINO ROYALE (2)
Hat bei der Zweitsichtung nichts eingebüßt. Nichts.
004 ON HER MAJESTY‘S SECRET SERVICE (3?)
Eine neue Liebe, Nr. 2: Leistete LICENCE TO KILL beim Staubfangen Gesellschaft. Hat seinen Status als „Bond-Geheimtipp für Cinephile“ reichlich verdient. 
005 SKYFALL (2)
Hat zwar den Pathos des Erstsichtungs-Begeisterungssturms verloren, was sich allerdings nicht als wesentlich herausgestellt hat.

006 THE LIVING DAYLIGHTS (7?)
Ein Nebenbösewicht hat sein eigenes Musikmotiv und Bond turnt mit den späteren Talibans rum! So geliebt wie eh und je.
007 YOU ONLY LIVE TWICE (6?)
Der Showdown fällt zum Rest vielleicht ab. Ansonsten natürlich der exquisiteste Connery-Bond.
008 MOONRAKER (5?)
Die Photonen-Pistolen sind natürlich Quark hoch drei. Aber er enthält trotzdem fantastische Actionszenen in wunderbaren Settings und den nach wie vor besten Bond-Nebenbösenwicht aller Zeiten (der hier eine fast schon lyrische Menschwerdung erfährt).

009 FOR YOUR EYES ONLY (7?)
2CV, Pistazien und Carole Bouquet!
010 DIAMONDS ARE FOREVER (6?)
Einige finden den albern: aber eigentlich macht er doch in doppelter Hinsicht nur Spaß. Bond-Girl und Nebenbösewichte sind einfach nur wunderbar.
011 GOLDFINGER (4?)
„I expect you to die“! Nicht nur die Sprüche, auch die Dramaturgie ist ordentlich choreografiert.
012 TOMORROW NEVER DIES (1)
Perfektes Bond-Feeling für die 1990er Jahre. Die Motorrad-Helikopter-Verfolgungsjagd ist die beste der ganzen Reihe, und die Blondierung des Nebenbösewichts die furchterregendste.
013 A VIEW TO A KILL (5?)
80er-Jahre-Augenkrebs vom Feinsten (ich hoffe, Grace Jones‘ Kostümdesigner wurde nicht juristisch verfolgt). Und die Ohren kriegen auch was ab. Je nach Perspektive der „schlechteste“ der guten Bonds oder der allerbeste der „mittelmäßigen“.

014 GOLDENEYE (2)
Russische Bond-Girls sind immer toll, und 007 grüßt dialektisch Ivan Danko, wenn er halb Moskau zu Schutt und Asche fährt. Der Showdown lahmt allerdings vor sich hin.
015 LIVE AND LET DIE (4?)
Bond verliert hier nicht nur sein schwarzes Bond-Girl, sondern zwischendurch auch seinen dramaturgischen Flow – trotz immer wieder starker einzelner Szenen (Bond goes crocodile). Hier eine sehr interessante Deutung des Films.
016 DR. NO (5?)
Gute Nostalgie fängt langsam an, abzublättern (ist tatsächlich der erste Bond, den ich jemals gesehen habe): Connery bewahrt sich trotzdem stets seine Coolness (vielleicht sogar zu sehr?).

017 DIE ANOTHER DAY (1)
Bizarre Zweiteilung. Bis auf das Titellied und eine gewisse Oscar-Gewinnerin schrammt die erste Hälfte am Quasi-Meisterwerk vorbei. Der CGI-Rest erinnert einen daran, dass billige Rückprojektionen einst doch nicht das schlechteste der Welt waren.
018 THE WORLD IS NOT ENOUGH (1)
Ich habe knapp einen Monat später schon gefühlte Zweidrittel vergessen. Ach ja: witzige Rotorensägen-Verfolgungsjagd, aber Carlyle vollkommen verschenkt, Marceau nichtssagend und wer war noch mal das andere Bond-Girl?
019 THE MAN WITH THE GOLDEN GUN (XY?)
War mal einer meiner absoluten Lieblinge der Reihe. Warum nur? Ich gehe davon aus, dass der Film derselbe geblieben ist, und nur ich mich geändert habe.

020 OCTOPUSSY (3?)
Ich konnte mit dem noch nie was anfangen. Wahrscheinlich ist es seine schreckliche Beliebigkeit: alles hier ist irgendwie vollkommen mittelmäßig, und daher auch egal.
021 FROM RUSSIA WITH LOVE (4?)
Auch diesen Kultklassiker unter den Bonds hatte ich nie wirklich gern. Nach Lektüre des Romans weiß ich, wie eng er sich an die Vorlage hält: schnarchig, dramaturgisch katastrophal und in seinem orientalistischen Rassismus so furchtbar lächerlich weil verkrampft ernsthaft.

022 THUNDERBALL (3?)
Agent 007 geht tauchen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
023 A QUANTUM OF SOLACE (2)
Lächerlicher Wackel-Wackel-Schnitt-Clip. Der Rest (Musik, Bond-Girl, Bösewicht, Spannung etc.) ist allerdings nicht besser.

Und jetzt ist Weihnachten und überhaupt 2013 zu Ende. Dieser persönliche Rückblick hat für mich ein bisschen wie eine Beichte, wie eine Bewältigungsleistung gewirkt. Jetzt kann es frisch im neuen Jahr weitergehen. Mit weiteren Filmen...