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Montag, 21. Mai 2018

No Future in Riga? Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 2)


4. Festivaltag
Samstag, 21. April


ca. 12 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

NOVEMBER
Regie: Rainer Sarnet
Estland / Niederlande / Polen 2017
115 Minuten, DVD
Estland, so ungefähr im 19. Jahrhundert? Das Bauernmädchen Liina liebt den Bauernjungen Hans – doch der hat nur Augen für die traurige, schlafwandelnde Tochter des lokalen deutschen Gutsherren. Als ob das alles nicht schwierig genug wäre, tummeln sich noch sogenannte Kratts (beseelte Gegenstände), wahlweise nationalistische oder hormonstaugeplagte Landarbeiter, Walddämonen, wiederkehrende (aber gänzlich friedliche) Untote und die personifizierte Pest durch diese Geschichte.
© goEast Filmfestival
Erneut hatte ich Pech, diesen Film in schummeriger DVD-Qualität auf einem suboptimalen Bildschirm zu schauen, denn NOVEMBER ist zunächst einmal eine schier überwältigende Bildgewalt in Schwarzweiß! Überhaupt ist er ein überbordender Film: voller visueller Ideen, voller Nebenplots, voller humoristischer Einfälle, voller hemmungsloser Melodramatik – fast zu voll.
Steampunk trifft auf traditionelle estnische Folklore trifft auf eine übergroße melodramatische Liebesgeschichte trifft auf barock-grotesk-derben Humor mit Fäkalnote. Alles geht hier völlig informell, nahtlos, ohne sichtliche Brüche ineinander über. Bedrohliche Kratts, bestehend aus großen Sicheln und Heugabeln, marschieren wie Roboter durch die Landschaft, entführen Kühe und schmeissen diese durch die Luft. Nächtens besuchen die toten Verwandten die im Diesseits zurückgebliebene Familie, nehmen dann ein Dampfbad, bei dem sie sich in Hühner verwandeln. Die Bauern besuchen die Messe, doch die Hostien schlucken sie nicht, sondern spucken sie vor den Toren der Kirche gegen Bezahlung einem Schamanen in die Hand, der damit Walddämonen bekämpfen möchte. Der Walddämon, der nächtens immer an einer Wegkreuzung auftaucht und der für ein paar Tropfen Blut und die Seele einen Kratt belebt (Kratts sind nämlich nicht böse, sondern werden meist als Haushaltshilfen gebraucht) – dabei aber von den Bauern getäuscht wird, die unter der Hand Beeren zerdrücken, statt sich in den Finger zu schneiden. Während ein Landarbeiter aus Stuhl, Achselschweiß und Schamhaaren ein Liebesbrot bäckt (das geht allerdings gehörig schief!), entwickelt sich ein Schneemann-Kratt zu einem wahren Poeten, einem Dichter Venezianischer Liebestragödien bzw. zu einem Liebesgedicht-Ghostwriter für den verliebten Hans...
Jede Episode von NOVEMBER ist wunderbar gefilmt und doch schafft es der Film nicht wirklich, aus seinen Einzelteilen mehr als eine Summe zu bilden. Gleich zwei Personen, die den Film zwei Mal gesehen haben, meinten, dass sich dieser Eindruck bei wiederholter Sichtung noch verstärkt. Ja, NOVEMBER krankt ein wenig an Überambitionierung, will vielleicht zu viel auf einmal und seine fast zwei Stunden wirken letztlich zu lang, aber das ist doch Jammern auf relativ hohem Niveau. Ich habe während meines Aufenthalts in Wiesbaden viele tolle estnische Filme aus der sowjetischen Zeit gesehen – NOVEMBER ist sicherlich kein Meisterwerk, aber er bestätigt doch, dass das estnische Kino nach wie vor quicklebendig und spannend ist. Und vor allem ist Rainer Sarnet ein Name, den man sich merken sollte. Der Film hat jedenfalls den Hauptpreis der Jury beim diesjährigen Festivalwettbewerb gewonnen.


ORATORIUM PRO PRAHU („Oratorium für Prag“)
Regie: Jan Němec
Frankreich / USA / ČSSR 1968
26 Minuten, DVD
Dieser Film sollte eine Art Bestandsaufnahme der Tschechoslowakei im Prager Frühling werden. Doch dann marschierten sowjetische und Warschauer-Pakt-Einheiten in das Land ein...
© goEast Filmfestival
Wieder ein Film aus der kleinen Reihe zu „Prag 68“ (den ich wegen Terminkonflikten letztlich nicht bei einer richtigen Projektion sah). Die ersten zwei Drittel von ORATORIUM PRO PRAHU erzählen zunächst eine nicht völlig unkritische, aber doch recht optimistische Erfolgsgeschichte des Prager Frühlings. Begeisterung zunächst für die Abschaffung der Zensur im März. Dann aber auch ein Blick auf die zunehmenden größer werdenden gesellschaftlichen Forderungen, die noch viel mehr fordern (unter anderem wird, soweit ich mich erinnere, auch das Manifest der 2000 Worte erwähnt). Und vor allem einige sehr interessante Bilder einer höchst lebendigen alternativen Hippie-Kultur, die sich mit sozialistischer Kultur gewissermaßen verbindet: Blumenkinder, Jugendliche, die in Woodstock nicht weiter aufgefallen wären, helfen auf dem Acker bei einer Ernte mit.
Vom Stadtportrait wandelt sich ORATORIUM PRO PRAHU zu einem echten Kriegsfilm (was der Sprecher auch selbst explizit sagt). Eine eigentlich harmlose Fahrt durch die Gegend, auf der Suche nach weiteren Bildern für das Prag-Portrait, wird zum Schock, als erste Panzer durch die Straßen fahren. Dann die ersten Massenproteste. Schließlich Straßenschlachten und regelrechte Kriegsszenen. Aus einem Portrait des blühenden Prags wird eine Todeshymne. Eine Niederlage.

