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Dienstag, 21. Dezember 2021

Bella, selvaggia Italia – in Cinerama! Bericht vom 7. Terza-Visione-Festival des italienischen Genrefilms (Teil 1)

Endlich wieder Terza! Das meisterwartete Kinoereignis 2021 fand vom 25. bis 29. August 2021 statt. Nach mehreren Ausgaben in Nürnberg und in Frankfurt am Main ging es dieses Jahr nach Karlsruhe: um der großen Zuschauerschaft in Pandemiezeiten genügend Abstand zu ermöglichen, brauchte es ein größeres Kino als im Frankfurter Filmmuseum, und dieses fand sich mit der Schauburg in Karlsruhe, Heimat der in Off-Festivalliebhaberkreisen geschätzten 70mm- und Technicolor-Festivals. Statt hybrid oder online oder remote oder was auch immer – mehr Kino! Ein Saal mit 350 Plätzen und einer riesigen Cinerama-Leinwand.

Wie immer beim Terza gilt: die Filme liefen auf 35mm-Kopien. Doch auch da gab es dieses Jahr Ausnahmen (nämlich: 70mm).



Mittwoch, 25. August 2021


ab 19.00 Uhr




ARRIVERDERCI ROMA

Regie: Roy Rowland

Italien/USA 1957

105 Minuten, dF

Der Schlagersänger Marc Revere (Mario Lanza) reist nach Rom, um dort seine nach einem Eifersuchtsstreit entschwundene Verlobte Carol (Peggie Castle) zu suchen. In der Ewigen Stadt kommt er bei seinem entfernten Cousin Beppo (Renato Rascel) unter und freundet sich mit der jungen Raffaela (Marisia Allasio) an, die sich in ihn verliebt.

Beschwingt und leicht startete das 7. Terza mit einem italienisch-US-amerikanischen Musical, das ganz auf den italienischstämmigen US-Startenor Mario Lanza zugeschnitten war. In ihrer schönen Einführung sprach Bilquis Castaño Manias unter anderem über die sehr schwierigen Produktionsumstände des Films: Lanza, zu diesem Zeitpunkt schon von schwerem Alkoholismus geprägt (er starb zwei Jahre später), erwies sich als sehr kapriziöser und schwieriger Star, der sich immer wieder über die billigeren Produktionsbedingungen in Italien (im Vergleich zu den USA) echauffierte und (alkoholbedingt) immer wieder Probleme mit seiner Stimme hatte. Am fertigen Film merkt man das kaum an: ARRIVERDERCI ROMA wirkt wie ein locker aus der Hüfte geschossener Film und keineswegs wie das Ergebnis einer Produktionshölle. Gleichwohl Lanza natürlich die tragende Säule des Films ist, bietet der Film auch viele andere Attraktionen.

Am großartigsten ist ARRIVERDERCI ROMA nämlich dann, wenn er Plot Plot sein lässt und sich vollkommen selbstvergessen in seinen Revuenummern verliert. "There's Gonna Be a Party Tonight" ist ein früher glorreicher Höhepunkt, bei dem Mario Lanza zusammen mit seinen Kumpanen zunächst mit Einkäufen aus einem Laden herauskommt, und anschließend singend, tanzend und akrobatierend durch das populäre Viertel spaziert und sämtliche Passanten zu einer großen Sause einlädt. Eine Explosion aus Musik, Bewegung, Gewusel, Lebensfreude, gefilmt in langen, eleganten und trotz ihrer scheinbaren Einfachheit völlig umwerfenden Kamerafahrten. Die Szene kulminiert an der menschengefüllten Außentreppe eines populären Wohngebäudes (ein Ausschnitt ist hier zu sehen).

Hier einige Worte zum besonderen Kinosaal in der Karlsruher Schauburg mit seiner 7 x 17 Meter großen, leicht gekrümmten Leinwand: es war ein absolutes Fest in Sachen Kino-Immersion. Bei ARRIVERDERCI ROMA fiel dann auch recht schnell auf, dass besonders seitliche Kamerafahrten (gerade natürlich in Cinemascope) wesentlich "swooshig'er" erlebbar waren als auf kleineren, "normalen" Leinwänden (geschweige denn auf einem Bildschirm). Der Detailreichtum von ARRIVERDERCI ROMA war teils absolut atemberaubend: die Feier, die nach "There's Gonna Be a Party Tonight" in Beppos Wohnung stattfindet, zeigte geradezu ein musikalisches Panoramagemälde der Lebensfreude (gleichwohl nebenbei hier der zentrale Konflikt des Films angedeutet wird: Raffaela liebt Marc, doch er beachtet sie nicht und tanzt einfach mit einer anderen Frau).

Mit dem "eigentlichen Superstar des Films" (Zitat aus Bilquis' Einführung), nämlich Rom, ist alles möglich. Nach eben beschriebener Sause lädt ein unbekannter, aber sehr dankbarer Partygast Marc, Raffaela und Beppo zu einer Hubschrauber-Spritztour ein (sic!). Alle vier steigen ein (Beppo nimmt seine Gitarre mit, man weiß ja nie, wann man sie braucht) und dann fliegen sie über Rom. Und dieser Flug hat es in sich: nicht nur Plot, sondern auch Musical-Nummern werden mehrere Minuten lang völlig links liegen gelassen für einen Entdeckungsflug durch die Lüfte der Ewigen Stadt: Ruinen in Vororten, moderne Neubauten, die Innenstadt mit dem Kolosseum, das Viktor-Emanuelsdenkmal – all dies wird aus der Luft besichtigt. Für mehrere Minuten stoppt der Film, um Rom dieses Kino-Tribut zu setzen.

Angesichts von so vielen, im positiven Sinne "selbstzweckhaften" Attraktionen ist es geradezu ein Schock, als Marc dann doch endlich wieder seine entflohene Verlobte zufällig trifft und dann wieder ein wenig Plot abgearbeitet werden muss, um schließlich in einem denkbar grausamen Happy-End zu münden: Marc und Raffaela finden doch zusammen, während Beppo, der sich während des Films in Raffaela verliebt hat und sich zunehmend als eigentlicher Sympathieträger von ARRIVERDERCI ROMA erwiesen hat (Marc entpuppt sich doch als recht egoistische, selbstgefällige – mit Verlaub – Arschgeige: die Einladung "There's Gonna Be a Party Tonight" beispielsweise spricht er aus für Delikatessen, die nicht mit seinem Geld gekauft wurden), ganz alleine und traurig zurückbleiben muss.

Ein kleines Lieblingsdetail: auf einem Geländer im Eingangsbereich von Beppos Wohnung befand sich der abgetrennte, behelmte Kopf eine antiken, weiblichen Statue. Sie war immer wieder in mehreren Einstellungen prominent zu sehen, allerdings meist etwas verrutscht und an anderer Stelle. Continuity-Fetischisten würden wohl "Goof" schreien: ich sage eher, das ist ein Kuleschow-Effekt ohne Montage. Der Kopf schien eher ein "griechischer" (römischer?) Chor zu sein, der die Handlung aus dem Hintergrund heraus kommentierte. War die Szene fröhlich, blickte der Kopf fröhlich. War die Szene gerade traurig, blickte auch der Kopf traurig – freilich, ohne natürlich sich irgendwie geändert zu haben, es war ja der gleiche Kopf. In einer Szene war er aber gefährlich nah an der Kante des Geländers und ich befürchtete etwas, dass er herunterfallen könnte...



ab 21.45 Uhr


Die 7. Ausgabe des Terza hielt für die Zuschauer eine besondere Cine-Delikatesse bereit: über die fünf Tage verteilt lief eine kleine Retrospektive mit fünf Kurzfilmen von Peter Tscherkassky. Nun, Peter Tscherkassky ist Österreicher und seine Filme sind auch österreichische Produktionen – in seinen bildgewaltigen Experimentalfilmen benutzt er allerdings immer wieder "found footage" aus fremden Filmen, darunter eben auch italienische Genrefilme! Für die beiden Festivalleiter Andreas Beilharz und Christoph Draxtra war diese kleine Verbindung Grund genug, das Festival hier etwas über den Tellerrand hinaus schauen zu lassen.

Nicht jedem hat dieses Sonderprogramm gefallen. Ich persönlich fand es absolut großartig und auf jeden Fall eine große Bereicherung für ein ohnehin schon überreiches Programm.


DREAM WORK

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2001

11 Minuten

Aus den Träumen einer jungen Frau...

Peter Tscherkasskys Filme sind wilde und spektakuläre Formexplosionen – und dabei absolut materialfetischistisch. Found Footage wird verfremdet, verdunkelt, erhellt, zerschnitten, in Negativ invertiert, übereinander gelegt, die Tonspur wird gleichermaßen attackiert und bearbeitet. Zu sehen sind Filme, bei denen ich nach ihrem Erleben auf 35mm auf einer riesigen Kinoleinwand Zweifel habe, ob sie in ihrer entfesselten Wildheit digital überhaupt "abbildbar" sind.

DREAM WORK, einer von Tscherkasskys Filmen aus einer Cinemascope-Serie, ist in der Erinnerung mittlerweile etwas verblasst im Vergleich zu einigen anderen, die im Laufe des Festivals noch gezeigt werden sollten. Das mindert nicht den überwältigenden Einschlag, den meine erste Begegnung mit Tscherkassky hatte.





IL GATTO A NOVE CODE ("Die neunschwänzige Katze")

Regie: Dario Argento

Italien/Frankreich/BRD 1971

112 Minuten, OmU

Ein Einbruch in einem Institut für Genetik zieht eine Reihe von Morden nach sich. Der Journalist Carlo Giordani (James Franciscus) und der erblindete Rentner und Ex-Journalist Franco Arno (Karl Malden) versuchen zusammen, das Rätsel zu lösen, werden aber rasch selbst zur Zielscheibe des Mörders. 

Die erste Begegnung mit dem Film beim 1. Jenaer Paradies-Festival war eher unbefriedigend: Dario Argentos zweite Regiearbeit hatte mich mehr oder minder gepflegt gelangweilt. Meine Hoffnung, ihm bei der zweiten Sichtung (jetzt in vollständiger italienischer Originalfassung im Vergleich zur deutschen, um etwa 22 Minuten geschnittenen Kinokopie) näher zu kommen, wurde leider enttäuscht. Ich werde mit ihm irgendwie nicht warm.

Dennoch gibt es doch das eine oder andere, was ein wenig hängen geblieben ist. Die minutiösen, teilweise experimentellen Montagen, die mit fast subliminalen Bildeinschüben arbeiten (immer wieder ist ganz kurz eine Extremnahaufnahme auf Augen zu sehen), sehen schon ziemlich toll aus auf der großen Leinwand. Die Szene, die mir schon bei der ersten Sichtung als eine Art visueller Höhepunkt des ganzen Films im Gedächtnis blieb, nämlich die rasante Autofahrt der Catherine Spaak mit James Franciscus, war auch diesmal ein Fest: ein neckisches Spiel der Verführung (Spaak baggert Franciscus mit ihrem halsbrecherischen Fahrstil an) mit leichten Screwball-Elementen, aufgelöst in einer atemberaubenden Actionszene.

Und Karl Malden hat aus meiner Sicht zwar in besseren Filmen mitgespielt, aber er hat doch eine sehr schöne Rolle. Gerade Maldens Figur und ihre Interaktion mit der Nichte (aber auch mit Franciscus' Reporter) ist wunderbar – und tatsächlich noch mal ein Beweis, dass Argento eben kein kalter Formalist ist, dem Figuren egal sind. Letzteres wird auch gegen Ende in einem kurzen Augenblick sichtbar: Giordani erhebt schwere Beschuldigungen gegen Anna (Spaak), die dann aber in wenigen Sekunden wie ein Kartenhaus zusammenfallen. In einem kurzen Blickwechsel zwischen den beiden, die sich vorher eigentlich lieb hatten, wird klar, dass etwas unwiderruflich kaputt gegangen ist. Ein sehr starker, emotionaler Moment, inhaltich weit entfernt von den schaulustigen Attraktionen, mit denen Argento gemeinhin assoziiert wird.

Ein klein wenig enttäuscht hat mich auch Ennio Morricones Score, der mir insgesamt etwas beliebig, austauschbar erschien. Doch auch hier: das zärtlich-einfühlsame Thema, das Franco Arno und seine Nichte geschenkt bekommen, bringt dem Film eine sehr ergreifende Emotionalität (hier zu hören). Und die Musikbegleitung zum Showdown, die eine funky-bluesige Basslinie und ein dissonant-kakophone Klänge aufeinandertreffen lässt (hier zu hören), frass sich fast bis zum Einschlafen als Ohrwurm in meinen Kopf.



Donnerstag, 26. August 2021


ab 12.30 Uhr


INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE

Regie: Peter Tscherkassky

Österreich 2005

17 Minuten

IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO... neu montiert und verdichtet.

Vor INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE lief der Trailer zu "Zwei glorreiche Halunken", nun lief der Film in einer Art ultrakondensierten, verfremdeten, verdichteten, zugespitzten Kurzfassung. Tscherkasskys Filme sind wie bereits gesagt keine "normalen" (also narrativen) Filme, sondern überwältigende, berauschende und hypnotisierende Totalerlebnisse. In INSTRUCTIONS FOR A LIGHT AND SOUND MACHINE kulminiert in einer wilden Schiesserei: rasenden, stark verfremdete Bilder des Films mit einer stakkatoartigen Abfolge ohrenbetäubender Schüsse.


Weniger experimentell, dafür heiterer ging der erste, dem Western gewidmete Filmblock des Tages weiter...




SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR ("Die sieben Pistolen des MacGregor")

Regie: Franco Giraldi

Italien/Spanien 1966

93 Minuten, dF

Die sieben Brüder MacGregor wollen ihr Vieh in einer weitab ihrer Farm entfernten Stadt verkaufen. Dort werden sie vom Viehbaron Crawford, der zugleich örtlicher Gangster-Pate ist, zunächst ins Gefängnis gebracht. Später legen sie sich mit Crawfords furchterregendem Handlanger Santillana an.

