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Mittwoch, 5. September 2018

Tutto è film: Bericht vom 5. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)


Es war einmal das italienische Kino...
(m)ein Sommermärchen

Frankfurt am Main
37°C
35mm



Donnerstag, 26. Juli

18.30 Uhr


LOVEMAKER
Regie: Ugo Liberatore
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1969
96 Minuten
München 1969: Die Studentin Christiane (Doris Kunstmann), ihr Freund Klaus (Roger Fritz), Helga (Christiane Krüger) und deren Freund gehen eines Nachts auf eine Baustelle und verprügeln einen italienischen Gastarbeiter. Der italienische Ingenieur und Bauleiter Giorgio (Antonio Sabato) wird Zeuge des Vorfalls, beendet ihn und wird es den Deutschen nach und nach heimzahlen: indem er erst Helga, später Christiane verführt.
LOVEMAKER erlebte am 26. Juli 2018 im Kino des Frankfurter Filmmuseums seine verspätete Deutschland-Premiere. Obwohl er von Artur Brauners CCC Film koproduziert wurde, kam der Film 1969 nicht in die deutschen Kinos. Brauner soll den fertigen Film gehasst, ihn als "antideutsch" bezeichnet haben und verbannte ihn in den Giftschrank. Wenn man LOVEMAKER heute sieht, kann man nur allzu gut verstehen, warum er nicht in Deutschland gezeigt wurde, und kann nur vermuten, dass er auch heutzutage (bzw. ausgerechnet heutzutage) immer noch keinen regulären Start bekäme. Liberatore hat hier nicht weniger als eine gnaden- und schonungslose Studie über deutschen Rassismus und Heuchelei vorgelegt. Die brillante Klarheit, mit der Liberatore und sein Co-Autor Fulvio Gicca Palli die subtilen Mechanismen von Rassismus offenbart, ist absolut verblüffend, und LOVEMAKER nur wenige Tage nach der großen Özil-Kontroverse zu sehen, passte wie die Faust auf's Auge.
Es ist 1969, aber unter der Oberfläche des "swingenden München" (so das Programmheft) sieht es hässlich aus. Die schick gekleideten, bürgerlichen Studenten fahren nächtens durch München und versuchen zu raten, ob die Helmfarbe der Gastarbeiter auf der Baustelle ihre Nationalität markiert. Der erste, den sie danach fragen, antwortet das, was sich jeder vernünftige Mensch denken könnte (natürlich hat die Helmfarbe damit nichts zu tun!), wird von Christiane bedrängt, bis sie ihm aus heiterem Himmel und völlig zu unrecht vorwirft, sie sexuell zu belästigen, woraufhin die beiden Männer der Studentenbande zum Prügeln hinzukommen. Die Fantasie des sexuell aggressiven Südländers – sie wird im Laufe des Films wie ein Bumerang auf Christiane und Helga zurückkommen.
Giorgio, den das Studentenquartett auf der Baustelle trifft, ist ein "komplizierterer" Gastarbeiter, weil er Ingenieur und Bauleiter ist, Akademiker, gutbürgerlich mit Haus, Frau und Kind in Rom – als Deutscher stünde in der sozialen Hierarchie weit höher als die Studenten. Zwischen ihm und den Deutschen beginnt, wie Festivaldirektor und Kurator Christoph Draxtra im Programmtext wunderschön schreibt, ein "morbide-neurotischer Tanz ambivalenter Gefühle". DoP Dario di Palma (der auch Giulio Questis LA MORTE HA FATTO L'UOVO und ARCANA fotografierte und außerdem für Lina Wertmüller, Ettore Scola, Federico Fellini und Michelangelo Antonioni gearbeitet hat) hält diesen "Tanz" oft wortwörtlich fest, indem er die Kamera um zwei Figuren kreisen lässt. Den ersten Walzer, wenn man so will, bestreiten Giogrio und Helga, die beide rasch eine Affäre beginnen, obwohl sie mit ihrem Freund bereits verlobt ist. Die Männer wissen nichts davon, nur Christiane beobachtet stark (ekel)erregt dieses Treiben. Und zwar fast wörtlich: als Helga heiratet, schaut Giorgio mal spontan vorbei; als der Bräutigam irgendwelche Koffer in einem Nebenraum packen geht, gönnt sich Giorgio mit Helga "die erste Nacht" auf dem Hochzeitsbett, während Christiane sich auf die Terrasse zurückzieht. Der Ausdruck glückseliger Befriedigung, den sie dann auf Helgas Gesicht sieht: bringt das Christiane schließlich zum Umfallen?
Christiane, die bis dahin den "mangia-spaghetti" mit sichtlich obsessiver Abscheu aufmerksam beobachtete, beginnt ihrerseits eine Affäre mit Giorgio. Der aufmerksame Zuschauer hat natürlich gemerkt, dass Giorgio den beiden deutschen Frauen nicht primär wegen seines schönen Lächelns gefällt, sondern weil er offenbar extrem gut im Bett ist... also zumindest im Vergleich mit jenen beiden Deutschen, die als lascher Maßstab herhalten können: Klaus und der andere Student neigen zu ausgiebigem Bierkonsum, was ihrer Potenz ziemlich abträglich ist. In einer peinlich langen Szene zu Beginn des Films sehen wir, wie sie im Vollrausch zu brüderlichen Umarmungen und komatösem Schlaf neigen, während ihre Freundinnen nach Sex gieren – bei diesen beiden Schlappschwänzen kann dann auch ein von den beiden Frauen etwas ungelenk eingefädelter Partnertausch-Versuch nicht weiter helfen. Jedenfalls wird Christiane, die vorher die "mangia-spaghetti" verabscheute, eben einem solchen sexuell hörig. Giorgio will sie zu einer "guten italienischen Hausfrau" degradieren, zwingt sie, bei ihm einzuziehen und ihrem ganzen Umfeld das auch mitzuteilen. Christiane wehrt sich – sie möchte nicht, dass man mitbekommt, wie sie mit einem ... "verheirateten Mann" ins Bett geht. Natürlich meint sie damit eigentlich einen "mangia-spaghetti" und Giorgio weiß es natürlich auch und im Grunde weiß sie, dass er es weiß. Das ist wie mit Özil und dem ominösen Bild: 99 % der Leute, die ihm das Foto mit dem türkischen Potentaten vorgeworfen haben, kümmern sich im Grunde einen Dreck um Menschenrechte in der Türkei und hatten kurz vorher ja auch überhaupt keine Probleme damit, eine Veranstaltung abzufeiern, deren Gastgeberland hungerstreikende politische Häftlinge, die aus fremden Staaten (der Ukraine) verschleppt wurden, in sowjetisch anmutenden Knästen vor sich hin darben lässt. Liberatore hatte diese Heuchelei schon 1969 in seinem Film in äußerst treffende Bilder gepackt.
Da wir eben bei Bildern sind: eines spielt in LOVEMAKER auch eine wichtige Rolle. Das Bild von Giorgios Ehefrau und dem gemeinsamen Kind, das vergrößert auf Posterformat über seinem Bett hängt – das gleiche Bett, in das er seine deutschen Affären zum Sex einlädt und in das schließlich auch Christiane landet, nackt und gedemütigt, während Giorgios Frau und Kind vom Wandposter belustigt auf sie herabblicken. Wie viele im Film ist auch dieser ein krasser, äußerst direkter Moment. Manche Zuschauer mögen das vielleicht gar vulgär nennen, aber immer wieder fühlte ich mich an die späteren Filme Paul Verhoevens erinnert (gerade darin, wie Sex als komplexes soziales Macht- und Unterwerfungsmittel präsentiert wird). Ähnlich komplex wie Verhoeven ist auch Liberatores Weigerung, seine Figuren einfach zu machen: so unsympathisch Christiane auch ist, so sehr macht sie die Kamera immer wieder zum visuellen Mittelpunkt des Films, harrt in einer ausgedehnten Szene, als sie alleine etwas gelangweilt durch Giorgios Wohnung bummelt, sehr lange mit ihr. So sehr man mit Giorgio auch prinzipiell sympathisiert darin, wie er der Herrenmenschenattitüde der deutschen Studenten einen Dämpfer verpasst, so selbstgefällig ist er letztlich in seinem Verhalten gegenüber Christiane; so persönlich und egoistisch bleibt seine "Rache".
Auf besondere Weise interessant ist LOVEMAKER auch, weil er ein italienischer Film ist, in dem deutsche Figuren in italienischer Sprache italienische Figuren rassistisch beschimpfen, wobei das ganze von Songs begleitet wird, die auf Deutsch im Original gesungen werden: ein janusköpfiges Verfremdungselement, wobei letzteres wahrscheinlich gerade in italienischen Kinos äußerst befremdlich gewirkt haben muss. Die instrumentale Titelmelodie hingegen, komponiert von Armando Trovajoli, müsste wahrscheinlich in die Top 5 der "Most ass-kicking bass lines in Italian cinema" aufgenommen werden.
Den visuellen Höhepunkt des "Tanzes" bildet eine ganz merkwürdige, fast surreale Szene, etwa in der Mitte des Films (schätze ich): Klaus und der andere Student sind in einer schlagenden Studentenverbindung und nehmen an einer Mensur teil, zu der Klaus tatsächlich Giorgio eingeladen hat (vielleicht nur, um zu sehen, ob der Italiener sich traut, wirklich zu kommen). Was folgt, sehen wir wahrscheinlich leicht verfremdet durch Giorgios Augen. Die Szenerie, die Fechthalle eines Verbindungshauses, wirkt fast retrofuturistisch, mit zahlreichen Männern in bizarr-archaischen Kampfanzügen, die nach einem mysteriösen Regelwerk in Zweierkämpfen gegeneinander antreten (wieder die Kamera, die um Personen-Duos kreist) – wobei es scheint, dass sie weniger kämpfen, als vielmehr wie aufgezogene Automaten hin- und her zucken. Nach Ende des Rituals sind die Männer dann mächtig stolz darauf, zerschnittene Gesichter zu haben – und dann kommt ein italienischer Ingenieur in einem eleganten, cremefarbenen Mantel vorbei und eröffnet ihnen, dass er das ganze für ein völlig groteskes Gladiatorenspektakel hält. Artur Brauner soll von dieser Szene wohl ganz besonders entrüstet gewesen sein.
Ugo Liberatore war mir bislang unbekannt, allerdings kein Terza-Visione-Neuling: sein Südsee-Aussteigermelodrama BORA BORA lief 2015 beim 2. Terza Visione. So ungalant das Bild der Deutschen in LOVEMAKER ist, so sehr schien es Liberatore in seinen Forschungen zu Rassismus, Geschlechterbeziehungen und moderner Heuchelei auch um Universelleres zu gehen. Ich empfehle Oliver Nödings und Silvia Szymanskis Besprechung des Films als Lektüre.
Was zwei der Hauptdarsteller, nämlich Doris Kunstmann und Roger Fritz, zu LOVEMAKER zu sagen haben, hörten die Zuschauer der Deutschlandpremiere im anschließenden Q & A mit den beiden. Zu sehen ist das Gespräch hier auf dem youtube-Channel des Deutschen Filmmuseums.


22.00 Uhr

ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA
Regie: Riccardo Freda (Nachdrehs: Filippo Walter Ratti)
Italien / Spanien 1972
91 Minuten
Vier junge Hippie-Urlauber, Jane (Camille Keaton – sechs Jahre vor DAY OF THE WOMAN), Bill, Joe und Fred suchen in einer stürmischen Nacht eine Villa auf. Dessen Hausherr, Lord Alexander (Luigi Pistilli), organisiert zusammen mit seiner Ehefrau und einigen Gästen gerade eine Schwarze Messe. Als die Urlauber da reinplatzen, geraten die Satanisten in Panik und massakrieren sich gegenseitig. Bei ihrer anschließenden panischen Flucht werden die vier jungen Leute nach und nach von schrecklichen Visionen und Ereignissen heimgesucht...



ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein allseitig verstoßener Film, auf gewisse Weise ein film maudit: Regisseur Riccardo Freda selbst hasste ihn so sehr, dass er nicht nur seinen Namen aus den Credits entfernen ließ, sondern ihn in seinen Memoiren komplett unterschlug, so der italienische Filmhistoriker und Freda-Biograph Roberto Curti in seiner Einführung. Der Film lief nur in seinen beiden Produktionsländern und galt offenbar als nicht "exportfähig". 2004, nach einer Projektion im Rahmen einer Retrospektive beim Filmfestival Venedig, wurde er vom Publikum ausgebuht. Das Terza Visione ermöglichte nun nicht nur die Deutschlandpremiere des Films, sondern bot auch einen idealen Rahmen, ihn lieb zu gewinnen – auch, wenn er sich wahrhaftig mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Es ist durchaus möglich, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ein gescheitertes Meisterwerk der unfreiwilligen (?) Dekonstruktion ist: ein grand film malade im Sinne François Truffauts, mit einer ganz eigensinnigen, morbiden Poesie und einer großen Schönheit.
"Auszug aus den Geheimarchiven der Polizei einer europäischen Hauptstadt" – es fängt schon mal dem Titel an, der eher einen politischen Thriller in Form eines "police procedurals" suggeriert, und nicht einen dekonstruierten Horrorfilm, der mit zunehmender Laufzeit bis zur Grenze der Selbstzerstörung in alle möglichen Richtungen aus dem Leim geht. Da ist natürlich die Geschichte des reichen Industriellensohns Bill, der eine leicht ödipal gefärbte Beziehung zu seiner Mutter hat, sie auch mal heimlich beim Baden mit ihrem Liebhaber beobachtet, ihr gerne Halsketten schenkt und wohl hauptsächlich deshalb auf der Urlaubstour gerne mit Jane schlafen möchte, um seinem Muttikomplex ein Ventil zu bieten. Die Szenen mit Bill und seiner Mutter sehen wir in Rückblenden, die urplötzlich in den ersten zehn Minuten des Films einbrechen. Seine Mutter hat die Kette abgelehnt, weil Bill sie bei einer Trödlerin gekauft hat, die eine gruselige Geschichte zu dem Schmuckstück erzählt hat. Vielsagend, dass Bill die Halskette, die seine Mutter abgelehnt hat, nun Jane schenkt, die während der Schenkung dann auch eine irritierende Vision von Bill mit entsetzlich entstelltem, blauem Gesicht bekommt, was erst etwa eine Stunde später wieder eine Rolle spielen wird. Verfluchte Kette, ödipale Lust, schreckliche Zukunftsvisionen – und da sind noch weit und breit keine Satanisten (und kein Luigi Pistilli) in Sicht.
Das erste Drittel lässt zudem auch vermuten, dass ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA eine spielerische Kapitalismus-Groteske sein könnte: die jungen Leute schließen untereinander Wetten ab, deren Schulden nie wirklich beglichen werden können, weil der Verlierer, immer wieder Bill, seine Schulden mit einem Reisescheck bezahlt: eine virtuelle (jenseitige?) Währung, deren Wert in der Wildnis gleich Null ist... vor allem, wenn ein Tankwart sich in der späteren Nacht weigert, den jungen Leuten das Auto vollzutanken, weil sie nicht bar zahlen können, und sich an dieser Stelle ein kleiner Abgrund auftut zwischen den letztlich bürgerlichen Hippies und dem bodenständigen ländlichen Kleinselbständigen. Diese Szene wird geradezu qualvoll lange ausgedehnt, aber dieses Spiel mit dem "virtuellen" Geld wird dann auch relativ rasch wieder fallen gelassen – wieder ein scheinbarer roter Faden, der ins Nichts läuft.
Dann folgt der Part in der Villa, wo die jungen Leute mit dem leeren Auto ankommen. Hier taucht dann auch der unvergleichlich großartige Luigi Pistilli auf, der als Lord Alexander die jungen Leute geradezu drohend ermahnt, dass in seinem Hause Gastfreundschaft heilig sei und sie deshalb gefälligst hier zu bleiben hätten! Und Luigi Pistilli im Dunkeln als Silhouette ist nunmal extrem beunruhigend (und auf großer Leinwand ganz großartig zu betrachten).
In den Villenszenen ist es besonders auffällig, wie in ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA dösige Exposition, Absurdes und morbide Poesie sich die Klinke in die Hand geben. Den Männern aus der Hippie-Clique dabei zusehen, wie sie sich in recht banalen Dialogen am Essenstisch der Villenbediensteten unterhalten, verlangt einiges Sitzfleisch. Parallel ist Jane in ein herrschaftliches Zimmer gebracht worden und von der Hausherrin bei einem warmen Bad sich selbst überlassen worden. Die Großnichte des großen Buster Keaton braucht im Grunde sowieso während des Films nicht viel zu tun, weil ihr etwas melancholisches Gesicht mit den traurigen Augen (das liegt wohl in der Familie?) stets etwas Träumerisch-Jenseitiges ausstrahlt. Immer wieder wird sie isoliert gezeigt, wenn die Männer der Urlaubspartie zusammen gezeigt werden. Immer wieder schwelgt die Kamera mit ihr in leiser Melancholie. Wenn sie dann im leicht flatternden (und ja: leicht durchsichtigen) weißen Nachthemd der bizarren Orgelmusik der schwarzen Messe folgt, in dem sie durch dunkle Gänge mit wehenden Vorhängen läuft (gleitet?), wähnt man sich beinahe wohlig in einem klassischen Gothic-Horror-Film wieder zu finden. Wäre diese merkwürdige Melodie nicht, die eine der Teilnehmerinnen der schwarzen Messe in Dauerschleife auf der Orgel spielt, eine Melodie, die ein stetes emotionales Crescendo ohne Auflösung beschreibt, bei der man das Gefühl hat, sie könnte jederzeit plötzlich in eine Fats-Waller-Jazznummer umschlagen: irgendwie kontrapunktisch zu den Bildern der schwarzen Messe und doch so unglaublich passend (die Credits gehen hier an den großen Stelvio Cipriani).
Nun... Jane überrascht die Teilnehmer der schwarzen Messe, wird als menschliches Opfer gefangen genommen (und leistet in einem tranceartigen Zustand erstaunlich wenig Widerstand dagegen), dann suchen sie die Jungs. Im letzten Moment kann Bill Lady Alexander daran hindern, ein Messer in Jane zu stoßen, tötet sie im Gerangel jedoch aus Versehen. So etwas ist natürlich ein Stimmungskiller, aber das, was danach passiert, rechtfertigt es keineswegs. Die Satanisten verfallen in einen Blutrausch und massakrieren sich gegenseitig: blutige Bauch- und Kopfschüsse, Enthauptungen, hochkant aufgespaltene Gesichter, Verbrennungen. Das ist in vielerlei Hinsicht verwirrend. Erstens macht diese Szene auf brutale Weise tabula rasa: da sind keine weiteren Satanisten mehr, mit dem man den Film noch bestreiten könnte – ein potentieller roter Faden, der wieder ins Leere läuft. Des weiteren wirkt diese bizarr-groteske Szene wie ein furioser Showdown, bietet in anderthalb Minuten so viele Splattereffekte wie manche Gialli in 90, ist aber etwa in der Hälfte des Films angesiedelt: das heißt, eigentlich fängt der Film erst dann wirklich an. Und drittens ist Luigi Pistilli, nachdem er etwa zwanzig Minuten da war, davon vielleicht mit höchstens fünf Minuten Screentime, einfach weg. Zunächst scheinbar, dann aber auch wirklich: die schwarze Messe spielt im restlichen Film dann im Prinzip auch keine Rolle mehr, abgesehen von den letzten zehn Minuten, wo die Bilder als Erinnerung oder Vision Janes wieder auftauchen – dann allerdings als eine Art derangierter Clip voller kleiner Wiederholungsloops: der mit dem Schwert hochkant gespaltene Kopf wird dann gleich vier Mal gezeigt (der Credit für die Splatter-Effekte geht an Carlo Rambaldi, der für den Effekt der Hunde-Vivisektion in Lucio Fulcis UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA gerichtlich vorgeladen wurde und uns beim diesjährigen Terza Visione noch mal bei PROFONDO ROSSO begegnen sollte). 
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA endet schließlich, nein, er endet nicht... – er bricht einfach ab, nachdem Paul Müller (bekannt und geliebt aus diversen Filmen Jess Francos) als Arzt den kompletten Film ohne jegliche Vorwarnung in einem etwa anderthalbminütigen delirierenden Monolog voller komplizierter Schachtelsätze durcherklärt und damit eigentlich wieder mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Fine. Ende. Keine Credits, aber dafür mit Schwarzbild das zärtliche Lied vom Beginn, mit seinem Text, der immer wieder Süßliches und Makabres zusammenbringt ("Ein Mann lacht fröhlich, den Mund schon voller Erde / Eine Frau tanzt, durchsetzt von Würmern – so ist das Leben!"). Aufreizend provokant, fast schon radikal, den Film einfach so abzubrechen.
ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA ist ein schwieriger und doch wunderschöner Film: langsam, leicht sediert, antiklimaktisch, mit einigen peniblen Expositionsdialogen, die von völlig irrwitzigen Absurditäten gefolgt werden und dabei durchsetzt von wunderschönen, unvergesslichen Bildern. In vielen Szenen ist der Meisterregisseur sehr klar zu erkennen, und zu sehen ist eine Poesie, die mit jener des klassischen Gothic Horrors nur äußerliche Chiffren teilt und eher in Richtung dessen verweist, was Dario Argento und Lucio Fulci nicht ganz ein Jahrzehnt später in INFERNO und L'ALDILÀ machten: eine Poesie des Akausalen, des Irrationalen, jenseits der Genre-Konventionen, mit einem Horror, der sich vor allem als Zusammenbruch jeglicher Ratio offenbart und eine komplett eigene, filmische Logik entwickelt (die sich für "Logik-Anschlüsse" auch gar nicht interessiert). ESTRATTO DAGLI ARCHIVI SEGRETI DELLA POLIZIA DI UNA CAPITALE EUROPEA kann mit "Erklärungen" kaum erschlossen werden, weshalb der Endmonolog auch merkwürdig daneben erscheint, aber (das hat eine zweite Sichtung für mich ergeben) er hat eine ganz eigene, atmosphärische und assoziative Kohärenz. Ja, ein störrischer Film, aber auch ein schöner Film – der nun hoffentlich beim Terza Visione endlich mehr Liebe bekommen hat.


