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Samstag, 5. März 2011

Unmassgebliche Gedanken zu einem vollendeten Filmfragment

 "Ein Narr, wer mono.micha erzählt, von welchen Frauen er schwärmt."
(Altväterliches Sprichwort, soeben von mir erfunden)


Mulholland Drive - Strasse der Finsternis
(Mulholland Dr., USA/Frankreich 2001)

Regie: David Lynch
Darsteller: Naomi Watts, Laura Harring, Ann Miller, Justin Theroux, Dan Hedaya, Lee Grant, Robert Forster, Lori Heuring, Chad Everett, Billy Ray Cyrus u.a.

“... and now I’m in this dream place.” - Sicher, es geht um Träume in David Lynch’s Summa seines bisherigen Schaffens. Sie sind jedoch nur eines der vielen Motive, auf die man stösst, um festzustellen, dass sie bereits von anderen ausgeweidet wurden (etwa das von Benjamin Happel in seiner Besprechung  in den Mittelpunkt gestellte Strassen-Motiv, bei mir einfach in einem anderen Zusammenhang auftauchend). Und wer glaubt, dem Film mit dessen oberflächlichem Handlungsgerüst (die erfolglose Schauspielerin Diane träumt sich in eine für sie bessere Welt hinein, um im zweiten Teil mit der Wirklichkeit - und dem Wahn - konfrontiert zu werden) oder den kryptischen  Hinweisen des Regisseurs auf der Spur zu sein, irrt. Denn selbst im Traum wird der Traum zum Motiv, träumen doch auch darin vorkommende Figuren (etwa der Mann im “Winkie’s”) oder werden wie Adam Kesher aus ihren Träumen herausgerissen: “It’s no longer your film.” - Kesher, der nicht umsonst “Adam” heisst, ist überhaupt eine faszinierende Gestalt, an der sich zeigen lässt, wie tief  Lynch in kulturellen Vorstellungen und Bildern wühlt: Oberflächlich betrachtet ein Regisseur, dem zuerst freundlich (“I know you said you would entertain suggestions.”), später rücksichtslos und seine Existenz bedrohend eine Hauptdarstellerin aufgezwungen  wird, ist zugleich der sich allmächtig wähnende erste Mensch, der erkennen muss, wie klein seine wirkliche Bedeutung im Gefüge des göttlichen Zwergs ist (welch herrliche Vorstellung: einer der um die "richtige Eva" verhandelnden Erzengel im Raum hält sich für  einen Espresso-Experten!) - eine Erkenntnis, der er mit dem Zerstören (im Film des Wagens der Castigliane-Brüder und des Schmucks seiner untreuen Frau) begegnet.

Der Sinn dieser einleitenden Worte? - Es lohnt sich im Hinblick auf eine Besprechung ausnahmsweise kaum, gross Recherchen anzustellen, bietet “Mulholland Dr.” doch so viel Raum für eigene Begegnungen, deren Entfaltung im schlimmsten Fall durch sich ultimativ gebende Interpretationen verwehrt werden könnte. Es gilt auch zu bedenken, dass Lynch’s Film ein Fragment ist (ein ursprünglich für den amerikanischen Sender ABC gedrehter und abgelehnter Pilotfilm wurde bekanntlich dank “Canal Plus” um mehrere Szenen erweitert und mit einem neuen Ende versehen), dass ihm deshalb wohl eine fragmentarische Besprechung angemessen ist - und man sich der Bedeutungslosigkeit seiner Bemerkungen jederzeit bewusst sein sollte, zeigen doch sämtliche anderen Annäherungen: wir haben es nicht nur mit einem äusserst vielschichtigen, sondern - ein Phänomen, dem ich in der Filmgeschichte vorher nie begegnet bin! - einem  vollendeten Fragment, dessen Tiefe sich nicht in Worte fassen lässt, zu tun.