Ein Film, der mit einer zünftigen Schiesserei beginnt, das ist schon mal gar nicht schlecht... Richtig großartig war aber, dass hier eine Bande zäher, harter Banditen und Viehdiebe zwei älteren Ehepaaren und Viehzüchtern gegenüberstanden: letztere etwas silbrig im Haar, knautschig im Gesicht, dafür aber mit einem flotten Spruch auf den Lippen und mit ordentlich viel Energie zum Ärschetreten – bzw. zum Totschießen von rüpelhaften Banditen. Dabei standen die zwei älteren Damen ihren jeweiligen Gemahlen in Sachen Sprüche- und vor allem Schießlust keineswegs nach, auch wenn die beiden Herren doch nicht nur mit Pistolen und Gewehren, sondern auch mit einer Mini-Kanone hantieren durften (und sich vor dem Abschuss noch streiten, wer abfeuern darf). Durch die Übermacht der Banditen kommen sie doch etwas in Bedrängnis, doch dann helfen ihnen die sieben jungen MacGregors in letzter Minute aus der Patsche (die Verwandtschaftsverhältnisse blieben etwas obskur und unklar – aber auf jeden Fall war es ein Klan!).

Der actionreiche Prolog setzte den Ton für den ganzen Film: es passiert immer irgendetwas Unterhaltsames in SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR, es gibt immer irgendeine schöne Idee zum Würzen der Vorgänge, es bewegt sich immer etwas und trotz Toten bleibt die Stimmung stets heiter, weit entfernt von Melancholie, Zynismus, Nihilismus und Bitterkeit vieler Italowestern, mit Komödienelementen, ohne in Klamauk zu fallen. Es ist ein "naiver" und "gutmütiger" (im besten Sinne dieser Worte) Genrefilm, der mit unzähligen schönen Einfällen punktet: die Gebrüder, die in der Knastzelle mit ihren gesammelten Stiefelsporen und einer Schnur eine Do-It-Yourself-Fräsmaschine bauen, um zu entkommen (einer der Brüder spielt für den Sheriff unentwegt Mundharmonika, um das Geräusch zu überdecken); der MacGregor, der sich als Doppelagent in Santillanas Bande eingeschmuggelt hat, unterhält sich mit seinem Bruder bei einer fingierten Schießerei an einem sichtgeschützten Ort, doch beide schießen immer mal wieder in die Luft, um für die Böswatze den Schein zu bewahren; eine spektakuläre Rettungsaktion in allerletzten Minute, bei der die sekundengenaue Sprengung eines Wasserturms eine zentrale Rolle spielt; und ein Duell-Showdown, bei dem ein Messerkampf in einem Brunnen mit Mühlrad endet – und schließlich auf das Mühlrad, dann in das Innere des sich drehenden Mühlrads verlagert wird – und last but not least: Cowboys in Schottenröcken! Das ganze begleitet von einer schwungvollen Musik des Meisters Ennio Morricone, die selbst Tote zu einer zünftigen Saloon-Schlägerei animieren dürfte (höre hier).


Vor dem Western-Block versprach uns Christoph mit SETTE PISTOLE PER I MACGREGOR einen heiteren Film, "bevor wir euch danach in die Hölle schicken"...



ab 15.30 Uhr


ADDIO ZIO TOM ("Addio, Onkel Tom!")

Regie: Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi

Italien 1971

120 Minuten, dF

Zwei Journalisten aus Italien reisen in die Südstaaten vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, um über die Sklaverei zu berichten. Sie werden auf ihrer Tour mit einem menschenverachtenden System voller abscheulicher Gewalt konfrontiert.

Nach SVEZIA INFERNO E PARADISO und ROLF beim 4. Terza 2017, L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH und SPELL (DOLCE MATTATOIO) beim 6. Terza 2019 nun ADDIO ZIO TOM als "transgressiver" Film beim 7. Terza. Und tatsächlich war Jacopettis und Prosperis Post-Mondo-Mockumentary vielleicht noch kontroverser und schwieriger als der ohnehin herausfordernde L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH: mehrere Zuschauer fanden den Film abscheulich, ekelhaft, nannten ihn gar eine Körperverletzung... Reaktionen, die ziemlich verständlich sind. Ich persönlich halte ihn für einen Höhepunkt des 7. Terzas, für den beeindruckendsten Film des Festivals – wenngleich ich Mühe habe, ihn als "normalen" Film zu bezeichnen. Er bildet zweifelsohne eine eigene Kategorie.

Der Film ist eine fast zweistündige Nachstellung von Gewalttaten, Erniedrigungen, Übergriffen, Folterungen, Vergewaltigungen, Morden und allgemeinen dehumanisierenden Handlungen aus der Zeit der Sklaverei in den USA, nachgestellt von Darstellern, trotz vieler kleiner, in sich abgeschlossenen Episoden weitestgehend frei von dramaturgischer, narrativer Kohärenz. Ein infernalischer Film wahrlich!

Ein möglicher Ankerpunkt zur Aufdröselung, Interpretation, vielleicht Annäherung an dieses Monstrum findet sich meiner Meinung nach in einem wunderbaren Text von Oliver Nöding zu MANDINGO: vieles, was Oliver zu Richard Fleischers Film geschrieben hat, kann man sehr passend auf ADDIO ZIO TOM übertragen – meiner Meinung nach vielleicht sogar noch passender. MANDINGO mag von der "Totalität des Systems Sklaverei" handeln, doch ich finde, dass dies in Fleischers Film höchstens in Ansätzen wirklich umgesetzt wurde, weil eben MANDINGO noch an die dramaturgischen Regeln des Melodrama gebunden war. Jacopetti und Prosperi haben diese "Totalität" in ADDIO ZIO TOM nicht nur inhaltlich, sondern auch formal umgesetzt: im Gegensatz zu Fleischer sind sie von erzählerischer Dramaturgie, von klassischen Spannungsbögen, von individuellen Protagonisten, vom Zwang einer mundgerechten Darreichung völlig befreit. Das System Sklaverei ist der Protagonist von ADDIO ZIO TOM und beherrscht (um nicht zu sagen: durchherrscht) über weite Strecken den Film inhaltlich und formal.

In seiner Annäherung an ein unmenschliches System, an exzessive und barbarische Massenverbrechen ist der Vergleich mit L'ULTIMA ORGIA DEL III REICH durchaus spannend: die Erklärung (oder besser: die Entlastung), dass die Täter einfach böse und schlechte Menschen sind und die Opfer einfach erbarmungswürdige und gute Menschen sind, verweigert der Film. Die meisten Sklavenhalter in diesem Film sind freundlich und höflich auftrende Menschen, die ihre zwei Gäste immer zuvorkommend begrüßen. Einige sind sogar äußerst kumpelhafte, blödend-witzige Typen (wobei aber auch gerne mal einem Konkurrenten in den Hinterkopf geschossen wird). Nur die Sklavenhalter des Prologs, die bei einem grotesken Festmahl besucht werden (schwarze Kinder kauern unter dem Tisch und werden zwischendurch wie Tiere mit Essensresten gefüttert), treten offen feindselig, explizit anti-europäisch und anti-katholisch. Dennoch: Nettigkeit und Niedertracht sind in ADDIO ZIO TOM stets zwei Seiten der gleichen Medaille.

Dass Sklaverei ein System ist, das nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer (wobei Täter und Opfer sehr vielschichtige Kategorien sind: was der Film auch durchaus zeigt) korrumpiert, zu Mittätern an ihrem eigenen Platz im System macht, zeigt der Film immer wieder auf verstörende Arten. Am harmlosesten ist ein befragter Sklave, der in seinem Interview seine eigene Stellung als Sklave als letztendlich gar nicht so unbequem rechtfertigt: als "freier" Arbeiter wäre er nicht viel besser dran, als Sklave wird er zumindest als teure Investition gut gepflegt. Wesentlich ruppiger geht es zu, wenn ein Sklave zur Kastration verurteilt, und eine größere Menschenmenge von Sklaven sich an dem Schauspiel ebenso wie eine weiße Passantin voller Schadenfreude delektiert.

ADDIO ZIO TOM spielt nicht nur auf "Onkel Toms Hütte" an (deren Autorin hat zu Beginn des Films beim grotesken Festmahl einen Auftritt, wo sie als durchaus selbstgerechte Person rüberkommt), sondern spielt mehrmals auch indirekt auf GONE WITH THE WIND an. Manche Szenen des Films wirken durch die Figuren-Konstellation ein wenig wie eine groteske "Hinter den Kulissen"-Reportage über den Wirtschaftsalltag in der Tara-Plantation. Da geht es drunter und drüber, in der Küche herrscht der blanke Irrsinn, es wuselt hin und her, kleine Kinder essen die Kirschen von den frisch dekorierten Kuchen herunter oder toben wild herum, währenddessen geht es im Schlafzimmer der weißen Töchter ebenso chaotisch zu, die große "Mammie" kommandiert auch ihre jungen Herrinnen gerne rum, während verzweifelt versucht wird, ein Kleidungsknäuel wieder in einzelne Bestandteile zu trennen, damit die jungen Damen fein gekleidet zum Bankett erscheinen können. Wenn dann das Bankett vorbei ist, lässt die "Mammie" Abends die jungen schwarzen Mädchen antreten, kontrolliert ihre genitale Sauberkeit und schickt sie dann als Sexobjekte in die Gästezimmer der männlichen Hausgäste (dieser Teil wurde in GONE WITH THE WIND übergangen).

Das Perfide an ADDIO ZIO TOM ist, dass er die Zuschauer durch seine Inszenierung während seiner Laufzeit zum aktiven Teil des Systems Sklaverei macht. Es gibt praktisch keine vierte Wand in diesem Film, die die Zuschauerschaft vor dem ganzen Schmutz und der extremen Gewalt schützt. Am unangenehmsten ist die Szene, in der die Kamera zum Point of View einer der beiden italienischen Journalisten (bzw. eigentlich des Kameramanns selbst) wird: eine sehr junge, vielleicht allenfalls 13-jährige Sklavin kommt in das Zimmer, bietet ihren Körper dem Mann an, reibt sich im Bett quasi an ihn, während sich der Mann eine Zeitlang dagegen wehrt. Der Zuschauer wird hier direkt zum Kinderschänder, zum Vergewaltiger gemacht. ADDIO ZIO TOM überrollt dich nicht nur und drückt dich flach auf den Boden (das ist ja erst mal gar nicht so schwer): er reisst dich dann auch wieder hoch und zwingt dich, mitzumachen.

Den Zuschauer zum Rädchen des Systems Sklaverei machen: das schafft auf unterschwellige Art auch die dramaturgisch völlig erratische Form und der Non-Stop-Modus in der Präsentation von Gewalttaten und Abscheulichkeiten. Es entsteht eine Art Gewöhnungs- und Abstumpfungseffekt: noch eine Gewalttat, noch eine Abscheulichkeit, und noch eine, und noch eine, und noch eine, und noch eine... Das Präsentierte wird zur "Normalität" innerhalb des Universums, die der Film präsentiert. Die Totalität des Systems Sklaverei erreicht den Zuschauer allmählich fast schon unterbewusst.

In einigen wunderschönen, elegisch in Zeitlupe gefilmten Bildern tollen ein weißes Mädchen und ein schwarzer Junge zusammen über eine Wiese. Der sanfte Hügel, der die beiden verdeckt, verschwindet durch die Kamerafahrt allmählich und man sieht, dass das weiße Mädchen den schwarzen Jungen an einer Halskette führt. Ein kurzzeitig im Rahmen dieses Films utopisch erscheinendes Bild verwandelt sich mit einer kleinen Perspektivverschiebung in einen Alptraum – bzw. führt uns zurück in die "Normalität" der Sklaverei.

Diese elegischen Bilder sind auch ein integraler Bestandteil des Films: ADDIO ZIO TOM ist visuell absolut atemberaubend, formal wahnwitzig in seinen wilden Kamerafahrten, Zooms, Schwenks, seinen extremen Weitwinkel- und Fischaugen-Einstellungen, seinen minutiös elaborierten Bildkompositionen in Scope, teils gefilmt im Dämmerlicht zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Jacopetti und Prosperi hatten sich schon in AFRICA ADDIO als große visuelle Stilisten erwiesen und das gleiche Team macht auch bei ADDIO ZIO TOM ganze Arbeit. Das ganze auf einer Cinerama-Leinwand zu sehen dürfte den Effekt noch einmal potenziert haben.

Es sind auch diese Brüche, die ADDIO ZIO TOM so faszinierend machen: grauenerregende Abscheulichkeiten und zum Weinen schöne Bilder. Inhaltliche Brüche werden auch immer wieder deutlich sichtbar gemacht, der Film macht seine eigene Inszeniertheit, seine eigene Konstruktion transparent. Zu Beginn fliegt ein Helikopter über die Baumwollplantagen, über die Herrenhäuser der Sklavenhalter: der Rotorenwind fegt mit ordentlicher Zugkraft über die Baumwollarbeiter und die schick gekleideten Damen, die alle dem Kamerateam zuwinken. Beim Abschluss einer Versicherung für einen neu gekauften Sklaven wird die Vertragsunterzeichnung verzögert, weil der Füllfederhalter streikt – aus dem Off hält der Kameramann bzw. der italienische Journalist den Vertragspartnern einen modernen Kugelschreiber hin. Söldner, die entflohene Sklaven gejagt und getötet haben, arrangieren ihre "Beute" zu einem makabren Leichenberg, posieren damit vor einem Fotografen – und nach dem Schnappschuss werden die Toten lebendig, stehen auf und laufen aus dem Bildausschnitt raus. Und gegen Ende des Films gibt es einige "Vorblenden" mit einer neuen Rahmenhandlung: ein schwarzer Mann, der Anfang der 1970er an einem Strand einen Bericht über einen Sklavenaufstand liest und sich die geschilderten Morde in die Jetzt-Zeit imaginiert.

Die Krönung des Films ist, wie so oft im italienischen Kino, die Musik. Es gibt ein schwungvolles Thema (hier zu hören), das mich melodisch ein klein wenig an "Summer Vine" erinnert, mit Marschmusikelementen aber einem Drive, der zu einer Komödie ganz gut passen würde (vielleicht zu einer Militärkomödie? – passenderweise und natürlich völlig unpassenderweise ist er wohl als Teil einer Score-Kompilation italienischer Komödien aus den 1970ern erschienen). Das emotionale Herzstück ist allerdings das das melancholische, elegische, fast operatische Liebesthema (hier zu hören), das Ortolani wieder einmal als größten potentiellen Disney-Songkomponisten der Welt zeigt (und das Nicolas Winding Refn für sein DRIVE verwendet hat – wen es interessiert: hier ein kurzes Video mit einer Q-and-A-Einführung von Refn zu einem Screening von ADDIO ZIO TOM).