Freitag, 27. Juli

12.30 Uhr

SICARIO 77, VIVO O MORTO ("Sicario 77 – Tot oder lebendig")
Regie: Mino Guerrini
Italien / Spanien 1966
98 Minuten
Der britische Geheimagent/Söldner Lester (Rod Dana) soll die Machenschaften des dubiosen George King aufdecken. Auftragsmorde, schöne Agentinnen, Nazis mit Welteroberungsfantasien und peitschende Nebenbösewichte in schwarzem Leder sorgen dabei stets für Bewegung.
Der Erfolg der James-Bond-Filme löste in Kontinentaleuropa eine Welle an Nachahmern aus, die wir heute als "Eurospy" kennen. James Bond blieb jedoch nicht der einzige Bezugspunkt. 1965 ging THE IPCRESS FILE, trotz großer personeller Überschneidungen mit den 007-Filmen, einen ganz eigenen Weg, erzählte seine Agentengeschichte in außergewöhnlichen Bildern mit gekippten Perspektiven, asymmetrischer Kadrage, kompletten Szenen, die durch im Vordergrund hervorragende Gegenstände gefilmt wurden. Furies Film, in seinem Szenario wesentlich nüchterner als die James-Bond-Filme, in seiner Bildästhetik aber bedeutend spektakulärer und verblüffender, machte wohl bei italienischen Filmemachern einen großen Eindruck. SICARIO 77, VIVO O MORTO ist einer der Agentenfilme, der versuchte, in die Fußstapfen von THE IPCRESS FILE zu treten.
Vorab: die gezeigte Kopie war die schlechteste des ganzen Festivals, ihr früherer Glanz war bereits in einem ermatteten Rotstich verglüht. Das nahm dem Film wahrscheinlich viel von seinem Potential, denn von vielen der spektakulär gefilmten Szenen erhielt man als Zuschauer nur eine vage Ahnung. Die Schwächen von SICARIO 77, VIVO O MORTO traten dadurch leider gefühlt deutlicher hervor. Die IPCRESS-Ästhetik, die sich im ursprünglichen Film mit zunehmender Laufzeit immer mehr in delierierende Gefilde radikalisierte, ließ in Guerrinis Film ab der Mitte spürbar nach: zumindest wurden nach meinem Empfinden die exzentrisch gefilmten Szenen, mit Gegenständen und Gesichtern, die im Bildvordergrund hervorragen, immer weniger. Dafür folgten immer mehr Drehbuch-Kapriolen, die allmählich etwas ermüdend wurden. Es half auch nicht, dass die Hauptfigur weder besonders charismatisch noch sonderlich sympathisch wirkte und mit dem großartigen Michael Caine nur die Hornbrille teilte, diese aber gegen Ende dann auch immer seltener trug – als würde sich der Film auch hier (zu seinen eigenen Ungunsten) von seiner Vorlage entfernen.
SICARIO 77, VIVO O MORTO hatte aber auch wirklich Pech, dass ich THE IPCRESS FILE gerade mal vier Tage zuvor zum ersten Mal gesehen hatte. Es bleibt aber trotzdem alles Jammern auf gehobenem Niveau. Die Eröffnungscredits machen mit dem harten Elektrogitarren-Titelstück Giorgio Zinzis noch einmal deutlich, warum die Italiener die Könige der Filmmusik sind. Die Eröffnungsszene, bei der ein furchterregend aussehender Blonder einen Pfandladen betritt, in seinem Violinenkoffer (vor Blicken durch den aufgeklappten Deckel geschützt) eine Maschinenpistole zusammenbaut, den Ladeninhaber erschießt, aus einer Schublade eine einzelne Banknote nimmt und dann kurz vor dem Gehen den heruntergefallenen Kopf einer Papstfigur wieder auf den Torso setzt, während die ganze Zeit im Hintergrund der Kommentar zu einem laufenden Boxkampf zu hören ist, ist Gold wert – ein matching cut von den Beinen des Killers zu den Beinen des Schiedsrichters führt uns dann zu ebendiesem dem Boxkampf. Da wir gerade eh von dieser Person reden: der blonde, fast albinoartige Killer ist, obwohl er glaube ich kein einziges Wort spricht (oder gerade deshalb) für mich die größte Figur dieses Films. Mit seinem Äußeren und seinem extrem intensiven Blick erinnerte er (ist es Enrico Manera? ich kann leider den Schauspieler nicht zuordnen) mich etwas an Frank Doubleday und seinen beinahe wortlosen Auftritten in John Carpenters Filmen. Leider verschwindet die Figur recht schnell wieder aus dem Film, dafür gibt es dann als etwas weniger raffinierten Ersatz einen Handlanger, der ganz in schwarzem Leder gekleidet ist und als Waffe eine lange Peitsche nutzt, deren Spitze mit einem scharfen Haken ausgestattet ist.
Auch einzelne Action-Szenen sind echte Hingucker. Der Kampf zwischen Lester und dem blonden Killer in einem Badezimmer, bei dem ein Duschvorhang, das ein- und ausgeschaltete Deckenlicht und eine störende Leiche auf dem Boden in Aktion treten... Der Kampf im Inneren einer Seilbahn am Hafen von Barcelona, dem eine Fußverfolgungsjagd durch den Hafen der Stadt folgt... Auch in der Action gibt es einen allmählichen Sieg des Groben über das Raffinierte. Beim Showdown lässt unser Agenten-/Söldnerheld Lester schließlich alle Hemmungen fallen, betritt einfach das Anwesen, wo sich die restlichen Böswatze versammelt haben und macht dann die meisten von ihnen mit einer Panzerfaust platt.


16.00 Uhr

LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST ("Die rote Sonne der Rache")
Regie: Sergio Corbucci
Italien / Spanien / Bundesrepublik Deutschland 1972
97 Minuten (Deutsche Fassung)
Der Bandit Jed (Tomás Milián), vom gnadenlosen Sheriff Franciscus (Telly Savalas) gesucht, trifft auf die frischgebackene Waise Sonny (Susan George). Die drängt sich wider Jeds Willen als "partner in crime" auf. Bald machen die beiden den Westen mit Überfällen unsicher, den fanatischen Sheriff auf ihrer Spur.



Die bekanntesten Regisseure, abgesehen von Dario Argento und Mario Bava, waren beim diesjährigen Terza Visione mit ungeliebt-missverstandenen Filmen (Riccardo Freda) oder Filmen aus unterbeleuchteten Karrierephasen (Lucio Fulci, dazu später mehr) oder mit unbekannten "Randwerken" ihres berühmtesten Genres vertreten – wie Sergio Corbucci. Was dafür sorgte, dass selbst das "Vertraute" für schöne Überraschungen sorgen konnte.
LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST neigt ein bisschen zum exzentrischen Western, weil er fast aus allen Nähten platzt: er ist gleichzeitig derbe Prollsploitation, morbid-sadomasochistische Screwballkomödie, Stockholm-Syndrom-Drama, herzzerreissender Liebesfilm, eskalierendes Ehemelodrama, schenkelklopfender Slapstickfilm, Bonnie-and-Clyde-Ripoff und melancholische Meditation über die Tragik des Lebens. Corbuccis Film ist wie seine Hauptfigur Jed: er ist launisch, springt unruhig von der einen Episode zur nächsten und macht, worauf er gerade Lust hat (und gefallen zu wollen gehört nicht zu diesen Lüsten).
Zunächst sei erwähnt, dass die Hauptfigur Jed wahrhaftig ein dreckig-räudiger Asozialer vor dem Herren ist (wobei die deutsche Synchronisation dem wohl noch mal ein Dutzend Schippen hinzugefügt hat): er ist wortwörtlich dreckig, fürchterlich vulgär, flucht die ganze Zeit, behandelt sämtliche Menschen in seiner Umgebung mit Verachtung und Arroganz und benimmt sich allgemein furchtbar arschig. Er ist ein Mörder, oder zumindest ein Dieb, der nicht zögern würde, sämtliche Reisende einer Postkutsche kaltblütig zu ermorden. Und als Sonny ihn für einige Zeit verfolgt hat mit dem Ziel, zu seiner Geschäftspartnerin zu werden, prügelt er sie vom Pferd herunter und vergewaltigt sie im Dreck: eines der schockierendsten und verstörendsten Momente des Festivals (die Ankündigung vor dem Film, dass die diesjährige Ausgabe des Terza Visione weniger hart und düster sein würde als letztes Jahr, war inhaltlich insgesamt richtig, fühlte sich aber für diesen Moment sehr lügengestraft an).
Dies lag in der ersten Hälfte des Films sicherlich auch daran, dass Sonny sich die unwürdige Behandlung gefallen lässt, Jed sogar mehr oder weniger offen anhimmelt, während er sie als nutzlose Hündin beschimpft. Das wird sich im Laufe des Films ändern. Zunächst wird sie ihn in einer besonders denkwürdigen Szene in einem Getreideschober fast erschießen, später das Leben retten, ihn zur Heirat überreden – und am Schluss des Films wird schließlich er wie ein treudoofer Hund hinter ihr her hinken.
Die dritte Hauptperson, Franciscus, beginnt zunächst als eine Art Karikatur des fanatischen Law-and-Order-Sheriffs. Doch auch das ist gar nicht so einfach: bei einer Schießerei mit Jed und Sonny wird er schwer verwundet und erblindet, was seine Suche nach den beiden allerdings nicht stoppt. Was für irgendwelche absurden Gadgets oder für schale Witze hätte genutzt werden können, wird eher zu einem weiteren Akzent im tragisch-melancholischen Unterton, der den ganzen Film durchzieht (der sich auch in Ennio Morricones wunderbarem Score – hier ein Ausschnitt – widerspiegelt): Franciscus, wortwörtlich von seinem leidenschaftlichen Hass auf den Kriminellen Jed geblendet, wird zu einer wahrhaftig tragischen Figur. Ein Mann, der die Welt nicht mehr sieht, und trotzdem rücksichtslos mit seinem Stock schlägt oder Handgranaten wirft. Telly Savalas, der zu Filmbeginn wie eine merkwürdige Fehlbesetzung wirkte, spielt allmählich ganz groß auf.
Eher ganz grob spielt Tomás Milián auf, dem Corbucci hier eine freie Bühne für allerlei Absurdes gewährte. Unvergesslich etwa der Moment, in dem er – möglicherweise ein Moment der Genre-Selbstironie? – einen Teller Spaghetti (sic! ja, im Wilden Westen) isst. Wobei nein... "essen" kann man das nicht nennen: mampft, zutscht, zerschmatzt, abschlabbert, dass da im direkten Vergleich selbst die wildesten Fressorgien von Bud Spencer und Terence Hill wie piekfein-gediegene Dîners wirken. Und schließlich dieser Moment, in der er von der Kuh absteigt, die er vor kurzem auf offenem Feld gefunden hat: da er durstig ist, legt er sich eben ungeniert unter die Kuh und fängt an, an deren Zitzen zu nuckeln. Zwischen zwei Schlücken lobt er die "Ausstattung" der Kuh und verflucht Sonnys Oberweite. Spätestens hier wird klar, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auf eine gewisse Weise wesentlich "schwieriger" ist als etwa DJANGO, IL MERCENARIO oder IL GRANDE SILENZIO und für Zuschauer, die ihre Westerns gerne elegisch haben, ein Unding ist.
Ich schrieb weiter oben, dass LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST auch ein eskalierendes Ehemelodrama und herzzerreissender Liebesfilm sei. Die Dynamik im letzten Drittel entsteht dadurch, dass Sonny die geschlossene Ehe ernst nehmen möchte und rasend eifersüchtig reagiert, nachdem Jed auf einer feinen Gesellschaft die Dame des Hauses anbaggert (die dummerweise die Ehefrau des Gutsbesitzers ist, der einige mit Jed befreundete Bauern bedrängt). Sonny möchte schließlich die Gesellschaft ausrauben, während Jed die äußerst willige, weil offensichtlich sexuell ausgehungerte Gutsbesitzerehefrau entführt, um sie irgendwo in einer stillen Ecke zu vernaschen. Da das Sonny nicht passt, verrät sie ihn kurzerhand, um ihn dann doch wieder im letzten Moment zu retten. Vielleicht konnte sie sich doch an die besten Momente mit ihrem Ehemann erinnern. Der geneigte Zuschauer kann es auf jeden Fall: wie beide sich kurz vor dem Schlafengehen ordentlich zoffen, schließlich aber sich hinlegen, in eine gemeinsame Decke kuscheln... und dann fängt das Liebespiel an. Es ist ein bisschen wie das vorangehende Spaghettiessen, bloß in zärtlicher: Gesicht an Gesicht werden Nase, Mund, Zungenspitze sanft angeknabbert, geleckt, geküsst. Zwischen allen Scheußlichkeiten, Härten, Albernheiten und Absurditäten ein himmlisch herzlicher Moment, der einfach nur zum Dahinschmelzen ist. Großartig!
Ich muss gestehen, dass ich bestimmt eine gute halbe Stunde gebraucht habe, um in den Film ein wenig reinzukommen. Danach war es noch keine große Liebe, sondern eher ein Staunen über die Unglaublichkeiten, die da präsentiert werden, über die paradoxen Gefühle, die aufeinander prallen. Aber je mehr ich über LA BANDA J. & S. – CRONACA CRIMINALE DEL FAR WEST nachdenke, umso mehr finde ich gefallen an seiner Exzentrik, die sich den gängigen Mustern des Genres und dem Stromlinienförmigen störrisch und bockig widersetzt. Ein feiner kleiner Bastard von einem Western. Die französische DVD des Films (unter dem Titel "Far West Story") werde ich mir wohl demnächst besorgen müssen.