Es war sehr klug von mir, ORATORIUM PRO PRAHU direkt vor dem nächsten Film zu schauen. Was für ersteren als Niederlage endet, ist für letzterer der Beginn einer siegreichen Kehrwende und erfolgreichen Abwehr einer Katastrophe.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ („Tschechoslowakei, das Jahr der Herausforderungen“)
Regie: Anatolij Kološin
Sowjetunion 1969
68 Minuten, digital (tschechischsprachige Fassung)
Der Prager Frühling wurde im August 1968 durch den Einmarsch sowjetischer und Bündnis-Truppen abgewürgt. Der Film ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ erklärt, warum der Einmarsch richtig war.
Auf manche Filme habe ich mich ganz besonders gefreut – dass ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ allerdings eher ein Ausdauertest und eine Grenzerfahrung sein würde, war mir allerdings klar.
Formal gesehen funktioniert ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wie ein gnadenlos voran rückender, alles zermalmender sowjetischer Panzer. Die Erzählung: kapitalistisch-faschistische Verräter in der Tradition Hitlers haben sich die Tschechoslowakei gekrallt, um hier ein kapitalistisch-faschistisches System inklusive Todeslagern zu errichten, das Land dem Warschauer Pakt zu entreissen und an den Westen zu übergeben, während die Amerikaner sich an die Grenze heranmachten, um in den Bereich des Warschauer Pakts einzufallen – und als die Sowjetische Armee mit Bündnispartnern intervenierte, um Abhilfe zu schaffen, wurde diese von feigen Provokateuren hinterrücks angegriffen...
Nun... so ganz explizit sagt das der Film niemals, sondern er arbeitet (wie zum Beispiel die CSU, Vorsitzende „liberaler“ Parteien oder die Besorgti-Braunis) mit begrifflichen und visuellen Assoziationen, die nie wirklich ausgesprochen werden, die aber doch jeder verstehen soll. Die intellektuellen Vordenker des Prager Frühlings? Waren, so der Film, bestimmt wohlwollende Leute, die nur ein bisschen reformieren wollten. Wie ihr „liberalisierter Sozialismus“ aussehen sollte? An dieser Stelle werden kurz hintereinander Portraits der Reformvordenker montiert, als letzter Ota Šik – und danach folgen gleich Bilder von Nazi-Massenaufmärschen und KZ-Leichenbergen. Dies ist mir als ganz besonders abscheulich, geschmacklos und pietätlos in Erinnerung geblieben. Ota Šik, der Vordenker der Wirtschaftsreformen, war jüdischer Herkunft, kämpfte während des Weltkriegs aktiv gegen die Nazi-Besatzung, gehörte seit 1940 der Kommunistischen Partei an und war jahrelang im KZ Mauthausen inhaftiert. Er hatte mit anderen Worten wahrscheinlich mehr moralische Autorität und eine längere Zugehörigkeit zum Kommunismus als jene, die ihn ab 1968 diskreditierten.
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ ist praktisch in seiner ganzen Laufzeit so krude und so assoziativ in seiner Machart: er springt von Thema zu Thema, ohne wirklich irgendetwas abzuschließen. Das ist auch nicht nötig, wenn er die Zuschauer erst einmal völlig überrollt hat. Fast vollkommen pausenlos spricht eine ganze Horde von Off-Kommentatoren (jedes Mal, wenn irgendjemand zitiiert wird, kommt gefühlt eine neue Stimme), während eine irrsinnig schnelle Flut an Bildern den Betrachter zuschüttet. Es gibt hier keine Ruhepausen, keine Momente der Introspektion, keine einzige Sekunde Luft, in der man als Zuschauer mal kurz durchatmen könnte. In seiner solchen Intensität nicht fünf, zehn oder zwanzig, sondern fast 70 Minuten durchzuhalten, zeugt von einer gnadenlosen Konsequenz. Wer als Zuschauer danach nicht besiegt auf dem Boden liegt...?
ČECHOSLOVAKIJA, GOD ISPITANIJ wurde als russischsprachiger Film für die Sowjetunion gedreht, doch es wurden dann auch Exportversionen in den entsprechenden Sprachen gezogen (unter anderem gab es auch eine deutsche Fassung für die DDR). Die tschechischsprachige Version, die wir sahen, war gemäß der Kuratorin wohl wesentlich „softer“ als die originale russische Version, sowohl, was den Textinhalt wie auch den Sprachton der Sprecher betrifft. Als etwas Weichgespültes habe ich den Film allerdings keineswegs empfunden.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

JAUSMAI („Gefühle“)
Regie: Almantas Grikevičius, Algirdas Dausa
Sowjetunion (Litauen) 1968
90 Minuten, DCP
Litauen während der Nazi-Besatzung: ein verwitweter Bauer flieht zusammen mit seinem Baby vor einer drohenden Konfiskation seines Viehs und landet im Haus seines Zwillingsbruders und dessen Frau – mit der er einst eine Affäre hatte...
© goEast Filmfestival
Ich erwähnte im ersten Teil meines goEast-Berichts einen besonders hölzernen Darsteller, der in meinen gesichteten litauischen Filmen immer wiederkehrte. Nun... Regimantas Adomaitis spielte jetzt in JAUSMAI nicht nur eine der vielen zweiten Geigen, sondern den fliehenden Bauern, die Hauptrolle. Ich könnte nichts Böses über ihn sagen: er hat halt ein nettes Gesicht, das er meist recht nett in die Kamera reinhält, das mich allerdings völlig kalt gelassen hat.
Wie überhaupt insgesamt JAUSMAI recht unbemerkt an mir vorbeigeflossen ist. Ohne tödliche Langeweile, aber auch definitiv ohne Höhepunkte, die einen hochrücken ließen. Früh im Film fährt der flüchtige Bauer zusammen mit seiner einzigen Kuh und mit einem Wehrmachtssoldaten in einem Boot über ein Stück Meer. Der Wehrmachtssoldat ist dem Litauer gefolgt, um ihn eigentlich aufzuhalten, aber so richtig viel Elan hat er nicht reingelegt: de facto ist er jetzt ein Deserteur. Zwei Männer, ein Baby und eine Kuh auf einem Boot – mit einem anderen Hauptdarsteller und vielleicht auch einem anderen Regisseur (warum nicht den Esten Kaljo Kiisk bei einem kleinen Ausflug nach Litauen) hätte ich wohl liebend gerne diese unglaubliche Situation in einem abendfüllenden Film gesehen. JAUSMAI hat daraus herzlich wenig gemacht. Später kommt also der Witwer mit seinem Baby an, der Wehrmachtssoldat verduftet und das ganze wird zum Gebrüder-Loveinterest-Zwist-Melodrama.
Nebst dem Herzschmerz-Plot gibt es auch noch Geschichten mit den lokalen Machthabern, von denen ich nicht sicher bin, ob sie Kommunisten sein sollten. Vielleicht wird die „Banalität“ von JAUSMAI hier gewissermaßen zu einer Stärke: wie in NIEKAS NENORĖJO MIRTI spielen lokale Handlungsmöglichkeiten eine größere Rolle als ideologische Grabenkämpfe.
Am Ende flieht der Witwer, trotz des Verbots der lokalen Machthaber (wahrscheinlich doch die Sowjetmacht), mit einem Boot... Schnitt. Texttafel „Zehn Jahre später“. Dann kehrt der Bruder nach 10 Jahren Lager zurück, um seinen Bruder und seine mittlerweile zu Teenagern angewachsenen Kinder zu besuchen. Ende. Punkt. Für einen Film mit dem Titel „Gefühle“ floß er doch recht unbemerkt an mir vorbei.