Ich schrieb vorhin von Brüchen: ADDIO ZIO TOM zeigt seine Abscheulichkeiten größtenteils ungerührt, ohne sichtbare moralische Positionierung (letzteres macht den Film wohl auch so schwierig: er bietet den Zuschauern keine Möglichkeit zur einfachen Distanzierung oder zur Selbstbestätigung). Es gibt jedoch einen sehr auffallenden Moment, in dem er einem der Opfer offensichtlich die Hand reicht und Mitgefühl bezeugt: auf einer Sklavenzuchtfarm, bei der junge Frauen zum Sex mit "Deckern" gezwungen werden, wird die Prozedur vom jovialen, freundlichen Unternehmenschef den italienischen Besuchern demonstriert. Eine junge Frau wird zu ihrem "Decker" geleitet. Der Film zeigt ihren Weg als lange, elegische Kamerafahrt in Zeitlupe, Ortolanis melancholisches Thema schwillt an, wer genau hinsieht, erblickt eine Träne, die ihr über das Gesicht läuft...


Ich könnte wahrscheinlich noch weitere 10.000 Zeichen zu ADDIO ZIO TOM schreiben. Und dann noch mal 10.000 mehr. Belassen wir es mal hier. Nach Ende des Films ging ein sehr kleiner Teil der Zuschauerschaft nicht auswärtig essen, sondern verblieb im Innenhof des Kinos und nahm das einmalige Cateringangebot der Kinoküche an. Bei Tomatensuppe und Quiche wurde weiter über das Erlebnis ADDIO ZIO TOM diskutiert. Mit dabei war auch Alexander Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn, der auch die Einführung zum Film gehalten hat. Er erläuterte noch einige Details zur gezeigten Kopie (diese war gekürzt um einige Passagen gegen Ende, als Schwarze in der Jetztzeit in einer Sklavenaufstandnachstellung einen weißen Haushalt attackieren und nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder ermorden; ebenso war der Abspann geschnitten, mit der Erklärung der Macher, dass dies ein Dokumentarfilm sei und die dargestellten Personen existiert haben und mit der Danksagung an die haitianische Regierung und besonders Präsident François Duvalier für die Hilfe beim Dreh) und zu verschiedenen Schnittfassungen des Films.

Gestärkt und bereit für einen wieder etwas "normaleren" Film...



ab 20.00 Uhr


UN KILLER PER SUA MAESTÀ ("Zucker für den Mörder")

Regie: Maurice Cloche, Federico Chentrens

Italien/Frankreich/BRD 1968

93 Minuten, dF

Ein mysteriöser Killer mit Hang zu Süßigkeiten (Bruno Cremer) versucht einen Potentaten aus dem Mittleren Osten (Lukas Amann), der in Rom weilt, zu ermorden. CIA-Agent Mark Stone (Kerwin Mathews) und sein Assistent Costa (Venantino Venantini) versuchen, den König zu beschützen und gleichzeitig dem Killer auf die Spur zu kommen.

Gemäß Howard Hawks besteht ein guter Film aus mindestens drei guten Szenen und keiner schlechten. UN KILLER PER SUA MAESTÀ hat gleich vier ganz tolle Szenen und nichts, was wirklich negativ auffällt – ein guter Film also, wenn auch für mich persönlich kein großer Höhepunkt des Terza.

Richtig Laune kommt schon mal auf, als Stone und Costa die Gemächer des Königs zwecks Absicherung begutachten müssen, und dabei quasi in dessen Harem hineinstolpern. Im Laufe des Films folgen dann auch drei großartige Actionszenen: ein Kampf zwischen Stone und einer größeren Schlägerbande in einer Tiefgarage, bei der schließlich auch ein halbes Dutzend leere Ölfässer zum spektakulären Einsatz kommen; eine Verfolgungsjagd durch einen Park mit überdimensionalen Skulpturen, die dann auch zum Verstecken und zum Runterspringen aktiv genutzt werden (der Höhepunkt des Films!); ein ausgedehnter Kampf im Lager eines Schlachthofs.

Der Protagonist Mark Stone ist, sagen wir mal... bodenständig (wer mäkeln möchte, würde ihn wohl als "farblos" bezeichnen), wird aber dafür von einer ganzen Menge toller Nebendarsteller flankiert. Natürlich zuallererst der Assistent Costa, gespielt vom wunderbaren Venantino Venantini, ein etwas einfältiger Typ, der ständig nur an Frauen denkt, seinen Körper mithilfe von Workout-Gurten stählt, die er auch mal an Hoteldeko anbringt (totale Zerstörung des Hotelzimmers erfolgt dann sogleich). Bruno Cremer geht natürlich immer, besonders wenn er einen süßigkeitensüchtigen Profikiller spielt. Und Gordon Mitchell als brutaler Schläger ist dann auch das Sahnehäubchen.



ab 22.30 Uhr



LA CASA 4 ("Witchcraft – Das Böse lebt")

Regie: Fabrizio Laurenti

Italien/USA 1988

95 Minuten, dF

Leslie (Leslie Cumming) und Gary (David Hasselhoff) untersuchen ein Haus auf einer neuenglischen Insel, in dem einmal eine Hexe gewohnt haben soll. Die Familie Brooks, unter anderem die schwangere Jane (Linda Blair), besucht zusammen mit einem Hausmakler das Gebäude, um es vielleicht aufzukaufen. Ein Sturm kommt auf und in dem einsamen Haus festgesetzt werden die Besucher von der Hexe in Schwarz (Hildegard Knef) heimgesucht.

David Hasselhoff, Linda Blair und Hildegard Knef in einem Film! Das liest sich zu merkwürdig und irgendwie auch großartig, um wahr zu sein. Am Ende war der Film leider zu wahr, um großartig zu sein – oder so ähnlich... Produziert von Joe D'Amatos "Filmirage" wabert der Film somnambul vor sich hin: eine durchaus D'Amato'eske Atmosphäre, ohne jedoch die Meisterschaft von Onkel Joe zu erreichen und ohne wirklich die für dessen Filme typische, hypnotische Wirkung zu entfalten (zumindest nicht bei mir – der Film fand durchaus sehr begeisterte Anhänger).

LA CASA 4 ist ebenso wenig der vierte Teil einer Filmreihe wie ZOMBI 2 das Sequel eines anderen Films: "La casa" war in Italien der Verleihtitel von Sam Raimis THE EVIL DEAD (1981) und "La casa 2" der Titel von Raimis Sequel EVIL DEAD II (1987). Im Jahr 1988 sprang dann Umberto Lenzis Puppenhorrorfilm LA CASA 3 auf den Erfolgszug von Raimis Filmen, und kurz darauf folgte dann eben LA CASA 4 (der jedoch inhaltlich nicht mit LA CASA 3 zusammenhing). Nun... Filme, die irgendwie gleich aussehen im Titel, das passt ein bisschen zu Darstellerinnen, die in der Spätabendmüdigkeit und in dem etwas schlafwandlerischen Rhythmus des Films auch ein wenig ähnlich aussehen. So habe ich tatsächlich für fast zwei Drittel des Films Leslie Cumming und Linda Blair verwechselt, was den Film für mich zwischendurch noch viel rätselhafter gemacht hat, weil Leslies Figur, die Freundin von David Hasselhoffs Gary, ihm gegenüber immer betont, dass sie ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren will (die Hasselhoff'schen Cockblocking-Momente sind immer ein kleines Fest), aber andererseits auch schwanger ist – war da unbefleckte Empfängnis im Spiel? Ein anderer leicht übernächtigter Co-Zuschauer, der wie ich auch Teile des Films verschlief, hatte auch das gleiche Verwechslungsproblem.

Wie dem auch sei... LA CASA 4 zog etwas an mir vorbei, ließ mich gedanklich zwischendurch immer wieder aussteigen und schaukelte mich gegen Ende dann auch in eine fiese Sekundenschlaf-Attacke, die alptraumartiger war als das, was im Film selbst alptraumartig sein sollte: ein Sheriff und sein Assistent fliegen mit einem Helikopter zur Insel, um die verschollenen Protagonisten zu suchen; ich selbst nickte ein, schreckte wieder auf und sah, dass die beiden immer noch im Helikopter flogen und nach den verschwundenen Personen suchten – das passierte etwa drei, vier, fünf Mal. Jedes Mal, wenn ich wieder erwachte, war der suchende Helikopter noch da...



Freitag, 27. August 2021


ab 12.30 Uhr


HANNO CAMBIATO FACCIA ("Wettlauf gegen den Tod")

Regie: Corrado Farina

Italien 1971

92 Minuten, OmU

Der kleine Angestellte eines Autokonzerns Alberto Valle (Giuliano Esperati) wird vom Konzernchef Giovanni Nosferatu (Adolfo Celi) nicht nur befördert, sondern auch zu einem Wochenende auf dessen Landsitz eingeladen. Die luxuriöse Villa wirkt ebenso bedrohlich wie der Gastgeber.

Zweite Sichtung des Films. Auch diese leider wieder sehr unterwältigend.

Der Dracula-Stoff als antikapitalistische Allegorie: was sich auf dem Papier sehr verlockend liest, wirkte für mich extrem bleiern, träge, grobklotzig, thesenfilmig. Seine Themen (Konsum- und Überwachungsgesellschaft, Warenfetischismus, die totalitären Ansprüche des Kapitalismus, der Ausverkauf des 68er-Aufbruchs) trägt HANNO CAMBIATO FACCIA schon sehr an der Oberfläche, und zwar so, dass es auch der dümmste anzunehmende Zuschauer versteht. Der Film hat durchaus einen Fuß im Bereich des Paranoiafilms: eine große Korporation hält sämtliche Fäden über alle Bereiche des Lebens in der Hand, kontrolliert nicht nur die "systemrelevanten" Institutionen (Wirtschaft, Politik, Presse, Kirche), sondern auch sämtliche "oppositionellen" Stimmen, um den Schein zu wahren. Aus heutiger Sicht wirkt der Film so auch weniger "gesellschaftskritisch" und scharf analytisch als vielmehr wie eine grobklötzige, aus einem dumpfen Bauchgefühl heraus geborene Verschwörungserzählung.

Die Themendichte des Films passt auch überhaupt nicht zu dem, was man über weite Strecken sieht: ein Kammerspiel in einer Gruselvilla. Dieses bekommt auch keine Chance zur Entfaltung, wenn die allumfassende Totalität des Kapitalismus immer wieder in geschwätzigen Dialogszenen auf den Punkt gebracht werden muss. Hinzu kommt, dass der Valle-Darsteller Giuliano Esperati für mich besonders uncharismatisch, fad, farblos, uninspiriert wirkte: das passt einerseits zur thematischen Konzeption des Films, der eine unbedeutende Figur in die Rädchen einer kapitalistischen Maschinerie hineinwirft, machte den Film für mich auf die Dauer leider besonders anstrengend und träge.

Schade... Die Grundidee des Films ist eigentlich charmant, mit dem großartigen Adolfo Celi kann man eigentlich nichts verkehrt machen. Und die Farbdramaturgie des Films ist absolut beeindruckend in ihrer gnadenlosen Konsequenz: HANNO CAMBIATO FACCIA präsentiert sich fast ausschließlich in monochromatischen Braun-, Orange- und Grautönen, ohne jegliches Blau und Grün, ohne knalliges Rot (mit Ausnahme einer Ampel zu Beginn des Films, ein Hinweis auf die Farbechtheit der Agfa-Kopie). Die monochrome Farbpalette passt meiner Meinung nach irgendwie auch nicht zu den Themen des Films (dass Kapitalismus auch sexy, also entsprechend auch quietschbunt aussehen kann an der Oberfläche, fällt dem Film nicht ein), schafft aber eine durchaus ganz eigensinnige visuelle Atmosphäre.



ab 15.00 Uhr


SKY OVER HOLLAND

Regie: John Fernhout

Niederlande 1967

22 Minuten, 70mm

Ein Dokumentarfilm über die Niederlande in fliegenden, rasenden 70mm-Bildern.

Dieses Jahr gab es beim Terza eine kleine Premiere, möglich dank der technischen Ausstattung des Schauburg-Kinos: nämlich eine 70mm-Projektion! Doch leider hat die Kopie des Hauptfilms ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE große Teile ihrer Farbpracht eingebüsst und war nur noch monochromatisch rötlich angehaucht zu sehen. SKY OVER HOLLAND lief als nicht-italienischer Vorfilm dann auch, um wenigstens in einem Kurzfilm 70mm nicht nur in seiner ganzen Schärfe, sondern auch in seiner Farbpracht zu erleben.

"Guck doch mal, was für coole Sachen wir mit 70mm alles anstellen können!" dürfte das Leitmotto von SKY OVER HOLLAND gewesen sein. Rasende Sturzflüge aus dem wolkigen Himmel auf Wiesenlandschaften, wahnwitzige Verfolgungsjagden in den Amsterdamer Grachten, wuselige, extrem tiefenschafte, an Bosch-Gemälde erinnernde Impressionen von Viehmärkten – und wieder zurück in den Himmel mit einem Blick auf geometrisch angeordnete Felder verschiedenfarbiger Tulpen (gewissermaßen die Mondrian-Tableaus des Films).

Ein Sensationsfilm wahrlich, ideal für eine überdimensionierte Leinwand wie jene in der Karlsruher Schauburg.




ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE ("Herkules erobert Atlantis")

Regie: Vittorio Cottafavi

Italien/Frankreich 1961

103 Minuten, 70mm, dF

Androkles, der König von Theben zieht mit Herkules, dessen Sohn und deren Helfer Timoteus auf eine Schifffahrt, um den Drohungen gegen Theben aus der Ferne auf den Grund zu gehen. Ihr Schiff kentert, Androkles verschwindet, Herkules und seine beiden Begleiter müssen ihren König in Atlantis suchen. Dort erwarten eine intrigante Herrscherin und viele kaputtgezüchtete Zombie-Krieger. 

"Die Anfangskeilerei der Herkuleskumpane ist so hinreißend inszeniert und mit so wendiger Kamera aufgenommen, daß ich sie dem steifen Pathos in Eisensteins vielgerühmter Schlacht auf dem Peipussee ohne Bedenken vorziehe." So ist es in einer zeitgenössischen Rezension in der Filmkritik zu lesen. Tatsächlich kann ein Film, der mit so einer beschwingten Tavernenschlägerei anfängt, gar nicht schlecht sein. In einem Western wäre das eine schöne Saloonschlägerei und der running gag der ganzen Szene besteht darin, dass Herkules zwar anwesend ist, sich aber aktiv darum bemüht, uninvolviert zu bleiben, weil er gerade isst und trinkt. Sein Eingreifen, während um ihn herum sich alle prügeln, besteht nur darin, das Verschütten seines Weines und eine Schädigung seiner Hammelkeule zu verhindern.