Das märchenhafte, paradiesische Potential des Terza Visione kann sich wunderbar entfalten, wenn man beim gemeinsamen Abendessen einen Co-Zuschauer auf das DUELLE-Rivette-T-Shirt anspricht, das er vor einigen Monaten beim Hofbauer-Kongress trug – und man danach ganz entspannt am Main-Ufer bei einem Bier über Rivette fachsimpeln kann.

Nun folgte der Film, der die Wetterbedingungen, mit denen sich die Terza-Visione-Besucher in Frankfurt (und natürlich nicht nur sie) konfrontiert sahen, wunderbar zusammenfasste.


20.00 Uhr

NELLA CITTÀ L'INFERNO ("Die Hölle in der Stadt")
Regie: Renato Castellani
Italien / Frankreich 1959
105 Minuten (Director's Cut)
In einem Römer Frauengefängnis: das naive Landmädchen Lina (Giulietta Masina) wird unschuldig eingeliefert, nachdem ein Diebstahl ihres betrügerischen Verlobten ihr angehängt wurde. In der Zelle wird sie nolens volens von der fatalistischen Egle (Anna Magnani) unter die Fittiche genommen.



In ihrer wunderschönen Einführung zum Film, die harmonisch eine große Portion Humor mit detailreicher Analyse verband, "bedauerte" Annette Brauerhoch, Professorin für Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Paderborn, dass NELLA CITTÀ L'INFERNO kein waschechter Frauenknastfilm sei, mit Catfights im Schlamm, lesbischen Anzüglichkeiten, viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen. Nein, "bedauern" ist natürlich zu viel gesagt, denn NELLA CITTÀ L'INFERNO ist so, wie er ist, natürlich ein toller Film, wie sie dann auch darlegte und wie sich dann auch auf der Leinwand zeigte.
Renato Castellani kommt ursprünglich vom Neorealismus. Seine Filmkarriere begann 1938 als Drehbuchautor, später führte er Regie – so unter anderem in seiner neorealistischen Trilogie der armen Leute aus SOTTO IL SOLE DI ROMA (1948), È PRIMAVERA... (1950) und DUE SOLDI DI SPERANZA (1952). Er gehörte sozusagen zur "zweiten Reihe" der Bewegung und war weniger bekannter als Namen wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti oder Vittorio De Sica. In den 1950er Jahren wandte er sich dem Melodrama zu (und verlor, wenn ich mich richtig an die einleitenden Worte entsinne, dadurch recht schnell sein Renommee bei der Kritik). NELLA CITTÀ L'INFERNO bildet sozusagen die Verbindung zwischen Neorealismus, klassischem Melodrama und dem Frauenknastfilm (also dem mit viel nackter Haut und brutal-sadistischen Folterungen).
Das ist sehr interessant, aber was ihn ganz besonders macht, sind seine starken Schwarzweißbilder: es ist der dritte Cinemascope-Film des Tages, und der am schönsten inszenierte in diesem Format. Annette Brauerhoch sah es als dezidiert politisches Statement, als "Geschenk" an die dargestellten Frauen: sie, die Erniedrigten und Ausgestoßenen, erhalten das glamouröse Format, das in dieser Zeit vor allem Epen vorbehalten war. 
Cinemascope "öffnet" ja erst mal den Raum, lässt mehr Luft rein, aber NELLA CITTÀ L'INFERNO ist vor allem ein extrem beengtes Kammerspiel, mit Räumen, deren Handlungsradius wohl etwa fünf mal fünf Meter beträgt, manchmal nur drei mal drei Meter. Wie den Frauen so verweigert der Film auch den Zuschauern den Blick nach draußen. Den "freien" Himmel sieht man nur im Eingangsbild (ein Polizeiauto fährt zum Gefängnis), und auf einer Art Dachterrasse des Knasts. Klaustrophobie und Enge. Und doch welch großartiges Gefühl für den wenigen, begrenzten Raum und vor allem für die Personen in diesem Raum. Das Scope holt die Randfiguren wörtlich in das Bild rein: die jeweilige handelnde oder sprechende Frau füllt nur einen Teil der Leinwand aus und wird meist von vielen anderen Frauen umgeben, die zuhören, oder sich mit anderen unterhalten, oder schlafen. Statt zu schneiden wird eher die Kamera bewegt oder der Blick in die Tiefe gelenkt, auf Zellen, die auf der anderen Seite des Korridors liegen. Ein echtes Panorama der Insassinnen. Neben Egle, der abgebrühten Langzeitinsassin und Lina, dem unschuldig sitzenden Mädchen vom Land, gibt es noch die blutjunge Marietta, die sich in das verkehrte Spiegelbild eines Mannes draußen verliebt; "Moby Dick", die sich regelmäßig kleine Wortgefechte mit Egle liefert; die alte Gräfin, die nach eigenen Aussagen auch unschuldig einsitzt und im Umgang mit Neulingen offenbar nicht so naiv ist, wie sie tut; die schwarzhaarige Zigarettenschmugglerin, deren Namen mir gerade entfällt; die schweigsame jüdische Sara – und viele andere Frauen.
So panoramisch die Bilder, so panoramisch ist auch das Drehbuch. NELLA CITTÀ L'INFERNO lässt sich keineswegs nur auf das Duo Anna Magnani und Giulietta Masina reduzieren. Sicherlich ist die Inhaftierung Linas der Aufhänger des Films. Der lange, nächtliche zweisame Dialog zwischen Egle und Lina bei einem improvisierten Kaffee gehört zu den großen Höhepunkten des Films – besonders der Moment, wo die beiden nur vom flackernden Licht der brennenden Zeitung beleuchtet werden, mit dem sie das Wasser für den Kaffee erhitzen. Und doch geht es NELLA CITTÀ L'INFERNO auch um mehr. Nach und nach entsteht ein ganzer Subplot um Marietta. Diese ganz junge Frau hat die Gewohnheit, sich stundenlang im Badezimmer ihrer Gemeinschaftszelle einzusperren und schließlich fliegt auf, was sie da tut: mit einem kleinen Handspiegel guckt sie kopfüber durch die Lamellen der Fensterläden in die Freiheit, wo zu regelmäßigen Zeiten immer ein junger Mann an der gleichen Stelle steht: eine selbstgebastelte Camera Obscura, wie Annette Brauerhoch in ihrer Einführung so treffend feststellte. Ein handgemachtes Kino des Begehrens. Dieses führt später dann zu einer kleinen Episode, in der eine andere Insassin dieses Mittel nutzen will, um zu einem vereinbarten Zeitpunkt ihre Tochter draußen zu sehen. Dazu muss sie erst mal in die entsprechende Zelle geschmuggelt werden. Das ganz endet nach einem schreckhaften, aber unverletzten Sturz mit dem Bruch der Toilettenschüssel und des Wasserbeckens... Wie Marietta immer mehr Raum einnimmt im Film, tritt Lina nach und nach in den Hintergrund und verschwindet gar für einige Zeit aus dem Film, als sie schließlich entlassen wird. Sie kehrt dann wieder zurück, diesmal als wirkliche "Kriminelle" (als Prostituierte).
Es gehört zu den großen Stärken des Films, dass er sich eindeutig zu seinen vielen Protagonistinnen stellt und unterschwellig deutlich macht, dass wir es hier mit struktureller Gewalt gegen Frauen zu tun haben. Linas einziges Verbrechen bestand darin, so naiv zu sein, sich von einem Kriminellen um den Finger gewickelt lassen zu haben, der ihre Stellung als Dienstmädchen ausnutzte, um eine Villa auszurauben und sie dann als einfach auszumachende Schuldige sitzen zu lassen. Lina wiederum verfällt im Gefängnis in diesen Sozialdruck krimineller Logik, den Mund zu halten und das ganze auszusitzen, und gerät draußen dann wirklich auf die schiefe Spur. Ein Teufelskreis, den die Kinoversion (zu den Fassungen unten gleich mehr) auch "schließt", indem er mit den fast identischen Bildern eines zum Gefängnis fahrenden Polizeiwagens anfängt und aufhört.
Noch nicht ganz im Reinen bin ich mit der Figur der Egle bzw. mit der Darstellung Anna Magnanis. Egle ist, mit Verlaub, eine asoziale, arrogant-besserwisserische, fürchterlich selbstgefällige Egomanin, die offensichtlich nur tagsüber schläft, um nachts ihren schlafenden Co-Insassinnen im hektischen Wachzustand auf die Nerven zu gehen. Hinterhältig ist sie auch noch, wie sie immer wieder wahlweise Lina oder Marietta ins offene Messer laufen lässt und dann für dumm verkauft. Manchmal habe ich mich gefragt, warum ihre Zellengenossinnen sie so bewundern und mögen – und sie nicht irgendwann auf äußerst brutale Weise lynchen und das dann als "Unfall" tarnen (aber solcherlei gehört wohl eher in spätere Women-in-Prison-Filme). "Histrionisch" fiel als Stichwort in Annette Brauerhochs Einleitung, und tatsächlich forderte Magnani mit ihrer etwas überexaltierten Darstellung  meine Geduld bisweilen aufs Äußerste. Die wichtigsten Darstellerinnen in NELLA CITTÀ L'INFERNO sind alle weder sonderlich subtil oder zurückhaltend, aber Magnani legt immer noch eine Schippe drauf (manchmal zu viel, so meine Meinung). Aber vieles davon ist vielleicht auch mein Problem, und nicht das des Films. Im Verlauf wird deutlich, dass vieles von Egles Verhalten auch eine Schutzfassade ist, die dann auch zunehmend bröckelt.
Ich bekam im Vorfeld des Festivals den Film in der Kinofassung zu sehen, die etwa zehn Minuten kürzer ist als der in Frankfurt gezeigte "Director's Cut". Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in der längeren Fassung tatsächlich keine Szene entdeckt habe, die in der Kinofassung ganz fehlte. Eher schien es mir, dass die eine oder andere Szene hier und da ein zusätzliches Detail von mehreren Sekunden hatte, die in der Kinofassung geschnitten waren. Sehr deutlich war nur, dass das Ende anders montiert war: die Kinofassung hörte kurz nach der Begegnung zwischen Marietta und Piero (dem "Spiegelmann", der über einen Hinweis einer entlassenen Insassin auf Marietta aufmerksam wird) auf und ließ kaum Zweifel daran, dass die beiden nach ihrer Entlassung heiraten werden. Allerdings wird hier auch ein Kreis geschlossen, der von den Figuren, die wir erlebt haben, wieder auf das große Ganze, die Gesellschaft lenkt: die letzten Bilder des Films zeigen, analog zum Beginn, ein Polizeiauto, das vor die Tore des Gefängnisses vorfährt.
Die Begegnung zwischen Marietta und Piero ist auch im Director's Cut drin, kommt allerdings früher. Stattdessen endet der Film damit, dass Lina zurückkehrt und durch ihr abgebrühtes, zynisches Verhalten, das sie von Egle "gelernt" hat, diese so in Rage versetzt, dass sie mit Gewalt in eine Einzelzelle weggeschleppt werden muss: eine Szene, die in der Kinofassung drin ist, aber später von Momenten mit einer wieder gut aufgelegten Egle gefolgt wird. Hier als Filmende wirkt das doch wesentlich drastischer. Das Ende der Kinofassung ist sicherlich kein strahlendes Happy End, aber doch versöhnlicher, etwas hoffnungsvoller. Der Director's Cut endet mit dem unheilvollen Nervenzusammenbruch einer Frau, die zu Beginn noch festen Boden unter den Füßen hatte, damit wesentlich pessimistischer und zugleich persönlicher: niemand kommt mehr rein, aber niemand kommt mehr raus. Egle scheint, wenn nicht in den Wahnsinn, so in totale Verzweiflung zu versinken.
Noch eine kleine Anmerkung zum Schluss: nebst dem handgemachten Kino des Begehrens gibt es auch ein traditionelles Kino mit 35mm-Vorführung im Film zu sehen, nämlich eine Kinovorstellung auf der Dachterrasse des Gefängnisses. Bevor die Vorführung anfängt, sagt eine der Insassinnen zu der anderen, dass da hoffentlich nicht so ein vulgärer italienischer Polizeifilm kommt. Im Rahmen des Terza Visione erschien das natürlich ganz witzig. Einen Genrefilm bekamen die inhaftierten Frauen aber doch noch zu sehen: nämlich einen Musikfilm bzw. Musicarello mit heißen Rock'n'Roll-Beats...



...so was Ähnliches gab es dann im Anschluss als letzten Film des Freitags!


22.45 Uhr

Vor dem Hauptfilm lief eine 35mm-Trailershow, die es wahrhaftig in sich hatte! Der Trailer von WHITE POP JESUS (Luigi Petrini, Italien 1980) versprach das absolut unfassbare Spektakel eines Gottessohnes, der Ende der 1970er Jahre mit Pornoschnurrbärtchen, Goldkettchen und dem Klamottenstil eines Vorstadtzuhälters auf die Erde zurückkehrt, um Horden von wahrscheinlich leicht zugedröhnten Discotänzern mithilfe von saftigen Beats in das Paradies zu führen. Ich glaube und hoffe, dass ich nicht der einzige im Saal war, der sich sehnlichst wünschte, diesen Film bei einer der nächsten Terza-Visione-Ausgaben zu sehen. Der Trailer ist hier zu bestaunen.
Bemerkenswert war auch eine Kinowerbung von Langnese, die wie der Trailer zu einer besonders spritzigen Sexkomödie an einem mediterranen Strand wirkte, und große Lust auf Sex und kindische Späße machte – und auch ein wenig auf Eis. Ich glaube, wenn statt der lustlosen Werbung, die immer mit einem schlecht geshoppten Standbild der verfügbaren Eissorten endet, so ein Clip während der Vorfilmblöcke käme, würde der Eisverkauf großer Kinoketten um etwa 7392 % steigen (aber vielleicht irre ich mich). Hier zu sehen.