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? („Ist es leicht, jung zu sein?“)
Regie: Juris Podnieks
Sowjetunion (Lettland) 1986
78 Minuten, DCP
Nach einem Konzert der später verbotenen Rockband Pērkons verwüsten einige Jugendliche auf der Rückfahrt nach Riga einen ganzen Zugabteil. Der einzige volljährige Verhaftete wird zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ausgehend von Interviews mit mehreren der Konzertbesucher zeichnet der Dokumentarfilm ein vielseitiges Portrait der lettischen Jugend zwischen Tschernobyl, Punk und Afghanistankrieg.
© goEast Filmfestival
Nē! – So lautet die Antwort auf die Titelfrage. Die Perestroika mag zwar begonnen haben, aber es ist verdammt schwer, anno 1986 in der Sowjetunion zu leben und dabei jung zu sein. Schwer, teilweise sogar regelrecht beschissen – aber nicht vollkommen hoffnungslos.
Fangen wir mit dem ersten an. Die Breschnew-Clique ist von einer reformbereiten Politikergeneration an der Spitze der UdSSR abgedrängt worden, aber auf lokaler Ebene tritt der sowjetische Staat weiterhin repressiv und intolerant gegenüber Abweichungen auf. Junge Männer werden, ohne eine große Wahl zu haben, in die Armee eingezogen (was das bedeutet, wurde im litauischen Dokumentarfilm VĖLIAVA IŠ PLYTŲ schon gezeigt) und dann auch nach Afghanistan in einen Krieg geschickt, an den niemand mehr glaubt. Delinquenten werden zu harter Zwangsarbeit verurteilt. Jugendliche, deren Kleidungs- und Frisurstil nicht „normgemäß“ aussehen, werden ruppig von Polizisten abgeführt.
Besonders in der zweiten Hälfte kehrt VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? immer wieder zu zwei jungen Afghanistan-Veteranen zurück. Für ein lettisches Publikum war es nichts Fremdes, aber gerade in Westeuropa ist es natürlich interessant, noch einmal explizit erwähnt zu bekommen, dass keineswegs nur Russen gekämpft haben und dass das Trauma von „Sovietnam“ auch in die Peripherie reichte. Einer der beiden Interviewten hat ein dauerhaftes Leiden am Bein davon getragen, aber beide sind auch seelisch vom Krieg markiert. Schwere Traumata sind nicht ersichtlich, aber beide erzählen, dass sie große Mühe haben, in ihren Alltag zurück zu kehren. In einem sehr emotionalen Moment trifft einer der beiden Veteranen einen Offizier aus dem Kriegseinsatz wieder und umarmt ihn stürmisch, weil er für ihn die einzig greifbare Bezugsperson geblieben ist.
Tschernobyl hängt ebenfalls über das Leben junger Letten, aber das wird nur kurz erwähnt. Die moralische Orientierungslosigkeit und die ökonomische Unsicherheit wiegen schwerer. Die Perestroika-Reformer mögen ein erhöhtes Tempo in Richtung kommunistisches Paradies eingeschlagen haben, aber die Bilder von Riga, die VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? präsentiert, sind von Verfall geprägt: marode Gebäude, ein trist-graues Stadtbild. Die Jugend möchte gerne einen guten Job, gutes Geld verdienen, Familien gründen – an Kommunismus glaubt niemand. Sie, von der man annehmen könnte, dass sie von der Perestroika profitieren könnte, wird zum ersten Opfer der drakonischen, aber völlig kopflos umgesetzten neuen Anti-Alkohol-Politik: des dionysischen Rausches weitestgehend beraubt flüchten die jungen Menschen zunehmend in die Drogensucht...
VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ist auch ein sehr düsterer, oft trostloser, trister, pessimistischer und harter Film – aber eben nicht nur. Regisseur Juris Podnieks spricht nicht über die Rigaer Jugend, und tatsächlich spricht er so gut wie gar nicht: der Film enthält keinen „neutralen“ Off-Kommentar, sondern ausschließlich die Stimmen der interviewten Jugendlichen und jungen Menschen (höchstens eine Zwischenfrage ist ab und an zu hören); er lässt seine Protagonisten selbst ihre eigene Geschichte erzählen. Das verleiht VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? große Unmittelbarkeit, Direktheit, Wärme und Intimität.
Und die Protagonisten lassen sich auch nicht entmutigen: wenn die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, ihrem Leben nichts bieten kann, dann holen sie sich ihr schönes Leben eben selbst. VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? beginnt mit einer feiernden Menge von Jugendlichen bei einem Rockkonzert, die sich nicht davon beeindrucken lassen, dass einige anwesende Erwachsene sauertöpfisch und zur Wache aufgestellte Polizisten skeptisch reinschauen. Im Publikum dieses Konzerts hat sich Podnieks einige der zentralen Protagonisten für seine Interviews ausgesucht: Stimmen, die immer wiederkehren. Und von dieser recht großen Veranstaltung wirft der Film einige Schlaglichter auf kleinere Subkulturen, damit viele verschiedene lettische „Jugenden“ portraitierend.
Die Punk-Subkultur florierte nicht nur in den großen russischen Städten Moskau und Leningrad, sondern ebenso in Riga. Auch auf den Straßen der lettischen Hauptstadt machen sich jugendliche Bürgerschrecks mit wildem Kleidungs- und Frisierstil dran, die wohldenkenden und gesetzestreuen Bürger (Bourgeois? in einem sozialistischen Land!) mit ihrem Aussehen zu schockieren, und ihre „No Future“-Parolen mit Graffiti an verfallende Häuserwände festzuhalten.
Im übertragenen und wörtlichen Sinne esoterischer geht es bei den Hare Krishnas zu, die sich in Privatwohnungen zu gemeinsamen Meditationen treffen. Im Gespräch mit einem Anhänger der Bewegung kommt es zum einzigen Moment, in dem der Interviewer ganz offen Skepsis und Misstrauen ausdrückt und nachfragt, ob der unbedingte Gehorsam zum Guru nicht vergleichbar ist zum Gehorsam der Nazis zum Führer und ob er (der junge Krishna-Anhänger) auch töten würde. Es gehört zum Stil des Films, dass der Interviewte dann doch das letzte Wort hat und glaubhaft betont, dass Mord nichts im Hare-Krishna-Glauben zu suchen habe.
Weniger „subkulturell“ zeigen sich die jungen Freiwilligen einer privaten, zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich das einfache (oder doch recht umfangreiche) Ziel gesetzt hat, liegen gebliebene Bauschuttruinen in Riga zu reinigen und damit die Stadt zu verschönern. Ebenfalls nichtstaatlich-alternativ bzw. privat haben sich einige junge Filmbegeisterte zusammen getan, um abseits des Studios einen Film zu drehen. Als Kulisse dient ein verschlungener, düsterer und sehr verfallener Keller, für eine andere Szene der Strand und das Meer. Gedreht wird auf 16mm (oder gar 8mm?), schwarzweiß, und das ganze wird offenbar ein Gruselfilm, leicht kafkaesk, leicht surreal, spontan und ohne Drehbuch, „on the fly“ gedreht. Wo der gezeigt werden soll, ist scheinbar unwichtig: der Dreh an sich ist das Abenteuer. Mit hoffnungsvollen Bildern (so der junge Underground-Regisseur selbst dazu) aus dem unbenannten Film – viele Komparsen, die bis zu den Knien im Wasser stehen und hinaus in das offene Meer blicken – endet VAI VIEGLI BŪT JAUNAM?
Je mehr ich über VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? nachdenke und schreibe, umso mehr schließe ich diesen Film ins Herz. Für viele mag es vielleicht öde klingen, seinen Samstag Abend damit zu verbringen, eine Dokumentation zu sehen über lauter anonymer Menschen, die von ihrem größtenteils tristen Alltag sprechen. Und dennoch war es bislang (abgesehen von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM im Jahr 2012) mein bislang tollster Samstagabend-Film beim goEast: zum Weinen, Lachen, Staunen, Lernen, Mitfühlen und Abrocken. Übrigens war der Film tatsächlich so etwas wie ein echter Blockbuster in der Sowjetunion: gemäß dem englischen Wikipedia-Eintrag sahen 28 Millionen Zuschauer diesen Film in den Kinos, und er wurde in 85 Ländern exportiert. Kein Wunder, dass VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? ganze zwei Sequels nach sich zog, nämlich VAI VIEGLI BŪT...? („Ist es leicht ... zu sein?“) im Jahr 1997 und VAI VIEGLI...? PĒC 20 GADIEM („Ist es leicht ... 20 Jahre danach?“) im Jahr 2010. Beide Fortsetzungen, in dem einige der Interviewten aus dem ersten Film (nunmehr natürlich älter) erneut befragt wurden, hat Antra Cilinska inszeniert, die zunächst als Schnittassistentin Juris Podnieks' begonnen hatte. Juris Podnieks selbst starb im Sommer 1992 mit nur 42 Jahren bei einem Tauchunfall. Mit ihm verschwand wohl eine der interessantesten Figuren des lettischen Dokumentarfilms, ein Regisseur, der nicht nur über lettische Jugendliche, sondern auch über die letzten Veteranen der Roten Lettischen Schützen, Dirigenten, usbekische Demonstranten, armenische Erdbebenopfer, Tschernobyl-Heimkehrer, die baltische Folk- bzw. Protestlied-Bewegung oder über die Straßenkämpfe zwischen lettischen Unabhängigkeitsaktivisten und sowjetische Soldaten (dabei starben zwei Kameramänner der Filmcrew) Filme drehte. Podnieks wurde dank des durchschlagenden Erfolgs von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und durch Koproduktionsverträge mit dem britischen Fernsehen relativ wohlhabend und gründete noch in der späten Perestroika-Ära sein eigenes, unabhängiges Filmstudio, das er auch ausländischen Filmcrews zur Nutzung vermietete. Das Juris Podnieks Studio blieb auch nach seinem Tod bestehen und wird nun seit vielen Jahren von Antra Cilinska geleietet.
Und jetzt noch eine letzte kleine Bemerkung: Nach der Sichtung von VAI VIEGLI BŪT JAUNAM? und damit auch der höchst interessanten Ausschnitte des Films, die einer der Interviewten drehte, hoffe ich sehr, dass es irgendwann bei einem zukünftigen goEast-Festival mal eine Retrospektive zum sowjetischen Underground-Kino der 1980er Jahre geben wird (ein Film von Evgenij Jufit wurde vor ein oder zwei Jahren gezeigt, doch leider zu einem Termin nach meiner Abreise).


