(m)ein Sommermärchen
Frankfurt am Main
37°C
35mm
Donnerstag, 26. Juli
18.30 Uhr
LOVEMAKER
Regie: Ugo Liberatore
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1969
96 Minuten
München 1969: Die Studentin Christiane (Doris Kunstmann), ihr Freund Klaus (Roger Fritz), Helga (Christiane Krüger) und deren Freund gehen eines Nachts auf eine Baustelle und verprügeln einen italienischen Gastarbeiter. Der italienische Ingenieur und Bauleiter Giorgio (Antonio Sabato) wird Zeuge des Vorfalls, beendet ihn und wird es den Deutschen nach und nach heimzahlen: indem er erst Helga, später Christiane verführt.
LOVEMAKER erlebte am 26. Juli 2018 im Kino des Frankfurter Filmmuseums seine verspätete Deutschland-Premiere. Obwohl er von Artur Brauners CCC Film koproduziert wurde, kam der Film 1969 nicht in die deutschen Kinos. Brauner soll den fertigen Film gehasst, ihn als "antideutsch" bezeichnet haben und verbannte ihn in den Giftschrank. Wenn man LOVEMAKER heute sieht, kann man nur allzu gut verstehen, warum er nicht in Deutschland gezeigt wurde, und kann nur vermuten, dass er auch heutzutage (bzw. ausgerechnet heutzutage) immer noch keinen regulären Start bekäme. Liberatore hat hier nicht weniger als eine gnaden- und schonungslose Studie über deutschen Rassismus und Heuchelei vorgelegt. Die brillante Klarheit, mit der Liberatore und sein Co-Autor Fulvio Gicca Palli die subtilen Mechanismen von Rassismus offenbart, ist absolut verblüffend, und LOVEMAKER nur wenige Tage nach der großen Özil-Kontroverse zu sehen, passte wie die Faust auf's Auge.
Es ist 1969, aber unter der Oberfläche des "swingenden München" (so das Programmheft) sieht es hässlich aus. Die schick gekleideten, bürgerlichen Studenten fahren nächtens durch München und versuchen zu raten, ob die Helmfarbe der Gastarbeiter auf der Baustelle ihre Nationalität markiert. Der erste, den sie danach fragen, antwortet das, was sich jeder vernünftige Mensch denken könnte (natürlich hat die Helmfarbe damit nichts zu tun!), wird von Christiane bedrängt, bis sie ihm aus heiterem Himmel und völlig zu unrecht vorwirft, sie sexuell zu belästigen, woraufhin die beiden Männer der Studentenbande zum Prügeln hinzukommen. Die Fantasie des sexuell aggressiven Südländers – sie wird im Laufe des Films wie ein Bumerang auf Christiane und Helga zurückkommen.
Giorgio, den das Studentenquartett auf der Baustelle trifft, ist ein "komplizierterer" Gastarbeiter, weil er Ingenieur und Bauleiter ist, Akademiker, gutbürgerlich mit Haus, Frau und Kind in Rom – als Deutscher stünde in der sozialen Hierarchie weit höher als die Studenten. Zwischen ihm und den Deutschen beginnt, wie Festivaldirektor und Kurator Christoph Draxtra im Programmtext wunderschön schreibt, ein "morbide-neurotischer Tanz ambivalenter Gefühle". DoP Dario di Palma (der auch Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO und ARCANA fotografierte und außerdem für Lina Wertmüller, Ettore Scola, Federico Fellini und Michelangelo Antonioni gearbeitet hat) hält diesen "Tanz" oft wortwörtlich fest, indem er die Kamera um zwei Figuren kreisen lässt. Den ersten Walzer, wenn man so will, bestreiten Giogrio und Helga, die beide rasch eine Affäre beginnen, obwohl sie mit ihrem Freund bereits verlobt ist. Die Männer wissen nichts davon, nur Christiane beobachtet stark (ekel)erregt dieses Treiben. Und zwar fast wörtlich: als Helga heiratet, schaut Giorgio mal spontan vorbei; als der Bräutigam irgendwelche Koffer in einem Nebenraum packen geht, gönnt sich Giorgio mit Helga "die erste Nacht" auf dem Hochzeitsbett, während Christiane sich auf die Terrasse zurückzieht. Der Ausdruck glückseliger Befriedigung, den sie dann auf Helgas Gesicht sieht: bringt das Christiane schließlich zum Umfallen?
Christiane, die bis dahin den "mangia-spaghetti" mit sichtlich obsessiver Abscheu aufmerksam beobachtete, beginnt ihrerseits eine Affäre mit Giorgio. Der aufmerksame Zuschauer hat natürlich gemerkt, dass Giorgio den beiden deutschen Frauen nicht primär wegen seines schönen Lächelns gefällt, sondern weil er offenbar extrem gut im Bett ist... also zumindest im Vergleich mit jenen beiden Deutschen, die als lascher Maßstab herhalten können: Klaus und der andere Student neigen zu ausgiebigem Bierkonsum, was ihrer Potenz ziemlich abträglich ist. In einer peinlich langen Szene zu Beginn des Films sehen wir, wie sie im Vollrausch zu brüderlichen Umarmungen und komatösem Schlaf neigen, während ihre Freundinnen nach Sex gieren – bei diesen beiden Schlappschwänzen kann dann auch ein von den beiden Frauen etwas ungelenk eingefädelter Partnertausch-Versuch nicht weiter helfen. Jedenfalls wird Christiane, die vorher die "mangia-spaghetti" verabscheute, eben einem solchen sexuell hörig. Giorgio will sie zu einer "guten italienischen Hausfrau" degradieren, zwingt sie, bei ihm einzuziehen und ihrem ganzen Umfeld das auch mitzuteilen. Christiane wehrt sich – sie möchte nicht, dass man mitbekommt, wie sie mit einem ... "verheirateten Mann" ins Bett geht. Natürlich meint sie damit eigentlich einen "mangia-spaghetti" und Giorgio weiß es natürlich auch und im Grunde weiß sie, dass er es weiß. Das ist wie mit Özil und dem ominösen Bild: 99 % der Leute, die ihm das Foto mit dem türkischen Potentaten vorgeworfen haben, kümmern sich im Grunde einen Dreck um Menschenrechte in der Türkei und hatten kurz vorher ja auch überhaupt keine Probleme damit, eine Veranstaltung abzufeiern, deren Gastgeberland hungerstreikende politische Häftlinge, die aus fremden Staaten (der Ukraine) verschleppt wurden, in sowjetisch anmutenden Knästen vor sich hin darben lässt. Liberatore hatte diese Heuchelei schon 1969 in seinem Film in äußerst treffende Bilder gepackt.
Da wir eben bei Bildern sind: eines spielt in LOVEMAKER auch eine wichtige Rolle. Das Bild von Giorgios Ehefrau und dem gemeinsamen Kind, das vergrößert auf Posterformat über seinem Bett hängt – das gleiche Bett, in das er seine deutschen Affären zum Sex einlädt und in das schließlich auch Christiane landet, nackt und gedemütigt, während Giorgios Frau und Kind vom Wandposter belustigt auf sie herabblicken. Wie viele im Film ist auch dieser ein krasser, äußerst direkter Moment. Manche Zuschauer mögen das vielleicht gar vulgär nennen, aber immer wieder fühlte ich mich an die späteren Filme Paul Verhoevens erinnert (gerade darin, wie Sex als komplexes soziales Macht- und Unterwerfungsmittel präsentiert wird). Ähnlich komplex wie Verhoeven ist auch Liberatores Weigerung, seine Figuren einfach zu machen: so unsympathisch Christiane auch ist, so sehr macht sie die Kamera immer wieder zum visuellen Mittelpunkt des Films, harrt in einer ausgedehnten Szene, als sie alleine etwas gelangweilt durch Giorgios Wohnung bummelt, sehr lange mit ihr. So sehr man mit Giorgio auch prinzipiell sympathisiert darin, wie er der Herrenmenschenattitüde der deutschen Studenten einen Dämpfer verpasst, so selbstgefällig ist er letztlich in seinem Verhalten gegenüber Christiane; so persönlich und egoistisch bleibt seine "Rache".