DANCE MUSIC ("Breakdance Sensation 1984")
Regie: Vittorio De Sisti
Italien 1984
81 Minuten (Deutsche Fassung)
Eine junge italienische Tanztruppe möchte ganz groß hinaus, hat aber leider kaum Geld, um die eigene WG (mit einem zum Tanzsaal umfunktionierten Wohnzimmer) zu bezahlen – und erst recht keine Kohle, um einen Flug nach New York zu buchen, wo bald ein alles entscheidender Tanzwettbewerb stattfinden wird. Ein paar heiße Moves und kreative Fundraising-Methoden müssen Abhilfe schaffen!
Was für ein Fest! Die spritzige Sexkomödie am mediterranen Strand, die die Langnese-Werbung vorher versprochen hatte, gab es zwar nicht, dafür aber eine spritzige Tanzkomödie in einer ungenannten italienischen Großstadt und im winterlichen New York – und mit Essen wurde da auch... ähm... "gespielt".
DANCE MUSIC war höchstwahrscheinlich der in einem ganz wunderbaren Sinne naivste Film des Festivals: sie sind jung, sexy (aber pleite), sie wollen die besten Tänzer der Welt werden und sie müssen diesen verdammten Wettbewerb in New York gewinnen – und der Film zweifelt keine Sekunde daran, dass das die allerwichtigste Sache auf der Welt ist. Mit vollem Herzen ist er ganz bei seinen jungen Protagonisten, ihren Träumen und ihrem Lebensalltag, und mit dieser positiven Einstellung hat er auch die Herzen der Zuschauer erobern können (und natürlich mit seinen großartigen Tanzszenen und einigen herzerwärmenden 80er-Modesünden).
Der Film beginnt mit einer relativ langen und kunstvollen Plansequenz, in der die Kamera durch die WG der Protagonisten "spaziert" und sämtliche Hauptfiguren einführt, indem sie bei alltäglichen WG-Problemen gezeigt werden: einer blockiert das Bad zu lange, ein anderer, der mit dem Lebensmitteleinkauf betraut worden ist, hat nur Eis mitgebracht und alle necken sich ein bisschen, haben sich aber eigentlich total lieb. Dann wird auch schon getanzt in dem Wohnzimmer, das zu einem Tanzsaal umfunktioniert worden ist: komplett ausgeräumt, eine Wand mit deckenhohen Spiegeln, eine mit Postern der Vorbildfilme (FLASHDANCE, STAYING ALIVE), eine mit Reckleitern. Der Tanz: tatsächlich ein dynamisch gefilmter Rausch aus 80er-Jahre-Musik und bewegten Körpern. Das wird auch im Rest des Films so sein: die Tanzsequenzen mit der Gruppe sind zackig und auf den Punkt gefilmt, dass man am liebsten aufspringen und mittanzen möchte.
Wenn die Tänze das Rückgrat bilden, so sind es die vielen kleinen wunderbaren Einfälle und humoristischen Einlagen, die dem Film das Herz geben. Da ist etwa die ältere Vermieterin der WG, die etwas missgestimmt ist, weil die jungen Leute mit der Zahlung der Miete im Rückstand sind und alle Nachbarn sich oft über die laute Musik beschweren, die es aber sichtlich geniesst, nach einer Tanz-Session vorbeizukommen, die Bewohner an ihre Mieterpflichten zu erinnern und dabei die hübschen, jungen, verschwitzten und muskulösen Männer zu sehen. Genau diese kleine Schwäche macht sich die Gruppe auch zunutze: der teilblondierte* Hauptmieter bezirzt rasch die aufgebrachte Vermieterin, indem er sein T-Shirt auszieht, sich lasziv vor ihr am Reck hin und her schwingt und sich schließlich zum Essen einladen lässt, um diese Mietangelegenheiten in einem gemütlicheren Ambiente zu besprechen. Dort lässt unser Held nichts anbrennen: die Vermieterin, nun in einem tief dekolletierten und eng anliegenden Kleid angezogen, lässt er vor Lust schmachten**, schickt sie immer wieder unter Vorwänden in die Küche und schmeisst, sobald sie ihm den Rücken gekehrt hat, einen Dîner-Gang nach dem anderen aus dem Fenster, unter dem seine Mitbewohner mit ausgebreiteten Bettlaken die Gaben aufzufangen versuchen. Die Vermieterin wundert sich über den großen Hunger des jungen Mannes, während hinter ihrem Rücken Carpaccio, Lasagne und Chips in hohem Bogen aus dem Fenster fliegen. Natürlich wird nicht alles punktgenau aufgefangen und das sorgt für herzliche Lacher und ein kindliches Staunen über die besondere "Ästhetik fliegender Chips" (so sehr treffend ein Co-Zuschauer). Wem nicht spätestens hier das Herz vor Wonne und Freude zerschmilzt, kriegt am Badestrand das Langnese-Eis ins Ohr gesteckt!
Überhaupt sucht DANCE MUSIC nicht das ganz große Drama, sondern freut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Die WG ist eigentlich keine WG, sondern wird "offiziell" nur von einem der sechs Studenten bewohnt und zum Teil von dessen Papa bezahlt. Als letzterer zu Besuch kommt, bricht zunächst Panik aus, denn natürlich soll der nicht erfahren, dass sein Sohn nicht ernsthaft (Medizin) studiert, fünf Freunde da einfach so untergebracht hat und die "seriöse" Studentenwohnung als Tanzstudio "missbraucht". Fast, aber nur fast, schaffen sie es, die Wohnung zu "tarnen" und sich als Lerngruppe zu auszugeben, doch oh weh! – Papa entdeckt den panisch weggeräumten Tanzkram im Bad. Das ganze würde in einem anderen Film zur großen Vater-Sohn-Auseinandersetzung werden, doch DANCE MUSIC ist da lockerer: von den enttarnten Spiegeln des Tanzsaals sichtlich inspiriert, probiert Papa zur Verwunderung aller Anwesenden gekonnt einige Steptanzschritte, die er in seiner Jugend gelernt hat. Das ganze endet damit, dass sich die beiden Generationen gegenseitig gutgelaunt "ihre" Tänze vorführen und den Stil des anderen in den eigenen integrieren – klassischer Stepptanz meets Breakdance***. Wie viel wunderbarer ist es, das zu sehen als so eine schnöde Vater-Sohn-Auseinandersetzung, zumal es da ja nichts zu diskutieren gibt: Papa sagt am Ende des Szene deutlich, dass der Sohn irgendwann seine Arztpraxis übernehmen wird und damit basta!
Sehr schön ist auch, wie sich unsere kleine WG-Gruppe in ein Kino schmuggelt (der junge teilblondierte Adonis lässt wieder seinen Charme spielen, diesmal mit der Ticket-Kontrolleurin), um einem "Mr. Robot" beim Tanzen zuzuschauen. Was da läuft, ist offenbar ein fiktiver New Yorker Breakdance-Undergroundfilm innerhalb des Films (das Bildformat in diesem Moment ganz authentisch 1.33:1), und man sieht ihn, den von unseren Helden angehimmelten Mr. Robot, wie er auf einem Pier mit der New Yorker Skyline im Sonnenuntergang als Hintergrund tanzt. Jeder "normale" Film würde sich nach einigen Bildern abwenden und mit der "Geschichte" weitermachen, aber nicht so DANCE MUSIC. Der Film-im-Film läuft, und läuft, gut über zwei, drei Minuten, bis nach einiger Zeit der Zuschauer in eine Art rauschhafte Trance im Angesicht dieser Bilder fallen muss. Schließlich wird doch geschnitten, und wir sehen dann die wippenden Füße unserer WG-Gruppe, selbst nun in Trance verfallen (einen unvollständigen Ausschnitt dieser Szene gibt es in den ersten drei Minuten dieses Clips zu sehen bzw. zu erahnen).
New York! Diesen filmischen Sehnsuchtsort wird unsere Gruppe schließlich aufsuchen. Zunächst herrschte zumindest bei mir Unklarheit, ob wir uns nicht schon längst in den USA befinden: sämtliche Figuren sprechen sich gegenseitig mit amerikanischen Namen an, die wie aus einer schlechten Soap geklaut klingen. Einige Außenansichten, vor einem Wohnhaus bzw. in einer Einkaufsgalerie, waren keineswegs als italienisch auszumachen, und wahrscheinlich lag das auch nicht an der deutschen Synchronisation. Nachdem schließlich dann doch das Geld für den Flug gen USA gebucht werden kann, macht einem DANCE MUSIC sehr deutlich, dass wir nun in New York sind. Da werden schöne Second-Unit-Shots der Stadt aneinander gereiht, dass es die reinste Freude ist. "Guck mal: wir sind in New York. Ist das nicht superknorke?" verkündet uns scheinbar der Film in diesen Momenten, wenn uns Wahrzeichen der Stadt und abgeranzte Nebenstraßen mit der gleichen naiven Freude gezeigt werden – als großer Fan von New York als Filmstadt konnte ich dem nicht widersprechen. Diese Stadt kennt der Cinephile aus William Friedkins und Sidney Lumets New-York-Filmen: abgefuckt, kalt, grau, hektisch, brodelnd. Hier laufen scheinbar nur ein Steinwurf entfernt zur gleichen Zeit SCARFACE und TABOO II. Statt uns die Truppe beim Trainieren zu zeigen (wir wissen doch, dass die Jungs und Mädchen gut sind), zeigt uns DANCE MUSIC dann auch lieber wieder ausgedehnte Szenen mit Mr. Robot und anderen Tänzern auf den Straßen New Yorks (unterbrochen von einem Moment, bei dem Mr. Robot ganz offensichtlich vor einer gemalten New-York-Kulisse auftritt, aber das passt schon: das "reale" und das "gebaute" New York hatte Jean-Pierre Melville schon 25 Jahre vorher in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zusammengebracht – also darf es De Sisti natürlich auch!). Das ganze kulminiert schließlich in einen Tanz am abendlichen Time Square. DANCE MUSIC – keine Stadtsinfonie, sondern ein Stadt-Breakdance! (wieder aus dem gleichen Clip wie oben einige approximative Impressionen).
Konfliktscheuheit gilt in unserer Ellenbogengesellschaft gemeinhin als Schwäche, aber es ist eine der großen Stärken von DANCE MUSIC, dass in seiner Welt keine Probleme existieren, die man nicht einfach in Wohlgefallen und Tanz auflösen könnte. Mieterprobleme? Einfach ein bisschen oben ohne am Reck abhängen! Sich anbahnende Konflikte mit Papa? Wegtanzen! Keine Kohle für die Subway? Einfach kurz zu Mr. Robot, es ihm sagen und in seinen Spendentopf greifen (er wird es schon verstehen)! Aber ganz großes Kino ist schließlich, wie der Film mit der Nebenfigur Michael (Italiener, aber natürlich englisch ausgesprochen) umgeht: ein fürchterlich schmieriger Yuppie, der hartnäckig eine unserer tapferen Tänzerinnen auf ihrer Arbeit in einer Einkaufgalerie anbaggert und schon nach kurzer Zeit wie ein hartnäckiger Stalker mit hohem Creep-Faktor wirkt. Eines Abends lässt sie sich doch auf ein Abendessen mit ihm ein, mit dem Hintergedanken, von ihm Geld für die New-York-Reise zu bekommen. Doch das Szenario geht fürchterlich schief, weil sie sich urplötzlich in ihn verliebt: eigentlich war Michael die ganze Zeit ein total dufter Typ. In einem Giallo hätte man ihn am Anfang sofort als Haupttatverdächtigen ausgemacht. Als er am Schluss die wackeren Tänzer in New York besucht, bekommt er wunderschöne zwei Sekunden geschenkt, in denen er herzallerliebst lächeln und Winke-Winke machen darf. Alles wird gut in der Welt von DANCE MUSIC!
Am Ende des Films schließlich der Wettbewerb: jeder, aber wirklich jeder andere Film hätte die Frage, ob unsere wackere Tanztruppe den Hauptpreis gewonnen hat, zu einem fünfminütigen Spannungsbogen aufgebaut. Doch hier einfach nur ein paar Sekunden Dialog zwischen der Truppe und einem Jurymitglied: 
– "Haben wir gewonnen?"
– "Na was habt ihr denn gedacht: natürlich!"
Wie töricht, wer daran nur eine Sekunde gezweifelt hat!

Nette Trivia: DANCE MUSIC ist wohl einer der Filme mit den meisten Kopien im Bestand des Deutschen Filminstituts, mit weit über einem Dutzend Stück. Unsere lieben Terza-Visione-Kuratoren haben für die Zuschauer exklusiv die beste ausgesucht.

* Teilblondiert: weil nur die eine Seite seiner Frisur blondiert ist. Es gibt in der Truppe noch einen anderen Mann mit blondierten Haaren, der – so ein Co-Zuschauer sehr treffend im Anschluss – wie André Agassi in seiner Vokuhila-Phase aussah. Die 80er-Jahre-Mode-Todessünden, die DANCE MUSIC überhaupt anzubieten hat, sind so oder so unglaublich und könnten Stoff für ganze Abhandlungen bieten. Stichwort: rotes Ensemble mit einer drüber geworfenen, weißen Flocati-Stola.
** Trotz vieler kleiner Schmierhäppchen, und obwohl Vittorio De Sisti in den 1970er Jahren ein Spezialist für commedie sexy war, bleibt DANCE MUSIC größtenteils sexfrei... natürlich bis auf eine fetzige Aufwärm-Montage, bei der unsere wackeren Tänzer (Männlein mit Weiblein, Männlein mit Männlein, Weiblein mit Weiblein, ganz ohne Unterschied) sich gegenseitig die Beine greifen, um sich dann, angelehnt am Reck, hemmungslos zu rammeln – ähm... dehnen. Nach dem lasziven Verspeisen der gebratenen Keule in VIIMNE RELIIKVIA hiermit meine zweitliebste Sexersatzszene dieses Jahres.
*** Wir haben es nicht im engeren Sinne mit "Breakdance" zu tun: der Film wurde in Deutschland mit einem Breakdance-Titel versehen, um auf dem damaligen Breakdance-Hype mit zu schwimmen. Ich kenne mich mit Tanzstilen nicht aus, es wird wohl eine Mischung aus Disco, Breakdance-Elementen und eigenen kreativen Moves sein. Ist ja egal: sie tanzen und es sieht meist sehr gut aus.

Lukas Förster schrieb über DANCE MUSIC im Rahmen eines Textes zu "Off-Filmfestivals" (der ganze Text, hier zu finden, ist super, und wunderschön dieser Satz: "Jede Projektion ein Akt der Zärtlichkeit").


Mit viel Zärtlichkeit (und auch einigen Härten und Tränen) geht es in Kürze auch im zweiten Teil meines Terza-Visione-Berichts weiter.

Hier geht es zum zweiten Teil des Terza-Visione-Berichts.

Samstag, 12. August 2017

Melodramen in verschiedenen Härtestufen: Eindrücke vom 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms, 27.-30.07.2017


Hinweis: Terza Visione ist zu 100 % ein 35mm-Festival. Alle gezeigten Filme liefen also auf richtigem Film. Die Mehrheit im italienischen oder englischen Original (außer da, wo angegeben), teilweise mit Untertiteln, die von den fleißigen Organisatoren in mühe- und liebevoller Arbeit selbst erstellt wurden. Zu danken sind hierfür und für die Konzeption des Festivals zuallererst Christoph Draxtra sowie Andreas Beilharz, in der Filmblogosphäre von den Eskalierenden Träumen bekannt.

Donnerstag, 27. Juli


kurz vor 20.00 Uhr

Mindestens zwei Zuschauer im Saal tragen ein passendes DIABOLIK-T-Shirt. Später im Verlauf des Festivals sehe ich zahlreiche weitere interessante T-Shirts: mit Ingrid Bergmann in STROMBOLI, ein textiles Plakat von SEI DONNE PER L‘ASSASSINO. Ohne direkten Italienbezug fügt sich auch ein T-Shirt mit ROLLS-ROYCE BABY sehr schick ins Gesamtbild.
Übrigens: so voll wie bei DIABOLIK wurde keine Vorstellung mehr. Wesentlich „leerer“ wurde es nur an den frühen Nachmittagsvorstellungen und bei den ganz späten Vorstellungen. Das Terza Visione war tatsächlich kein „Spezialisten“-Festival für Eingeweihte mit dreiviertel-leeren Vorstellungen, sondern erfreulicherweise rundum gut besucht.



ab 20.00 Uhr

DIABOLIK (Gefahr: Diabolik)
Regie: Mario Bava
Italien / Frankreich 1968, 105 Minuten
Der Meisterverbrecher Diabolik (John Phillip Law) und seine Gefährtin Eva (Marisa Mell) erbeuten bei gewagten Coups Millionen vom autoritären Staat und von den Reichen. Der Kommissar Ginko (Michel Piccoli) verbündet sich mit dem Mafioso Valmont (Adolfo Celi), um den Dieb zu fangen.
Pop-Art-Kino hat Mario Bava eigentlich schon immer gemacht, doch in der Comicverfilmung DIABOLIK findet sich zu der Form nun auch der passgenaue Inhalt. Heutzutage, wo bei dem Wort „Comicverfilmung“ wahrscheinlich nicht nur mir ein genervtes Stöhnen entweicht, weil man damit Tentpole-Sommerblockbuster im Se-Prequel-Reboot-Modus der Marke kindisch-selbstironisch (DEADPOOL) oder selbstbeweihräuchernd-bierernst-semifaschistisch (Nolans Fledermaus-Filme) verbindet, ist DIABOLIK von einer großen Frische und angenehmen Frechheit. Hier weht ein völlig unverstellter, fast schon kindlich-naiver Spaß an Genre durch den Film: Superhelden und Superschurken, die fantastische Dinger mit Super-Hightech-Geräten drehen, flankiert von wunderschönen Frauen, akustisch von fetzigen Klängen begleitet, die einem deutlich machen, dass wir gerade im italienischen Kino unterwegs sind.
Dabei ist das ganze auch frech, subversiv, anarchisch, radikal antiautoritär. Der Geist des Films wird schön in einer Vignette zusammengefasst: Diabolik, verkleidet als Journalist, „sprengt“ die bierernste Pressekonferenz des Innenministers, der bedeutungsschwanger etwas von harter Hand gegen „die kranken Elemente unserer Gesellschaft [Pause] – also ich meine damit: die Verbrecher“ schwafelt, indem er mit seinem Blitzlicht unbemerkt Lachgas im ganzen Raum verteilt. Aus der ganzen Veranstaltung wird eine Farce, weil unterschiedslos alle lachen müssen. Lachen... die wirkungsmächtigste Waffe gegen autoritäre Pappnasen!
Eine echte Meisterleistung ist die Besetzung von Michel Piccoli als Kommissar Ginko, denn ich kann mir nur wenige Schauspieler vorstellen, die weniger in eine Comicverfilmung passen als er – und deshalb passt es dann doch so perfekt. Ginko ist möglicherweise der einzige „echte“ Charakter in einem Ensemble aus Comic-Stereotypen (nicht im negativen Sinne gemeint): ein Charakter, der dem delirierenden Film eine angenehme Erdung gibt. Ein Mann auf der Seite des autoritären Staates, der nicht aus persönlichem Sadismus, sondern tatsächlich aus Pflichtbewusstsein handelt (und dadurch dem wahren Charakter des Autoritären wohl näher kommt als die karikaturhaften Innenminister-Figuren). Der sich zum Mittagessen in seinem Büro ein herzhaftes Sandwich und ein Bier genehmigt – so etwas Banales könnten sich Diabolik und Eva niemals erlauben! Der sich nur widerwillig mit dem schmierigen Valmont verbündet. Der fast ein wenig traurig wird, wenn er Diabolik dann endlich (natürlich nur scheinbar) gefangen hat, weil er vor der Geschicklichkeit und dem intellektuellen Organisationstalent des Meisterverbrechers fasziniert ist.
DIABOLIK sieht nicht nur fantastisch aus, sondern hört sich auch großartig an. Dafür sorgt Ennio Morricone mit seinem tollen Score, der funkigen Jazz, Lounge‘iges und Rockiges mit orientalisch-indischen Klängen verbindet (man höre z. B. hier mal rein).
Andreas Beilharz erklärte in der Einführung, dass der als Blockbuster konzipierte DIABOLIK für etwa ein Siebentel des geplanten Budgets gedreht wurde. Der extrem ökonomisch arbeitende Mario Bava konnte sich zwar eigentlich über das größere Budget freuen, doch die Mühe, über komplizierte bürokratische Wege einzelne Geldtranchen für einzelne Szenen bei der Produktionsfirma Dino de Laurentiis‘ zu beantragen, frustrierte den Meisterregisseur schnell. So endete das damit, dass Bava viele Szenen mit den ökonomischen Mitteln und Tricks drehte, die er aus seinen kostengünstigeren Produktionen kannte. Das Resultat lässt sich sehen: von einigen Rückprojektionen abgesehen (jene im Auto unterstreichen auf expressionistische Weise die Comic-Atmosphäre des Films) sieht der Film extrem wertig aus, ganz besonders die Szenen in Diaboliks Untergrundbasis. Im „wahren“ Leben wie im Film: Ein Sieg des Subversiven und Künstlerischen über das Autoritäre und Bürokratische.