Zum nackten Handlungsgerüst: Die junge Schauspielerin Betty Elms ist nach Hollywood gekommen, um als Schauspielerin Karriere zu machen. Im Apartment ihrer in Kanada weilenden Tante Ruth begegnet sie einer mysteriösen dunkelhaarigen Frau, die nach einem nächtlichen Unfall ihr Gedächtnis verloren hat. Obwohl die Vermieterin Coco der Anwesenheit der Fremden mit Misstrauen begegnet, will Betty ihr helfen. Neben ihrem ersten Vorsprechen, bei dem sie auch dem von ihr faszinierten Regisseur Adam Kesher begegnet, der  jedoch bereits auf Camilla Rhodes als Hauptdarstellerin festgelegt wurde, begibt sie sich zusammen mit ihrer neuen Freundin, die sich (von einem Poster, auf dem die Hayworth als “Gilda” angekündigt wird, inspiriert) "Rita" nennt, auf Spurensuche. Sie stossen dabei  auf die verweste Leiche einer Frau namens Diane Selwyn, deren Anblick Rita zusammenbrechen lässt. - Der Besuch des eigenartigen Clubs “Silencio” am frühen Morgen verrät den beiden sich mittlerweile liebenden Frauen, womit sie es zu tun haben: “It is an illusion.” - Denn nachdem Rita einen in ihrer Tasche entdeckten blauen Würfel mit einem dreieckigen Schlüssel geöffnet hat, verändert sich das “Universum” des Films: Namen ändern sich, Figuren  nehmen neue Wesenszüge an, einigen bislang nicht einzuordnenden Gestalten  aus Nebensträngen (dem tolpatschigen  Gangster Gene, der nicht nur ein Blutbad anrichtet, sondern auch noch den Lärm verursachenden Staubsauger erledigt) und Szenen (etwa dem vor den Credits angedeuteten  Jitterbug-Wettbewerb) kommt sogar  plötzlich eine überraschende Funktion zu. Was der Zuschauer in der ersten Hälfte verfolgte, war nämlich der Traum der erfolglosen Schauspielerin Diane, die sich nach ihrer einstigen Geliebten Camilla (im Traum Rita) verzehrt und sie jetzt, da diese sich mit dem Regisseur Kesher verlobt hat, umbringen lassen will. Am Ende wird die eine trostlose Wirklichkeit nicht mehr Ertragende von Wahnvorstellungen verfolgt und erschiesst sich.

Ein Film, der so intensiv mit Schein und Sein spielt, selbst den Zuschauer lange über sein Spiel im Unklaren lässt, kann nicht zufällig in Hollywood angesiedelt sein: Hollywood ist der Ort, der Träume herstellt und zu erfüllen vorgibt, der Ort der Illusionen, auch der Ort, an dem sich  “Realitäten” gegenseitig überlappen, Identitäten verloren gehen (deshalb vielleicht die zahlreichen Vorahnungen und Déja-vu-Erlebnisse, besonders deutlich illustriert am Betreten des Zimmers, in dem sich eben noch die jungen Frauen aufhielten, durch die etwas wahrnehmende Tante Ruth, die in einer der "Wirklichkeiten" gar nicht in Kanada, sondern tot ist). - Und warum sollte  ein Traum, der zunehmend die Atmosphäre eines “film noir” annimmt, ja sich beinahe als Film versteht (Betty ermutigt ihre Freundin zu einer telefonischen Erkundigung mit den Worten: “It’ll be just like in the movies. Pretending to be somebody else.”), an diesem alles verzerrenden und vervielfältigenden Ort nicht realistischer wirken als die eigentliche Realität - falls diese überhaupt existiert? Die Bewegungen der Frauen in der “Betty”-Story (dem Traum) sind betont langsam, gleitend, auf Details wird Wert gelegt (ein Schwenk auf den mit Spiegeleiern und Speck gefüllten Teller des Kunden im “Winkie’s”, dem Haar eines Erschossenen wird bis zu den Spitzen gefolgt). Die “Diane”-Realität wirkt  hingegen bruchstückhaft trist, man weiss manchmal nicht, ob man einer chronologischen Darstellung folgt - oder sich gar  in einer "Wirklichkeit" befindet, die wir gemeinhin als "Traum" bezeichnen. --- Beim Dreh im Studio scheint die Verwandlung  von einer Gestalt in eine andere wie von selber zu funktionieren: Betty, der noch eben das untalentiert geschriene  Einüben des Texts für ein Vorsprechen solche Schwierigkeiten bereitete, benötigt vom Partner, einem älteren, offenbar nach jungen Schauspielerinnen gierenden Typen, nur den Hinweis: “I wanna play this one nice and close” - schon verwandelt sie sich in ein  wahrhaftes Luder, das seine Hand an ihren Hintern drückt. Ganz so leicht ist es jedoch nicht, wenn man aus der einer traumhaften Realität zu verdankenden faszinierenden Frau in eine möglicherweise wirkliche geworfen wird, deren Sein fragmentarischer wirkt als ein Leben im Traum.