Auf besondere Weise interessant ist LOVEMAKER auch, weil er ein italienischer Film ist, in dem deutsche Figuren in italienischer Sprache italienische Figuren rassistisch beschimpfen, wobei das ganze von Songs begleitet wird, die auf Deutsch im Original gesungen werden: ein janusköpfiges Verfremdungselement, wobei letzteres wahrscheinlich gerade in italienischen Kinos äußerst befremdlich gewirkt haben muss. Die instrumentale Titelmelodie hingegen, komponiert von Armando Trovajoli, müsste wahrscheinlich in die Top 5 der "Most ass-kicking bass lines in Italian cinema" aufgenommen werden.
Den visuellen Höhepunkt des "Tanzes" bildet eine ganz merkwürdige, fast surreale Szene, etwa in der Mitte des Films (schätze ich): Klaus und der andere Student sind in einer schlagenden Studentenverbindung und nehmen an einer Mensur teil, zu der Klaus tatsächlich Giorgio eingeladen hat (vielleicht nur, um zu sehen, ob der Italiener sich traut, wirklich zu kommen). Was folgt, sehen wir wahrscheinlich leicht verfremdet durch Giorgios Augen. Die Szenerie, die Fechthalle eines Verbindungshauses, wirkt fast retrofuturistisch, mit zahlreichen Männern in bizarr-archaischen Kampfanzügen, die nach einem mysteriösen Regelwerk in Zweierkämpfen gegeneinander antreten (wieder die Kamera, die um Personen-Duos kreist) – wobei es scheint, dass sie weniger kämpfen, als vielmehr wie aufgezogene Automaten hin- und her zucken. Nach Ende des Rituals sind die Männer dann mächtig stolz darauf, zerschnittene Gesichter zu haben – und dann kommt ein italienischer Ingenieur in einem eleganten, cremefarbenen Mantel vorbei und eröffnet ihnen, dass er das ganze für ein völlig groteskes Gladiatorenspektakel hält. Artur Brauner soll von dieser Szene wohl ganz besonders entrüstet gewesen sein.
Ugo Liberatore war mir bislang unbekannt, allerdings kein Terza-Visione-Neuling: sein Südsee-Aussteigermelodrama BORA BORA lief 2015 beim 2. Terza Visione. So ungalant das Bild der Deutschen in LOVEMAKER ist, so sehr schien es Liberatore in seinen Forschungen zu Rassismus, Geschlechterbeziehungen und moderner Heuchelei auch um Universelleres zu gehen. Ich empfehle Oliver Nödings und Silvia Szymanskis Besprechung des Films als Lektüre.
Was zwei der Hauptdarsteller, nämlich Doris Kunstmann und Roger Fritz, zu LOVEMAKER zu sagen haben, hörten die Zuschauer der Deutschlandpremiere im anschließenden Q & A mit den beiden. Zu sehen ist das Gespräch hier auf dem youtube-Channel des Deutschen Filmmuseums.
22.00 Uhr
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
Regie: Riccardo Freda (Nachdrehs: Filippo Walter Ratti)
Italien / Spanien 1972
91 Minuten
Vier junge Hippie-Urlauber, Jane (Camille Keaton – sechs Jahre vor DAY OF THE WOMAN), Bill, Joe und Fred suchen in einer stürmischen Nacht eine Villa auf. Dessen Hausherr, Lord Alexander (Luigi Pistilli), organisiert zusammen mit seiner Ehefrau und einigen Gästen gerade eine Schwarze Messe. Als die Urlauber da reinplatzen, geraten die Satanisten in Panik und massakrieren sich gegenseitig. Bei ihrer anschließenden panischen Flucht werden die vier jungen Leute nach und nach von schrecklichen Visionen und Ereignissen heimgesucht...
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein allseitig verstoßener Film, auf gewisse Weise ein film maudit: Regisseur Riccardo Freda selbst hasste ihn so sehr, dass er nicht nur seinen Namen aus den Credits entfernen ließ, sondern ihn in seinen Memoiren komplett unterschlug, so der italienische Filmhistoriker und Freda-Biograph Roberto Curti in seiner Einführung. Der Film lief nur in seinen beiden Produktionsländern und galt offenbar als nicht "exportfähig". 2004, nach einer Projektion im Rahmen einer Retrospektive beim Filmfestival Venedig, wurde er vom Publikum ausgebuht. Das Terza Visione ermöglichte nun nicht nur die Deutschlandpremiere des Films, sondern bot auch einen idealen Rahmen, ihn lieb zu gewinnen – auch, wenn er sich wahrhaftig mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Es ist durchaus möglich, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ein gescheitertes Meisterwerk der unfreiwilligen (?) Dekonstruktion ist: ein grand film malade im Sinne François Truffauts, mit einer ganz eigensinnigen, morbiden Poesie und einer großen Schönheit.
"Auszug aus den Geheimarchiven der Polizei einer europäischen Hauptstadt" – es fängt schon mal dem Titel an, der eher einen politischen Thriller in Form eines "police procedurals" suggeriert, und nicht einen dekonstruierten Horrorfilm, der mit zunehmender Laufzeit bis zur Grenze der Selbstzerstörung in alle möglichen Richtungen aus dem Leim geht. Da ist natürlich die Geschichte des reichen Industriellensohns Bill, der eine leicht ödipal gefärbte Beziehung zu seiner Mutter hat, sie auch mal heimlich beim Baden mit ihrem Liebhaber beobachtet, ihr gerne Halsketten schenkt und wohl hauptsächlich deshalb auf der Urlaubstour gerne mit Jane schlafen möchte, um seinem Muttikomplex ein Ventil zu bieten. Die Szenen mit Bill und seiner Mutter sehen wir in Rückblenden, die urplötzlich in den ersten zehn Minuten des Films einbrechen. Seine Mutter hat die Kette abgelehnt, weil Bill sie bei einer Trödlerin gekauft hat, die eine gruselige Geschichte zu dem Schmuckstück erzählt hat. Vielsagend, dass Bill die Halskette, die seine Mutter abgelehnt hat, nun Jane schenkt, die während der Schenkung dann auch eine irritierende Vision von Bill mit entsetzlich entstelltem, blauem Gesicht bekommt, was erst etwa eine Stunde später wieder eine Rolle spielen wird. Verfluchte Kette, ödipale Lust, schreckliche Zukunftsvisionen – und da sind noch weit und breit keine Satanisten (und kein Luigi Pistilli) in Sicht.
Das erste Drittel lässt zudem auch vermuten, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA eine spielerische Kapitalismus-Groteske sein könnte: die jungen Leute schließen untereinander Wetten ab, deren Schulden nie wirklich beglichen werden können, weil der Verlierer, immer wieder Bill, seine Schulden mit einem Reisescheck bezahlt: eine virtuelle (jenseitige?) Währung, deren Wert in der Wildnis gleich Null ist... vor allem, wenn ein Tankwart sich in der späteren Nacht weigert, den jungen Leuten das Auto vollzutanken, weil sie nicht bar zahlen können, und sich an dieser Stelle ein kleiner Abgrund auftut zwischen den letztlich bürgerlichen Hippies und dem bodenständigen ländlichen Kleinselbständigen. Diese Szene wird geradezu qualvoll lange ausgedehnt, aber dieses Spiel mit dem "virtuellen" Geld wird dann auch relativ rasch wieder fallen gelassen – wieder ein scheinbarer roter Faden, der ins Nichts läuft.
Dann folgt der Part in der Villa, wo die jungen Leute mit dem leeren Auto ankommen. Hier taucht dann auch der unvergleichlich großartige Luigi Pistilli auf, der als Lord Alexander die jungen Leute geradezu drohend ermahnt, dass in seinem Hause Gastfreundschaft heilig sei und sie deshalb gefälligst hier zu bleiben hätten! Und Luigi Pistilli im Dunkeln als Silhouette ist nunmal extrem beunruhigend (und auf großer Leinwand ganz großartig zu betrachten).