Der britische Bodybuilder Reg Park war als Herkules schon einmal beim Terza 2018 zu sehen, nämlich in Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA. Als Präsenz ist er mir in Cottafavis Film nun besser in Erinnerung geblieben, zum einen, weil ich bei letzterem nicht zwischendurch eingeschlafen bin, zum anderen, weil seine Darstellung des Herkules doch wesentlich sympathischerer als im Bava-Film. So trägt Park den Film auch mühelos auf seinen monumentalen Schultern – natürlich auch nicht zuletzt, weil ERCOLE ALLA CONQUISTA DI ATLANTIDE einfach auch ein toller, im positiven Sinne "naiver" Genrefilm voller schöner Attraktionen ist. Da gibt es nicht nur Parks ölige Muskeln zu bewundern, sondern auch eine Gummi-Einhorn-Eidechse (na ja, eine Monster-Eidechse mit einem Horn), verstrahlt aussehende Mutantenkämpfer, ausladende Palastinnenräume voller Prachtsäle und dunkler, geheimnisvoller Verliese – und am Ende wird Atlantis in einer geradezu rauschhaften Zerstörungsorgie dem Boden gleichgemacht, dass es nur so explodierte und donnerte.

Trotz der wunderbar knackigen Schärfe der Kopie wurde das Sichtungsvergnügen durch den Rotstich doch etwas gezügelt: lediglich ein leichter, sepiafarbener Hauch war an blaßer, monochromer Restfarbe übrig geblieben. Vielleicht hätte mich der Film mehr umgehauen in voller Farbpracht: so bleibt "nur" ein sehr kurzweiliges, flottes Abenteuer-Vergnügen in Erinnerung.


Machen wir hier kurz vor Hälfte des Programms eine kleine Pause. Im zweiten Teil werden uns dann unter anderem hungrige Kannibalen und vereinsamte deutsche Soldaten, rebellische Knastinsassinnen und verliebte Kreuzritterinnen begegnen.

Sonntag, 10. März 2019

Die cinephile Klasse kommt ins Paradies


Highlights beim 1. Paradies-Filmfestival in Jena, 4. bis 7. Oktober 2018


Jena ist kein Paradies. Dafür sind die Stimmergebnisse für die Braunen in letzter Zeit viel zu hoch, die namensgebende Wiese hinter dem gleichnamigen, trostlosen Bahnhof ist nicht gerade das schönste Fleckchen Grün auf Erden und die Kino-Highlights der Stadt haben die Größe und Dichte kleiner Oasen inmitten einer trockenen Wüste. Zumindest bei letztgenanntem Problem haben zwei Jenaer Cinephile Abhilfe geschafft, indem sie nicht weniger gemacht haben, als ein Kino-Paradies (oder Paradies-Kino) selbst zu bauen, für ein intensives und aufregendes Wochenende voller Filme!

Das Filmparadies in der Trafo-Station
Die Location, das TRAFO, sieht von außen etwas unscheinbar, gar leicht verfallen aus.  Aber Sessel kündeten vor dem Eingang bereits Gemütliches und Gutes an, zumal bei meiner Ankunft am ersten Abend ein älterer Herr mit einem schicken Panamahut sich bei einer Zigarette schon gemütlich in eine dieser Sitzgelegenheiten niedergelassen hatte (mehr zu diesem Herrn gleich). Drinnen wartete ein großer Saal mit einer von den Organisatoren selbst gebauten (sic!) Kinoleinwand sowie einer ebenfalls selbstgebauten Untertitelleinwand, mehrere Sitzreihen mit den ehemaligen Sitzen des Jenaer Schillerhof-Kinos (die wesentlich bequemer waren und sind als die neuen), einem ebenfalls selbst gebauten (sic!) Projektionsraum mit zwei 35mm-Projektoren (aus dem Privatbesitz einer der Veranstalter) sowie einer relativ steilen Treppe, die zur Raucher-Lounge-Bar-Empore führte – mit einem direkten Blick auf die Leinwand. Eine Toilette gab es auch, allerdings nur eine einzige für alle Besucher. Die Wartezeiten vor dem stillen Örtchen konnte man sich allerdings mit einer kleinen Partie Minigolf vertreiben, denn im kleinen Vorraum war ein kleiner Corso aufgebaut und es war gar nicht so einfach, den Ball in die mittlere Tasche zu schlagen!
Ich muss zugeben: am Anfang war ich etwas skeptisch. Dass es sich um eine ehemalige Transformatorenhalle handelt, sah man der sehr rohen Location an. Aber spätestens nach dem ersten Film, dem ersten Gang zum Bar-Lounge-Empore-Raucherbereich war das Eis gebrochen, das Herz erobert, die Liebe unwiderruflich gewonnen. Einzig der Körper blieb wortwörtlich etwas kühl, weil das Gebäude etwas zugig ist. Das Höllenfeuer, das zwischen den Filmen in diesem Paradies immer entfacht wurde (ein gasbetriebener Feuerstrahler), sorgte zumindest in der Empore für Wärme, da die heiße Luft nach oben entweichte, im Kinosaalbereich brachte es nur ein bisschen Atmosphäre – immerhin, gemeinschaftlich konnte man sich um den Heizer wie um eine brennende Mülltonne versammeln, um sich ein bisschen die Beine und Hände anzuwärmen.
Die beiden Veranstalter legten für das Programm ihre jeweiligen Vorlieben zusammen, um ein Festival zusammen zu machen: italienisches Genre-Kino und vergessene DEFA-Filme. Klingt komisch, erwies sich aber durch die Kontraste als äußerst interessant.

Das italienische Programm (oder: das inoffizielle Ennio-Morricone-Festival)
Ein Gang ins Kino kann ein bisschen wie ein Gottesdienst sein und in dem kleinen Paradies im Trafo hieß unser Gott Aldo Lado! Der Ehrengast dieser ersten Festivalausgabe, der auch mit einem Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, war im Programm mit fünf Filmen vertreten, von denen leider nur zwei auf 35mm zu sehen waren. Nun, die analogen Kultgegenstände des Kinos sind in den Religionskriegen der digitalen Medien gegen das Materielle oft verschütt gegangen – so geht es auch CHI L'HA VISTA MORIRE (Italien/BRD 1972), von dem heutzutage auch bei den größten Bemühungen, die sich die Organisatoren gegeben haben, keine analoge Kopie aufzufinden ist. Der Film musste deshalb auf DVD gezeigt werden.


Lados zweiter Film zerfällt klar in zwei Teile. Beginnen tut er als Kindermord-Geschichte, die sich zunächst wie ein schwerer Schleier auf die Beziehung zwischen dem Künstler Franco (George Lazenby – kaum drei Jahre nach seinem Bond-Film schockierend gealtert, aber trotzdem großartig) und seiner kleinen Tochter Roberta legt. Da wir einen brutalen Mord an einem anderen rothaarigen Mädchen vor den Credits gesehen haben, kann es keine Ruhe geben in dem ungezwungenen Miteinander des Vaters mit dem kleinen Kind. Mehrmals schleicht sich die alte Mörderin an Roberta heran, bis es ihr schließlich gelingt... Für mehrere Minuten wirkt es so, als würde der Film das Genre hinter sich lassen, sich komplett in eine schmerzhafte Meditation über Trauer und Verlust ergeben. Der Sex zwischen Franco und Elizabeth nach dem Tod der Kleinen: eine einzelne, glänzende Träne in Anita Strindbergs Gesicht, ein Schwenk zu Lazenbys Kopf, abgewandt, auf den ersten Blick vor lauter Rohheit und Runzeln wie eine Attrappe wirkend... Danach (oder davor?) der Akt, lustlos, mechanisch und zwanghaft – dabei ist eine verblüffende, ziemlich große Narbe an Lazenbys Bauch (oder dem seines Doubles) zu sehen, die den Schmerz geradezu exemplarisch visualisiert... Extreme Trauer in einigen wenigen, schauerlich schönen Bildern konzentriert. Da ist der Film wohl knapp eine halbe, dreiviertel Stunde alt. Vielleicht war es vermessen, zu erwarten, dass er auf diesem emotionalen Niveau weitermacht, weiter durchhält.
CHI L'HA VISTA MORIRE? mündet dann relativ plötzlich in etwas, was man wohl einen klassischen Giallo nennen kann und muss, mit Mörderjagd, Befragungen, falschen Fährten, weiteren schauerlichen Morden, einigen Verfolgungsjagden und schließlich dem Showdown nach der überraschenden Entlarvung des Täters. Das ganze mit einer kleinen Überdosis an Wendungen, etwas zu plotgetrieben – dass hier eigentlich ein vor Trauer halb wahnsinniger Vater und nicht ein kauziger Hobbyermittler mit zu viel Freizeit nach einem Mörder sucht, kann leicht vergessen werden. Trauer und Verlust verschwinden, übrig bleibt, wahlweise "leider" oder "immerhin" – ein solider Giallo. Die Enttäuschung, dass CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht etwas Größeres geworden ist (etwas wie Lucio Fulcis NON SI SEVIZIA UN PAPERINO, der knapp vier Monate später herauskam – ähnlich durch die Thematik des Kinderserienmords und der finalen Enthüllung), nagt seit der Sichtung an mir und lässt mich nicht los. Ein enttäuschender Film zwar, aber in seiner Enttäuschung trotzdem ganz auf eigene Weise ganz groß.
Wie viele italienische Filme ist auch CHI L'HA VISTA MORIRE? nicht von seiner Musik zu trennen, ja ohne sie geradezu unvorstellbar. Ennio Morricone hat viele unvergessliche Scores komponiert, aber möglicherweise hat er sich hier selbst übertroffen. Als kurz nach dem Prolog, nach dem brutalen Mord an einem kleinen rothaarigen Mädchen im Schnee, mit dem höchst beunruhigenden, vokalisierenden Kinderchor, der Titelsong perfekt getaktet zum blutroten Filmtitel mit den Worten "CHI L'HA VISTA MORIRE?" geradezu aufschrie, jagte mir das ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ebenso bei dem emotional härtesten Moment des Films, dem Mord an Roberta, der parallel mit einer Sexszene zwischen Franco und Elizabeth montiert wird.

Lados erster Film LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO (Italien/BRD/Jugoslawien 1971) bzw. MALASTRANA, wie der Film ursprünglich tatsächlich heißen sollte und schließlich in Deutschland sowie Brasilien hieß, wird oft auch als Giallo bezeichnet, aber das passt nur, wenn man eine sehr offene Definition nutzt – mit Serienmördern in schwarzen Lederhandschuhen hat der Film wenig am Hut. Vielmehr ist er ein sehr intensiver Paranoia-Thriller, der sich von einem sehr latenten Unbehagen (in vielen Szenen an der Grenze der Wahrnehmungsschwelle) langsam steigert bis zu seinen grauenerregenden letzten fünfzehn Minuten und dem absolut ungeheuerlichen, unvergesslichen Finale. Der Vergleich ist eher eine sehr grobe Stütze: LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO steht den Thrillern Roman Polanskis wesentlich näher als dem "handelsüblichen" italienischen Giallo. Atmosphärisch nimmt er eindeutig Francesco Barillis singulären (ebenfalls nur unzureichend als solchen zu bezeichnenden) "Giallo" IL PROFUMO DELLA DONNA IN NERO von 1974 vorweg, dessen Finale dem von Lados Film noch eins draufsetzt – Barilli arbeitete vor seinem ersten und gleichzeitig vorletzten abendfüllenden Kinofilm mit Lado als Drehbuchautor bei CHI L'HA VISTA MORIRE mit.


Sicherlich trägt einiges zur Atmosphäre bei, dass der Film aus der Perspektive eines ganzkörpergelähmten Scheintoten erzählt wird, der in einem Park als "tot" aufgefunden wurde, nun in der Kühlkammer einer Pathologie liegt und sich zu erinnern versucht, wie er in diese Lage kam. Was in anderen Film als ein Eine-Idee-Gag verbraten worden wäre, nutzt Lado sehr geschickt als Element zum Aufbau von Spannung und Unbehagen. Im klassischen, "handelsüblichen" Giallo erforscht meist ein Hobbydetektiv in mondänen Umgebungen Mordfälle, deren Lösung in der Vergangenheit gesucht werden muss. Hier jedoch ist der Hobbydetektiv der Tote selbst, seine Erforschungen finden in seinem Kopf (für uns als Rückblenden statt). Mondäne Umgebungen gibt es in LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO kaum, denn das Prag, in dem es spielt, ist äußerst trostlos, kalt, monochrom-gräulich, verfallen, staubig. Die Kulisse war das reale Prag (gedreht wurde ohne ordentliche Drehgenehmigung, ganz offen, ohne Scheu und teils vor den Augen von Polizisten: niemand konnte sich zwei Jahre nach der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings vorstellen, dass jemand wirklich die Chuzpe haben würde, tatsächlich ohne Genehmigung zu drehen – deshalb wurde die Crew nicht kontrolliert), das Prag der frühen 1970er Jahre, mit seinen bereits sichtbaren Erscheinungen realsozialistischer Vernachlässigung. Was Lado vorschwebte, war keineswegs eine kaltkriegerische Anklage des Kommunismus, sondern ein Plädoyer gegen die autoritäre Herrschaft der Älteren. Lados Prag sieht ein wenig aus wie eine Zombie- oder Vampir-Version von Kafkas Prag: ein Ort zum Paranoid-Werden, bevölkert von komischen Leuten, die mit ihren geisterhaft blassen Gesichtern tatsächlich wie Untote aussehen. (Ich glaube überhaupt, dass der Film seine Kraft mehr aus einer "habsburgischen" denn aus einer "realsozialistischen" Atmosphäre zieht – vielleicht hätte der Film auch in Wien spielen können.)
LA CORTA NOTTE DELLE BAMBOLE DI VETRO gehörte zu den großen Highlights des Festivals. Der Film gab dem Festival seinen Titelbanner, war am Samstagabend nach der Preisverleihung an Aldo Lado programmiert, entpuppte sich als der am besten besuchte Block des Wochenendes. Wir wurden alle Zeugen von etwas Besonderem, denn die Kopie aus einem italienischen Archiv war wunderschön. Das Technicolor machte das Blut an den entsprechenden Stellen sehr rot, ansonsten zeigte sich der Film in sehr pastelligen, weichen Farben mit rauchigem Licht, wie unter dem Nebelschleier eines fiebrigen Alptraums – und Lado hat hier einen sehr intensiven Alptraum erschaffen. Genau zu sagen, wie ihm das gelungen ist, fällt mir schwer, weil die ganzheitliche Atmosphäre des Unbehagens stärker wirkt als einzelne Szenen. Wie die physische Kälte des Trafos breitete der Film sein Unbehagen langsam aus: zunächst ist ein kaum bemerkbarer Windhauch an den Füßen, dann kriecht die Kälte langsam an den Beinen hoch, nimmt Besitz vom Oberkörper, packt einen am Nacken und am Ende schüttelt sich der ganze Körper vor lauter Schauern.
Natürlich war da wieder die Musik Ennio Morricones (der zu neun Filmen Lados den Score beisteuerte). Eines der Titel nennt sich "Walzer" (siehe/höre hier), aber hinter den (scheinbar) sanften Elementen begrüßt einen nicht die Leichtigkeit eines Strauss, sondern das Grauen...