ab 22.30 Uhr

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA (Eine Eidechse in der Haut einer Frau)
Regie: Lucio Fulci
Italien / Spanien / Frankreich 1971, 106 Minuten
Eine gutbürgerlich-spießige Ehefrau (Florinda Bolkan) träumt davon, dass sie ihre sexuell freizügige Nachbarin (Anita Strindberg) ermordet. Dann geschieht der geträumte Mord auch in der Wirklichkeit...
Im gerne beschworenen Fulci-Argento-Gegensatz verorte ich mich selbst als Argento‘ianer. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA hat mir bewiesen: es liegt möglicherweise daran, dass ich verhältnismäßig noch zu wenige Fulcis kenne (dessen Werk wesentlich vielfältiger als das Argentos ist). Denn UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA sieht absolut fantastisch aus! Fulci und sein Kameramann Luigi Kuveiller veredeln eine eher statische Krimigeschichte mit rasanten Fahrten, verblüffenden Schwenks, irren Zooms, einer manischen Handkamera sowie mit Splitscreens und Split-Diopters, die Brian De Palma mal etwas besser hätte studieren können. Das gepflegte Abendessen im Kreise der spießigen Familie wird hier wahlweise zur Farce, wenn in Splitscreens das gediegene Dinner mit dem hedonistischen Treiben in der Wohnung der Nachbarin kontrastiert wird – oder zu einer Hölle, wenn die Handkamera nervös die Essenden umfährt. Luigi Kuveiller fotografierte später nicht nur Fulcis LO SQUATTORE DI NEW YORK (der mich eher wenig begeistert hat), sondern auch Dario Argentos PROFONDO ROSSO. Während letzterer in hyperstilisierten Tableaus und extrem kontrollierten (Proto-?)Steadicam-Fahrten schwelgt, ist UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA durch und durch „dreckig“ inszeniert und geschnitten.
Mit den späteren Fulcis teilt UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA den gewaltsamen Einbruch des Irrationalen in den „normalen“ Alltag. Untote tauchen hier als mit LSD vollgepumpte Hippies auf (die wie die Untoten in L‘ALDILÀ komplett weiße Augen haben) – und hinter unverdächtigen Krankenhaustüren können auch grausame Vivisektionsexperimente mit Hunden lauern. UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist zweifelsohne auch Vorbild für Fulcis späteren SETTE NOTE IN NERO (1977), in dem eine Frau mit hellseherischen Fähigkeit die Vision eines Mordes hat (und dabei die Chronologie durcheinander bringt). In beiden Filmen gibt es in der zweiten Hälfte eine sehr lange und ultraspannende Verfolgungsjagd zwischen zwei Personen, die sich bei weit über 10 Minuten ohne jegliche Worte rein visuell entwickelt. Die Auflösung in UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA ist noch gänzlich „trivial“ und Allerwelts-mäßig, während in SETTE NOTE IN NERO letzteren die übernatürlichen Elemente tatsächlich so stehen bleiben.
Ich muss mich mehr mit Fulci beschäftigen!


Freitag, 28. Juli



ab 12.30 Uhr

LA RIVOLTA DEI SETTE (Blutgericht)
Regie: Alberto De Martino
Italien 1964, 88 Minuten (deutsche Fassung)
Im antiken Griechenland rebellieren einige gefallene Herrscher zusammen mit einer fahrenden Schauspieltruppe gegen die korrupte Elite Spartas und suchen nach einer Statuette mit einem darin verborgenen, verschwörerischen Geheimvertrag...
Der Muskelmannheld macht Muskelmannheld-Sachen und schmeichelt dabei das Auge der geneigten Zuschauer, sein Sidekick unterstützt ihn dabei, der Chef der Schauspieler sorgt mit seinem kleinen Alkoholproblem für einige Lacher, seine Tochter schmeichelt das Auge der geneigten Zuschauer, die Schurken (es sind zwei, vielleicht sogar drei, die sich irgendwie ähnlich sehen) sind ultraschurkisch, die Schurkin ist ultraschurkisch und dabei auch ultraerotisch. Dazwischen gibt es nette Prügeleien sowie lange Dialoge zur Planung der Intrigen.
So weit, so gut, so erwartbar. LA RIVOLTA DEI SETTE ist routiniert, aber eben auch nicht besonders engagiert inszeniert. Das einzige, was für mich hervorstach, war eine längere Montage der Schauspiel-Acts, die die fahrenden Profischauspieler gemeinsam mit den Rebellen auf der Flucht aufführen – sie war viel zu lange, um als reine Exposition herzuhalten und wirkte daher irgendwann fesselnd. Wie so ein kleiner Erholungsspaziergang von dem Einerlei des Rests. Trotzdem: gepflegte Langeweile, mit der man gut den Tag einleiten kann, um sich später etwas in Qualität und Härte hochzuarbeiten. Für mich der schlechteste Film des Festivals. Dass er trotzdem noch so halbwegs okay ist, zeugt von dem hohen Niveau, mit dem Terza Visione kuratiert wird.


ab 15.45 Uhr

CHI È SENZA PECCATO... (Wer ohne Sünde ist...)
Regie: Raffaello Matarazzo
Italien 1952, 101 Minuen
Der italienische Emigrant Stefano (Amedeo Nazzari) heiratet in Kanada mittels einer Fernhochzeit seine Verlobte Maria (Yvonne Sanson), die in Italien geblieben ist. Mit der ungewollten Schwangerschaft von Marias kleiner Schwester beginnt eine Reihe von zunehmend eskalierenden Unglücksfällen.
Raffaello Matarazzo wird bisweilen als italienischer Douglas Sirk bezeichnet: ein Regisseur, der in den 1950er Jahren kommerziell erfolgreiche Melodramen inszenierte, die von der Kritik verrissen wurden, und später als großes Kino mit einem überaus scharfen Blick für soziale und existentielle Probleme wiederentdeckt wurden. Statt Rock Hudson gab es Amedeo Nazzari – zusammen mit Yvonne Sanson entstand ein Zyklus von sieben Nazzari-Sanson-Melodramen.
Ein italienischer Sirk? – das weckt natürlich erst einmal mein Interesse, doch CHI È SENZA PECCATO... an sich und Matarazzos Inszenierung im Speziellen haben mich nicht zu Begeisterungsstürmen verführt. Wie die ganze Geschichte immer mehr und immer mehr in einer Reihe unfassbarer Unglücksfälle eskaliert, ist schon beeindruckend – ebenso, wie am Ende das ganze doch noch in ein Happyend umgebogen wird. Weitere Sichtungen, vielleicht auch anderer Matarazzos, werden womöglich weiter helfen, aber dem Neorealismus ist Matarazzo doch näher als Sirks wahnwitzigem Expressionismus.
Ganz ohne Begeisterung bin ich nicht aus dem Film gegangen: die gebürtige griechisch-französisch-russische Schauspielerin Yvonne Sanson hat mich als Melodrama-Queen schlichtweg verzaubert und ließ ihren Partner Nazzari dabei etwas plump aussehen. Sollte es bislang niemand gemacht haben, mache ich es jetzt: Yvonne Sanson ist wie eine italienische Joan Crawford.


ab 20.00 Uhr

ARCANA
Regie: Giulio Questi
Italien 1972, 112 Minuten
In einem Vorort von Mailand hypnotisiert eine Betrügerin (Lucia Bosè) wohlhabende Kunden und verkauft ihnen das ganze als spiritistische Sitzungen. Ihr Sohn (Maurizio Degli Esposti), mit dem sie eine konflikthafte und zugleich latent inzestuöse Beziehung hat, entwickelt tatsächlich spiritistische und magische Begabungen.
Giulio Questi war ein cinéaste maudit des italienischen Kinos. ARCANA war sein dritter, letzter und radikalster abendfüllender Spielfilm, bevor er sich der Lyrik, Regiearbeiten für das Fernsehen und gegen Ende seines Lebens dem experimentellen Digitalvideofilm widmete. Sein erster Film, SE SEI VIVO SPARA von 1967 (in Deutschland bekannt als „Töte, Django“), war ein Western, der immer wieder ins Surreale abdriftete und mit seiner grafischen Gewalt Zuschauer und Zensoren schockierte, aber auch als perfide Kapitalismus- und Faschismuskritik faszinierte (mich ließ der Film eher kalt – eine Neusichtung wäre bestimmt vonnöten). Questis zweiter Film LA MORTE HA FATTO L‘UOVO (1968) verband den Giallo mit Kapitalismus-Groteske (da werden wohl Hühner gezüchtet, die rechteckig sind, damit sie effizienter verarbeitet werden können). ARCANA, ein urbaner Hexen-und-Magier-Film und vor allem ein mysteriös-surrealistisches Werk, floppte ebenso fulminant wie Questis erste Filme und beendete damit seine Kinokarriere.
Christoph Huber erklärte in einer einführenden Videobotschaft (er konnte wegen Krankheit nicht persönlich anreisen) ARCANA zu einem der besten Filme aller Zeiten. Das mag vielleicht übertrieben sein, aber für mich steht fest: wegen solcher Unglaublichkeiten wie ARCANA nehme ich gerne die Mühe auf mich, Filmfestivals zu besuchen.
In den ersten 20, vielleicht 30 Minuten, die mehr Geduldsprobe als Filmvergnügen sind, hätte ich das niemals gedacht. Im Grunde sieht man nur eine Frau, die esoterisches Geschwafel von sich gibt, während in einem Stuhlkreis Leute schlafen und dabei murmeln. Enden tut der Film unter anderem mit (symbolischen) Leichenbergen des Zweiten Weltkriegs und möglicherweise einer Art Apokalypse. Was dazwischen passiert ist, damit aus leicht irritierter Öde eine mysteriös-hypnotische Faszination erwächst, ist schwierig zu sagen. Ich vermute, dass der Spiritismus, die Magie, der Schamanismus, das Paranormale – wie man es auch immer nennen will – die der Sohn sich langsam wahrhaftig aneignet, auch den Film ARCANA ergreifen und „infizieren“. Von da an gibt es kein Zurück mehr. Schlaf, Traum, Realität, Illusion, Wirklichkeit – diese Kategorien ergeben keinen Sinn mehr. Abgebrochene Eselszähne werden zu bösartigen Talismanen verarbeitet. Der Sohn sucht in den Schächten der städtischen Metro nach den abgetrennten Gliedmaßen verunglückter Metroarbeiter bzw. seines Vaters. Kleinwüchsige Frauen bringen Hochzeitskleider zu spiritistischen Massen-Sitzungen. Der Sohn foltert seine Mutter mit einem Küchenmesser, um an Informationen zur Herstellung eines Talismans zu kommen und bearbeitet später mit dem selben Messer Erhebungen im Boden des U-Bahn-Schachts, die wie die Brüste seiner Mutter aussehen. Die Mutter „spuckt“ die Information aus – und spuckt später Frösche. U-Bahn-Arbeiter klopfen an die Fenster eines Zugs, die Passagiere im Inneren um Hilfe anflehend. U-Bahn-Passagiere klopfen an die Fenster ihres Zugs, um die U-Bahn-Arbeiter draußen um Hilfe anzuflehen... (hier ein fünf-minütiger Ausschnitt aus dem Film, der dem Wahnsinn einer Kinovorführung natürlich nur bis zum Rockzipfel reicht)
Bevor ich mich völlig in Inkohärentem verliere: Die gezeigte Kopie aus dem Centro Sperimentale di Cinematografie der Cineteca Nazionale wurde zur Vorführung in Venedig in den 2000er Jahren gezogen. Gemäß den einführenden Worten war das verwendete Filmmaterial ein anderes als beim Original, wodurch die Farben möglicherweise nicht ganz originalgetreu zu sehen waren. Dessen bewusst muss ich dennoch (um jetzt mal etwas kohärentes zu sagen) dies erwähnen: ich habe selten eine derartige Inszenierung der Farbe / Nicht-Farbe Schwarz gesehen. Ein Großteil des Films spielt in einer abgedunkelten Wohnung. Die Figuren agieren meist vor einem gähnenden, dunklen, dunklen, dunklen, ultradunklen Schwarz – oder tauchen plötzlich aus diesem Schwarz heraus. Das war bereits in den ersten paar Minuten des Films sehr hervorstechend. Die Magie kam später hinzu. Der Rest ist nicht weniger als ein grandioser Höhepunkt des Festivals.



ab 23.00 Uhr

SVEZIA INFERNO E PARADISO (Schweden – Hölle oder Paradies?)
Regie: Luigi Scattini
Italien 1968, 87 Minuten (deutsche Fassung, gekürzt)
Die Schweden, wie sie leiben, leben, ficken, rudelbumsen, Drogen nehmen, sich zu Tode saufen, Selbstmord begehen, inzestuös verkehren, lesbische Clubs besuchen, Autos klauen, nackt saunieren und dank Atombunker irgendwann als überlegene Rasse die Welt wieder bevölkern werden.
Hinweis: gezeigt wurde im Grunde nicht SVEZIA INFERNO E PARADISO, sondern dessen deutsche Interpretation SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? Bei Einzelgesprächen mit Personen, die sich besser mit dem Genre des Mondo-Films auskennen, wurde bestätigt, dass deutsche Fassungen italienischer Mondo-Filme ein komplett eigenes Genre bilden, weil der deutsche Kommentar etwaige Niederträchtigkeiten des Originalkommentars um ein Vielfaches potenziert und dann noch zusätzlich eine ganze Schippe an eigenen Ungeheuerlichkeiten „hinzudichtet“ – so viel, dass man schon sehr naiv sein muss, um an einen durchschlagenden Erfolg der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu glauben. Ich bespreche also SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?
Sich empören und sich aufgeilen!
Irgendwann bei einem Drittel oder der Hälfte dieses infamen Films dachte ich, dass er bei einem AfD-Stammtisch der absolute Knüller wäre. Was hier zu sehen ist, ist ein mustergültiges Prototyp von dem, was heutzutage unter dem modischen Begriff „fake news“ verniedlicht wird: manipulative Medienproduktion mit dem Ziel, zu hetzen und Hass zu säen. Tatsächlich ist SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? aber noch wesentlich perfider als das, weil er seine Zuschauer nicht nur dazu einlädt, über alles, was nicht männlich, weiß, heteronormativ und gut- bzw. spießbürgerlich mit autoritär-konservativem Einschlag ist, offenen Hass zu säen, sondern sich dabei auch regelrecht aufgeilend zu delektieren.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das geht ungefähr so: Schweden wird gezeichnet als „echt sozialistisches“ Land, das von Hippie-Weicheiern regiert wird. Ein Land, das Inzest staatlich toleriert, Sexualunterricht für Teenager organisiert (mit Diskussionen darüber, welches Verhütungsmittel das beste sei – so ein Ding aber auch!), in dem schamlose Mädchen jede Nacht mit mindestens drei oder vier Jungs Sex haben, in dem Politessen nach Feierabend ins Porno-Fotostudio stacksen, in dem Motorradgangs, die die verweichlichte Polizei selbstverständlich nicht unter Kontrolle hat, Teenager-Mädchen gruppenvergewaltigen, was selbstverständlich zu verurteilen ist, weil Motorradgangs eklig sind und die vergewaltigten Mädchen dadurch lesbisch werden und sich später in abartigen lesbischen Tanzclubs rumtreiben, während im danebenliegenden Lokal sich die Jugendlichen mit Marihuana, LSD und Heroin die Birne zu- oder totknallen (war Kokain schon 1968 eine upper-class-Droge, die deshalb hier unerwähnt bleibt?) und in Bretterbuden am Rand der Stadt der „Abschaum“ (O-Ton) und das „Strandgut“ (O-Ton) der Gesellschaft (im nüchterneren Sprachgebrauch: Obdachlose) Entfrostungsmittel schluckt und Schuhcreme-Sandwiches isst, wohingegen der gesetzestreue Bürger, der in seinem gerechten Volkszorn einen Autodieb verprügelt, von jenen Polizisten verhaftet wird, die sich gerade nicht in Sexshops oder Pornostudios rumtreiben, der Dieb hingegen das Auto einfach in den nächstgelegenen Fluss kutschiert, aus dem es dann am nächsten Tag von blinden Tauchern geborgen wird, die gefälligst froh darüber sein sollen, dass sie das tun dürfen, weil Blinde bekanntermaßen völlig nutzlos für eine Gesellschaft sind, und wenn es irgendwann einmal zum Atomkrieg kommt, werden die Schweden dank guter Atombunker überleben und zur „herrschenden Rasse“ (O-Ton im Film – kein Witz!) der Welt werden – vorausgesetzt, die schwedische Jugend begeht nicht aus lauter Langeweile Selbstmord, wozu sie offenbar einen besonderen Hang hat und woran uns der Sprecher etwa alle zehn Minuten schadenfroh erinnern möchte... Ach ja: und viele nackte Brüste gibt es auch zu sehen!
Sich empören und sich aufgeilen!
SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist eine herzliche Einladung an den Zuschauer, voll und ganz in Häme, Hass und Hetze zu schwelgen und vor allem aber auch, sich an den Bildern nackter Frauen, gestellter Gruppenvergewaltigungen und dreckigen Drogen- und Alkoholkonsums zu delektieren und aufzugeilen. Diese Janusköpfigkeit kennt man bereits aus dem frühen Kino, nämlich von Griffith: doch Griffith hat seine antihumanistischen Obsessionen in die Form klassischen Erzählkinos (den er ja mitbegründet hat) eingebettet. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist da eine ganz andere Nummer, weil das abgespulte Programm von den Fesseln des Erzählkinos befreit ist und damit viel mehr Platz für Assoziationen bietet, ohne sich an einzelnen Figuren und Plots aufhalten zu müssen. Wer sieht, dass schwedische Ordnungshüter in ihrer Freizeit in Pornostudios gehen, kann sich eben „seinen Teil“ denken, wenn später Polizisten Autodiebe wieder freilassen. SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist roh und unverstellt, und dabei trotzdem von unfassbarer Heuchelei. Sich empören? Nur zu: dafür die sind die Lesben, die Blinden, die Schwarzen, die Obdachlosen, die Motorradgangs da. Sich dabei aufgeilen? Nur zu: dafür sind die nackten Brüste da! Schuldgefühle? Nicht doch. Schuld sind die nackten Lesben und die heruntergekommenen Obdachlosen doch selbst.
Sich empören und sich aufgeilen!
Wer noch Hemmungen hat, sich prächtig zu unterhalten, der kann sich auch einfach von dem absolut fantastischen Score Piero Umilianis treiben lassen, der die ganzen infamen Niederträchtigkeiten mit locker-fluffigen Lounge-Klängen voller Strandbar-Atmosphäre untermalt. Ein Traum. Und die gute Nachricht: es gibt tatsächlich eine Soundtrack-CD bzw. Vinyl-Platte. Der etwas erhöhte Preis hat mich davon abgehalten, ihn gleich zu kaufen. Unabhängig davon dürfte ein Stück des Scores von mehreren Hunderten Millionen Menschen auf der ganzen Welt bekannt sein: auf dem veröffentlichten Soundtrack heisst das Lied „Samba mah nà“, berühmter ist es heute als „Mah nà mah nà“, das zunächst als Singleauskopplung des Film-Soundtracks in Nordamerika Erfolge feierte und später durch die Nutzung in der „Sesamstraße“ und bei den „Muppets“ weltberühmt wurde. Hier reinhören.
Sich empören und sich aufgeilen!
Das autoritäre Weltbild, das SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? transportiert, ist meiner Meinung wenig lustig. Zusätzlich zum Grauen des eigentlichen Films kam bei der Sichtung dazu, dass ein großer Teil des Saals über weite Strecken der Vorführung lachte. Sicher, es handelte sich – ich hoffe es zumindest! – um größtenteils ironisches Gelächter, vielleicht auch um einen Versuch, mit diesem unfassbaren Knüppel fertig zu werden. Aber ob Ironie wirklich das richtige Mittel ist, um sich mit diesem Film auseinanderzusetzen, wage ich zu bezweifeln. Für mich gibt es keinen Zweifel: SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES? ist ein schrecklicher, scheußlicher, niederträchtiger, hundsgemeiner Film. Ein Film, der Ideologiekritik an Rape-and-Revenge-Exploitern, Vigilanten-Reißern und Kannibalenfilmen wie die reinste Farce aussehen lässt. Ein infames Meisterstück des antihumanistischen Kinos.