In den Villenszenen ist es besonders auffällig, wie in ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA dösige Exposition, Absurdes und morbide Poesie sich die Klinke in die Hand geben. Den Männern aus der Hippie-Clique dabei zusehen, wie sie sich in recht banalen Dialogen am Essenstisch der Villenbediensteten unterhalten, verlangt einiges Sitzfleisch. Parallel ist Jane in ein herrschaftliches Zimmer gebracht worden und von der Hausherrin bei einem warmen Bad sich selbst überlassen worden. Die Großnichte des großen Buster Keaton braucht im Grunde sowieso während des Films nicht viel zu tun, weil ihr etwas melancholisches Gesicht mit den traurigen Augen (das liegt wohl in der Familie?) stets etwas Träumerisch-Jenseitiges ausstrahlt. Immer wieder wird sie isoliert gezeigt, wenn die Männer der Urlaubspartie zusammen gezeigt werden. Immer wieder schwelgt die Kamera mit ihr in leiser Melancholie. Wenn sie dann im leicht flatternden (und ja: leicht durchsichtigen) weißen Nachthemd der bizarren Orgelmusik der schwarzen Messe folgt, in dem sie durch dunkle Gänge mit wehenden Vorhängen läuft (gleitet?), wähnt man sich beinahe wohlig in einem klassischen Gothic-Horror-Film wieder zu finden. Wäre diese merkwürdige Melodie nicht, die eine der Teilnehmerinnen der schwarzen Messe in Dauerschleife auf der Orgel spielt, eine Melodie, die ein stetes emotionales Crescendo ohne Auflösung beschreibt, bei der man das Gefühl hat, sie könnte jederzeit plötzlich in eine Fats-Waller-Jazznummer umschlagen: irgendwie kontrapunktisch zu den Bildern der schwarzen Messe und doch so unglaublich passend (die Credits gehen hier an den großen Stelvio Cipriani).
Nun... Jane überrascht die Teilnehmer der schwarzen Messe, wird als menschliches Opfer gefangen genommen (und leistet in einem tranceartigen Zustand erstaunlich wenig Widerstand dagegen), dann suchen sie die Jungs. Im letzten Moment kann Bill Lady Alexander daran hindern, ein Messer in Jane zu stoßen, tötet sie im Gerangel jedoch aus Versehen. So etwas ist natürlich ein Stimmungskiller, aber das, was danach passiert, rechtfertigt es keineswegs. Die Satanisten verfallen in einen Blutrausch und massakrieren sich gegenseitig: blutige Bauch- und Kopfschüsse, Enthauptungen, hochkant aufgespaltene Gesichter, Verbrennungen. Das ist in vielerlei Hinsicht verwirrend. Erstens macht diese Szene auf brutale Weise tabula rasa: da sind keine weiteren Satanisten mehr, mit dem man den Film noch bestreiten könnte – ein potentieller roter Faden, der wieder ins Leere läuft. Des weiteren wirkt diese bizarr-groteske Szene wie ein furioser Showdown, bietet in anderthalb Minuten so viele Splattereffekte wie manche Gialli in 90, ist aber etwa in der Hälfte des Films angesiedelt: das heißt, eigentlich fängt der Film erst dann wirklich an. Und drittens ist Luigi Pistilli, nachdem er etwa zwanzig Minuten da war, davon vielleicht mit höchstens fünf Minuten Screentime, einfach weg. Zunächst scheinbar, dann aber auch wirklich: die schwarze Messe spielt im restlichen Film dann im Prinzip auch keine Rolle mehr, abgesehen von den letzten zehn Minuten, wo die Bilder als Erinnerung oder Vision Janes wieder auftauchen – dann allerdings als eine Art derangierter Clip voller kleiner Wiederholungsloops: der mit dem Schwert hochkant gespaltene Kopf wird dann gleich vier Mal gezeigt (der Credit für die Splatter-Effekte geht an Carlo Rambaldi, der für den Effekt der Hunde-Vivisektion in Lucio Fulcis UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA gerichtlich vorgeladen wurde und uns beim diesjährigen Terza Visione noch mal bei PROFONDO ROSSO begegnen sollte).
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA endet schließlich, nein, er endet nicht... – er bricht einfach ab, nachdem Paul Müller (bekannt und geliebt aus diversen Filmen Jess Francos) als Arzt den kompletten Film ohne jegliche Vorwarnung in einem etwa anderthalbminütigen delirierenden Monolog voller komplizierter Schachtelsätze durcherklärt und damit eigentlich wieder mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Fine. Ende. Keine Credits, aber dafür mit Schwarzbild das zärtliche Lied vom Beginn, mit seinem Text, der immer wieder Süßliches und Makabres zusammenbringt ("Ein Mann lacht fröhlich, den Mund schon voller Erde / Eine Frau tanzt, durchsetzt von Würmern – so ist das Leben!"). Aufreizend provokant, fast schon radikal, den Film einfach so abzubrechen.
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein schwieriger und doch wunderschöner Film: langsam, leicht sediert, antiklimaktisch, mit einigen peniblen Expositionsdialogen, die von völlig irrwitzigen Absurditäten gefolgt werden und dabei durchsetzt von wunderschönen, unvergesslichen Bildern. In vielen Szenen ist der Meisterregisseur sehr klar zu erkennen, und zu sehen ist eine Poesie, die mit jener des klassischen Gothic Horrors nur äußerliche Chiffren teilt und eher in Richtung dessen verweist, was Dario Argento und Lucio Fulci nicht ganz ein Jahrzehnt später in INFERNO und L'ALDILÀ machten: eine Poesie des Akausalen, des Irrationalen, jenseits der Genre-Konventionen, mit einem Horror, der sich vor allem als Zusammenbruch jeglicher Ratio offenbart und eine komplett eigene, filmische Logik entwickelt (die sich für "Logik-Anschlüsse" auch gar nicht interessiert). ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA kann mit "Erklärungen" kaum erschlossen werden, weshalb der Endmonolog auch merkwürdig daneben erscheint, aber (das hat eine zweite Sichtung für mich ergeben) er hat eine ganz eigene, atmosphärische und assoziative Kohärenz. Ja, ein störrischer Film, aber auch ein schöner Film – der nun hoffentlich beim Terza Visione endlich mehr Liebe bekommen hat.
Freitag, 27. Juli
12.30 Uhr
SICARIO 77, VIVO O MORTO ("Sicario 77 – Tot oder lebendig")
Regie: Mino Guerrini
Italien / Spanien 1966
98 Minuten
Der britische Geheimagent/Söldner Lester (Rod Dana) soll die Machenschaften des dubiosen George King aufdecken. Auftragsmorde, schöne Agentinnen, Nazis mit Welteroberungsfantasien und peitschende Nebenbösewichte in schwarzem Leder sorgen dabei stets für Bewegung.
Der Erfolg der James-Bond-Filme löste in Kontinentaleuropa eine Welle an Nachahmern aus, die wir heute als "Eurospy" kennen. James Bond blieb jedoch nicht der einzige Bezugspunkt. 1965 ging THE IPCRESS FILE, trotz großer personeller Überschneidungen mit den 007-Filmen, einen ganz eigenen Weg, erzählte seine Agentengeschichte in außergewöhnlichen Bildern mit gekippten Perspektiven, asymmetrischer Kadrage, kompletten Szenen, die durch im Vordergrund hervorragende Gegenstände gefilmt wurden. Furies Film, in seinem Szenario wesentlich nüchterner als die James-Bond-Filme, in seiner Bildästhetik aber bedeutend spektakulärer und verblüffender, machte wohl bei italienischen Filmemachern einen großen Eindruck. SICARIO 77, VIVO O MORTO ist einer der Agentenfilme, der versuchte, in die Fußstapfen von THE IPCRESS FILE zu treten.
Vorab: die gezeigte Kopie war die schlechteste des ganzen Festivals, ihr früherer Glanz war bereits in einem ermatteten Rotstich verglüht. Das nahm dem Film wahrscheinlich viel von seinem Potential, denn von vielen der spektakulär gefilmten Szenen erhielt man als Zuschauer nur eine vage Ahnung. Die Schwächen von SICARIO 77, VIVO O MORTO traten dadurch leider gefühlt deutlicher hervor. Die IPCRESS-Ästhetik, die sich im ursprünglichen Film mit zunehmender Laufzeit immer mehr in delierierende Gefilde radikalisierte, ließ in Guerrinis Film ab der Mitte spürbar nach: zumindest wurden nach meinem Empfinden die exzentrisch gefilmten Szenen, mit Gegenständen und Gesichtern, die im Bildvordergrund hervorragen, immer weniger. Dafür folgten immer mehr Drehbuch-Kapriolen, die allmählich etwas ermüdend wurden. Es half auch nicht, dass die Hauptfigur weder besonders charismatisch noch sonderlich sympathisch wirkte und mit dem großartigen Michael Caine nur die Hornbrille teilte, diese aber gegen Ende dann auch immer seltener trug – als würde sich der Film auch hier (zu seinen eigenen Ungunsten) von seiner Vorlage entfernen.