Von Aldo Lado liefen noch sein aktuellster Film IL NOTTURNO DI CHOPIN (2013), den ich aufgrund der frühen Terminierung am Sonntagmorgen nicht sah, sowie sein großartiger Rape-and-Revenge-Kracher L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE (1975), der am Samstag Abend als "Italo-Überraschungsfilm" lief (leider nur von einer blu-ray) und den ich sausen ließ, weil ich ihn eine Woche zuvor in "Vorbereitung" auf das Festival schon gesehen hatte. Auf 35mm, allerdings bereits rotstichig, wurde noch L'UMANOIDE (Italien, 1979) gezeigt. In seiner Einführung zum Film hat sich Lado nicht direkt vom Film distanziert, wies aber deutlich darauf hin, dass es nicht das geworden ist, was er eigentlich machen wollte. Von Personen, deren Äußeres nicht der gesellschaftlichen "Norm" entspricht, war Lado stets fasziniert und er wollte einen Film über einen bösartigen Hünen drehen, der in der Begegnung mit einem kleinen Kind langsam lernt, menschlich zu werden. Die Produzenten drangen ihn aber schließlich dazu, einen Star-Wars-Ripoff zu drehen und von der Grundidee blieben vielleicht 5 bis 10 Minuten im fertigen Film zu sehen – tatsächlich einige der schönsten und poetischsten Momente. Gerne würde ich L'UMANOIDE mehr mögen, wäre er im Mittelteil nicht so fürchterlich langweilig, dass einem davon Kopf, Gehirn, Augen und Füße einschlafen.
Dennoch gibt es genug liebenswürdige Momente. Natürlich ist da zunächst das Casting: L'UMANOIDE sieht aus wie eine Star-Wars-Kostümfeier, die irgendjemand in den Drehpausen eines zeitgenössischen James-Bond-Films veranstaltet hat, mit Richard Kiel, Corrine Cléry und Barbara Bach als Stars der Party. Zwischendurch enthält der Film den wahrscheinlich selbstzweckhaftesten Wet-Dress-Moment in der Geschichte des Kinos, wenn Corinne Cléry auf der Flucht vor irgendwelchen Böswatzen durch verschiedene Räume rennt, und schließlich in einen Raum gelangt, in dem aus völlig unerklärlichen Gründen ein Wasserbecken eingelassen ist – in das sie natürlich hineinfällt, damit sie für die nächsten Minuten zur Freude der geneigten Zuschauer mit feucht-durchsichtigem Kleid durch die Gegend rennen muss. Währenddessen labte sich Barbara Bach als oberböse Galaxis-Hexe am Blut junger Frauen, deren Lebenssaft sie dadurch gewinnt, dass sie ihre Opfer in eine futuristisch-durchsichtige Variante einer Eisernen Jungfrau mit langen Injektionsnadeln hineintreibt – gruselig, aber nicht ganz so gruselig wie die Tatsache, dass die Frau, die in einem anderen Film die schöne Anja "Triple X" Amasova spielte, auf dem Kopf ein totes und offenbar schwer verstümmeltes Pelztier trägt. Darth Vader wird von Ivan Rassimov fast inkognito, dafür mit aber mit einem wesentlich eindeutigeren S&M-Touch gespielt – mehr schwarzes Leder als glänzendes Metall! Außerdem braucht er keine Waffen: er schießt die blauen Blitze einfach so aus seiner Hand. R2-D2 ist in L'UMANOIDE auch kein stinklangweiliger Roboter, sondern ein Roboter-Hund und ist als solcher auch unglaublich sympathisch: er wedelt regelmäßig mit dem Schwanz, rettet zwischendurch mit eben diesem durch unfreiwlliges Drücken eines Knopfs seine Leute und uriniert (sic! ja, wirklich!) zwischendurch klebrig-gelbe Pfützen, auf denen die Böswatze ausrutschen und sich flachlegen können. Und jeder Film, in dem Richard Kiel einen Stahlträger irgendwo herausrupft, diesen schwungvoll wirft und damit gleich ein halbes Dutzend Gegner, die sich dafür extra in eine Linie aufgereiht haben, köpft, kann nicht vollkommen schlecht sein! Diese Aufzählung ist letztlich doch eine eher kleine Summe, die nie ein Ganzes bildet, aber immerhin sind es viele Gründe, diesen Film zu mögen zu versuchen. Zumindest ein bisschen. Ein kleines bisschen...

Ein bisschen... natürlich auch, weil Aldo Lado sich im Verlauf einiger Tage als äußerst liebenswürdiger Mensch erwies, der sich sehr freute, dass verhältnismäßig junge Menschen sich so sehr für sein Werk interessierten und begeisterten. Äußerst freundlich, das Beste aus elegantem Gentleman und coolem Bohemien kombinierend, einem kleinen Bier, deutschen Kroketten und einigen Zigaretten nicht abgeneigt, war Aldo Lado ein bisschen wie ein dritter Großvater, den einige von uns gerne gehabt hätten. Am ersten Abend, bei einem Essen mit den anwesenden Zuschauern in einem dem Trafo-Paradies nahe gelegenen Lokal, plauderte er aus dem Nähkästchen über seine Jugend, über seine Arbeit nach dem Zusammenbruch der italienischen Filmindustrie in den Achtzigern und vielem mehr... Lado war dann auch mehr als nur ein Ehrengast, sondern auch ein leidenschaftlicher Zuschauer. Seine eigenen Filme schaute er erwartungsgemäß nicht und ging in dieser Zeit immer durch Jena spazieren, aber mit großem Enthusiasmus schaute er mehrere Filme aus dem DEFA-Programm: mit nur sehr rudimentären Deutschkenntnissen schaute er die Filme, ohne die Dialoge zu verstehen und ließ sich einzig von den Bildern mitreissen und begeistern. Einen anwesenden deutschen Kameramann fragte er beim Q & A gar nach den verwendeten Kameras, Objektiven, Linsen. Mit 83 Jahren so leidenschaftlich film-entdeckungsfreudig, wie manch 20-Jähriger es nur träumen kann...

Zweifelsohne war Elio Petris INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO (Italien 1970) außerhalb der Lado-Retrospektive der Höhepunkt des italienischen Programmblocks. Für mich war es eine Erstsichtung, auch wenn ich den Film schon als kleiner Schuljunge vor über zwanzig Jahren bereits "kennen lernte": die Titelmelodie war einer der vielen Scores auf meinem persönlichen Ennio-Morricone-Mix-Tape, das ich auf Grundlage einer Ennio-Morricone-Best-Of-CD aus der brüderlichen Diskografie zusammengestellt hatte.


Petri ist im Grunde ein Thesenfilm gelungen, der sich nicht wie ein Thesenfilm anfühlt und präsentiert das geradezu dystopische Portrait eines nach ultrarechts abdriftenden Staatsapparats, der nur noch seiner eigenen Logik folgt und eine konsequente Sündenbock-Politik betreibt: gegen Frauen, Schwule, progressive Studenten. Ultrarechte Wirrköpfe, die an entscheidenden Stellen in Justiz und Polizeiapparat sitzen, sind leider bekanntermaßen nicht nur eine Fantasie linker italienischer Regisseure der 1970er Jahre. Nur wenige Tage vor der Projektion dieses fast 50 Jahre alten Films hatte sich ein gewisser Beamter des Innenministeriums mit Äußerungen bemerkbar gemacht, die man eher von Aluhutträgern erwarten würde, deren Beobachtung eigentlich zur Zuständigkeit eben dieses dieses Beamten gehört – kurz danach hat er zur "Strafe" eine Beförderung bekommen, die mittlerweile doch rückgängig gemacht wurde, aber das ändert nichts daran, dass INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO oftmals keineswegs absurd, kafkaesk, übertrieben oder grotesk wirkte, sondern von einer verblüffenden Aktualität und Wirklichkeitsnähe.
Unabhängig von dem, was der Film über Politik zu sagen hat, ist Petri auch ein exzellenter Film über männlichen, (selbst)zerstörerischen Größenwahnsinn gelungen. Der perfide Dottore dient nicht nur einem allmächtigen autoritären Staatsgebilde bzw. der Idee davon, sondern auch seinem eigenen Ego, seinem Narzissmus. Gian Maria Volonté verkörpert diesen scheusslichen Narzissten grandios, und in sehr kurzer Zeit reisst er den Film komplett an sich. INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO ist nicht nur Petris, nicht nur Morricones, sondern vor allem Volontés Film. Er bringt einen dazu, es zu lieben, den Dottore zu hassen. Und gegen Ende vielleicht sogar ein bisschen mitzufühlen, als er nach und nach immer mehr zusammenbricht, aus Verzweiflung darüber, dass es sein Ego ebenfalls enorm kränkt, wenn man ihn des Mordes an seiner Geliebten auch trotz größter Bemühungen nicht verdächtigt bzw. nicht verdächtigen will.
(In LA CLASSE OPERAIA VA IN PARADISO, den ich noch nicht gesehen habe, soll Volonté noch großartiger sein und Morricones Score noch nervenzerfetzender. Der Film würde rein vom Titel natürlich super für eine Projektion in Jena passen und musste erst mal in Form eines hoffentlich verzeihbaren Wortwitzes für den Titel dieses Textes herhalten).

INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO war der zweite und wesentlich rabiatere Teil eines inoffiziellen Double Features "Justiz und Polizei gehen (rechts) den Bach runter". Vorher lief IL VERO E IL FALSO (Italien 1972) von Eriprando Visconti, dem Neffen des wesentlich berühmteren Luchino. Es geht um eine Frau (Paola Pitagora), die zu Unrecht des Mordes an der Geliebten ihres Mannes angeklagt und verurteilt wird. Nachdem sie ihre Strafe abgesessen hat, trifft sie zufällig die Frau, die sie angeblich ermordet haben soll – und ermordet sie dann tatsächlich. Ihr damaliger Anwalt (Terence Hill) steht nun im Gerichtssaal zum zweiten Mal dem skrupellosen, karrieristischen Staatsanwalt (Martin Balsam) gegenüber. Der hatte im ersten Prozess eine entlastende Zeugin erbarmungslos eingeschüchtert, um zum Wohle seiner Karriere den Fall um jeden Preis zu gewinnen.


Neben einem ganz soliden Terence Hill in einer ungewöhnlichen, ernsthaften Rolle und einer exzellenten Paola Pitagora, die ihrer Figur Verletzlichkeit und Tragik verleiht, ist es vor allem eine Wonne, Martin Balsam als verabscheuungswürdigen, opportunistischen Karrieristen zu sehen, der ohne mit der Wimper zu zucken Zeuginnen wegen Meineid zu einem Monat Haft verurteilt, wenn ihre Aussagen ihm nicht passen und es offensichtlich recht locker nimmt, wenn ihm seine Frau beim Besteigen der Karriereleiter hilft, indem sie mit noch höher gestellten Justizbeamten schläft (das wird sehr schön in einem einzigen Bild aufgelöst: er und seine Frau haben gerade seinen Vorgesetzten zu einem Cocktail bei sich zu Hause, als er wegen eines dringenden Termins aufbrechen muss; der Vorgesetzte und die Frau warten nicht mal, bis der Staatsanwalt draußen ist, um auf der Couch rumzumachen, der Staatsanwalt steht noch im Korridor vor der Wohnungstür und hört sich das, offenbar nur sehr wenig angefressen, an, bevor er schließlich geht – das ganze in einem einzigen Scope-Bild erzählt.) Ja, Balsam hat 1972/73 in einigen italienischen Filmen mitgespielt. Einer der Kuratoren des Terza Visione, der als Dauerkartenbesitzer anwesend war, erzählte dann auch, dass einige amerikanische Darsteller in den 1970er Jahren nach Italien kamen, wenn es in den USA gerade nicht so gut lief: die Bezahlung war nicht so gut wie in den USA, dafür wurden sie aber von der italienischen Filmindustrie sehr hochachtungsvoll behandelt und konnten nebenbei sich etwas im schönen Italien entspannen. Tatsächlich wirkt Balsam ziemlich entspannt.
IL VERO E IL FALSO war sicherlich kein großes Highlight des Festivals, aber dennoch ein ganz guter Start in den Samstag. Die Grundidee (wenn man für einen Mord verurteilt wird, kann man nach Absitzen der Strafe nicht für das selbe Verbrechen verurteilt werden) hätten andere Filme wahrscheinlich zu Tode geritten und gemolken, hier ist sie im Prinzip nur ein Aufhänger für einen figurenzentrierten Film. Nichts spektakuläres, nichts aufregendes, eher kurzweilig und nett. Ein gutes Aufwärmen für den darauffolgenden INDAGINE SU UN CITTADINO AL DI SOPRA DI OGNI SOSPETTO.


Zu den meist erwarteten Filmen des Festivals gehörte SACCO & VANZETTI von Giuliano Montaldo (Italien/Frankreich 1971), den ich in meiner Kindheit wohl irgendwann schon mal gesehen hatte – damals, weil mich natürlich der tolle Score begeistert hat, den ich regelmäßig auf meiner selbstgemachten Kassette hörte. Als Schuljunge konnte ich mit dem Film nicht viel anfangen, aber ich war ja wahrscheinlich auch zu unreif. Knapp zwanzig Jahre später hat mich der Film, der als zweiter Block am Eröffnungstag lief, leider wieder enttäuscht. Die erste halbe Stunde ist erst einmal nicht weniger als atemberaubend. Die semidokumentarischen, schwarzweiß gefilmten Handkamerabilder der antikommunistischen Razzien im Prolog haben es tatsächlich in sich und sind auf ganz unmittelbare Weise emotional und beklemmend (was Morricones Score noch verstärkt). Die ersten Gerichtssitzungen überraschen mit ihrer tumultartigen, chaotischen, unkontrollierten Atmosphäre: alles geht drunter und drüber, alles redet durcheinander – und zwischendurch sehen wir Rückblenden mit harten Crashzooms auf die Gesichter der Zeugen zum Zeitpunkt des diskutierten Verbrechens. Ich behelfe mich mal mit Parallelen, aber die erste halbe Stunde wirkt tatsächlich, als hätte hier Alain Resnais in HIROSHIMA-MON-AMOUR-Sturm-und-Drang-Laune ein puzzleartiges Anarchisten-Biopic inszeniert. Dann wird es zunehmend ruhiger und auch zunehmend anstrengender, bis wir an dem Punkt sind, wo SACCO & VANZETTI so wirkt, als hätte Bertolt Brecht mit großen didaktischen Gesten eine besonders scharchige Folge von PERRY MASON im Sozrealismus-Stil gedreht. Die audiovisuellen Attacken und Irritationen der ersten halben Stunde weichen einem allzu gemütlichen und statischen Gerichtsfilm mit stark predigendem Ton (Unterton wäre zu wenig gesagt). Wohlgemerkt stehe ich der politischen Haltung des Films keineswegs negativ gegenüber – aber linkes Kino gab es im Paradies sowohl bei Lado wie auch bei Petri in wesentlich interessanterer und aufregenderer Form zu entdecken. Trotzdem war es natürlich ein Ereignis, diesen Film auf 35mm wieder zu sehen. Alleine für die atemberaubende erste halbe Stunde!