Samstag, 29. Juli


ab 13.00 Uhr

UN UOMO DA RISPETTARE (Ein achtbarer Mann)
Regie: Michele Lupo
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1972, 112 Minuten (deutsche Fassung)
Der Meistereinbrecher Steve (Kirk Douglas) kommt aus dem Gefängnis und möchte zu seiner Ehefrau Anna (Florinda Bolkan) zurück. Doch seine ehemaligen Auftraggeber wollen ihn zu einem neuen Coup zwingen. Zusammen mit dem flüchtigen Zirkusakrobaten Marco (Giuliano Gemma) bereitet er sich vor.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Auf dem 4. Terza Visione wurde mehrmals diskutiert, wie viel Melodrama eigentlich in anderen Filmen außerhalb des als „das Melodrama des Festivals“ programmierten Films (Matarazzos CHI È SENZA PECCATO...) zu finden sei: etwa in dem Söldner-Rache-Actioner ROLF, oder naheliegend in INGRID SULLA STRADA, oder auch im Western LA NOTTE DEI SERPENTI. Ich denke, dass auch UN UOMO DA RISPETTARE in vielerlei Hinsicht ein Melodrama ist – ein Melodrama im Gewand eines Heist-Thrillers. Es ist die Geschichte eines Mannes, der aufgrund seiner persönlichen Obsession, den besten Coup zu drehen (die nur bedingt etwas mit den äußeren Zwängen seiner ehemaligen Arbeitgeber zu tun hat), seine Frau zutiefst enttäuscht und sich zunehmend von ihr entfremdet. Trotz einiger Action-Einlagen dürften die ersten zwei Drittel des Films für Zuschauer, die einen reinen Heist-Film erwarten, etwas enttäuschend sein. Mehr als die Vorbereitung des Heists erzählt UN UOMO DA RISPETTARE hauptsächlich von seinen drei Hauptfiguren. Das geschieht in vielen kleinen, unscheinbaren Momenten (die wahrscheinlich in angloamerikanischen Fassungen, die knapp über 90 Minuten dauern, rausgekürzt wurden): ein kurzer Moment des Eheglücks auf der Bowlingbahn, in dem Steve und Anna als harmonisches Paar gezeigt werden, wenn sie sich über Bowlingregeln unterhalten – kurz, bevor der geplante Coup ein Schatten auf das Glück wirft. Anna und Steve, die früh morgens in das Esszimmer kommen und überrascht sehen, dass Marco das Frühstück schon fertig zubereitet hat. Die heimlichen Unterhaltungen zwischen Anna und Marco: er möchte sie am liebsten anflirten, traut sich aber nicht richtig (aus Anstand oder aus Loyalität zu Steve), und sie weiß ganz genau, dass er das möchte – und so reden die beiden in Floskeln um die etwas unangenehme Situation herum.
Hier, in den Figuren, baut sich eine melancholische, leicht fatalistische Atmosphäre auf, und die wird nur noch verstärkt von der Tatsache, dass wir uns in Hamburg im Spätherbst befinden: eine graue, monochrome Stadt, über die sich ein hartnäckiger grauer Nebelschleier von der Alster gelegt hat. Dazu kommt der brüterische, leicht dissonante Score Ennio Morricones (hier ein Ausschnitt). In den ersten zwei Dritteln scheint UN UOMO DA RISPETTARE statisch – dabei ist der Film nur zutiefst melancholisch. Von den letzten, hochintensiven zehn Minuten abgesehen ist diese Melancholie aber ätherisch, irgendwie da, aber doch nicht unmittelbar zu greifen – keine bleierne Schwere wie bei den späten Melvilles. Das ist auch der Grund, warum die Actioneinlagen (vor dem großen Heist) nicht deplatziert wirken, sondern wie eine wohltuende Ruhepause. Und was für Actionszenen das sind! Eine wüste Keilerei in einer Nebenstraße, bei der beide Prügelnden ihr Treiben schließlich nach Durchbruch einer Windschutzscheibe im Inneren eines Autos einfach fortsetzen. Eine noch wüstere Prügelei, bei der ein kompletter Weinladen zu Bruch geht. Und schließlich diese Autoverfolgungsjagd der Extraklasse, bei der gar das Auto eines unbeteiligten Autotransporters mit den vier Rädern nach oben auf dem Dach eines der Verfolgungsautos landet.
UN UOMO DA RISPETTARE erzählt auch vom Triumph des Menschlichen – im Guten wie im Schlechten. Das akustische Sicherheitssystem der Hochsicherheitsbank wird überlistet, weil es ein Computer ist und dieser ist auf die Geräusche hin programmiert, die ein Einbrecher typischerweise macht – nicht auf die Klänge von Mozarts 40. Sinfonie. Der Coup selbst glückt, aber der Gesamtplan scheitert natürlich ebenso wegen des menschlichen Faktors – das wird in einer absolut verblüffenden und schmerzhaften Ellipse vorbereitet, die (wenn es bis dahin nicht ohnehin schon vollkommen offensichtlich war) deutlich macht, wie unglaublich gut und wie dramaturgisch und emotional präzise dieser Film inszeniert ist.
Am Ende bleibt nur bittere Erkenntnis, Verlust, Schmerz – und der wahrscheinlich bittersüß-traurigste Film des Festivals.



ab 15.30 Uhr

LA SPOSINA (Kleine Braut, was nun?)
Regie: Sergio Bergonzelli
Italien 1976, 92 Minuten
Die sexuell freizügige Chiara heiratet den erfolglosen Schriftsteller Massimo. Dieser bestand während der Verlobung darauf, vor der Ehe keinen Sex zu haben, und nach der Eheschließung wird klar, warum: er ist impotent. Chiara setzt alle Hebel in Bewegung, um Massimo zu heilen.
Wir müssen uns diesen Film als einen Film vor der Ära des Viagra vorstellen. Aber wir leben ja heute. Und wie gerne hätte ich den Film gesehen, der von Gary Vanisian angekündigt wurde: einen Film über eine absolute und bedingungslose Liebe, die sich über alle Hindernisse hinweg behauptet. Ich glaube, LA SPOSINA hätte mir in diesem Fall richtig gut gefallen.
Doch so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen. Das Spiel der beiden Hauptdarsteller Antinesca Nemour und Carlo De Mejo wirkte für mich eher zweckmäßig als wirklich inspiriert – ich sah keine Funken zwischen den beiden sprühen. So entwickelte sich LA SPOSINA als eine Aneinanderreihung mehr oder minder komischer Vignetten. Zum Beispiel soll eine Prostituierte Massimo wieder „richten“. Das geht zunächst schief, weil Massimo sich aus Versehen einen Transvestiten nach Hause holt. Die weibliche Prostituierte, die Chiara schließlich höchstpersönlich aussucht, landet nach mehreren Manövern und Verwechslungen mit Massimos schrulligem Bruder im Bett (was sie aufgrund ihrer starken Kurzsichtigkeit nicht merkt) – an und für sich eine witzige Szene mit einem extrem guten Timing, aber eben auch etwas mechanisch ausgeführt. Genau so wirkte für mich auch LA SPOSINA insgesamt: wie eine nette „commedia sexy e slapstick“, witzig und mit einem stets perfekten Timing, aber eben nicht der angekündigte ultimative und existentielle Film über bedingungslose Liebe. 
Ich bin mir nicht völlig sicher, aber ich glaube, eine der wichtigsten Nebendarstellerinnen des italienischen Genrefilms, die in Aberdutzenden von Filmen an prominenten Stellen zu sehen war, tauchte (ausgerechnet bei diesem Festival!) erst hier, bei LA SPOSINA, zum ersten Mal auf (oder habe ich sie bei UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA übersehen?). Die Rede ist von der obligaten Flasche J&B-Whisky.



ab 20.00 Uhr

INGRID SULLA STRADA (Ingrid auf der Straße)
Regie: Brunello Rondi
Italien 1973, 96 Minuten
Die Finnin Ingrid flieht von zu Hause und reist quer durch Europa nach Süden, um in Rom als Prostituierte zu arbeiten. Sie freundet sich rasch mit der Arbeitskollegin Claudia an, die ihr die Eigenheiten des römischen Rotlichtmilieus erklärt – und von ultrabrutalen Neonazis „protegiert“ wird, die Ingrid von Anfang an nicht mögen.
Das 4. Terza Visione probierte sich durch verschiedene Härtestufen des Melodramas – und INGRID SULLA STRADA gehört definitiv zur ziemlich harten Stufe.
Die Titelfigur, wild entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, beginnt gleich in dem Zug, der sie nach Süden fährt, damit, sich zu prostituieren und bevor der Kontrolleur überhaupt zu ihr kommt, hat sie schon ein so erkleckliches Sümmchen verdient, dass ihr der Fahrtkartenpreis herzlich egal ist. In Rom angekommen gibt es erst einmal eine lange, lange, lange Fahrt durch die Stadt in der Pferdekutsche, zusammen mit ihren künftigen Arbeitskolleginnen (und hier lernt Ingrid Claudia kennen). Die Prostituierten unterhalten sich, reißen Witze, lachen, erzählen vom Leben. Einige potentielle Kunden oder einfach nur Schaulustige fahren auf dem Moped nebenher, plaudern mit, bekommen wüste Sprüche oder Witze an den Kopf geworfen, lachen darüber oder hauen beleidigt ab. Und der alte Pferdekutscher lenkt das Pferd mit leicht amüsierter Mine weiter, aber ohne einzugreifen. Eine tolle Szene.
Danach verschwimmt das ganze für mich. Möglicherweise bin ich kurz weggenickt. Zweifelsohne war ich gedanklich viele Minuten auf Durchzug und nahm kaum etwas vom Film richtig wahr. „Aufgewacht“ bin ich schließlich dann, als der Anführer der Neonazi-Zuhälter (gespielt von Pasolini-Stammdarsteller Franco Citti) vor versammelter Mannschaft einen der ihren, der öffentlich ein bisschen zu viel geplaudert hat, foltert und schließlich die Zunge herausschneidet. Anschließend wird Ingrid von der Bande verschleppt, mit Heroin betäubt und gruppenvergewaltigt. Dann verschwimmt der Film wieder – bevor Ingrid sich auf einem Steinbruch von herunterprasselndem Gestein erschlagen lässt.
Da mich bei INGRID SULLA STRADA meine Sinne etwas im Stich ließen, mag ich nicht wirklich etwas abschließendes zu diesem Film sagen. Daher vielleicht einige Worte zu Brunello Rondi. Der gebürtige Lombarde wirkte bei zehn Fellini-Filmen zwischen 1954 (LA STRADA) und 1980 (LA CITTÀ DELLE DONNE) zunächst als Produktionsdesigner, später als Autor und „künstlerischer Berater“ mit. Bei drei Rossellini-Filmen (FRANCESCO GIULLARE DI DIO, EUROPA ’51 und ERA NOTTE A ROMA) arbeitete er in ähnlichen Funktionen mit. In seiner politischen und künstlerischen Ausrichtung stand Rondi jedoch Pier Paolo Pasolini am nächsten: sein erster Film als Regisseur 1962 war eine Verfilmung des Pasolini-Romans „Una vita violenta“ – mit Franco Citti (damals noch künftiger Pasolini-Stammdarsteller) in der Hauptrolle. Rondis Regiearbeiten waren wohl ein Balanceakt zwischen sozialkritischem Melodrama und derber Exploitation. Darunter gibt es PIÙ TARDI, CLAIRE, PIÙ TARDI (1968), dessen Inhaltszusammenfassung wie eine VERTIGO-Variation klingt oder PRIGIONE DI DONNE (1974), der wie der Titel verspricht ein Women-in-Prison-Reißer ist.