SICARIO 77, VIVO O MORTO hatte aber auch wirklich Pech, dass ich THE IPCRESS FILE gerade mal vier Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Es bleibt aber trotzdem alles Jammern auf gehobenem Niveau. Die Eröffnungscredits machen mit dem harten Elektrogitarren-Titelstück Giorgio Zinzis noch einmal deutlich, warum die Italiener die Könige der Filmmusik sind. Die Eröffnungsszene, bei der ein furchterregend aussehender Blonder einen Pfandladen betritt, in seinem Violinenkoffer (vor Blicken durch den aufgeklappten Deckel geschützt) eine Maschinenpistole zusammenbaut, den Ladeninhaber erschießt, aus einer Schublade eine einzelne Banknote nimmt und dann kurz vor dem Gehen den heruntergefallenen Kopf einer Papstfigur wieder auf den Torso setzt, während die ganze Zeit im Hintergrund der Kommentar zu einem laufenden Boxkampf zu hören ist, ist Gold wert – ein matching cut von den Beinen des Killers zu den Beinen des Schiedsrichters führt uns dann zu ebendiesem dem Boxkampf. Da wir gerade eh von dieser Person reden: der blonde, fast albinoartige Killer ist, obwohl er glaube ich kein einziges Wort spricht (oder gerade deshalb) für mich die größte Figur dieses Films. Mit seinem Äußeren und seinem extrem intensiven Blick erinnerte er (ist es Enrico Manera? ich kann leider den Schauspieler nicht zuordnen) mich etwas an Frank Doubleday und seinen beinahe wortlosen Auftritten in John Carpenters Filmen. Leider verschwindet die Figur recht schnell wieder aus dem Film, dafür gibt es dann als etwas weniger raffinierten Ersatz einen Handlanger, der ganz in schwarzem Leder gekleidet ist und als Waffe eine lange Peitsche nutzt, deren Spitze mit einem scharfen Haken ausgestattet ist.
Auch einzelne Action-Szenen sind echte Hingucker. Der Kampf zwischen Lester und dem blonden Killer in einem Badezimmer, bei dem ein Duschvorhang, das ein- und ausgeschaltete Deckenlicht und eine störende Leiche auf dem Boden in Aktion treten... Der Kampf im Inneren einer Seilbahn am Hafen von Barcelona, dem eine Fußverfolgungsjagd durch den Hafen der Stadt folgt... Auch in der Action gibt es einen allmählichen Sieg des Groben über das Raffinierte. Beim Showdown lässt unser Agenten-/Söldnerheld Lester schließlich alle Hemmungen fallen, betritt einfach das Anwesen, wo sich die restlichen Böswatze versammelt haben und macht dann die meisten von ihnen mit einer Panzerfaust platt.
16.00 Uhr
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST ("Die rote Sonne der Rache")
Regie: Sergio Corbucci
Italien / Spanien / Bundesrepublik Deutschland 1972
97 Minuten (Deutsche Fassung)
Der Bandit Jed (Tomás Milián), vom gnadenlosen Sheriff Franciscus (Telly Savalas) gesucht, trifft auf die frischgebackene Waise Sonny (Susan George). Die drängt sich wider Jeds Willen als "partner in crime" auf. Bald machen die beiden den Westen mit Überfällen unsicher, den fanatischen Sheriff auf ihrer Spur.
Die bekanntesten Regisseure, abgesehen von Dario Argento und Mario Bava, waren beim diesjährigen Terza Visione mit ungeliebt-missverstandenen Filmen (Riccardo Freda) oder Filmen aus unterbeleuchteten Karrierephasen (Lucio Fulci, dazu später mehr) oder mit unbekannten "Randwerken" ihres berühmtesten Genres vertreten – wie Sergio Corbucci. Was dafür sorgte, dass selbst das "Vertraute" für schöne Überraschungen sorgen konnte.
Die bekanntesten Regisseure, abgesehen von Dario Argento und Mario Bava, waren beim diesjährigen Terza Visione mit ungeliebt-missverstandenen Filmen (Riccardo Freda) oder Filmen aus unterbeleuchteten Karrierephasen (Lucio Fulci, dazu später mehr) oder mit unbekannten "Randwerken" ihres berühmtesten Genres vertreten – wie Sergio Corbucci. Was dafür sorgte, dass selbst das "Vertraute" für schöne Überraschungen sorgen konnte.
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST neigt ein bisschen zum exzentrischen Western, weil er fast aus allen Nähten platzt: er ist gleichzeitig derbe Prollsploitation, morbid-sadomasochistische Screwballkomödie, Stockholm-Syndrom-Drama, herzzerreissender Liebesfilm, eskalierendes Ehemelodrama, schenkelklopfender Slapstickfilm, Bonnie-and-Clyde-Ripoff und melancholische Meditation über die Tragik des Lebens. Corbuccis Film ist wie seine Hauptfigur Jed: er ist launisch, springt unruhig von der einen Episode zur nächsten und macht, worauf er gerade Lust hat (und gefallen zu wollen gehört nicht zu diesen Lüsten).
Zunächst sei erwähnt, dass die Hauptfigur Jed wahrhaftig ein dreckig-räudiger Asozialer vor dem Herren ist (wobei die deutsche Synchronisation dem wohl noch mal ein Dutzend Schippen hinzugefügt hat): er ist wortwörtlich dreckig, fürchterlich vulgär, flucht die ganze Zeit, behandelt sämtliche Menschen in seiner Umgebung mit Verachtung und Arroganz und benimmt sich allgemein furchtbar arschig. Er ist ein Mörder, oder zumindest ein Dieb, der nicht zögern würde, sämtliche Reisende einer Postkutsche kaltblütig zu ermorden. Und als Sonny ihn für einige Zeit verfolgt hat mit dem Ziel, zu seiner Geschäftspartnerin zu werden, prügelt er sie vom Pferd herunter und vergewaltigt sie im Dreck: eines der schockierendsten und verstörendsten Momente des Festivals (die Ankündigung vor dem Film, dass die diesjährige Ausgabe des Terza Visione weniger hart und düster sein würde als letztes Jahr, war inhaltlich insgesamt richtig, fühlte sich aber für diesen Moment sehr lügengestraft an).
Dies lag in der ersten Hälfte des Films sicherlich auch daran, dass Sonny sich die unwürdige Behandlung gefallen lässt, Jed sogar mehr oder weniger offen anhimmelt, während er sie als nutzlose Hündin beschimpft. Das wird sich im Laufe des Films ändern. Zunächst wird sie ihn in einer besonders denkwürdigen Szene in einem Getreideschober fast erschießen, später das Leben retten, ihn zur Heirat überreden – und am Schluss des Films wird schließlich er wie ein treudoofer Hund hinter ihr her hinken.
Die dritte Hauptperson, Franciscus, beginnt zunächst als eine Art Karikatur des fanatischen Law-and-Order-Sheriffs. Doch auch das ist gar nicht so einfach: bei einer Schießerei mit Jed und Sonny wird er schwer verwundet und erblindet, was seine Suche nach den beiden allerdings nicht stoppt. Was für irgendwelche absurden Gadgets oder für schale Witze hätte genutzt werden können, wird eher zu einem weiteren Akzent im tragisch-melancholischen Unterton, der den ganzen Film durchzieht (der sich auch in Ennio Morricones wunderbarem Score – hier ein Ausschnitt – widerspiegelt): Franciscus, wortwörtlich von seinem leidenschaftlichen Hass auf den Kriminellen Jed geblendet, wird zu einer wahrhaftig tragischen Figur. Ein Mann, der die Welt nicht mehr sieht, und trotzdem rücksichtslos mit seinem Stock schlägt oder Handgranaten wirft. Telly Savalas, der zu Filmbeginn wie eine merkwürdige Fehlbesetzung wirkte, spielt allmählich ganz groß auf.