Dieses intensive Verändern der Realitäten ist noch mehr als in früheren Arbeiten das eigentliche Thema in Lynch’s Film, der trotz der herrlichen Aussichten auf das nächtliche Los Angeles vom Mulholland Dr. hinab auch  eine boshafte Abrechnung mit der Traumfabrik wurde. Er dekonstruiert (wer hätte mir diesen  verachteten "terminus technicus" je zugemutet?) das berühmte “Gleiten” durch die Kamera, das aus alltäglichen Menschen Stars macht (ich erinnere an die verblüffte Feststellung eines Sir Laurence Olivier, der an sich über die Zusammenarbeit mit Marilyn Monroe für seinen  Film “The Prince and the Showgirl”, 1957, keineswegs glücklich war, er müsse dem unscheinbaren Wesen die Gabe zugestehen, sich in der Kamera in eine Göttin zu verwandeln). - Und er fragt: Was geschieht in der Kamera? Wer oder was ermöglicht dieses  Gleiten von einer Realität in die nächste? - Es scheint mir, er greife hier nicht zuletzt auf den Behaviorismus zurück, der sich mit dem Phänomen der “Black Box” - für die im Film der geheimnisvolle blaue Würfel steht - beschäftigte - und zur ernüchternden Einsicht kam, dass wir  das "Sein zu etwas" nicht verstehen können, nämlich was in der Box geschieht. Lynch, der Wühlende, stösst hingegen auf das bizarre Figuren-Arsenal, für das er bekannt ist, legt dem Cowboy Worte in den Mund, die sich wohl mysteriöser geben als sie sind - und vermag gewisse Stränge wegen des fragmentarischen Charakters seines Werks  - was vielleicht durchaus dem Wesen dieses Wühlens angemessen ist - auch nicht auszuarbeiten. Gleichzeitig gelingt es ihm jedoch,  beängstigende Bilder für die dunkle Allmacht zu finden, die dieses von so vielen Schauspielern ersehnte, letztlich jedoch auch nicht Erlösung bringende Gleiten ermöglicht: es ist ein Hollywood, das sich längst nicht mehr in den Händen von Studiobossen, Produzenten und Regisseuren befindet, sondern von einer sonderbaren Mafia zu dem Gehorsam gezwungen wird, den ein undurchschaubarer Gott (ein Zwerg hinter Glas!) einfordert. - Über dem berühmten "Hollywood"-Schriftzug am Mount Lee, Symbol für eine Träume erschaffende und lebende Welt, sieht man  denn auch überdeutlich die riesigen Antennenanlagen, die Tinseltown zur kalten, hochtechnisierten  und mit Sicherheit überwachten Angelegenheit machen. Und das Umkreisen der Wolkenkratzer sagt: Ihr habt ja keine Ahnung, was hinter dieser Kälte vor sich geht!

Der Club “Silencio” wiederum lässt uns erahnen, was mit den Sich-Verwandelnden geschieht: Sie, die einander vorübergehend Angeglichenen (Rita trägt jetzt eine blonde Perücke!), der früheren Identität Entledigten, gelangen während eines Roy Orbison-Songs  weinend zur ernüchternden Erkenntnis,  dass “no hay banda”, dass es keine Band gibt, alles Illusion ist und bleibt - sie lediglich noch nicht wissen, welche Rolle sie in der nächsten Scheinrealität einnehmen werden, wenn sie den Würfel geöffnet und die Black Box durchschritten haben. -  Rita ist das Glück hold: Sie verwandelt sich in den von Kesher begehrten Star Camilla, die freundliche Vermieterin Coco in dessen arrogante Mutter - und die naive, unschuldige Betty wird zur verzweifelt Masturbierenden, die sich mit Mordgedanken trägt und anlässlich der um Kesher's mondänen Pool stattfindenden Party dabei zusehen muss, wie Camille jene ihr unbekannte Frau küsst, die in ihrem Traum als unbegabte Camilla Rhodes vorkam. --- Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen den beiden Rollen in zwei Studioszenen herausgearbeitet: Im "Traum" erfasst Betty das winzige Fenster, in dem die sich vorstellende Schauspielerin ihr “Sixteen Reasons” singt, zu Beginn gar nicht als solches, und selbst nach dem Wahrnehmen des Studiocharakters mit seinem Apparat steht sie, der angehende Star,  im Mittelpunkt des Interesses, da sie den Regisseur augenblicklich anzieht. In der "Realität" ist das kleine Auto, in dem Kesher dem Schauspieler vorführt, wie er Camilla halten soll (wobei er sie vor den Augen einer die Tränen mühsam zurückhaltenden Diane gleich noch leidenschaftlich küsst), vom ganzen Set umgeben.