ab 22.30 Uhr

ROLF (Der Tag des Söldners)
Regie: Mario Siciliano
Italien 1984, 93 Minuten
Der Ex-Söldner Rolf lebt zurückgezogen an einem tunesischen Badeort mit seiner Freundin Joanna. Die trügerische Idylle des traumatisierten Soldaten wird gestört, als seine Ex-Kumpanen auftauchen und ihn zu einer neuen Arbeit als Drogenschmuggler überreden wollen. Als Rolf ablehnt, prügeln sie ihn halb tot, vergewaltigen und ermorden später Joanna. Dann beginnt Rolfs Rachefeldzug.
In seiner wunderbaren Filmeinführung bezeichnete Sano Cestnik ROLF als das eigentliche Melodrama des Festivals, als „die harte Stufe des Melodramas“, als „Macho-Melodrama“, in dem nicht eine Frau ihren Schmerz ausweint, sondern ein Mann seinem Schmerz mit Kugeln Ausdruck verleiht. Ja, ROLF ist ein düster-pessimistischer Söldner-Film, ein knüppelharter Rape-and-Revenge-Exploiter, ein schlafwandlerisch-zarter Liebesfilm, eine ultra-abgeranzte Sleaze-Bombe, eine provokante filmische Aufarbeitung italienischer Kolonialverbrechen, eine christlich-mystisch-esoterische Passions- und Erlösungsgeschichte – kurz: ein hartes Melodrama in der Tat! Nicht umsonst wählte Mario Siciliano für diesen, seinen letzten Film (und was für ein letzter Film!) als englisches Pseudonym „Marlon Sirko“.
In den ersten 20 bis 30 Minuten war der Reichtum dieses merkwürdigen Films noch nicht für mich erkennbar, ja ROLF wirkte sogar wie ein etwas dahin geschluderter, stümperhafter B-Actioner. Augenscheinlich war nur, wie unfassbar antiklimaktisch und aufreizend langsam dieser Film inszeniert ist. Sano bezeichnete das später in einem privaten Gespräch als Bresson-artig und tatsächlich: ROLF ist womöglich der Söldner-Rache-Actioner, den Robert Bresson nie gedreht hat.
Denn dann kamen die Blutegel! Oder besser gesagt: zunächst wird Rolf von seinen ehemaligen Söldner-Kumpanen übel zugerichtet, nachdem er sich wiederholt weigert, an deren Drogengeschäften teilzunehmen. Die Prügelei dauert unangenehm lange. In einem Moment schlägt einer der Truppe Rolf drei, vier, fünf, vielleicht sechs Mal auf die gleiche Weise ins Gesicht. Schließlich bleibt Rolf halbtot liegen, nachdem seine Kumpanen weitergezogen sind. Langsam, sehr langsam robbt der Verletzte auf sein Auto zu. Langsam, sehr langsam bereitet er sich darauf vor, sein ausgerenktes Knie wieder einzurenken, indem er sein verletztes Bein auf den Vorderreifen seines Geländewagens hievt. Das Einrenken geht schnell vonstatten, doch Rolf wird ohnmächtig und fällt ins nahe liegende Gebüsch. Dort fangen Blutegel an, auf ihn herumzukriechen. Das dauert ziemlich lange. Sehr lange. So lange, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und anfängt, zu irritieren. Und dann dauert es noch einmal einen Tick länger.
Nun... In PSYCHO mag Alfred Hitchcock seine (scheinbare) Protagonistin nach 40 Minuten von einem Irren in Frauenkleidung abstechen lassen. Aber in welchem Film sieht man schon, dass der Held nach knapp einem Drittel von Blutegeln aufgefressen wird? Diese Bresson‘ianische (?) Szene ist zweifelsohne sehr mysteriös und regt zu vielseitigen Deutungen an (wie ich in einem Gespräch später – siehe unten – eruieren konnte). Ist das vielleicht ein Reinigungsprozess: die Blutegel saugen die Schuld aus Rolf? Oder wird Rolfs Körper in dem Moment zu einem Sinnbild einer kaputten Welt, auf der sich viele Figuren kriechend tummeln – nur um später von einem aufgewachten und wütenden Rolf brutal zerquetscht, weggerissen und weggeworfen zu werden? Ich selbst neige dazu, das ganze als symbolische Todesszene zu sehen: Rolf stirbt – und wacht dann wieder auf, als Wiedergeborener oder vielleicht als Untoter? Als er sich im Dunkeln (ohnmächtig ist er bei hellem Tageslicht geworden) wieder aufrichtet, scheint das Mondlicht direkt in seine Augen, und seine Pupillen wirken, als wären sie komplett weiß – als wäre Rolf ein Untoter, ein Jenseitiger aus Fulcis L‘ALDILÀ. Das passt vielleicht auch besser als die Vorstellung, dass Rolf im engeren christlichen Sinne wiederauferstanden ist: denn die großen Leiden des Titelprotagonisten, die verschiedenen Etappen seiner Passionsgeschichte, fangen erst dann richtig an!
Vielleicht ist auch nur die Chronologie aus Passion, Tod, Wiederauferstehung und Erlösung durcheinander gebracht. Die Leiden einer Actionfigur mit christlich angehauchter Ikonographie zu überhöhen, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches im Actionkino. Aber das derartig explizit zu tun, ist schon sehr speziell. Rolf erledigt dann zwar seine Ex-Kumpanen, bekommt dabei aber so einige Kratzer ab. Grund genug für ihn, um sich mehrfach in dramatische Kreuzigungsposen zu werfen. Um erschöpft und vor Schmerzen der Ohmacht nahe liegend von einem mitfühlenden Freund gehalten zu werden – für eine schaurig-schöne Pietà-Pose. Um von einem seiner Ex-Kumpanen Wundmale in die Hände geschossen zu bekommen – aus denen er später in dramatischen Momenten auch üppig blutet.
Rolf verschwindet gleich zwei mal für etwas längere Zeit aus dem Film: das erste Mal, nachdem er niedergeprügelt und von Blutegeln aufgefressen wurde. Da bleibt er erst mal eine ganze Weile liegen, während die kaputte Welt um ihn herum auch ohne ihn weiterhin kaputt sein kann. Später begleiten wir für längere Zeit seinen Antagonisten, also den „Chef“ seiner ehemaligen Söldner-Kameraden, der ein wenig aussieht wie ein unbekannter, älterer und schwer derangierter Halbbruder Uwe Ochsenknechts. Er trinkt in der lokalen, abgeranzten Bar, wo früher Joanna arbeitete, spricht dann auf der Straße eine Prostituierte an. Dabei wird er von allen als das angesehen, als das auch wir als Zuschauer ihn sehen: als völlig rohen, vertierten Rüpel, der jederzeit durch die Decke gehen kann. In einem späteren Gespräch meinte Sano, dass der Antagonist nichts anderes sei als ein Spiegelbild Rolfs. Das Spiegelbild Protagonist-Antagonist ist im Genrekino ja nichts außergewöhnliches, aber in ROLF führt das zu besonders bitteren Erkenntnissen. Im Prolog des Films sehen wir, wie weiße Militärs in einem afrikanischen Dorf ein Massaker anrichten. Später erinnert der Antagonist Rolf mehrmals daran, dass er, Rolf, „der Allerbeste von uns“ war. In einem späteren Flashback sehen wir, wie Rolfs Antagonist bei einem Massaker in einem Dorf von seinen Kameraden kleine Kinder in die Luft werfen lässt, um sie dann in der Luft abzuschießen. Das ist sicher der Gipfel oder der Tiefpunkt, den die Welt in ROLF erreicht. Rolf will da nicht mehr mitmachen, rettet im Vorbeigehen ein paar Dorfbewohner und möchte aussteigen. Eine Affekthandlung des „Besten von uns“? Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene ist selbstverständlich infam, völlig geschmacklos, unerträglich – vielleicht die perfekte Darstellungsform für infame, geschmacklose und unerträgliche Gewalttaten, auch wenn viele Filmzensurbehörden dieser Welt (ich denke naheliegender Weise an eine bestimmte Institution mit Sitz in Wiesbaden) Gewalt lieber in „geschmackvoller“ und „nicht grausamer“ Weise dargestellt mögen.
In dieser Szene könnte man die Frage stellen, ob Exploitationfilme alles dürfen? Sicher ist, dass ROLF ein Film ist, der keinen Spaß macht. Er ist kein Unterhaltungsfilm. Er ist schroff, absichtlich hässlich, will abstossen. Als möglicher Vergleich fiele mir James Glickenhaus‘ THE EXTERMINATOR ein: ein ähnlich monströser, hässlicher, qualvoll langsamer, dezidiert „anti-unterhaltsamer“ und absolut merkwürdiger Abgrund von einem Film. Wer sich an den Gewalttätigkeiten in ROLF ergötzt, stellt nicht so sehr das Funktionieren der Filmzensurbehörden als das Funktionieren von Wertevermittlung in Schule, auf Arbeit, in der Familie, in der Gesellschaft (bzw. seine eigene geistige Gesundheit)in Frage. ROLF ist ein kranker Film über die kranke Seite der Menschheit, und er macht das, was kranke Organismen bisweilen tun: alles auskotzen. Dominik Grafs und Hans Schmids These, wonach der italienische Genrefilm die Niederträchtigkeiten des Zweiten Weltkriegs auskotzte, scheint mir bei ROLF noch mehr zuzutreffen als beispielsweise bei Sergio Martinos Gialli. Die Kinder-Wurf-und-Abschieß-Szene wirkt im Lichte italienischer Kolonialverbrechen noch mal doppelt so bitter.
Ich könnte noch vieles über ROLF schreiben. Über unvergessliche Szenen. Über einen Held, der in einem prolligen Sakko mit zurückgezogenen Ärmeln zusammen mit seiner Freundin durch eine arabische Marktgasse spaziert, um seinen Dämonen zu entkommen. Über derangierte Ex-Kämpfer, die zum Kampfeinsatz im Wald als einzigen Proviant eine Feldflasche voll Kokain mitnehmen. Über diese Bildkompositionen, die Rolf und Joanna miteinander in einem Bild vereinen, aber dabei dennoch schmerzhaft trennen. Über gruselige, unvergessliche Weitwinkelbilder der verschwitzt-lüsternen Vergewaltigergesichter. Über unfassbare, pathetisch-schmalzige Disco-Scores. Über erfrischende Duschen unter einem Wasserfall, die die Schuld doch niemals wegwaschen werden.
ROLF ist, vielleicht dicht gefolgt von ARCANA, zweifelsohne der schwierigste Film des Festivals.


ab etwa 00.30/1.00 Uhr – im Hotel

Es gab einmal eine Zeit, da war Samstag Abend bzw. Nacht die Zeit, wo auf RTL oder RTL2 oder SAT1 oder ProSieben irgendwelche B-Actionfilme mit wenig Ansehen, aber manchmal recht hohem Interesse liefen. Auf VOX liefen um die Zeit dann meist Soft-Erotikfilme – manchmal sogar italienische. Wie gut hätte das als Tagesabschluss gepasst, um von ROLF wieder ein wenig herunterzukommen. Aber nein: heutzutage laufen auf besagten Kanälen um die Zeit diese fürchterlichen „Qualitätsserien“. Das einzige leicht genre-ig bzw. exploitig angehauchte, was ich fand, war der Showdown von DR. NO (den ich unter den James-Bond-Filmen eh nicht so mag) auf ARD. Doch die HD-Auflösung war dermaßen absurd totgefiltert, dass das aussah, als würden Sean Connery und Ursula Andress durch eine vorabendliche Telenovella hopsen. Nach einigem erfolglosen Herumprobieren an der Bildeinstellung habe ich es dann aufgegeben. Selbst das Fernsehen ist gentrifiziert. Deprimierend...


Sonntag, 30. Juli

ab etwa 11.00/11.30 Uhr

Ich fühle mich hundeelend. Ein bisschen wie Rolf gegen Ende des Films, bloß ohne das erhabene Gefühl, ein christlicher Märtyrer zu sein. Die Halsschmerzen, die sich gestern Nachmittag angekündigt haben und gegen Abend fest eingenistet haben, sind noch stärker geworden – zusammen mit Kopfschmerzen und einem allgemein fiebrigen Gefühl. Und dann kommt auch noch diese fürchterliche Sommerhitze hinzu (die gefühlt jeder Mensch auf der Welt außer ich unglaublich großartig findet)...
Frühstücken... In einer Bäckerei bestelle ich einen Milchkaffee zum Mitnehmen, dazu ein Schoko-Croissant. Von der Verkäuferin folgt das obligate „Kommt noch etwas dazu?“. Hhm... ja, warum denn nicht: „Ein Milchbrötchen mit Schokolade?“. Die Verkäuferin bricht in ein kurzes, herzliches Lachen aus. Freut sie sich, dass ich nach den basischen Komponenten eines Frühstücks noch eine Schlemmerei dazu nehme? Egal, ich fühle mich ein bisschen besser. Das war eben wie in kurzer Moment in einem Film, wo die Zeit einfach mal kurz stehen bleibt.
Auf der Straße begegnet mir später eine Gruppe von Co-Zuschauern (darunter einer der Ankündiger/Filmeinführer), und sie alle grüßen mich. Haben die schüchterne Figur wieder erkannt, die sich immer etwas geduckt am Rand aufhält, aber bei jedem Film da war. Ja, jetzt ist die Welt wieder ein bisschen in Ordnung.


ab 13.00 Uhr

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO (Mit Faust und Degen)
Regie: Riccardo Freda
Italien / Frankreich / Spanien 1963, 92 MInuten (deutsche Fassung)
Der Künstler Benvenuto Cellini (Brett Halsey) treibt sich durch die italienische Renaissance und malt, erschafft Skulpturen, beklaut Konkurrenten, macht schönen Frauen (Claudia Mori, Françoise Fabian) schöne Augen, prügelt sich, kämpft wacker im Namen des Papstes (Bernard Blier), fälscht Münzen und erlebt überhaupt viele Abenteuer.
So ein Schlingel aber auch, dieser Cellini! Alles, was bei dem ähnlich gelagerten, nämlich „familienfreundlichen“ und „leichten“ Abenteuerfilm LA RIVOLTA DEI SETTE formelhaft wirkte, ist es bei IL MAGNIFICO AVVENTURIERO im Grunde genommen genau so. Doch hier kommt dann dieses Quäntchen Inspiration hinzu, das aus schmalzig frisierten Beaus richtige Helden, aus gestelltem Gerangel mitreissende Kampfszenen, aus gestelzten Dialogen zwischen männlichen und weiblichen Figuren witzige kleine Screwball-Vignetten, aus augenscheinlichen Pappmaché-Kulissen prunkvolle Fürstenhallen oder urige Wirtsstuben, aus Witzen auf Schulbub-Niveau krachende Schenkelklopfer und aus einem total fadenscheinigen (Nicht-)Drehbuch einen fetzigen audiovisuellen Flow macht. IL MAGNIFICO AVVENTURIERO macht zumindest in der ersten Stunde auch alles richtig, damit man als Zuschauer wirklich einen Riesengaudi hat. In der letzten halben Stunde hing der Film etwas durch – vielleicht hing ich persönlich auch etwas durch. Aber wenn Cellini am Schluss seinen „Perseus“ in eine Tonform gießt und schließlich abklopft, fühlt sich das wie eine kleine persönliche Renaissance an: man fühlt sich so erfrischt wie wiedergeboren.



ab 16.15 Uhr

LA FINE DELL‘INNOCENZA (Das Ende der Unschuld / Annie Belle – Zur Liebe geboren)
Regie: Massimo Dallamano
Italien / UK 1976, 86 Minuten (deutsche Fassung)
Die Internatsschülerin Annie Belle reist mit ihrem Vater Michael nach Hongkong. Dort merkt der Zuschauer, dass Michael nicht ihr biologischer Vater, sondern ihr „Sugar Daddy“ ist. Während der ältere Herr wegen eines Devisenbetrugs in den Knast landet, vergnügt sich Annie Belle mit verschiedenen europäischen Bekanntschaften beiderlei Geschlechts, dann mit dem Stuntman Chen, begegnet einer Mönchin und sucht nach sich selbst.
Eine klassische Coming-of-Age-Geschichte mit ganz viel Coming und, da Daddy Michael recht schnell aus dem Film verschwindet, wenig Age. Die Geschichte einer jungen Frau, die nach und nach entdeckt, dass die Welt wesentlich komplexer ist, als sie den Anschein hat. Zumindest am Anfang weiß sie, dass „Daddy“ nicht wirklich „Daddy“, sondern eben „Sugar Daddy“ ist. Dann muss sie auf die harte Weise lernen, dass Angelo und Linda, das wohlhabende Traumpaar, das sie empfängt, keineswegs so traumhaft ist. Hinter der gutbürgerlichen Fassade steckt in Angelo ein manipulativer Vergewaltiger, während Linda schließlich so besitzergreifend wird, wie es Michael nie war. Der idealistische Künstler Philip täuscht ihr die Liebe seines Lebens vor, und verkauft sie dann nach einigen Tagen idyllischer Liebe innerhalb von 30 Sekunden für ein bisschen Geld an Angelo. Der Stuntman Chen mag mit seinem Motorrad wie ein Draufgänger wirken, doch wenn es in der Spielhölle brenzlig wird, rennt er auch schnell davon und ist ansonsten ein Muttersöhnchen, der sich auf dem Hausboot von seinen Eltern bekochen lässt. Die mysteriöse, erotische Mönchin wirkt aus der Ferne sehr mysteriös und erotisch – aber letztendlich hat sie für Annie auch nur Glückskeksweisheiten parat. Die wahrscheinlich größte Wandlung macht wohl tatsächlich Michael durch, wenn er am Schluss erkennt, dass er Annie verloren hat, dass sie das Recht auf ihr eigenes Leben hat, dass sie alleine weiterziehen muss.
Trotz einiger Ruppigkeiten ist LA FINE DELL‘INNOCENZA ein Film, der ein bisschen wie seine Heldin voller Neugier und einer gewissen Naivität die Welt entdeckt. So, wie Annie von einer Etappe zur nächsten läuft und positive wie negative Erfahrungen sammelt, sammelt Dallamanos Emmanuelle-ploitation-Film unvergessliche Momente. Die zwei älteren Damen, die in der Kunstgallerie im Angesicht einer phallisch geformten Plastik Philips staunen. Annie und die Mönchin, die nackt durch das Wasser waten, ihre Kleidung schützend über den Kopf haltend – und später (freilich ganz sexlos) zusammen in einer Hütte übernachten, die so dermaßen offensichtlich als Käfig inszeniert wird (warum, ist mir allerdings bis heute unklar – würden die italienischen Dialoge hier einen Bezug herstellen?). Und natürlich die (das behaupte ich jetzt mal so) wahnwitzigste Montage aus wildem Sex im Pferdestall und Eisschlecken, das im italienischen Kino der 1970er Jahre zu sehen war – und wenn es die tatsächlich anderswo gibt: dort sieht man danach bestimmt keine drei, vier, fünf ausgeleckte Eiswaffeln in einem Aschenbecher liegen.
Wie so viele Filme bei diesem Festival ist LA FINE DELL‘INNOCENZA nicht nur toll fotografiert, sondern hört sich auch großartig an. Das Trio aus Fabio Frizzi, Franco Bixio und Vince Tempera hat ganze Arbeit geleistet: der Score ist nicht nur eine tolle musikalische Untermalung der Bilder, sondern wird auch immer wieder dramaturgisch genutzt, um etwa die Mönchin (ob sie jetzt auf der Leinwand zu sehen oder nur in Annies Gedanken zu spüren ist) mit einem eigenen Motiv einzuführen. Wer reinhören möchte: hier gibt es den Titel-Song, und hier das Titel-Motiv in instrumentaler Version.

ab ca. 18.00 Uhr

Essenszeit! Nach dieser fernöstlich angehauchten Delikatesse war es eigentlich klar, was es nun geben musste: etwas Asiatisches. Deshalb ging ich auch schnurstracks zu dem ersten asiatischen Imbiss, der in der Schweizer Straße beim Filmmuseum zu finden war. Meine Bestellung ist schon aufgegeben, ist sitze draußen an einem Tisch am Rand des Bürgersteigs – und da kommen schon die nächsten Co-Zuschauer, denen LA FINE DELL‘INNOCENZA Lust auf asiatische Köstlichkeiten gemacht hat. Der Platz war begrenzt und deshalb setzten sich drei von ihnen zu mir an den Tisch (einige andere Co-Zuschauer des Festivals fanden drinnen Platz und bekamen hoffentlich auch ein gutes Essen). Nachdem ich mich vorstelle („Hallo, ich heiße David, ich komme aus Jena und ich bin filmsüchtig“) lerne ich also Sano Cestnik, Sven Safarow und dessen Freundin (die ich hier nicht namentlich nenne, weil sie sich als „nicht filmsüchtig“ outete und vielleicht im Rahmen der deutschsprachigen Film-Blogosphäre lieber anonym bleiben möchte?) auch persönlich kennen. Als ich mich dann auch als permanenter Gastautor von „Whoknows Presents“ vorstellte, gab es bei Sano und Sven wohl den gleichen „Aha, das ist diese Person also in live“-Effekt wie bei mir in den letzten Festivaltagen. Bei rotem Thai-Curry, Hähnchenspießen in Erdnuss-Sauce, Frühlingsröllchen und einer Suppe sprachen wir über LA FINE DELL‘INNOCENZA (über die Entwicklung der Figur Michaels), ROLF (über die Bedeutung der Blutegel), LA SPOSINA (über das dem Film zugrunde liegende Gesellschafts- und Weltbild), INGRID SULLA STRADA (über die Bedeutung der satirischen oder/und der vielleicht unfreiwillig komischen Momente), über Lucio Fulcis vielfältiges Schaffen, über Mario Siciliano, über Massenverbrechen, Verdrängung und das Weiterleben mit und unter Tätern. Sowohl Sano (der ROLF einführte) wie auch Sven (der UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA einführte) meinten, dass die vierte die bislang „härteste“ Terza-Visione-Ausgabe sei: weniger „unschuldige“ Filme, mehr „harte Autorenfilme“.
Irgendwann zwischendurch merkte ich, dass die Halsschmerzen und Kopfschmerzen, die mich zur Mittagszeit fast in den Wahnsinn trieben, vorbei waren. Merke: Filme und Filmgespräche sind also gut für die Gesundheit!