Eher ganz grob spielt Tomás Milián auf, dem Corbucci hier eine freie Bühne für allerlei Absurdes gewährte. Unvergesslich etwa der Moment, in dem er – möglicherweise ein Moment der Genre-Selbstironie? – einen Teller Spaghetti (sic! ja, im Wilden Westen) isst. Wobei nein... "essen" kann man das nicht nennen: mampft, zutscht, zerschmatzt, abschlabbert, dass da im direkten Vergleich selbst die wildesten Fressorgien von Bud Spencer und Terence Hill wie piekfein-gediegene Dîners wirken. Und schließlich dieser Moment, in der er von der Kuh absteigt, die er vor kurzem auf offenem Feld gefunden hat: da er durstig ist, legt er sich eben ungeniert unter die Kuh und fängt an, an deren Zitzen zu nuckeln. Zwischen zwei Schlücken lobt er die "Ausstattung" der Kuh und verflucht Sonnys Oberweite. Spätestens hier wird klar, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auf eine gewisse Weise wesentlich "schwieriger" ist als etwa DJANGO, IL MERCENARIO oder IL GRANDE SILENZIO und für Zuschauer, die ihre Westerns gerne elegisch haben, ein Unding ist.
Ich schrieb weiter oben, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auch ein eskalierendes Ehemelodrama und herzzerreissender Liebesfilm sei. Die Dynamik im letzten Drittel entsteht dadurch, dass Sonny die geschlossene Ehe ernst nehmen möchte und rasend eifersüchtig reagiert, nachdem Jed auf einer feinen Gesellschaft die Dame des Hauses anbaggert (die dummerweise die Ehefrau des Gutsbesitzers ist, der einige mit Jed befreundete Bauern bedrängt). Sonny möchte schließlich die Gesellschaft ausrauben, während Jed die äußerst willige, weil offensichtlich sexuell ausgehungerte Gutsbesitzerehefrau entführt, um sie irgendwo in einer stillen Ecke zu vernaschen. Da das Sonny nicht passt, verrät sie ihn kurzerhand, um ihn dann doch wieder im letzten Moment zu retten. Vielleicht konnte sie sich doch an die besten Momente mit ihrem Ehemann erinnern. Der geneigte Zuschauer kann es auf jeden Fall: wie beide sich kurz vor dem Schlafengehen ordentlich zoffen, schließlich aber sich hinlegen, in eine gemeinsame Decke kuscheln... und dann fängt das Liebespiel an. Es ist ein bisschen wie das vorangehende Spaghettiessen, bloß in zärtlicher: Gesicht an Gesicht werden Nase, Mund, Zungenspitze sanft angeknabbert, geleckt, geküsst. Zwischen allen Scheußlichkeiten, Härten, Albernheiten und Absurditäten ein himmlisch herzlicher Moment, der einfach nur zum Dahinschmelzen ist. Großartig!
Ich muss gestehen, dass ich bestimmt eine gute halbe Stunde gebraucht habe, um in den Film ein wenig reinzukommen. Danach war es noch keine große Liebe, sondern eher ein Staunen über die Unglaublichkeiten, die da präsentiert werden, über die paradoxen Gefühle, die aufeinander prallen. Aber je mehr ich über LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST nachdenke, umso mehr finde ich gefallen an seiner Exzentrik, die sich den gängigen Mustern des Genres und dem Stromlinienförmigen störrisch und bockig widersetzt. Ein feiner kleiner Bastard von einem Western. Die französische DVD des Films (unter dem Titel "Far West Story") werde ich mir wohl demnächst besorgen müssen.
Das märchenhafte, paradiesische Potential des Terza Visione kann sich wunderbar entfalten, wenn man beim gemeinsamen Abendessen einen Co-Zuschauer auf das DUELLE-Rivette-T-Shirt anspricht, das er vor einigen Monaten beim Hofbauer-Kongress trug – und man danach ganz entspannt am Main-Ufer bei einem Bier über Rivette fachsimpeln kann.
Nun folgte der Film, der die Wetterbedingungen, mit denen sich die Terza-Visione-Besucher in Frankfurt (und natürlich nicht nur sie) konfrontiert sahen, wunderbar zusammenfasste.
20.00 Uhr
NELLA CITTÀ L'INFERNO ("Die Hölle in der Stadt")
Regie: Renato Castellani
Italien / Frankreich 1959
105 Minuten (Director's Cut)
In einem Römer Frauengefängnis: das naive Landmädchen Lina (Giulietta Masina) wird unschuldig eingeliefert, nachdem ein Diebstahl ihres betrügerischen Verlobten ihr angehängt wurde. In der Zelle wird sie nolens volens von der fatalistischen Egle (Anna Magnani) unter die Fittiche genommen.
In ihrer wunderschönen Einführung zum Film, die harmonisch eine große Portion Humor mit detailreicher Analyse verband, "bedauerte" Annette Brauerhoch, Professorin für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Paderborn, dass NELLA CITTÀ L'INFERNO kein waschechter Frauenknastfilm sei, mit Catfights im Schlamm, lesbischen Anzüglichkeiten, viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen. Nein, "bedauern" ist natürlich zu viel gesagt, denn NELLA CITTÀ L'INFERNO ist so, wie er ist, natürlich ein toller Film, wie sie dann auch darlegte und wie sich dann auch auf der Leinwand zeigte.
Renato Castellani kommt ursprünglich vom Neorealismus. Seine Filmkarriere begann 1938 als Drehbuchautor, später führte er Regie – so unter anderem in seiner neorealistischen Trilogie der armen Leute aus SOTTO IL SOLE DI ROMA (1948), È PRIMAVERA... (1950) und DUE SOLDI DI SPERANZA (1952). Er gehörte sozusagen zur "zweiten Reihe" der Bewegung und war weniger bekannter als Namen wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti oder Vittorio De Sica. In den 1950er Jahren wandte er sich dem Melodrama zu (und verlor, wenn ich mich richtig an die einleitenden Worte entsinne, dadurch recht schnell sein Renommee bei der Kritik). NELLA CITTÀ L'INFERNO bildet sozusagen die Verbindung zwischen Neorealismus, klassischem Melodrama und dem Frauenknastfilm (also dem mit viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen).
Das ist sehr interessant, aber was ihn ganz besonders macht, sind seine starken Schwarzweißbilder: es ist der dritte Cinemascope-Film des Tages, und der am schönsten inszenierte in diesem Format. Annette Brauerhoch sah es als dezidiert politisches Statement, als "Geschenk" an die dargestellten Frauen: sie, die Erniedrigten und Ausgestoßenen, erhalten das glamouröse Format, das in dieser Zeit vor allem Epen vorbehalten war.
Cinemascope "öffnet" ja erst mal den Raum, lässt mehr Luft rein, aber NELLA CITTÀ L'INFERNO ist vor allem ein extrem beengtes Kammerspiel, mit Räumen, deren Handlungsradius wohl etwa fünf mal fünf Meter beträgt, manchmal nur drei mal drei Meter. Wie den Frauen so verweigert der Film auch den Zuschauern den Blick nach draußen. Den "freien" Himmel sieht man nur im Eingangsbild (ein Polizeiauto fährt zum Gefängnis), und auf einer Art Dachterrasse des Knasts. Klaustrophobie und Enge. Und doch welch großartiges Gefühl für den wenigen, begrenzten Raum und vor allem für die Personen in diesem Raum. Das Scope holt die Randfiguren wörtlich in das Bild rein: die jeweilige handelnde oder sprechende Frau füllt nur einen Teil der Leinwand aus und wird meist von vielen anderen Frauen umgeben, die zuhören, oder sich mit anderen unterhalten, oder schlafen. Statt zu schneiden wird eher die Kamera bewegt oder der Blick in die Tiefe gelenkt, auf Zellen, die auf der anderen Seite des Korridors liegen. Ein echtes Panorama der Insassinnen. Neben Egle, der abgebrühten Langzeitinsassin und Lina, dem unschuldig sitzenden Mädchen vom Land, gibt es noch die blutjunge Marietta, die sich in das verkehrte Spiegelbild eines Mannes draußen verliebt; "Moby Dick", die sich regelmäßig kleine Wortgefechte mit Egle liefert; die alte Gräfin, die nach eigenen Aussagen auch unschuldig einsitzt und im Umgang mit Neulingen offenbar nicht so naiv ist, wie sie tut; die schwarzhaarige Zigarettenschmugglerin, deren Namen mir gerade entfällt; die schweigsame jüdische Sara – und viele andere Frauen.