Das DEFA-Programm (oder: das inoffizielle Jaecki-Schwarz-Festival)
Die DDR war kein Paradies, aber trotzdem wurden in diesem Land zahlreiche Filme gedreht, denen man kaum anmerkt, dass sie in einer miefigen, spießigen, provinziellen, gleichermaßen politisch, sozial sowie kulturell repressiven und wortwörtlich wie mental eingemauerten Diktatur entstanden sind. Filme, die selbst ihr kleines Paradies erschaffen – in das sie dann mit eskalierenden Kinderstreichen, verirrten Amorspfeilen und delirierenden Tanzchoreografien ein bisschen wohltuendes Chaos einpflanzen.

Wenn man bei den Anfangs-Credits von DIE SCHÖNSTE (Ernesto Remani: DDR 1957 / Deutschland 2002) die Hinweise auf die DEFA rausnähme, würden viele Zuschauer annehmen, eine stark amerikanisch geprägte westdeutsche Komödie zu sehen, und das liegt nicht nur am westdeutschen Setting, sondern an seiner sinnlichen Lust an schönen, opulenten, bunten und glänzenden Dekoren und Kostümen. Ja selbst für eine durchschnittliche westdeutsche Komödie dieser Zeit ist der Film fast zu barock – da denkt man eher an die Werke eines gewissen deutschen Emigranten in Hollywood...
Aber zuerst ein paar Worte zur interessanten und sehr schwierigen Rezeptionsgeschichte... Der 1957 gedrehte DIE SCHÖNSTE war der erste DEFA-Film, der komplett verboten wurde. Der südtirolische Regisseur Ernesto Remani, geboren Ernst Rechenmacher, dessen etwas dubiose Vergangenheit (Mitglied der italienischen faschistischen Partei, Aufsteiger während des Dritten Reichs, Produzent in der besetzen Tschechoslowakei, nach dem Zweiten Weltkrieg für mehrere Jahre nach Südamerika emigriert, damit man ihn in Europa etwas vergisst) vorher keine Rolle gespielt hatte, bekam Einreiseverbot. Sein Film wurde stark geschnitten, umgeschnitten, mit vielen nachgedrehten Szenen versehen – und dann schließlich auch in der verstümmelt-editierten Fassung wieder verboten. Als die Wende kam, wurde er schlicht vergessen: in das öffentliche Interesse gerieten 1989 und 1990 die Filme, die im Zuge des "Kahlschlag-Plenums" von 1965 verboten wurden (z. B. DAS KANINCHEN BIN ICH oder KARLA). DIE SCHÖNSTE bekam später Aufmerksamkeit und erlebte seine Weltpremiere erst im Jahre 2002, ganze 45 Jahre nach seiner Fertigstellung.
Handlungsort ist Westberlin. Der kleine Sohn eines steinreichen Ehepaars streitet sich mit seinem besten Freund, Sohn des Inhabers einer nahegelegenen Autowerkstatt, darüber, wer von den beiden die schönere Mutter habe. Der Junge mit der reichen Mutter kann mit deren Bildern in einer Revue über die Reichen und Schönen der Stadt prahlen – ihre Schönheit liege aber doch bestimmt nur an der glänzenden Halskette, so der Arbeitersohn. Beide beschließen, ihrer Mutter jeweils den wertvollsten Schmuck zu klauen, um zu demonstrieren, dass deren Schönheit auch ohne Klunker besteht. Gesagt, getan, doch bei einer Soiree in der Villa führt das "verschollene" (und vor allen Dingen: noch nicht abbezahlte!) Collier zu einem kleinen Skandal: statt wie geplant dank seiner schön geschmückten Ehefrau gute Geschäfte abschließen zu können, gerät der Papa des kleinen Diebs in die Bredouille, seine Kreditwürdigkeit platzt wie eine Seifenblase, er sieht sich vor dem Ruin stehen, und seine Ehefrau muss am Ende möglicherweise gar für ein Darlehen ihren Körper einem der Geschäftspartner anbieten. Währenddessen suchen die beiden Jungs verzweifelt nach dem nunmehr wirklich verschollenen Collier, und das führt sie bis nach Hamburg!
DIE SCHÖNSTE handelt von kapitalistischer Dekadenz, von der Verkommenheit des Geldadels, davon, dass schneller Reichtum nur eine Illusion ist: das klingt alles erst mal durchaus im Sinne der realsozialistischen Ideologie in der DDR, aber das absolut "Böse" wird in diesem Film einfach viel zu sinnlich, verführerisch, geradezu erotisch dargestellt. Die opulent eingerichtete Villa, mit ihren riesigen Räumen, ihren weichen, flauschigen Teppichen, ihren glänzend-glitzernden Lichtern, dem elegant dunklen Holz der Möbel, den blitzblanken Spiegeln – das könnte alles nach DDR-Begriffen Sodom und Gomorrha sein, und im Prinzip ist es das auch, aber der Film zeigt andererseits doch ganz klar: Luxus ist unendlich sexy! Bei so viel visuell gefeierter Glanz und Glorie wurde den fleißigen ostdeutschen Zensoren wohl ganz übel. Dass die Wohnung der Arbeiterfamilie selbst ziemlich bequem aussieht, diese zu Weihnachten ohne jegliches Klassenbewusstsein nicht nur flaschenweise Sekt vernichtet, sondern auch Konservendosen mit Ananas (sic! Südfrüchte!) und Orangen (sic!! noch mehr Südfrüchte!), als würden diese einfach vom Himmel regnen – nein, so etwas Dekadentes und Verkommenes konnte man den Zuschauern in ostdeutschen Kinos niemals zumuten, so Ralf Schenk von der DEFA-Stiftung in seinem einführenden Vortrag über die schwierige Editionsgeschichte des Films. DIE SCHÖNSTE badet visuell völlig hemmungslos in dem Luxus, den er auch ein bisschen verurteilt. Der einzige Abstecher aus dem engeren Umkreis der herrschaftlichen Villa führt die Zuschauer dann noch weiter weg, nach Hamburg, in das Hafenviertel, wo die Jungs schließlich das Collier wieder finden, dafür aber von der Polizei verfolgt werden und nur dank der Hilfe äußerst zwielichtiger Gestalten aus der kriminellen Hafenunterwelt entkommen können.
Remani ist nicht nur ein wunderschöner Film gelungen, sondern auch eine herausragende Komödie mit einem perfekten Timing. Alles geht wie am Schnürchen, die Gags geben sich locker die Klinke in die Hand, und als Zuschauer wird man fröhlich zwischen Gelächter und dem Staunen ob der spektakulären Schauwerte und zwischendurch auch der verblüffenden Schmierwerte hin- und hergerissen.
Zwei kleine Details noch... In einem etwas ernsteren Moment – der Ruin der Familie ist geradezu greifbar – steht die Ehefrau vor einer Fensterfront, auf der einen Seite eingerahmt von einem Stück Vorhang, in einem prachtvollen blauen Kleid (ich glaube es war blau) gekleidet, aber mit einem tieftraurigen Blick im Gesicht. In diesem Moment steht gerade kurz davor, sich für ein bisschen Geld an einen der Geschäftspartner ihres Mannes zu verkaufen, um den ganzen Luxus, der um sie herum schweigend, still und doch furchtbar obszön vor sich hinprotzt, zu retten. "Douglas Sirk!" war der Gedanke, der mir wie ein Blitz durch den Kopf schoss. Diese Art, eine wohlhabende und trotzdem todunglückliche, weil von den drückenden Fesseln gesellschaftlicher Zwänge eingeschnürte Frau durch ein Fenster zu filmen... Mit seinem gierigen Auge für visuell barocken und doch emotional leeren Luxus wirkte DIE SCHÖNSTE tatsächlich Sirk'ianisch.
Des weiteren war die Farbe Schwarz in diesem Film geradezu radioaktiv aufgeladen: jegliches Stück schwarzer Kleidung strahlte in DIE SCHÖNSTE einen kleinen Halo aus. Der elegante schwarze Anzug des kleinen Jungen, die Smokings der Herren und vor allem die pechschwarze Pelzmütze der persönlichen Kostümdesignerin des Hauses – sie alle schienen innerlich zu strahlen und waren von einem leichten Lichtschimmer umgeben. Das hat nicht mal Sirk in Hollywood auf diese Art hinbekommen!

Dass die DEFA durchaus dazu in der Lage war, sich hinter der Mauer ein eigenes kleines Heiligholz aufzubauen, demonstrierte auch das Musical REVUE UM MITTERNACHT aus dem Jahr 1962, inszeniert von Gottfried Kolditz (dessen irrsinniger, geradezu psychedelischer Science-Fiction-Film IM STAUB DER STERNE ich hier schon besprochen habe).


Ein findiger Produzent lässt einige Künstler – einen Autoren, einen Komponisten, einen Dramaturgen – entführen und in eine Villa bringen. Dahinter steckt allerdings keine verbrecherische Absicht, nein: es soll einfach nur ein Revuefilm vorbereitet und später gedreht werden. Das versammelte Personal sitzt also in nun eingesperrt in dieser Villa und denkt sich allerlei aus... Die rudimentäre Rahmenhandlung ist geradezu ein putziges kleines Feigenblättchen, damit REVUE UM MITTERNACHT sich konzentriert und ganz ungestört einem einzigen Rausch aus Revuenummern hingeben kann. Natürlich gibt es nebenbei noch eine kleine, obligate Romanze zwischen der Produktionsassistentin Claudia (Christel Bodenstein) und dem Komponisten Alexander (Manfred Krug), und mehrere versuchte und geglückte Ausbruchsversuche der Künstler, die nicht alle begeistert davon sind, an einem Revuefilm mitzuarbeiten. Aber das ist sozusagen Beiwerk bzw. das I-Tüpfelchen in einem Film, der ohne jegliche Scham und Hemmung, dafür aber mit umso genussvoller mit spektakulären Tanz- und Revuenummern in wunderbarer Totalvision-Agfacolor-Farbpracht badet. REVUE UM MITTERNACHT braucht sich in seinen Musical-Nummern keinesfalls vor seinen Hollywood-Vorbildern zu verstecken, ganz im Gegenteil. Zu Beginn ist das noch eine Abfolge von Nummern, die einzig in der Vorstellungswelt der zusammengebrachten Künstler bestehen: "stell dir vor, so und so sähe das aus"... und dann sehen wir es. Die Nummern und Rahmenhandlung sind separate Entitäten. Im weiteren Verlauf des Films löst sich die Rahmenhandlung aber immer mehr in den Musical-Nummern auf und mündet schließlich in eine ausgedehnte Suche Claudias und des Dramaturgen (?) nach dem verschollenen Alexander, die als eine lange Musicalnummer präsentiert wird. Die Revue siegt schließlich über die Realität!
Wer Musicals nicht mag, wird REVUE UM MITTERNACHT wahrscheinlich nicht ausstehen, weil es wohl wenige Musicals gibt, die so "selbstzweckhaft" sind – sozusagen ohne "Handlung", die die Nummern groß unterbrechen könnte. Alle Nummern spielen sich zudem in gebauten, stilisierten Bühnenkulissen ab: REVUE UM MITTERNACHT feiert hemmungslos seine eigene Künstlichkeit. Ich persönlich hatte zwischendurch Angst, dass der Film sich nach dem fulminanten Start "verwässern" würde, dass er der Vorstellung, wonach Film ja irgendeine "Geschichte" "erzählen" müsse, nachgeben würde. Er tat es zu meiner großen Erleichterung nicht.
Warum ich diesen Film so lieb gewonnen habe, wurde mir spätestens an einer Stelle klar. Das Tanzen und Singen hat sich an einer stilisierten Tankstelle verlagert. Zu sehen sind große Zapfsäulen mit durchsichtigen Behältern, und darin sprudelt das Benzin in einem geradezu blendenden Orange (dieses Agfacolor auf dieser wunderschönen 35mm-Kopie!) – als wäre das überhaupt kein Benzin, sondern ein erfrischender Cocktail, der nur darauf wartet, das man ihn sich in ein Glas zapft.
REVUE UM MITTERNACHT war vielleicht der Höhepunkt des Paradies-Festivals. Wäre da natürlich nicht Lados Debütfilm...

...Oder DU UND ICH UND KLEIN-PARIS (1971). In seiner Leipziger "rom com" erzählt Werner Wallroth von der schwierigen Liebe zwischen dem Philosophiestudenten Tommy (Jaecki Schwarz) und der eben kürzlich in die Stadt gezogene Abiturientin Angelika (Evelyn Opoczynski). Es ist eine schwierige Liebe, weil beide zunächst – im Gegensatz natürlich zum Zuschauer – überhaupt nicht merken, dass sie ineinander verliebt sind. Angelika hat zahlreiche Verehrer, unter anderem der Leutnant, der sich schon auf ihrer Fahrt gen Leipzig an sie rangemacht hat. Tommy ist davon genervt, dass die junge Frau nicht nur sein größeres Zimmer vermietet bekommt und er in ein kleineres umziehen muss, dass sie zu lange im Bad bleibt: auch die endlose Schar an Besuchern, die um sie werden, geht ihm auf die Nerven – wecken zugleich aber auch seinen Beschützerinstinkt...