ab 20.00 Uhr

LA NOTTE DEI SERPENTI (Die Nacht der Schlangen)
Regie: Giulio Petroni
Italien 1969, 107 Minuten
In einem mexikanischen Dorf planen einige Notabeln unter der Führung des korrupten Sheriffs Hernandez (Luigi Pistilli) einen Mord, um eine Erbschaft zu erschleichen. Der heruntergekommene, versoffene und verlachte Gringo Luke (Luke Askew) wird damit beauftragt – mit dem Hintergedanken, ihn hinterher wieder loszuwerden. Als Luke sein Mordopfer erblickt, macht er einen Rückzieher, wird wieder nüchtern und wendet sich gegen die Intriganten.
Oh, du zarte, bittersüße Melancholie!
Der Regisseur Till Kleinert (DER SAMURAI) führte LA NOTTE DEI SERPENTI in einem überaus schönen, stellenweise fast poetischen Beitrag ein, und wies darauf hin, auf einige Details genau zu achten: so unter anderem etwa darauf, dass viele Menschen in diesem Film „aus Versehen“ getötet werden, weil offenbar der menschliche Körper zu zart für diese harte Wüstenlandschaft sei; darauf, dass der Held (Luke) eine eigene Melodie hat, die seine Zerbrechlichkeit, seine Verletztheit und Verletzlichkeit, seine Trauer ausdrückt; darauf, wie sich die Beziehung zwischen der Bordellbetreiberin Dolores und dem Sakristan Jesus-Maria als quasi unabhängiger kleiner Nebenplot entwickelt (beide Cousins – und Teilnehmer der Intrige). Kleinert wies von sich, ein Spezialist des Italowestern zu sein, aber auf seine überaus wertvollen Beobachtungen muss ich noch zu sprechen kommen.
Zunächst ist da das Nichts! Die erste Hälfte von LA NOTTE DEI SERPENTI ist Stillstand, Gelähmtheit, endloser Fatalismus und viel, viel, viel Melancholie. Tatsächlich ist der Film extrem gut und ökonomisch erzählt, weil er kleine Informationsfetzen zur gesponnenen Intrige nach und nach enthüllt. Aber passieren tut erst einmal wenig. Natürlich: Hernandez tut sich mit einem Banditen am Rande der Stadt zusammen und fordert von den Teilnehmern der Intrige, die er eigentlich zunächst nur aufdeckt, Schutzgeld. Ja, der Held wird herumgeschubst und landet bei einer alleinerziehenden Schamanin. Ja, Dolores und Jesus-Maria zanken sich rum. Aber alles schwelgt zunächst in dieser lähmenden Melancholie, die dieses halbtote Kaff am scheinbaren Ende einer verdammt trostlosen Welt im Würgegriff festhält. So konsequent antiklimaktisch dürfte kaum ein Film sein, der in den 1960er Jahren als Western vermarktet wurde. 
Das widerspiegelt nicht zuletzt den Helden. Luke ist der Al Roberts des Italowesterns (Al Roberts: der Protagonist des ultra-fatalistischen film-noir-Schmuckstücks DETOUR) – bloß noch wesentlich betrunkener, viel schweigsamer, lethargischer und mit schlimmeren Verbrechen auf dem Kerbholz. Hier wird Luke nicht in einem heruntergekommenen Café angeschnauzt, sondern aus einer Hängematte geworfen und dazu gezwungen, für ein bisschen Tequila die Stiefel des örtlichen Schlägers zu putzen – um schließlich eine Trinkflasche voller Pisse zu bekommen und dann verprügelt zu werden, als er ausspuckt. Luke, der uns mit einer sanften, Gitarrenballade als großer Verletzter präsentiert wird, bewegt sich in der ersten Filmhälfte nur, wenn er von anderen geschubst wird oder Alkohol in Aussicht ist. Ansonsten liegt, döst, lümmelt er sturzbetrunken oder schwerverkatert herum. Der Film tut es ihm im Grunde gleich. Es ist in der ersten Hälfte sehr schwer, in LA NOTTE DEI SERPENTI einen Western zu erkennen – es ist eher ein Melodrama im Snooze-Modus.
Ein gewaltiger Ruck geht durch Luke, als er merkt, dass er Manuel, den etwa zehnjährigen Sohn (bzw. Adoptivsohn) der Schamanin töten soll, die ihm Unterkunft gewährt hat. Den Auftrag hat er nicht für Geld, nicht mal für Alkohol, sondern deshalb akzeptiert, damit er selbst nicht getötet wird (und wurde diesbezüglich selbst reingelegt). Luke wacht auf: er schwört Nüchternheit, zieht seine alte Revolverheld-Pistole wieder an, tauscht seinen zerlöcherten Sombrero gegen seinen alten Revolverheld-Hut ein (die stark lädierten Sandalen, die er anfangs trägt, trägt er bis zum Schluss – wahrscheinlich hat er seine Revolverheld-Stiefel irgendwann einmal gegen Tequila eingetauscht). Mit ihm wacht der ganze Film auf: Lukes sanft gezupftes, leise melancholisches Motiv ertönt nun mit einer lauten, Italowestern-typischen Elektrogitarre voller Pathos (der Credit für den wunderbaren Score geht hier an Riz Ortolani). Die Szene, in der Luke sein altes Revolverheld-Kit zu dieser Musik anzieht, ausprobiert, schließlich Manuel die Fuselflasche rausbringen lässt, um sie dann zielsicher (betrunken konnte er vorher kaum gerade schießen) abzuknallen, war ohne Zweifel der ganz große emotionale Höhepunkt des Festivals. Die geradezu plumpe Symbolhaftigkeit des ganzen war fast zu viel des Guten, aber wie heißt es so schön: „too much of a good thing can be wonderful“. Ein Teil des Publikums brach in spontanen Applaus aus, als Luke die Flasche kaputt schoss. Die Szene gibt es hier zu sehen (und immer wieder zu sehen).
Mit Luke „erwacht“ auch der komplette Film und verwandelt sich in einen echten Italowestern mit Shootouts, Explosionen, Duells. Nach der bittersüßen Melancholie ist das fast schon ein bisschen schade, aber es ist auch höchst konsequent. Nationsgründung und -werdung, Frontier-Mythen, Zivilisierung des Westens – all das spielt keine Rolle in LA NOTTE DEI SERPENTI. Giulio Petroni erschafft, ja „erfindet“ quasi das Genre „neu“ aus einer Atmosphäre existentieller Melancholie heraus, die mit typischen Westernmotiven erst einmal nicht viel zu tun hat.
Der Punkt mit dem versehentlichen Töten, den Till Kleinert angesprochen hat, ist noch mal eine Erwähnung wert. In LA NOTTE DEI SERPENTI werden tatsächlich mindestens vier Personen „aus Versehen“ getötet. Ein Postkutscher wird gleich in der ersten Minute des Films so geohrfeigt, dass er mit seinem Kopf unglücklich an seine Nachtkommode stößt. Luke schlägt einen der Intriganten, offensichtlich ohne Absicht, ihn zu töten, aber einer der Schläge tötet ihn schließlich. Jesus-Maria schließlich erschlägt oder erwürgt Dolores offenbar im Affekt (man sieht aber die Todesursache nicht). Und schließlich hat Luke auch in seiner Vergangenheit einen Menschen „aus Versehen“ getötet. Hitchcocks Postulat aus TORN CURTAIN, nämlich dass es unfassbar schwer ist, mit bloßen Händen einen Menschen zu ermorden, wird hier in sein Gegenteil verkehrt: Menschen sterben wie die Fliegen, obwohl oftmals nicht mal eine Tötungsabsicht vorhanden ist. Hier wäre neben der existentiellen Verzweiflung der Hauptfigur wieder ein Bezug zu DETOUR, wo der Protagonist Al Roberts – wohlgemerkt in seiner eigenen, subjektiven Erzählung – „aus Versehen“ zwei Menschen tötet. Vielleicht hat LA NOTTE DEI SERPENTI hier ein ganz anderes Verhältnis zu Gewalt als andere Italowesterns. Zumindest aus den Leone-Westerns fällt einem dieses Bild ein: jemand wird verprügelt, gefoltert oder kaltblütig ermordet und irgendeine Figur (nicht unbedingt der Täter, sondern vielleicht ein Zuschauer aus der Täterbande) quittiert das mit einem sadistischen Lachen. In Petronis Film hat niemand Spaß an Gewalt. Nachdem Luke sich geweigert hat, den jungen Erben Manuel zu ermorden, wird der Tavernenbesitzer von Hernandez mit der Aufgabe betraut. Dem wird bei dem Gedanken, seinen jungen Helfer (Manuel hilft bei ihm Saubermachen in der Taverne) zu töten, ganz mulmig. Er zögert lange, schiebt das ganze auf, schließlich lockt er den Jungen unter fadenscheinigen Argumenten zur Pferdetränke und versucht ihn darin zu ertränken. Dabei weint der Wirt bittere Tränen. Als Luke ihn erwischt und erschiesst, um Manuel zu retten, könnte man fast Erleichterung in seinem Gesicht sehen. Ein Gewalttäter mit sadistischem Lachen oder mit melancholischem Weinen – letzteres ist vielleicht noch wesentlich unerträglicher anzusehen.
Ich habe jetzt schon eine ganze Menge zu LA NOTTE DEI SERPENTI, dem besten Film des diesjährigen Terza Visione geschrieben, aber wir müssen auch mal bald weitermachen mit dem telepathischen Insektenmädchen. Nur so viel: nach einer extrem ernüchternden Wiedersichtung von Leones PER UN PUGNO DI DOLLARI im Mai dieses Jahres hatte ich Italowesterns in der Liste meiner Sichtungsinteressen etwas heruntergestuft. Jetzt weiß ich: man muss jenseits der drei großen Sergios (Leone, Corbucci, Sollima) nur das Richtige finden. Und genau das hat das Orga-Team des Terza Visione auch getan. Dafür ein großes Dankeschön!
P.S.: Habe ich schon erwähnt, wie großartig Luke Askew als Luke eigentlich ist?



ab 22.30 Uhr

PHENOMENA
Regie: Dario Argento
Italien 1985, 107 Minuten
Irgendwo in den Schweizer Bergen bringt ein irrer Serienmörder junge Teenager-Mädchen um. Die junge Amerikanerin Jennifer (Jennifer Connelly) wird in ein Internat in Tatortnähe untergebracht. Sie ist Schlafwandlerin und kann telepathisch mit Insekten kommunizieren. Von dem Entomologen McGregor (Donald Pleasance) ermutigt bricht das Mädchen zusammen mit einer Leichenfliege auf, um den Mörder zu finden.
Mein erster Argento auf großer Leinwand. Vielleicht hatte ich zu große Erwartungen, aber die ultimative Epiphanie war das nicht. PHENOMENA ist nicht PROFONDO ROSSO, oder SUSPIRIA, oder OPERA. Aber vielleicht hatte Terza Visione bis zu diesem Zeitpunkt schon im positiven Sinne zu sehr auf mich abgefärbt. Die Vergleichsebene war ja nicht „mittelmäßiger Allerlei-Film digital auf Leinwand/DVD-Sichtung VS. Argento auf großer Leinwand“, sondern „tolle Filmauswahl in 35mm auf großer Leinwand UND zusätzlich Argento auf großer Leinwand“. Als Kino-Erlebnis haben mich der Bava und der Fulci und der Questi und der Petroni mehr beeindruckt.
Was aber für Terza Visione insgesamt gilt, trifft auch auf PHENOMENA zu: wenn ich jammere, dann ausschließlich auf hohem Niveau. Da ich gerade beim Jammern bin: PHENOMENA gilt bisweilen als Argentos Insektentelepathiequatsch-Film und deshalb für manche als der Beginn vom Ende in Argentos Filmografie. Ich hätte mir im Gegenteil noch mehr Insektentelepathiequatsch in diesem Film gewünscht. Weniger Mördersuche und mehr Szenen der Liebe und der Zärtlichkeit zwischen Jennifer und den Insekten. Aber das ist wie gesagt Jammern auf hohem Niveau.
Anderswo wird PHENOMENA als emotionaler und zärtlicher als die bekannteren Argento-Filme bezeichnet (hier etwa in der tollen Besprechung von Oliver Nöding) bzw. als Film, in dem Argento schon rein sozialgeografisch seine Komfortzone verlässt (hier in der Besprechung von André Malberg, der wahrscheinlich auch bei der Vorführung anwesend war, bei Eskalierende Träume). Dazu vielleicht eins von mir: PHENOMENA enthält die wahrscheinlich gewalttätigste Szene in Argentos mir bislang bekanntem Werk. Es ist der Moment, wo Jennifer merkt, dass in ihrem Zimmer geschnuppert wird, ihre Briefe durchgelesen werden, alle „Indizien“ willkürlich gegen sie verwendet werden, die autoritäre Obrigkeit des Internats und ihre verständnislosen, gemeinen Mitschülerinnen eine unheilvolle Allianz gegen sie gebildet haben. Als sie wegläuft, rennen ihr Mitschülerinnen nach und werfen ihr (verbal und gar auch physisch) Sachen an den Kopf. Nun, hier werden nicht in ultra-stilisierter, hyper-ästhetisierter und formalistischer Weise Körper mit spitzen Gegenständen zerstört, sondern auf vergleichsweise nüchterne, triviale Weise eine Seele angegriffen. Das ist qualvoller anzusehen. In nur wenigen Minuten und einfachen, unvergesslichen Bildern hält der von einigen gerne als weltfremder und gefühlloser Formalist geschmähte Argento die Essenz von Schüler-Mobbing emotional ergreifender und lebensnaher fest als ich es bislang je anderswo in künstlerischer Form erlebt habe – ohne das ganze dabei im eigentlichen Sinne überhaupt zu „thematisieren“. Wie präzise er dabei auch zeigt, dass diese verfluchten Lehrer selbstverständlich auf Seiten der Mehrheit sind, und das Gefühl der Erniedrigung und Isolation, die die Opfer haben, perverserweise zu deren Ungunsten instrumentalisieren, weil das so verdammt bequem ist. Nur eine kurze Nebenszene (zugegeben: mit kleinem Vorlauf)! In einem Argento-Giallo mit Insektentelepathiequatsch! Vielleicht zeigt dieser Moment mehr als alles, wie großartig Argento ist.
Als ob das schon nicht genug wäre, findet das ganze noch einen Ausgang in der großen, wunderbaren Insektenbeschwörung. Jennifer, sichtlich wieder vollkommen souverän, hell erleuchtet, mit einem frischen Wind, der ihr die Haare aus dem Gesicht weht, sagt „I love you!“. Sie sagt es zu den Insekten, aber natürlich wirkt es nach den Niederträchtigkeiten, die sie eben erlebt hat, auch wie die Manifestation eines fast übermenschlichen Vergebungswillens. Toll! (hier der letzte Teil dieser Szene)


Mit dem Dritten sieht man besser

Einer der Filmvorführer des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt soll die Organisatoren nach einem Test im Angesicht von ROLF gefragt haben, ob sie denn überhaupt keine „Untergrenze“ hätten. Oh, doch! Die Qualitäts-„Untergrenze“ war ziemlich hoch. Ich glaube, dass viele viele viele Dutzende Menschen das gleiche sagen können wie ich: das 4. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms war eine richtig schöne Veranstaltung mit einem extrem gut zusammengestellten Programm.

Gefehlt hat vielleicht ein Piratenfilm... Es war das erste Terza-Visione-Festival, das nicht im Nürnberger Komm-Kino, der Heimbasis der Eskalierenden Träumer und Freunde, stattfand, sondern im Deutschen Filmmuseum – und irgendwie werde ich das Bild nicht los, dass Abenteurer der abseitigen Filmkultur einen Panzerkreuzer der offiziösen deutschen Filmmarine gekapert haben. Ein Marsch durch die Institutionen, bei dem nicht die Eskalierenden Träumer sich institutionalisierten, sondern die Institutionen zum Eskalieren und Träumen gebracht wurden. Vielleicht sehe ich das alles zu sehr aus der Perspektive der cinematographisch desertifizierten Region Thüringen, aber wenn Eskalierende Träumer für ein komplettes Wochenende entscheiden können, was in einem offiziell-offiziösen Deutschen Filmmuseum im Programm lief und damit auch noch so durchschlagenden Erfolg hatten, dann gibt es doch Hoffnung für die Filmkultur in Deutschland. Weiter so!


Persönliches Ranking

Ganz ganz groß

LA NOTTE DEI SERPENTI

ROLF

UNA LUCERTOLA CON LA PELLE DI DONNA

ARCANA


Herausragend

UN UOMO DA RISPETTARE

PHENOMENA

DIABOLIK

LA FINE DELL‘INNOCENZA


Sehr gut

IL MAGNIFICO AVVENTURIERO


Ganz okay

INGRID SULLA STRADA

CHI È SENZA PECCATO...

LA SPOSINA


Geht so

LA RIVOLTA DEI SETTE


Nicht klassifizierbar – mit großer Vorsicht zu behandeln

SVEZIA INFERNO E PARADISO/SCHWEDEN – HÖLLE ODER PARADIES?