So panoramisch die Bilder, so panoramisch ist auch das Drehbuch. NELLA CITTÀ L'INFERNO lässt sich keineswegs nur auf das Duo Anna Magnani und Giulietta Masina reduzieren. Sicherlich ist die Inhaftierung Linas der Aufhänger des Films. Der lange, nächtliche zweisame Dialog zwischen Egle und Lina bei einem improvisierten Kaffee gehört zu den großen Höhepunkten des Films – besonders der Moment, wo die beiden nur vom flackernden Licht der brennenden Zeitung beleuchtet werden, mit dem sie das Wasser für den Kaffee erhitzen. Und doch geht es NELLA CITTÀ L'INFERNO auch um mehr. Nach und nach entsteht ein ganzer Subplot um Marietta. Diese ganz junge Frau hat die Gewohnheit, sich stundenlang im Badezimmer ihrer Gemeinschaftszelle einzusperren und schließlich fliegt auf, was sie da tut: mit einem kleinen Handspiegel guckt sie kopfüber durch die Lamellen der Fensterläden in die Freiheit, wo zu regelmäßigen Zeiten immer ein junger Mann an der gleichen Stelle steht: eine selbstgebastelte Camera Obscura, wie Annette Brauerhoch in ihrer Einführung so treffend feststellte. Ein handgemachtes Kino des Begehrens. Dieses führt später dann zu einer kleinen Episode, in der eine andere Insassin dieses Mittel nutzen will, um zu einem vereinbarten Zeitpunkt ihre Tochter draußen zu sehen. Dazu muss sie erst mal in die entsprechende Zelle geschmuggelt werden. Das ganz endet nach einem schreckhaften, aber unverletzten Sturz mit dem Bruch der Toilettenschüssel und des Wasserbeckens... Wie Marietta immer mehr Raum einnimmt im Film, tritt Lina nach und nach in den Hintergrund und verschwindet gar für einige Zeit aus dem Film, als sie schließlich entlassen wird. Sie kehrt dann wieder zurück, diesmal als wirkliche "Kriminelle" (als Prostituierte).
Es gehört zu den großen Stärken des Films, dass er sich eindeutig zu seinen vielen Protagonistinnen stellt und unterschwellig deutlich macht, dass wir es hier mit struktureller Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Linas einziges Verbrechen bestand darin, so naiv zu sein, sich von einem Kriminellen um den Finger gewickelt lassen zu haben, der ihre Stellung als Dienstmädchen ausnutzte, um eine Villa auszurauben und sie dann als einfach auszumachende Schuldige sitzen zu lassen. Lina wiederum verfällt im Gefängnis in diesen Sozialdruck krimineller Logik, den Mund zu halten und das ganze auszusitzen, und gerät draußen dann wirklich auf die schiefe Spur. Ein Teufelskreis, den die Kinoversion (zu den Fassungen unten gleich mehr) auch "schließt", indem er mit den fast identischen Bildern eines zum Gefängnis fahrenden Polizeiwagens anfängt und aufhört.
Noch nicht ganz im Reinen bin ich mit der Figur der Egle bzw. mit der Darstellung Anna Magnanis. Egle ist, mit Verlaub, eine asoziale, arrogant-besserwisserische, fürchterlich selbstgefällige Egomanin, die offensichtlich nur tagsüber schläft, um nachts ihren schlafenden Co-Insassinnen im hektischen Wachzustand auf die Nerven zu gehen. Hinterhältig ist sie auch noch, wie sie immer wieder wahlweise Lina oder Marietta ins offene Messer laufen lässt und dann für dumm verkauft. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ihre Zellengenossinnen sie so bewundern und mögen – und sie nicht irgendwann auf äußerst brutale Weise lynchen und das dann als "Unfall" tarnen (aber solcherlei gehört wohl eher in spätere Women-in-Prison-Filme). "Histrionisch" fiel als Stichwort in Annette Brauerhochs Einleitung, und tatsächlich forderte Magnani mit ihrer etwas überexaltierten Darstellung meine Geduld bisweilen aufs Äußerste. Die wichtigsten Darstellerinnen in NELLA CITTÀ L'INFERNO sind alle weder sonderlich subtil oder zurückhaltend, aber Magnani legt immer noch eine Schippe drauf (manchmal zu viel, so meine Meinung). Aber vieles davon ist vielleicht auch mein Problem, und nicht das des Films. Im Verlauf wird deutlich, dass vieles von Egles Verhalten auch eine Schutzfassade ist, die dann auch zunehmend bröckelt.
Ich bekam im Vorfeld des Festivals den Film in der Kinofassung zu sehen, die etwa zehn Minuten kürzer ist als der in Frankfurt gezeigte "Director's Cut". Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in der längeren Fassung tatsächlich keine Szene entdeckt habe, die in der Kinofassung ganz fehlte. Eher schien es mir, dass die eine oder andere Szene hier und da ein zusätzliches Detail von mehreren Sekunden hatte, die in der Kinofassung geschnitten waren. Sehr deutlich war nur, dass das Ende anders montiert war: die Kinofassung hörte kurz nach der Begegnung zwischen Marietta und Piero (dem "Spiegelmann", der über einen Hinweis einer entlassenen Insassin auf Marietta aufmerksam wird) auf und ließ kaum Zweifel daran, dass die beiden nach ihrer Entlassung heiraten werden. Allerdings wird hier auch ein Kreis geschlossen, der von den Figuren, die wir erlebt haben, wieder auf das große Ganze, die Gesellschaft lenkt: die letzten Bilder des Films zeigen, analog zum Beginn, ein Polizeiauto, das vor die Tore des Gefängnisses vorfährt.
Die Begegnung zwischen Marietta und Piero ist auch im Director's Cut drin, kommt allerdings früher. Stattdessen endet der Film damit, dass Lina zurückkehrt und durch ihr abgebrühtes, zynisches Verhalten, das sie von Egle "gelernt" hat, diese so in Rage versetzt, dass sie mit Gewalt in eine Einzelzelle weggeschleppt werden muss: eine Szene, die in der Kinofassung drin ist, aber später von Momenten mit einer wieder gut aufgelegten Egle gefolgt wird. Hier als Filmende wirkt das doch wesentlich drastischer. Das Ende der Kinofassung ist sicherlich kein strahlendes Happy End, aber doch versöhnlicher, etwas hoffnungsvoller. Der Director's Cut endet mit dem unheilvollen Nervenzusammenbruch einer Frau, die zu Beginn noch festen Boden unter den Füßen hatte, damit wesentlich pessimistischer und zugleich persönlicher: niemand kommt mehr rein, aber niemand kommt mehr raus. Egle scheint, wenn nicht in den Wahnsinn, so in totale Verzweiflung zu versinken.
Noch eine kleine Anmerkung zum Schluss: nebst dem handgemachten Kino des Begehrens gibt es auch ein traditionelles Kino mit 35mm-Vorführung im Film zu sehen, nämlich eine Kinovorstellung auf der Dachterrasse des Gefängnisses. Bevor die Vorführung anfängt, sagt eine der Insassinnen zu der anderen, dass da hoffentlich nicht so ein vulgärer italienischer Polizeifilm kommt. Im Rahmen des Terza Visione erschien das natürlich ganz witzig. Einen Genrefilm bekamen die inhaftierten Frauen aber doch noch zu sehen: nämlich einen Musikfilm bzw. Musicarello mit heißen Rock'n'Roll-Beats...
...so was Ähnliches gab es dann im Anschluss als letzten Film des Freitags!