5. Festivaltag
Sonntag, 22. April

11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

TLMOČNIK („Der Dolmetscher“)
Regie: Martin Šulik
Slowakei / Tschechien / Österreich 2018
113 Minuten, DCP
Der pensionierte slowakische Dolmetscher Ali Ungár (Jiří Menzel) fährt nach Wien, um dort aus Rache den ehemaligen SS-Sturmbannführer Kurt Graubner zu erschießen, der einst im Zweiten Weltkrieg unter anderem Ungárs Eltern ermorden ließ. Doch in der Wohnung trifft er nur dessen Sohn Georg (Peter Simonischek), der ihn darüber informiert, dass Kurt Graubner gestorben ist. Nach einigen Streitigkeiten brechen die beiden in die Slowakei auf, um die Tatorte des Vaters bzw. des Elternmörders zu erkunden.
© goEast Filmfestival
TLMOČNIK ist ein Wohlfühl-Film mit kleinen Holocaust-Spitzen. Wahrscheinlich könnte ich ewig schreiben, warum dieser Film verwerflich ist, weil er den Holocaust für ein relativ klischeehaftes Stück Gefühlsduselei missbraucht. Aber dagegen sprechen zwei Sachen: erstens seine deutlich erkennbare Ernsthaftigkeit oder besser gesagt, seinen erkennbaren guten Willen. Und zweitens die Tatsache, dass TLMOČNIK als reines Schauspielerkino fantastisch ist.
Ja, mehr als alles andere lebt TLMOČNIK von seinem großartigen Schauspieler-Duo Menzel und Simonischek. Der Österreicher hat sicherlich die einfachere und auch dominantere Rolle, denn sein Georg Graubner ist ein recht lauter und derber Bonvivant, der auch schon vor um vier gerne mal einen hebt, leichten Flirts nicht abgeneigt ist und überhaupt ein ziemlicher Spaßvogel ist (was ihm im Laufe des Films immer mehr vergeht – oder deckt sich nur eine Melancholie auf, die er schon immer hatte). Menzel als etwas steifer, pedantischer und gänzlich humorloser Dolmetscher hat die etwas unsichtbarere und weniger spektakuläre Rolle, die er mit viel Würde und leiser Melancholie spielt. Beide zusammen sprengen fast die Leinwand.
Da vergisst man auch gerne, dass TLMOČNIK eben doch ein recht einfach gestrickter Tränendrücker ist, das über den Holocaust und den Umgang mit ihm kaum etwas zu sagen hat und der dem Zuschauer an manchen Momenten etwas zu sehr mit seiner Rührmusik die Tränen aus den Augen prügeln wollte. Ein sehr starker Moment bleibt mir aber doch in Erinnerung. Ungár und Graubner besuchen auf ihrem Trip durch die Slowakei auch Ungárs Tochter. Bei einem Zweiergespräch sagt Georg, dass es bestimmt genau so schwer sei, Kind eines Holocausttäters wie Kind eines Holocaustopfers zu sein. Das kennt man sowohl aus gewissen deutschen Filmen wie auch aus manchen Debattenbeiträgen zur Geschichtskultur, diese Relativierung à la „Der Krieg war ja ganz schrecklich und eigentlich sind wir alle Opfer“. Ungárs Tochter lässt das Georg aber keineswegs durchgehen und befragt ihn in einem sehr scharfen Ton, ob er sein insgesamt behagliches Leben gleichsetzen will mit ihrem Leben im Wissen, dass fast ihre gesamte Familie kaltblütig ermordet wurde und ihrem Unwissen, ob ähnliches vielleicht nicht noch mal passieren oder wiederkehren könnte. Da bleibt der sonst eloquente Georg sprachlos...
Vielleicht werde ich meine Bedenken, TONI ERDMANN zu schauen (seit VICTORIA habe ich eine sehr heftige Grundskepsis gegen überhype-te deutsche Filme entwickelt), doch überdenken.


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Filmblock „Pärn, Nukufilm & Co. – Kleines Estland, große Animation II“

AJA MEISTRID („Die Meister der Zeit“)
Regie: Mait Laas
Estland 2008
72 Minuten, DCP
Späte 1950er Jahre: Vor den Toren Tallinns entsteht im Studio Nukufilm eine besonders experimentierfreudige Keimzelle des Animations- und Stop-Motion-Films. An dessen Spitze stehen die Regisseure Elbert Tuganov und Heino Pars, die zu den Großmeistern des estnischen Animationsfilms avancieren.
Elbert Tuganov und Heino Pars, darstellt als Stop-Motion-Puppen
© goEast Filmfestival
Der höchst sympathische Mait Laas, der beim Screening anwesend war, den Film kurz einführte und nach dem Filmblock den Zuschauern ein unvergessliches Q & A bescherte, ist kein trockener Dokumentarist, sondern gewissermaßen ein „(Enkel)kind“ der beiden portraitierten Regisseure. Die klassischen Archivmaterialien, die man in so einem Portrait-Dokumentarfilm sieht, sind zwar auch vorhanden, aber immer wieder werden Animationsszenen eingefügt, teils gezeichnet, teils Stop-Motion mit Puppen.
Tuganov und Pars gründeten in den 1950er Jahren eine Abteilung für Animationsfilm innerhalb des offiziellen Tallinn-Filmstudios. Mit diesem hatten sie offenbar wenig zu tun, sondern bezogen eine Art Sommerhaus am Stadtrand der estnischen Hauptstadt, um sich dort ganz ihren filmischen Visionen bewegter Puppen zu widmen. Dort, so der Film AJA MEISTRID, entstand eine Kommunen-ähnliche Arbeitsgemeinschaft mit einem eingespielten Team aus fähigen und experimentierfreudigen Handwerkern des Animationsfilms. Eine Kommune mit zwei Gurus an der Spitze, von denen jeder allerdings völlig eigenständig (wenn auch mit geteiltem Personal) seine Filme drehte. Tuganov sei ein eher autoritärer und strikter Regisseur gewesen, während Pars mehr auf offene und demokratische Kooperation setzte – so einige ehemalige Mitarbeiter der beiden estnischen Filmpioniere im Interview.
Die 1960er und 1970er Jahre waren die große Zeit von Nukufilm. In den frühen 1980er Jahren floh Tuganov aus der Sowjetunion und blieb erst in Spanien, dann in Westdeutschland. Eine Schmutzkampagne gegen seine Person und Schikanen durch die Behörden (ich denke darin begründet, dass er einen großen Teil seiner Schullaufbahn in den 1930er Jahren in Deutschland absolviert hat) bewogen ihn zur Flucht. In den 1980er Jahren begann im estnischen Animationsfilm auch eine Art Revolte gegen die beiden „Überväter“: eine Gruppe von jungen Regisseuren wollten noch wesentlich experimentierfreudigere und radikalere Filme drehen – eine Art „nouvelle vague“-Rebellion gegen die „Qualitätsfilmer“ Tuganov und Pars (einige dieser Filme wurden in einem anderen Kurzfilmblock gezeigt, zu dem ich es terminlich aber nicht schaffte).