Klingt wie eine konventionelle Liebeskomödie? Im Prinzip ist DU UND ICH UND KLEIN-PARIS das auch, wenn man das auf dem Papier sieht. Auf einer farbkräftigen 35mm-Kopie in absolut glorrreichem Scope sieht das aber noch mal viel großartiger aus. Schon in den ersten Minuten entwickelt der Film einen ungeheuren Sog, mit atemberaubenden Montagen, die um etwa 30 Jahre das vorwegnehmen, was man wohl als Wes-Anderson-Stil bezeichnen könnte, bloß weniger kalt und mechanisch. DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist überhaupt nicht kalt, sondern ein Film voller Lust. Vor allem voller Lust an der Farbe Rot, an roten Schildern, Jacken (James Dean alias Jimmy Stark wäre auf die knallrote Lederjacke Angelikas schwer neidisch geworden!), Socken, Hosen, Schals, Fahrradshirts, Mützen, Polstergarnituren, Bademänteln, Haarschleifen, Fahrradhelmen, Töpfen, Luftballons, Spielbälle, Autos. Man muss nicht lange warten in diesem Film, bis die lustvollste und sinnlichste aller Filmfarben wieder auftaucht.
Und dann dieses Scope! Heutzutage ist es fast ein Standardformat (auch wenn die aktuelle "Qualitätsserien"-Mode offenbar das 16:9 immer mehr als "heutige Sehgewohnheit" durchzuprügeln scheint), mit dem aber oft nichts angefangen wird. In DU UND ICH UND KLEIN-PARIS ist ein müheloses, atmendes, spielerisches Scope zu sehen. Ein Scope, der genau weiß, wie erotisch es ist, eine von unruhigen, vielleicht sinnlichen Träumen geplagten schlafende Person von oben quer zu filmen – und dieses mit einer anderen unruhig schlafenden Person im nächsten Raum zu montieren. Was für ein fantastisches Bild für ein unbewusstes, gegenseitiges Begehren, das unsere beiden sympathischen Protagonisten von innen verzehrt!
Bei aller formalen Meisterschaft bleibt DU UND ICH UND KLEIN-PARIS tatsächlich immer spielerisch, und nimmt sich auch Zeit für ausgiebige Exkurse. Am liebsten gefiel mir, wie die Vermieterin (Angelikas Leipziger Tante) in die Wohnung nach einem abendlichen Rendezvous zurückkehrt. Da lässt der Film Tommy und Angelika auch mal alleine, begleitet die offensichtlich nach ihrem Date sehr gut gelaunte Tante in die Küche, wo sie sich erst mal ein geradezu grotesk riesiges XXL-Gurkenglas aus dem Schrank holt und sich erst mal eine schöne, große Gurke gönnt.
Auch wenn ich die Qualität der Icestorm-DVD fürchte, würde ich diesen Film gerne demnächst noch mal schauen. An diese fantastische 35mm-Projektion, die das Paradies-Festival am Sonntagabend fulminant abschloss, wird das leider niemals rankommen...

Im DEFA-Programm des Paradies-Filmfestivals gab es natürlich nicht nur kunterbunt-fröhliche Fantasiewelten zu sehen. Maxim Dessaus ERSTER VERLUST (DDR/Deutschland 1990), eine Adaption von Brigitte Reimanns Erzählung "Die Frau am Pranger", bot mit seinen düsteren Schwarzweißbildern und seinem trostlosen Setting in einem deutschen Bauerndorf während des Zweiten Weltkriegs ein drastisches, gleichwohl faszinierendes Kontrastprogramm zu DU UND ICH UND KLEIN-PARIS und Co.


Wir befinden uns also in einem deutschen Dorf in den frühen 1940er Jahren. Die Bevölkerung besteht fast nur aus Frauen, älteren Männern – und Kriegsgefangenen, die als kostenlose Arbeitskraft den kriegsbedingten Personalmangel bei der Bestellung der Felder ausgleichen sollen. Manchmal gleichen sie auch andere Sachen aus. Zu Beginn schläft eine Frau mit einem Mann – wenig später kommt heraus, dass es sich um einen französischen Kriegsgefangenen handelt, der kurz darauf an einen anderen Ort gebracht wird. Der Hof von Kathrin und Frieda, der Hauptschauplatz des Films, ist nun wieder ohne männliche Arbeitskraft. Zwischen beiden Frauen herrscht eine starke, unterschwellige Animosität, die daher kommt, dass sie zwei Menschen sind, die nur durch einen anderen Menschen miteinander verbunden sind – einen Mann, der Bruder der einen Frau, der überhastet vermählte Ehemann der anderen, der gerade an der Front ist. Durch das Fehlen des Bruders bzw. Ehemannes sind beide Frauen dazu verdammt, gemeinsam zu leben. Kurz nach dem Abtransport des französischen Kriegsgefangenen wird eine Gruppe von sowjetischen Kriegsgefangenen in das Dorf gebracht. Die beiden Frauen stellen einen Antrag auf einen Helfer für ihren Bauernhof, und bekommen Alexei zugeteilt, einen vollkommen ausgemergelten, stark apathischen, womöglich schwer traumatisierten Gefangenen. Trotz seiner Apathie weckt Alexei bald ein ambivalentes Begehren in den beiden Frauen. Es entwickelt sich etwas, was man – wäre Alexei freiwillig in dieser Situation – als sadomasochistisches Dreiecksspiel bezeichnen könnte.
ERSTER VERLUST ist ein sehr intimer Film über unfreiwillige Nähe, unterdrückte Leidenschaften, über die Banalität des Niederträchtigen, über komplex verzweigte soziale Hierarchien. Es geht um sexuelle Spannung, um "Liebe" (ohne Anführungszeichen wäre es das falsche Wort), die nicht zwischen gleichberechtigten Partnern entsteht, sondern aus einem komplexen Herrschaftsverhältnis. Die beiden Frauen, die Alexei zunehmend begehren, lassen immer wieder ihren Frust über eben ihr unterdrücktes Begehren, über ihre unglückliche Wohnsituation auf oft grausame Weise an Alexei aus: beschimpfen ihn, schreien ihn an. Sie selbst sind aber nicht nur Herrscherinnen über Alexei, sondern selbst einem Herrschaftsverhältnis unterworfen. Als Deutsche gelten sie im Dritten Reich natürlich als Nicht-Deutschen überlegen, aber als Frauen sind sie doch Personen zweiter Klasse. Sie sind auf das Wohlwollen eines älteren Soldaten (Jaecki Schwarz) angewiesen, der sich in der Administration für sie einsetzt – und das offenbar nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Der namenslose Soldat ist nicht mehr kriegstauglich, aufgrund einer Verletzung hinkt er zudem leicht, ein potentiellen Aufstieg in der Armee wird für ihn nicht mehr kommen und ob das Dorf seine Heimat ist oder er dort an der "Heimatfront" abkommandiert ist, bleibt meiner Erinnerung nach unklar. Jedenfalls: auch keine besonders angesehene Person, zumal als älterer lediger Mann auch noch in einer zusätzlichen Außenseiterposition. Seine persönlichen Frustrationen baut er ab, indem er sich an die beiden Frauen heranwirft. Zunächst während eines gemeinsamen, abendlichen Umtrunks, der auch in einen gemeinsamen Tanz mündet – der vielleicht ausgelassenste Moment im Film. Später überrascht er eine der beiden Frauen (ich weiß nicht mehr, welche; ich glaube die Schwester des abwesenden Hausherren) in der Scheune, wie sie sich gerade intim an Alexei heranmacht. Im beklemmendsten Moment des Films wird er nicht wütend, droht nicht damit, die Frau zu denunzieren – nein, er teilt ihr kaltblütig für den kommenden Abend ein Rendezvous inklusive festem Termin und Ort mit und geht dann weg.
ERSTER VERLUST ist auch ein sehr vielschichtiger Film über das Dritte Reich. Wo der "klassische" Nazi-Film gerne mit schreiend-brüllend-sadistischen Nazi-Karikaturen in schnittigen Armeeuniformen aufwartet, hält sich Dessaus Film angenehm zurück und zeigt etwas, was der historischen Realität wohl näher kommt: Menschen, die das System des Nationalsozialismus so gut verinnerlicht haben, dass sie es gar nicht mehr groß zu thematisieren brauchen; die Russen völlig selbstverständlich als Untermenschen bezeichnen; die offene, meist aber eher latente und strukturelle Gewalt als selbstverständliches, alltägliches Mittel der Konfliktlösung nutzen – sei es, indem sie einen sowjetischen Gefangenen demütigen oder Frauen zu sexuellen Diensten erpressen.
Ich muss zugeben, dass ich eine ganze Weile gebraucht habe, um in diesen extrem langsamen Film reinzukommen. Während der Sichtung wuchs mein anfänglicher Respekt jedoch zu immer größerer Bewunderung, schließlich in Faszination. Am augenscheinlichsten sind natürlich die fantastischen, elegischen Schwarzweißbilder, die oft in sehr langen Takes das Geschehen festhalten. Unvergesslich, weil trotz ihrer "Trivialität" sehr beunruhigend, sind die immer wieder zwischendurch, als "pillow shots" eingesetzte Bilder eines Weizenfeldes, das vom Wind durchweht wird. Am Anfang wirkten sie beliebig, aber jedes weitere Weizenfeldbild bekam dann mit der Zeit mehr und mehr Spannung.
ERSTER VERLUST wurde in einem thüringischen Dorf gedreht und war somit gewissermaßen ein "regionaler" Beitrag zum Festival. Der Dreh verlief wohl alles andere als harmonisch. Während in dem Dorf dieser ruhige, fast meditative Film mit seiner Geschichte aus der Vergangenheit gemacht wurde, ging es in der europäischen und deutschen Tagespolitik drunter und drüber. Ein Teil der Crew, der die aufkeimende Opposition unterstützte, wollte ausführlicher und länger über Tagespolitik debattieren, als es der enge Drehplan vorsah, und warf dem Regisseur Maxim Dessau vor, ein dogmatischer Regimeanhänger zu sein – eine Spannung, die wohl während des kompletten Drehs anhielt.
Mehr als die Spannungen beim Dreh brachte aber die gewandelte Kinokultur der untergehenden DDR den Film um zahlreiche Zuschauer: gelockerte Einfuhrbeschränkungen für westdeutsche und amerikanische Filme führten dazu, dass sich ein großer Teil des ostdeutschen Publikums noch viel weniger für "sperrige" Schwarzweißfilme "made in GDR" interessierte. ERSTER VERLUST kam am 6. Oktober 1990 (manche Quellen nennen den 5. Oktober) in die Kinos: weltgeschichtlich wohl einer der schlechtesten Premierentermine aller Zeiten, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu generieren. Der von den Zuschauern weitestgehend ignorierte Film bekam, so Kameramann und Co-Drehbuchautor Peter Badel, wohl eine gute und eine schlechte Filmkritik in zwei verschiedenen Zeitungen, sprich: auch da kaum Aufmerksamkeit.
Badel war beim Screening von ERSTER VERLUST dabei, führte danach ein Podiumsgespräch und beantwortete in einem Q & A Fragen aus dem Publikum. Die Frage, ob der visuelle Stil des Films von Tarr Belá beeinflusst sei, verneinte er mit der Begründung, dass er Tarrs Filme zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht kannte. Badel sprach zudem nicht nur über die wie bereits erwähnt sehr schwierige Situation beim Dreh, sondern auch über technische Herausforderungen: die Kamera-Crew wurde von Regisseur Maxim Dessau wohl dazu gezwungen, mit musikbeschallten Kopfhörern zu arbeiten, um sich beim Filmen nicht am Dialog, sondern ausschließlich an der Bewegung der Darsteller zu orientieren.
Zu den Zuschauern, die ERSTER VERLUST mit großer Begeisterung sahen, gehörte auch Aldo Lado, der wie die Kameracrew beim Dreh wohl so gut wie nichts von den Dialogen mitbekommen konnte. Als das Q & A mit Kameramann Peter Badel eröffnet wurde, meldete er sich gleich als erster, sprach seine große Bewunderung für den visuellen Stil des Films aus, lobte die Intensität der Bilder, die er auch ohne die Dialoge zu verstehen gespürt hatte und fragte Badel ausführlich über die verwendeten Kameras, Objektive und Linsen aus. Das war wahrscheinlich eine der schönsten Offenbarungen cinephiler Offenheit und Neugier, die ich letztes Jahr erlebte: ein über 80 Jahre alter Herr setzt sich in einen vollkommen obskuren, vergessenen Film rein, von dem er kein Wort versteht...

Mit mehreren Monaten Abstand muss ich zugeben, dass ich vieles aus dem Jutta-Hoffmann-Egon-Günther-Double-Feature DER DRITTE und DIE SCHLÜSSEL vergessen habe – sogar, welche Nebenrolle Jaecki Schwarz in erstgenanntem eigentlich hatte.
DER DRITTE (Egon Günther, 1972) handelt von Margit (Jutta Hoffmann), einer alleinerziehenden Frau Ende 30, die sich nach zwei gescheiterten Beziehungen nach einer neuen Liebe, nach dem "Dritten" sehnt. Der Film ist in der Gegenwart angesiedelt, greift aber immer wieder auf längere Rückblenden zurück, die Margits bisherige Lebensgeschichte aufarbeitet: ihre Zeit als Jugendliche in einem Kloster, ihre erste gescheiterte Beziehung, ihre zweite gescheiterte Beziehung mit einem blinden Musiker (Armin Mueller-Stahl). Jutta Hoffmann ist natürlich toll, und der Aufbau des Films mit seinen zahlreichen Rückblenden ist nicht uninteressant, aber wirklich gepackt hat mich DER DRITTE nicht. Es gibt eine recht witzige Sexszene, bei der im Hintergrund ein Englischkurs auf Band zu hören ist: "The iron is getting hot!"