Lynch benutzt seit Dennis Hopper’s Schreckensfahrt in ”Blue Velvet” (1986)  immer wieder das Motiv der Strasse, die eine Figur von einem Ort zum anderen bringt  (respektive sie zwischen den Realitäten wechseln lässt) - oder bringen sollte. Dass die Strasse eine äusserst problematische und unsichere Anglegenheit ist, verdeutlicht er bei dieser Gelegenheit  auch gerne: In “Wild at Heart” werden Sailor und Lulu bekanntlich förmlich von der bösen Hexe aus Victor Flemings “The Wizard of Oz” verfolgt; ein Schwenk in den Himmel (üblicherweise das probate Mittel, wenn man zeigen will, wie schnell die Zeit im Film vergeht) dient in “The Straight Story” (1999) der Darstellung der Langsamkeit, des nicht Vorwärtskommens - und in “Lost Highway” (1997) scheint Bill Pullman - dies ohne Anspruch auf Richtigkeit! - mitten auf dem Highway in den Tod stecken zu bleiben. Ähnliches widerfährt Rita, die auf dem Mulholland Dr. eigentlich erschossen werden sollte, aber in Diane's Traum wegen eines Unfalls stecken bleibt, damit sie zu Betty's Geliebter werden kann. - Zweifellos  ein verständliches Hinauszögern des Gleitens  auf einer Strasse, die in eine sie zur Leidenden, Nebensächlichen verdammenden Realität  führen wird (man beachte in diesem Zusammenhang die im Gegensatz zur Strasse zum Erfolg trostlose Gasse vor dem Club, auf der nur ein paar Papierfetzen herumwirbeln!).

Nach dem gescheiterten Versuch, ihre Geliebte umbringen zu lassen, wird Diane im Wahn vom alten Ehepaar heimgesucht, das ihr auf dem Flug nach Los Angeles (Realität und Fiktion durchdringen sich oft im Traum) vermutlich wirklich Gesellschaft leistete. Sie nimmt sich das Leben, damit das Sich-Bewegen in unterschiedlichen Wirklichkeiten endlich ein Ende findet. Bringt diese Tat die Erlösung? Die blauhaarige Dame im “Silencio” scheint es zu bestätigen. - Es ist  Lynch aber zuzumuten, dass er uns mit “Mulholland Dr.” nur Diane’s  Todestraum gezeigt hat, der sie wiederum in eine andere Scheinrealität führt...

Wenig wurde gesagt in diesem langen Eintrag; und was gesagt wurde, entsprang einem völlig westlich geprägten Gehirn, das sich nicht annähernd in den Kosmos dieses Regisseurs einzudenken vermag. Man könnte auch die Traum-Problematik weiterverfolgen und sich fragen, ob  "Mulholland Dr." den Zuschauer dermassen anzieht, weil er ein kollektives Unbewusstes anspricht: Wir alle träumen, träumen uns in schönere Welten - und befinden uns gelegentlich vor dem Aufwachen in jenem magischen Club, in dem wir auf boshafte Weise mit der Illusion konfrontiert werden, der wir uns hingaben. - Dennoch: "Mulholland Dr." scheint mir tatsächlich  ein wenig deutbarer zu sein als "Lost Highway". Das soll aber nicht heissen, er sei weniger tiefgründig. Im Gegenteil:  Lynch lädt den Zuschauer geradewegs zu einer für seine Verhältnisse nach der zweiten oder dritten Sichtung einigermassen nachvollziehbaren Geschichte mit Retro-Chic ein, damit dieser überhaupt eine Chance erhält, sich in seine Mythen einzuleben. Selbst das Rätsel um den Mann im "Winkie's" löst sich auf: Er war anwesend, als Diane den Mordauftrag erteilte, und erhält im Traum die Fähigkeit, ihr Unbewusstes (den Obdachlosen, der auch kurz vor ihrem Selbstmord erscheint!) erfasst, sie durchschaut zu haben.


Dass ich mich so gut wie gar nicht über mein persönliches Empfinden für Lynch’s Klassiker, an dem jeder  seither zum Jahrhundertwerk hochstilisierte Versuch, sein Publikum mit unterschiedlichen Zeit- und Traum-Ebenen zu beeindrucken (Aronofsky's "The Fountain", 2006, Nolan's "Inception",  2010 etc.), kläglich scheitert,  schon gar nicht über meine Begeisterung für Naomi Watts und die anderen Darsteller (die grosse Ann Miller in ihrer letzten Rolle!) ausgelassen habe, wird man bemerken Sollte ich, da diese Besprechung für einen Pedanten zum Glück auch jetzt schon  weniger als unvollständig ist? Übrigens: Einer meiner Kollegen betrachtete die beiden Detektive, die sich zu Beginn über den nächtlichen Unfall unterhalten, als Reverenz an die auf dem Friedhof umherlaufenden Polizisten in  Ed Wood's "Plan 9 From Outer Space" (1959). - Silencio!