PARK
Regie: Elbert Tuganov
Sowjetunion (Estland) 1966
7 Minuten, DCP
Eine Stadt bekommt einen neuen Park. Die Wegführung, wie sie sich die Planer vorgestellt haben, wird allerdings von den Spaziergängern nicht genutzt. Ständig neue Baumaßnahmen führen zu mehr Verwirrung.
PARK ist kein Stop-Motion-Film, sondern ein klassischer gezeichneter Animationsfilm. Es ist ein Film darüber, wie Pläne zur Gestaltung des öffentlichen Raumes letztendlich durch den Eigensinn des Publikums ad absurdum geführt werden, weil dieses seine Bedürfnisse gegen die Pläne letztlich durchsetzt. Konkret: wenn die Spaziergänger im Park nicht den umständlich geschlungenen Weg nutzen wollen, sondern querein durch ein Wiesenstück laufen, dann werden auch die größten Verbotsschilder nicht dagegen helfen. Klingt sperrig? Ist es aber nicht: PARK ist ein kurzweiliger und witziger Film mit einem köstlichen Humor.

PARK
© goEast Filmfestival
NAEL: Nägel, die sich in der Öffentlichkeit prügeln, werden von der (magnetischen) Polizei abgeführt
© goEast Filmfestival

NAEL („Nagel“)
Regie: Heino Pars
Sowjetunion (Estland) 1972
8 Minuten, DCP
Nägel nageln sich gegenseitig, suchen Zärtlichkeit bei großen, strammen Hämmern, betrinken und prügeln sich hemmungslos oder versuchen, Zirkuslöwen zu bändigen (letzteres eine ganz schlechte Idee!)... 
Vielleicht mag das verblüffend klingen, aber die Protagonisten von NAEL sind tatsächlich... Nägel! In vier kurzen Vignetten (die allesamt von jeweils unterschiedlichen Animateuren gefertigt wurden – hier scheint der „demokratische“ Ansatz Pars' durchzublicken) und knapp 8 Minuten wird das ganze erzählerische, erotische und humoristische Potential ausgelotet, das in verbogenen Nägeln so steckt. Es ist eine schlichte Idee, die mit großer Konzentration kurz und knackig umgesetzt wird und sogar noch mehr als PARK universell verständlich ist: statt Worten gibt es suggestive Musik und passende Ambientegeräusche. Im Grunde gibt es nicht viel mehr zu sagen. Ich empfehle: anschauen, staunen, lachen!

Das anschließende Q & A mit dem Dokumentar- und Animationsfilmregisseur Mait Laas und dem Geschäftsführer des immer noch existierenden Nukufilm-Studios Andres Mänd gehört zu den schönsten, die ich je erlebt habe. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Mait Laas als ein unglaublich freundlicher, offener, begeisterter Mensch herüberkam: witzig und smart, dabei doch bescheiden. Er sprach auf Englisch, aber er hielt ein Büchlein in der Hand: wie er erzählte, ein Band von Goethe-Gedichten, das er am frühen Nachmittag in einer Rumpelkiste in der Nähe des Caligari-Kinos gefunden hat (eine Rumpelkiste, die ich nach TLMOČNIK auch durchwühlte). Das erklärte er dann mitten während des Gesprächs, und dann schlug er eine Seite auf und las ein ganzes Gedicht auf Deutsch vor. Was das Gedicht konkret mit dem estnischen Animationsfilm zu tun hat, könne er nicht sagen, aber Goethe wird es schon wissen, und außerdem könne es nicht schaden, bei einem Gedicht inne zu halten.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

511 PARIMAT FOTOT MARSIST („Die 511 besten Fotos vom Mars“)
Regie: Andres Sööt
Sowjetunion (Estland) 1968
15 Minuten, digital
Bilder aus Kaffeehäuser Tallinns, dazwischen manchmal ein Off-Kommentar mit astronomischen Betrachtungen.
Ich würd mal sagen: 15 % Prätention, 85 % toller Film.