22.45 Uhr
Vor dem Hauptfilm lief eine 35mm-Trailershow, die es wahrhaftig in sich hatte! Der Trailer von WHITE POP JESUS (Luigi Petrini, Italien 1980) versprach das absolut unfassbare Spektakel eines Gottessohnes, der Ende der 1970er Jahre mit Pornoschnurrbärtchen, Goldkettchen und dem Klamottenstil eines Vorstadtzuhälters auf die Erde zurückkehrt, um Horden von wahrscheinlich leicht zugedröhnten Discotänzern mithilfe von saftigen Beats in das Paradies zu führen. Ich glaube und hoffe, dass ich nicht der einzige im Saal war, der sich sehnlichst wünschte, diesen Film bei einer der nächsten Terza-Visione-Ausgaben zu sehen. Der Trailer ist hier zu bestaunen.
Bemerkenswert war auch eine Kinowerbung von Langnese, die wie der Trailer zu einer besonders spritzigen Sexkomödie an einem mediterranen Strand wirkte, und große Lust auf Sex und kindische Späße machte – und auch ein wenig auf Eis. Ich glaube, wenn statt der lustlosen Werbung, die immer mit einem schlecht geshoppten Standbild der verfügbaren Eissorten endet, so ein Clip während der Vorfilmblöcke käme, würde der Eisverkauf großer Kinoketten um etwa 7392 % steigen (aber vielleicht irre ich mich). Hier zu sehen.
DANCE MUSIC ("Breakdance Sensation 1984")
Regie: Vittorio De Sisti
Italien 1984
81 Minuten (Deutsche Fassung)
Eine junge italienische Tanztruppe möchte ganz groß hinaus, hat aber leider kaum Geld, um die eigene WG (mit einem zum Tanzsaal umfunktionierten Wohnzimmer) zu bezahlen – und erst recht keine Kohle, um einen Flug nach New York zu buchen, wo bald ein alles entscheidender Tanzwettbewerb stattfinden wird. Ein paar heiße Moves und kreative Fundraising-Methoden müssen Abhilfe schaffen!
Was für ein Fest! Die spritzige Sexkomödie am mediterranen Strand, die die Langnese-Werbung vorher versprochen hatte, gab es zwar nicht, dafür aber eine spritzige Tanzkomödie in einer ungenannten italienischen Großstadt und im winterlichen New York – und mit Essen wurde da auch... ähm... "gespielt".
DANCE MUSIC war höchstwahrscheinlich der in einem ganz wunderbaren Sinne naivste Film des Festivals: sie sind jung, sexy (aber pleite), sie wollen die besten Tänzer der Welt werden und sie müssen diesen verdammten Wettbewerb in New York gewinnen – und der Film zweifelt keine Sekunde daran, dass das die allerwichtigste Sache auf der Welt ist. Mit vollem Herzen ist er ganz bei seinen jungen Protagonisten, ihren Träumen und ihrem Lebensalltag, und mit dieser positiven Einstellung hat er auch die Herzen der Zuschauer erobern können (und natürlich mit seinen großartigen Tanzszenen und einigen herzerwärmenden 80er-Modesünden).
Der Film beginnt mit einer relativ langen und kunstvollen Plansequenz, in der die Kamera durch die WG der Protagonisten "spaziert" und sämtliche Hauptfiguren einführt, indem sie bei alltäglichen WG-Problemen gezeigt werden: einer blockiert das Bad zu lange, ein anderer, der mit dem Lebensmitteleinkauf betraut worden ist, hat nur Eis mitgebracht und alle necken sich ein bisschen, haben sich aber eigentlich total lieb. Dann wird auch schon getanzt in dem Wohnzimmer, das zu einem Tanzsaal umfunktioniert worden ist: komplett ausgeräumt, eine Wand mit deckenhohen Spiegeln, eine mit Postern der Vorbildfilme (FLASHDANCE, STAYING ALIVE), eine mit Reckleitern. Der Tanz: tatsächlich ein dynamisch gefilmter Rausch aus 80er-Jahre-Musik und bewegten Körpern. Das wird auch im Rest des Films so sein: die Tanzsequenzen mit der Gruppe sind zackig und auf den Punkt gefilmt, dass man am liebsten aufspringen und mittanzen möchte.
Wenn die Tänze das Rückgrat bilden, so sind es die vielen kleinen wunderbaren Einfälle und humoristischen Einlagen, die dem Film das Herz geben. Da ist etwa die ältere Vermieterin der WG, die etwas missgestimmt ist, weil die jungen Leute mit der Zahlung der Miete im Rückstand sind und alle Nachbarn sich oft über die laute Musik beschweren, die es aber sichtlich geniesst, nach einer Tanz-Session vorbeizukommen, die Bewohner an ihre Mieterpflichten zu erinnern und dabei die hübschen, jungen, verschwitzten und muskulösen Männer zu sehen. Genau diese kleine Schwäche macht sich die Gruppe auch zunutze: der teilblondierte* Hauptmieter bezirzt rasch die aufgebrachte Vermieterin, indem er sein T-Shirt auszieht, sich lasziv vor ihr am Reck hin und her schwingt und sich schließlich zum Essen einladen lässt, um diese Mietangelegenheiten in einem gemütlicheren Ambiente zu besprechen. Dort lässt unser Held nichts anbrennen: die Vermieterin, nun in einem tief dekolletierten und eng anliegenden Kleid angezogen, lässt er vor Lust schmachten**, schickt sie immer wieder unter Vorwänden in die Küche und schmeisst, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hat, einen Dîner-Gang nach dem anderen aus dem Fenster, unter dem seine Mitbewohner mit ausgebreiteten Bettlaken die Gaben aufzufangen versuchen. Die Vermieterin wundert sich über den großen Hunger des jungen Mannes, während hinter ihrem Rücken Carpaccio, Lasagne und Chips in hohem Bogen aus dem Fenster fliegen. Natürlich wird nicht alles punktgenau aufgefangen und das sorgt für herzliche Lacher und ein kindliches Staunen über die besondere "Ästhetik fliegender Chips" (so sehr treffend ein Co-Zuschauer). Wem nicht spätestens hier das Herz vor Wonne und Freude zerschmilzt, kriegt am Badestrand das Langnese-Eis ins Ohr gesteckt!
Überhaupt sucht DANCE MUSIC nicht das ganz große Drama, sondern freut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Die WG ist eigentlich keine WG, sondern wird "offiziell" nur von einem der sechs Studenten bewohnt und zum Teil von dessen Papa bezahlt. Als letzterer zu Besuch kommt, bricht zunächst Panik aus, denn natürlich soll der nicht erfahren, dass sein Sohn nicht ernsthaft (Medizin) studiert, fünf Freunde da einfach so untergebracht hat und die "seriöse" Studentenwohnung als Tanzstudio "missbraucht". Fast, aber nur fast, schaffen sie es, die Wohnung zu "tarnen" und sich als Lerngruppe zu auszugeben, doch oh weh! – Papa entdeckt den panisch weggeräumten Tanzkram im Bad. Das ganze würde in einem anderen Film zur großen Vater-Sohn-Auseinandersetzung werden, doch DANCE MUSIC ist da lockerer: von den enttarnten Spiegeln des Tanzsaals sichtlich inspiriert, probiert Papa zur Verwunderung aller Anwesenden gekonnt einige Steptanzschritte, die er in seiner Jugend gelernt hat. Das ganze endet damit, dass sich die beiden Generationen gegenseitig gutgelaunt "ihre" Tänze vorführen und den Stil des anderen in den eigenen integrieren – klassischer Stepptanz meets Breakdance***. Wie viel wunderbarer ist es, das zu sehen als so eine schnöde Vater-Sohn-Auseinandersetzung, zumal es da ja nichts zu diskutieren gibt: Papa sagt am Ende des Szene deutlich, dass der Sohn irgendwann seine Arztpraxis übernehmen wird und damit basta!