VIIMNE RELIIKVIA („Die letzte Reliquie“)
Regie: Grigori Kromanov
Sowjetunion (Estland) 1970
86 Minuten, HD-File
Während der Livländischen Kriege im späten 16. Jahrhundert: der adelige Hans möchte die schöne Agnes heiraten, doch die Kirche fordert, dass er eine Reliquie, die ihm sein Vater auf dem Totenbett vermacht hat, der Kirche überlässt, um die Hochzeit genehmigen. Agnes wird von Aufständischen entführt, genauer gesagt: von dem wackeren Reiter Gabriel (mit dem die Entführung eher zur Flucht wird). Die Reliquie kommt dabei auch abhanden, und einige intrigante Klerikale, der hoffnungslos verliebte und trottelige Hans sowie der hundsgemeine Ivo von Schenkenberg versuchen, Agnes und die Reliquie wieder zu bekommen. Agnes wiederum hat sich in Gabriel verliebt und macht mit den Aufständischen gemeinsame Sache. 
© goEast Filmfestival
Hui... das klingt alles fürchterlich kompliziert. Ist es irgendwie auch, aber angesichts des völlig entfesselten Kintopps, das VIIMNE RELIIKVIA auf den Zuschauer loslässt, ist die Frage nach der titelgebenden letzten Reliquie irgendwie auch die letzte, die sich der geneigte Zuschauer stellt. Bauernaufstände, Klassenfragen, antikirchliche Untertöne... bla bla bla... VIIMNE RELIIKVIA ist in erster Linie pures Attraktionskino, ein rasanter Genrefilm, der sich genüsslich in seinen stolz ausgestellten Schauwerten suhlt. Abenteuerfilm, schenkelklopfende Screwball-Komödie, garstiger Rachethriller, Gothic-Castle-Gruselfilm, Blockbuster-Actionspektakel, ein bisschen Nunsploitation – alles da, was Kino-Auge und Kino-Herz begehren.
Wirklich angefangen zu lieben habe ich den Film wohl, als Gabriel und die eher volens als nolens „entführte“ Agnes nach ihrem ersten gemeinsamen Tag auf der Flucht bei einem Gasthof ankommen. Agnes verkleidet sich mehr oder minder (eher: minder) erfolgreich als Mann, um ungesehen zu bleiben. Die beiden setzen sich an einen Tisch und werden bedient. Der vorherige Austausch der beiden machte klar, dass sich da zwei offenbar ganz gern haben und sich bereits vorsichtig beschnuppern. Aber Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Nun: zum Abendessen gibt es eine große Lammkeule für beide – so fein, dass es da Teller und Besteck gäbe, ist der Gasthof nicht. Jeder muss jeweils die Keule in die Hände nehmen und reinbeissen, um dann während des Kauens und Schmatzens die gegenübersitzende Person mit den Augen zu verschlingen. Irgendwann hält Gabriel Agnes die Keule hin, und sie beugt sich vor und beisst genüsslich rein. Mit welch gierigen Augen und hemmungsloser Laszivität sie das tut, das muss man schon selbst gesehen haben, um diesen absolut unfassbaren Moment zu glauben.
Ab diesem Zeitpunkt gab es für mich kein Halten mehr. Und tatsächlich auch keine Gründe zum Halten, denn kleine Ideen und große Schauwerte geben sich die Klinke. Ausgedehnte Prügeleien, bei denen sich zwischendurch gefesselte Beteiligte auch wieder befreien, um dann gleich wieder mit brennenden Fackeln zu werfen. Das ausgeklügelte Rohrpostsystem, das sich die kirchlichen Intriganten, der Abt und die Äbtissin, so eingerichtet haben, dass ihnen die Nachrichten auf das Schachfeld fällt. Der trottelige Hans, der trübsalblasend in seinem Badezuber sitzt und vor den Augen des Dienstmädchens ganz freudig erregt aufspringt, als er erfährt, dass er doch Agnes heiraten kann. Agnes, die von den Schergen des Superschurken Ivo von Schenkenberg (allein dieser Name: so deutsch, so böse!) festgehalten wird und mit Sklavin der Bande die Kleidung tauscht, um sich davon zu machen: mit einem Schleier vorm Gesicht ist sie getarnt, der Rest ist in einem äußerst knappen Leder-Outfit, der auch Barbarella passen würde, voll und ganz den Blicken der Bewacher (und ja: des geneigten männlichen Zuschauers) ausgesetzt. Diese völlig wahnwitzige Verfolgungsjagd mit Kutsche und Pferd, die jedem angehenden Actionregisseur als Musterbeispiel für Raum- und Tempogefühl dienen könnte. À propos Raumgefühl: die verschlungenen Labyrinthe des Klosters, voller geheimer Falltreppen, versteckter Türen und beweglichen Gittern, durch die sich gegen Ende ein halbes Dutzend Figuren gegenseitig verfolgen – ein kleines Meisterstück. Wenn wir schon in einem Kloster sind, fehlt nur noch eine Nonnenauspeitschung. Ah... Moment: die gibt es ja! Wenn die Äbtissin die nackte Agnes auspeitscht, ihr dann die Peitsche hinwirft und dazu auffordert, es selber zu machen, weht ein kleiner Hauch Jess Franco durch diese sowjetische Produktion.
Man könnte VIIMNE RELIIKVIA vorwerfen, dass er nur die Summe seiner Teile ist, dass er relativ beliebig einen kleinen Knaller nach dem anderen reiht. Im Angesicht eines der mitreissendsten unter den „reinen“ Unterhaltungsfilmen, die ich je beim goEast-Festival gesehen habe, werde ich diesen Vorwurf ganz bestimmt nicht erheben.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

VELNIO NUOTAKA („Die Teufelsbraut“)
Regie: Arūnas Žebriūnas
Sowjetunion (Litauen) 1973
78 Minuten, DCP
Ein gefallener Engel taucht in einem litauischen Dorf des 19. Jahrhunderts auf und sorgt dort für erotischen Trubel, dionysischen Wahnsinn und endlose Gesangseinlagen...
Jenseits des Eisernen Vorhangs (aus osteuropäischer Sicht) gab es JESUS CHRIST SUPERSTAR. Diesseits sahen die Zuschauer VELNIO NUOTAKA. Da ich selbst das Rock-Musical über den revolutionären Prediger nicht gesehen habe, aber zumindest zwei Musikfilme eines sehr exzentrischen britischen Regisseurs kenne, würde ich es so formulieren: die erste halbe Stunde von VELNIO NUOTAKA lässt die Musikfilme Ken Russells wie trockenen Neorealismus aussehen.
VELNIO NUOTAKA beginnt im Himmel (gefilmt wurde in einer alpenartigen Berglandschaft – vielleicht im Kaukasus?): Gott, der ein wenig verschlafen auf seinem Thron sitzt, gibt eine Audienz vor seinen Engeln, aber die haben eigentlich nichts anderes im Kopf, als sich auf das in der Nähe stehende, üppige Buffet zu stürzen. Das tun sie dann auch, und einige Engel fangen dann auch an, sich gegenseitig zu befummeln (völlig unabhängig vom Geschlecht übrigens – auch zwei männliche Engel streicheln sich gegenseitig). Gott ist davon angefressen (also: dass seine Engel überhaupt das Buffet vor Ende der Audienz stürmen – nicht die gleichgeschlechtlichen Streicheleinheiten) und lässt einen großen Teil der Bande auf die Erde fallen. Von hier folgen wir nun einem rothaarigen, teuflischen Engel, der ein klein wenig an Gene Wilder in seiner Willy-Wonka-Rolle erinnert...
Vieles, was ab da passiert, konnte ich mir nur sehr intuitiv erschließen. VELNIO NUOTAKA enthält keine einzige gesprochene Dialogzeile: sämtliche Worte werden gesungen und damit auch in lyrische Phrasen verpackt, und die Untertitel waren teils erheblich schneller als ich. Ob die etwas ältere (vielleicht Anfang bis Mitte 40) Frau, an die sich der gefallene Engel ranmacht, die ältere Schwester der jungen Heldin (Anfang 20) oder doch ihre Tante bzw. die Schwester des Müllers ist? Sicher ist nur, dass die junge Protagonistin tendentiell eher auf den wackeren, bärtigen Wandergesellen (Regimantas Adomaitis nun schon zum dritten Mal) steht – der allerdings durch die Intrigen des gefallenen Engels, und durch die Intervention einiger gefallener weiblicher Engel in flammend orangefarbenen Röcken immer wieder den Weg zu seiner Liebsten „verpasst“. Etwa in der Mitte des Films geht der gefallene Engel noch einen (für ihn selbst) unglücklichen Deal mit einem Besucher aus der Dorfkneipe ein.
Aber das ist irgendwie alles nicht so wichtig, denn VELNIO NUOTAKA ist eine audiovisuelle Wucht, die ihresgleichen sucht. Die grandiose Nutzung des Cinemascope-Formats, die extrem starke Farbdramaturgie, schwankend zwischen natürlicher Belichtung in den Freilicht-Szenen und expressionistischem Licht bei den Innenszenen, die mitreissende Musik, die durch die Zuordnung einzelner Themen zu Figuren durchaus eine erzählerische Funktion einnimmt – das alles macht VELNIO NUOTAKA ziemlich großartig. Vor allem ist es aber ein absolut kompromissloser Film: es gibt nichts, was den Gesamteindruck irgendwie verwässern würde.
Einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Film leistet Viačeslavas Ganelinas bzw. auf russisch (und international unter diesem Namen auch berühmter) Vjačeslav Ganelin. Ganelin war von Haus aus nicht Filmkomponist, sondern Jazzpianist, der 1968 das Ganelin Trio gründete und mit dem Schlagzeuger Vladimir Tarasov (Vladimiras Tarasovas) und dem Saxofonisten Vladimir Čekasin (Vladimiras Čekasinas) einen der wildesten und experimentellsten Free Jazz in Europa spielte. Das hört man erst mal nicht so deutlich heraus: der Score ist größtenteils eher im Rockig-Poppigen anzusiedeln. Und doch sind viele Lieder durchaus auch ein bisschen „off“. Merkt man die besondere Sensibilität eines Komponisten, der eigentlich nicht im Musical zuhause ist? Jedenfalls ist Ganelin wahrlich eine tour de force gelungen. Er ist nicht weniger als Regisseur Arūnas Žebriūnas (vorher ein Spezialist für Kinderfilme bzw. Filme mit Kinderprotagonisten) als Erschaffer von VELNIO NUOTAKA zu sehen. 
Dass der Film nicht in den höchsten Pantheon meines diesjährigen goEas-Festivals kommt, hängt damit zusammen, dass ich mich an seine ausgestellten Exzesse (dazu gehört auch, dass zwischendurch Szenen abbrechen, und dann noch ein zweites Mal abgespielt werden) irgendwann „gewöhnt“ habe und dass sich dann eine gewisse Monotonie einstellte, weil der Film kaum „Luft“ ließ. Als er schließlich für etwa 10 Minuten innerhalb einer kleinen Kammer verblieb, in einer vergleichsweise sehr statischen Szene, erschien mir das dann eher öde als wie eine willkommene Ruhepause. Das klingt erst mal sehr negativ, aber ich glaube, dass VELNIO NUOTAKA mich letztlich überwältigt und überfordert hat. Er ist und bleibt ein absolut außergewöhnlicher Film, den ich erst mal setzen lassen muss und den ich gerne einmal wieder sehen werde.