Sehr schön ist auch, wie sich unsere kleine WG-Gruppe in ein Kino schmuggelt (der junge teilblondierte Adonis lässt wieder seinen Charme spielen, diesmal mit der Ticket-Kontrolleurin), um einem "Mr. Robot" beim Tanzen zuzuschauen. Was da läuft, ist offenbar ein fiktiver New Yorker Breakdance-Undergroundfilm innerhalb des Films (das Bildformat in diesem Moment ganz authentisch 1.33:1), und man sieht ihn, den von unseren Helden angehimmelten Mr. Robot, wie er auf einem Pier mit der New Yorker Skyline im Sonnenuntergang als Hintergrund tanzt. Jeder "normale" Film würde sich nach einigen Bildern abwenden und mit der "Geschichte" weitermachen, aber nicht so DANCE MUSIC. Der Film-im-Film läuft, und läuft, gut über zwei, drei Minuten, bis nach einiger Zeit der Zuschauer in eine Art rauschhafte Trance im Angesicht dieser Bilder fallen muss. Schließlich wird doch geschnitten, und wir sehen dann die wippenden Füße unserer WG-Gruppe, selbst nun in Trance verfallen (einen unvollständigen Ausschnitt dieser Szene gibt es in den ersten drei Minuten dieses Clips zu sehen bzw. zu erahnen).
New York! Diesen filmischen Sehnsuchtsort wird unsere Gruppe schließlich aufsuchen. Zunächst herrschte zumindest bei mir Unklarheit, ob wir uns nicht schon längst in den USA befinden: sämtliche Figuren sprechen sich gegenseitig mit amerikanischen Namen an, die wie aus einer schlechten Soap geklaut klingen. Einige Außenansichten, vor einem Wohnhaus bzw. in einer Einkaufsgalerie, waren keineswegs als italienisch auszumachen, und wahrscheinlich lag das auch nicht an der deutschen Synchronisation. Nachdem schließlich dann doch das Geld für den Flug gen USA gebucht werden kann, macht einem DANCE MUSIC sehr deutlich, dass wir nun in New York sind. Da werden schöne Second-Unit-Shots der Stadt aneinander gereiht, dass es die reinste Freude ist. "Guck mal: wir sind in New York. Ist das nicht superknorke?" verkündet uns scheinbar der Film in diesen Momenten, wenn uns Wahrzeichen der Stadt und abgeranzte Nebenstraßen mit der gleichen naiven Freude gezeigt werden – als großer Fan von New York als Filmstadt konnte ich dem nicht widersprechen. Diese Stadt kennt der Cinephile aus William Friedkins und Sidney Lumets New-York-Filmen: abgefuckt, kalt, grau, hektisch, brodelnd. Hier laufen scheinbar nur ein Steinwurf entfernt zur gleichen Zeit SCARFACE und TABOO II. Statt uns die Truppe beim Trainieren zu zeigen (wir wissen doch, dass die Jungs und Mädchen gut sind), zeigt uns DANCE MUSIC dann auch lieber wieder ausgedehnte Szenen mit Mr. Robot und anderen Tänzern auf den Straßen New Yorks (unterbrochen von einem Moment, bei dem Mr. Robot ganz offensichtlich vor einer gemalten New-York-Kulisse auftritt, aber das passt schon: das "reale" und das "gebaute" New York hatte Jean-Pierre Melville schon 25 Jahre vorher in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zusammengebracht – also darf es De Sisti natürlich auch!). Das ganze kulminiert schließlich in einen Tanz am abendlichen Time Square. DANCE MUSIC – keine Stadtsinfonie, sondern ein Stadt-Breakdance! (wieder aus dem gleichen Clip wie oben einige approximative Impressionen).
Konfliktscheuheit gilt in unserer Ellenbogengesellschaft gemeinhin als Schwäche, aber es ist eine der großen Stärken von DANCE MUSIC, dass in seiner Welt keine Probleme existieren, die man nicht einfach in Wohlgefallen und Tanz auflösen könnte. Mieterprobleme? Einfach ein bisschen oben ohne am Reck abhängen! Sich anbahnende Konflikte mit Papa? Wegtanzen! Keine Kohle für die Subway? Einfach kurz zu Mr. Robot, es ihm sagen und in seinen Spendentopf greifen (er wird es schon verstehen)! Aber ganz großes Kino ist schließlich, wie der Film mit der Nebenfigur Michael (Italiener, aber natürlich englisch ausgesprochen) umgeht: ein fürchterlich schmieriger Yuppie, der hartnäckig eine unserer tapferen Tänzerinnen auf ihrer Arbeit in einer Einkaufgalerie anbaggert und schon nach kurzer Zeit wie ein hartnäckiger Stalker mit hohem Creep-Faktor wirkt. Eines Abends lässt sie sich doch auf ein Abendessen mit ihm ein, mit dem Hintergedanken, von ihm Geld für die New-York-Reise zu bekommen. Doch das Szenario geht fürchterlich schief, weil sie sich urplötzlich in ihn verliebt: eigentlich war Michael die ganze Zeit ein total dufter Typ. In einem Giallo hätte man ihn am Anfang sofort als Haupttatverdächtigen ausgemacht. Als er am Schluss die wackeren Tänzer in New York besucht, bekommt er wunderschöne zwei Sekunden geschenkt, in denen er herzallerliebst lächeln und Winke-Winke machen darf. Alles wird gut in der Welt von DANCE MUSIC!
Am Ende des Films schließlich der Wettbewerb: jeder, aber wirklich jeder andere Film hätte die Frage, ob unsere wackere Tanztruppe den Hauptpreis gewonnen hat, zu einem fünfminütigen Spannungsbogen aufgebaut. Doch hier einfach nur ein paar Sekunden Dialog zwischen der Truppe und einem Jurymitglied:
– "Haben wir gewonnen?"
– "Na was habt ihr denn gedacht: natürlich!"
Wie töricht, wer daran nur eine Sekunde gezweifelt hat!
Nette Trivia: DANCE MUSIC ist wohl einer der Filme mit den meisten Kopien im Bestand des Deutschen Filminstituts, mit weit über einem Dutzend Stück. Unsere lieben Terza-Visione-Kuratoren haben für die Zuschauer exklusiv die beste ausgesucht.
* Teilblondiert: weil nur die eine Seite seiner Frisur blondiert ist. Es gibt in der Truppe noch einen anderen Mann mit blondierten Haaren, der – so ein Co-Zuschauer sehr treffend im Anschluss – wie André Agassi in seiner Vokuhila-Phase aussah. Die 80er-Jahre-Mode-Todessünden, die DANCE MUSIC überhaupt anzubieten hat, sind so oder so unglaublich und könnten Stoff für ganze Abhandlungen bieten. Stichwort: rotes Ensemble mit einer drüber geworfenen, weißen Flocati-Stola.
** Trotz vieler kleiner Schmierhäppchen, und obwohl Vittorio De Sisti in den 1970er Jahren ein Spezialist für commedie sexy war, bleibt DANCE MUSIC größtenteils sexfrei... natürlich bis auf eine fetzige Aufwärm-Montage, bei der unsere wackeren Tänzer (Männlein mit Weiblein, Männlein mit Männlein, Weiblein mit Weiblein, ganz ohne Unterschied) sich gegenseitig die Beine greifen, um sich dann, angelehnt am Reck, hemmungslos zu rammeln – ähm... dehnen. Nach dem lasziven Verspeisen der gebratenen Keule in VIIMNE RELIIKVIA hiermit meine zweitliebste Sexersatzszene dieses Jahres.
*** Wir haben es nicht im engeren Sinne mit "Breakdance" zu tun: der Film wurde in Deutschland mit einem Breakdance-Titel versehen, um auf dem damaligen Breakdance-Hype mit zu schwimmen. Ich kenne mich mit Tanzstilen nicht aus, es wird wohl eine Mischung aus Disco, Breakdance-Elementen und eigenen kreativen Moves sein. Ist ja egal: sie tanzen und es sieht meist sehr gut aus.
Lukas Förster schrieb über DANCE MUSIC im Rahmen eines Textes zu "Off-Filmfestivals" (der ganze Text, hier zu finden, ist super, und wunderschön dieser Satz: "Jede Projektion ein Akt der Zärtlichkeit").
Mit viel Zärtlichkeit (und auch einigen Härten und Tränen) geht es in Kürze auch im zweiten Teil meines Terza-Visione-Berichts weiter.
Hier geht es zum zweiten Teil des Terza-Visione-Berichts.
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