6. Festivaltag
Montag, 23. April

ca. 10 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

BUDAPEST NOIR
Regie: Gárdos Éva
Ungarn 2017
95 Minuten, DVD
Ungarn, Ende der 1930er Jahre: das Horthy-Regime drängt immer weiter nach rechts, Pfeilkreuzler spielen sich in der Öffentlichkeit zunehmend aggressiv auf. In dieser Atmosphäre versuchen ein Reporter und eine Fotografin, den mysteriösen Mord an einer Prostituierten aufzuklären.
© goEast Filmfestival
Manchmal bin ich doch ein sehr simpel gestrickter Mensch: selbstverständlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich einen Titel wie BUDAPEST NOIR lese und natürlich will ich diesen Film unbedingt gucken. Wahrscheinlich würde ich auch TALLINN NOIR, RIGA NOIR, VILNIUS NOIR, BELGRAD NOIR, BUCHAREST NOIR, WIESBADEN NOIR und vielleicht sogar APOLDA NOIR oder GROßSCHWABHAUSEN NOIR anschauen.
BUDAPEST NOIR ist durchaus ein netter Film, aber leider ist das vielleicht auch seine Schwäche, weil ein film noir doch eigentlich nicht nett sein sollte. Die Hauptfigur, Reporter Gordon Zsigmond, ist gleich auf den ersten Blick als archetypischer noir-Detektiv erkennbar: kettenrauchend, mit coolem Mantel und einem schicken Hut versehen, einem steifen Drink um 10 Uhr morgens nicht abgeneigt, den Zyniker raushängend, um damit seinen eigentlich weichen Kern zu verstecken. Kolovratnik Krisztián macht den Gordon schon ganz gut, aber ein Bogart ist er nun auch gerade nicht.
Die Idee, einen period-noir in der Ära des bereits stark rechtsradikalisierten Horthy-Regimes anzusiedeln, ist sehr interessant, bleibt aber größtenteils nur Staffage, von ernsthafter Auseinandersetzung mit der faschistischen Ära und dem ungarischen Antisemitismus kann kaum die Rede sein. Vielleicht sehe ich das zu negativ: das autoritäre Regime, das im Hintergrund seine Fäden zieht, die Pfeilkreuzler, die Cabarets stürmen und die Kommunisten, die mit eher ruppigen Methoden gegen den Staat kämpfen – sie alle werden als genuin ungarisch gezeigt. Das ist im Ungarn der Orbán-Ära vielleicht schon eine ganze Menge.
Weder großer Ärger, noch große Freude kamen bei mir auf. Das period-Setting ist nett, die Hauptfigur schnüffelt ein bisschen in Budapester Hinterhöfen herum, zwischendurch gibt eine kleine Autoverfolgungsjagd durch enge Gassen. BUDAPEST NOIR wirkt über weite Strecken wie ein etwas gediegener 08/15-TV-Krimi, den man nebenbei (für manche Leute: beim Bügeln) gucken kann. Oder ist das der Einfluss dieser ganzen gehype'ten „Qualitätsserien“? Das Ende des Films deutet – nachdem die Geschichte akurat und fein säuberlich abgeschlossen wurde – weitere Abenteuer (bzw. Folgen) mit dem Journalisten und Hobby-Detektiven Gordon an. „Boykottieren“ würde ich sie keineswegs, wirklich brauchen täte ich sie – zumindest in dieser lediglich „netten“ Form – allerdings nicht...