Bei Egon Günthers DIE SCHLÜSSEL von 1974 hatte ich ein wenig das gleiche Problem: kein schlechter Film, aber irgendwie ist doch sehr wenig hängen geblieben. Ein unverheiratetes Paar, sie Arbeiterin (Jutta Hoffmann), er Student (Jaecki Schwarz), reist zum Urlaub nach Krakau. Sie sparen sich das Hotel, weil sie beim Hinflug von einem polnischen Paar die titelgebenden Wohnungsschlüssel geliehen bekommen haben. In Krakau geniesst das Paar zunächst den Urlaub, doch dann kommt es zu ersten Konflikten: die üblichen Pärchenstreitereien, gekoppelt mit dem meist unausgesprochenen "Klassenunterschied" zwischen ihnen. Der Urlaub endet jäh, als sie bei einem Verkehrsunfall auf der Straße unter eine Straßenbahn gerät und stirbt... Günther wollte mit DIE SCHLÜSSEL einen besonders realistischen Film drehen, der konventionelle Dramaturgie zugunsten von Improvisation aufgibt, was meiner Meinung nach nur bedingt gelungen ist. Die Pärchen-Szenen mit ihren Dialogen fühlen sich in meiner Erinnerung oft sehr steif und gestelzt an, zwischen Hoffmann und Schwarz gibt es keine richtige Chemie (was natürlich insofern passt, als sie ein Paar in einer konfliktreichen Beziehung spielen). Viel interessanter ist es, dass DIE SCHLÜSSEL sich nebenbei als Stadtportrait von Krakau versucht, voller semidokumentarischer Impressionen, unter anderem von einem traditionellen, karnevalsartigen Stadtfest. Dafür nimmt sich der Film zwischendurch viel Zeit. Am unvergesslichsten ist sicherlich die lange, emotional sehr intensive und dabei fast komplett dokumentarisch gefilmte Szene kurz nach dem Unfall: wir sind auf der Straße, eine Straßenbahn ist umgekippt, Schaulustige kommen vorbei, Polizisten erscheinen und eruieren die Situation, er, der Student, ist auch da, und beobachtet, wie der Unfall geräumt wird, die Straßenbahn wieder auf die Räder gehievt wird. Das dauert viele, viele Minuten und der Film nimmt sich diese Zeit auch auf sehr konsequente Weise. Was danach kam, erschien mir fast etwas überflüssig.

Der härteste Brocken, aber auch eine der interessantesten Sichtungserfahrungen, die das Paradies-Festival zu bieten hatte, war REIFE KIRSCHEN (Horst Seemann, 1972). Das rührige Melodrama handelt vom wackeren Brigadenchef Helmut, der auf der Großbaustelle Neu-Lobeda in Jena die strahlende Zukunft des Sozialismus mit Beton formt. Der Endvierziger hat zwar schon eine erwachsene Tochter, aber seine Frau wird urplötzlich schwanger (wie das denn bloß passieren konnte?). Das führt natürlich zu existentiellen und politischen Dilemmata: noch mal ein Kind großziehen, oder weiter an der glorreichen Heimatfront des Beton-Sozialismus kämpfen? Als seine Frau direkt nach der Niederkunft bei einem Autounfall stirbt und aus dem hohen Norden (na ja: Ostsee) ein Ruf erschallt, dass Helmut auch da zum Aufbau des Beton-Sozialismus gebraucht wird, spitzt sich die Situation noch weiter zu!


Während der Einführung zum Film fiel der Begriff "Propaganda-Soap", und tatsächlich: REIFE KIRSCHEN ist ein melodramatisch-schnulziges Rührstück, das sich ganz in den Dienst der strahlenden sozialistischen Zukunft stellt – die allerdings stark dem feuchten Traum eines kleinkarrierten Provinzspießers gleicht. Mit welcher Konsequenz er das macht, ist bewundernswert und doch unfassbar verstörend (nach dem Film sagte ein Co-Zuschauer irgendwas von "hat sich wie Simmel-Film angefühlt"). Unter dem ganzen Pathos, den Seemanns Film auffährt, erkannt man die DDR in ihrer ganzen bestialischen Hässlichkeit.
REIFE KIRSCHEN evoziert müdes Sonntagsbaden am grauen, schlammigen Baggersee, kitschiges Herumtollen mit den Kindern auf der grünen Wiese hinter der Datsche und Besäufnisse in der von KAHLA-Zwiebelmuster-Spießigkeit triefenden und wahrscheinlich nach abgestandenem Jagdwurstgulasch riechenden Kneipe als die größte Glückseligkeit überhaupt, als das große Paradies auf Erden. Es wird an keiner Stelle explizit thematisiert, dass es hier um ein eingemauertes Land geht, aber implizit spürt man das: REIFE KIRSCHEN  spielt in einem ganz und gar eingemauerten Universum. 
Zu sehen, wie der Film seine Konflikte dramaturgisch aufbaut, war so verblüffend wie schockierend. Zunächst einmal gehört er zu diesen unfassbar zynischen Filmen, die eine Frauenfigur (hier: Helmuts Ehefrau) sehr umständlich, letztlich aber doch recht oberflächlich aufbauen, um sie dann in einem entscheidenden Moment sterben zu lassen – mit dem einzigen Ziel, dem männlichen Protagonisten eine emotionale Bürde aufzuerlegen und ihn damit zum Märtyrer machen zu können (DAS LEBEN DER ANDEREN, LEVIAFAN und COCONUT HERO fallen mir als absolute Tiefpunkte dieser zynischen Erzählform ein).
Der Grundkonflikt – die neue Vaterschaft vs. den sozialistischen Aufbau – rückt zahlreiche andere Punkte in den Hintergrund. Dass ein Paar Mitte Vierzig, von dem mindestens einer Akademiker ist, nicht in der Lage ist, ordentlich zu verhüten, scheint völlig nebensächlich (von den gesundheitlichen Fragen einer späten Schwangerschaft abgesehen). Dass Helmut kaum je mit seinem Neugeborenen zu sehen ist, weil er das Baby die meiste Zeit einfach (ohne groß nachzufragen) in die Obhut seiner erwachsenen Tochter übergibt oder genauer gesagt, es ihr reindrückt, geht vollkommen an der Perspektive des Films vorbei. Vielmehr scheint in dieser Welt logisch zu sein, dass die Tochter sich um das Kind kümmern muss, denn schließlich steht die Zukunft des Sozialismus hier auf dem Spiel: die tristgrauen Betonwüsten an der Ostsee müssen ja von echten, kernigen Männern wie Helmut aufgebaut werden.
Derweilen wird seine Tochter, die sich um den Säugling kümmert, ohne, dass irgendjemand ihr dafür groß danken würde, von ihrem Verlobten bzw. Ex-Verlobten vergewaltigt. Zu sehen ist nur der Anfang der Vergewaltigung, denn REIFE KIRSCHEN widmet sich dann doch lieber schnell Helmuts Heldentaten. Rape Culture made in GDR! Ich kenne mich mit der Geschichte der Familien- und Geschlechterpolitik der DDR zu wenig aus: ob es "liberale" Phasen und eher "konservative" Phasen gab, weiß ich spontan nicht. Sehr wahrscheinlich lohnt sich dazu ein Blick in Eva Schäfflers Dissertationsschrift "Paarbeziehungen in Ostdeutschland: auf dem Weg vom Real- zum Postsozialismus" (Wiesbaden 2017). Wenn es tatsächlich Anfang der 1970er Jahre zu einem konservativen "Rollback" in der Ehe- und Familienpolitik gekommen ist, dann war REIFE KIRSCHEN auf jeden Fall ein cineastisches Flagschiff dieser Tendenz. Der Arbeiterheld ist in der Welt dieses Films ein kerniger Macho, der seinen Mann steht. Das Leben der Frauen scheint hier rein dekorative Zwecke zu haben, sie dienen nur dem Wegschaffen von Drecksarbeiten, zum Spiegeleierbraten bei der Rückkehr des Mannes von der Baustelle (was für eine unfassbar trostlose Szene – mit scheusslichen Gardinen direkt aus der Hölle als Hintergrund), zum schnellen, manchmal ungeschützten und manchmal auch nichteinvernehmlichen Sex. Ihr Tod dient dazu, die Märtyrerpunkte der Männer aufzubessern.
Wie der Film diesen fürchterlichen, provinziellen, patriarchalischen Spießbürgermief völlig hemmungslos abfeiert und zugleich ohne jegliche Scham tote Ehefrauen und kleine Kinder in Kinderwägen ausnutzt, um den Zuschauern große Gefühle abzuwürgen, ist schon ziemlich einzigartig und unfassbar anzusehen. Das macht REIFE KIRSCHEN auf die Dauer aber auch sehr unangenehm. Trotz nur 97 Minuten Laufzeit war er, zumindest mit gefühlten 140 Minuten, der längste Film des Festivals. Eine Szene, in der Ingenieure zunächst auf dem Reißbrett, und später noch mal an einem unberührten Strand geradezu schwärmend davon träumen, eine graue Betonwüste zu errichten, führte dazu, dass ich dem anwesenden Hofbauer-Kommando einen Neologismus zur Erweiterung des Material-Jargons vorschlug: "stählerne" Filme aus dem realsozialistischen Osten sollten nicht als "Stahl", sondern als "Beton" bezeichnet werden. Die Adjektivierung stellt allerdings gewisse Probleme ("betönern"?).
REIFE KIRSCHEN war in der Tat hart, stählern, ja betönern, teils schier unerträglich, eine Geduldsprobe, aber dennoch ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Als "Zeitdokument" über gewisse Aspekte des Lebens in der DDR-Provinz ist der Film eine absolute Wucht.
Leider war das Paradies-Festival nicht so gut besucht, wie er es verdient hätte oder wie die Organisatoren es erhofft hatten. Besonders auffällig war die Diskrepanz in der Zuschauerstruktur zwischen den DEFA-Filmen und den italienischen Filmen: abgesehen von einem harten Kern an Dauerkartenbesitzern, die querbeet den Großteil des Programms besuchten, lockten beide Programmsegmente jeweils komplett einige Zuschauergruppen an, die das jeweilig andere Segment des Programms ignorierten. Bei den DEFA-Filmen waren immer wieder ältere Zuschauer im Saal, die man im Italo-Programm nicht sah, und ich habe das ungute Gefühl, dass einige von ihnen nur in die Filme gingen, um DDR-Nostalgiegefühle zu befriedigen. Selbstverständlich betrifft das nicht alle. Eine Zuschauerin zum Beispiel, die ein gutes Stück DDR miterlebt haben dürfte, hat nach REIFE KIRSCHEN gänzlich ohne Nostalgie geäußert, dass sie die in dem Film dargestellte Macho-Kultur durchaus selbst erlebt habe: offiziell wurde Gleichberechtigung verlautbart – im kleinen Lebensalltag hatten aber dennoch Männerbünde das Sagen.
Nach der Projektion von REIFE KIRSCHEN sprach mich ein älterer Herr in der Kloschlange an und geriet über den Film ins Schwärmen: "Das war damals genau so, wie der Film es gezeigt hat!", drückte er mit einer fast unkontrollierten, sehr erregten Freude aus. Für ihn waren da glückliche Erinnerungen geweckt worden... Des einen Gift ist des anderen Glückselixier.

Für erstere hatte das Paradies-Festival das passende Gegengift in petto. Es ist eine kuratorische Meisterleistung, ja nicht weniger als absolut genial, dass nach REIFE KIRSCHEN direkt DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR (Michael Kann, 1988) folgte und den Abend in einen unglaublich kenntnisreichen, faszinierenden und dialektischen Double-Feature verwandelte. Vom großen Cinemascope-Propagandaschinken aus der morastigen Provinz mit seinen großen Träumen vom betönernen Sozialismus ging es direkt in das lebensfrohe, lustvolle, musikalische und verspielte Herz des Ostberliner Bohemien- und Slacker-Milieus der späten 1980er Jahre – in einem Film, der eher am Rand der DEFA angesiedelt war und heute fast vergessen ist. Leider hatte die Kopie aus dem Privatbesitz der Organisatoren etwas an Farbe eingebüßt und neigte stark zum Bläulichen. Das war aber nicht so schlimm, denn mittlerweile ist klar: DEFA-Filme mit Und-Ketten-Titeln sind toll!
Der Aufhänger ist eine Reportage. Die Journalistin Marga möchte die Sängerin Anna interviewen. Die stellt sich allerdings als nicht sonderlich kooperativ im Sinne eines Interviews heraus. Robert, der Ex-Freund Annas, sucht gerade in der ehemals gemeinsamen Wohnung ein paar seiner Sachen zusammen und ist gegenüber Marga weitaus redeseliger. Also interviewt Marga eben Robert, und das läuft für beide ziemlich befriedigend, denn sie landen mit der Zeit zusammen im Bett. Doch leider ist Anna die einzige dauerhafte Verbindung zwischen Marga und Robert – außerdem kommt er von seiner ehemaligen Geliebten offenbar nicht dauerhaft los...
DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR ist vor allem eine Atmosphäre – und ein Gefühl der tiefen Entspannung. Es ist ein ausgesprochener "Abhäng-Film", in dem Leute die meiste Zeit einfach nur miteinander abhängen. Das umfasst Plaudern, Biertrinken, Spazieren, Liebemachen, Currywurst-Essen, Schachspielen. Trotz vieler Jumpcuts über Zeitebenen hinweg keine Spur von Hektik. Viel Zeit für alles, was nebensächlich erscheint. Robert, der zusammen mit einem guten Kumpel auf einer Parkbank Schach spielt, mit ihm darüber spricht, wie man Frauen am besten anspricht, damit im Grunde Marga meint – bis dann plötzlich Marga bei ihnen auftaucht. Marga und Robert, die nach dem Sex (oder vorher? Ist ja egal: in diesem Film ist nach dem Sex auch vor dem Sex) zusammen in der Wanne baden. Die kleinen Wort- und teilweise Saugnapfpfeil-Gefechte zwischen Margas kleinem Sohn und Robert. Zwischendurch die eher mäßig aufgenommenen Auftritte von Anna und ihrer Band... DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR hat sich in meiner Erinnerung ein bisschen verflüchtigt. Retrospektiv sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit zu den Filmen der "Schwabinger Nouvelle Vague" (May Spills, Marran Gosov, Klaus Lemke). Eben "Abhäng-Filme", die dorthin gehen, wo es sie gerade verschlägt, und gerne auch verweilen, wenn sie Lust haben...

DIE ENTFERNUNG ZWISCHEN DIR UND MIR UND IHR beendete das Filmprogramm des Festivalfreitags. Und ich beende hiermit meinen Bericht (ist ja mittlerweile auch lange genug). Das Paradies bleibt. Natürlich zuallererst in den Herzen vieler Zuschauer, die vier wunderbare Kinotage verbracht haben. Einen Riesendank an die Festivalleiter und Organisatoren Falko und Leo: die tollsten Kinoengel in Jena!

Und das Paradies kommt wieder: dieses Jahr vom 12. bis zum 16. Juni. Es wird wieder DEFA-Filme geben, diesmal mit den Schwerpunkten Iris Gusner, Kinder- und Märchenfilme und "4. Generation" (also die "letzten" Filme der DDR). Im internationalen Programm wird Antonio Bido zu Gast sein mit einer Retrospektive. Sein Debütfilm, der Giallo IL GATTO DAGLI OCCHI DI GIADA (1977), wurde bereits angekündigt. Des Weiteren wird es einen Schwerpunkt zu Yılmaz Güney geben (das Paradies geht also noch etwas weiter südlich und östlich). Mehr dazu gibt es auf der Seite des Film e. V. Jena bzw. auf der facebook-Seite des Paradies-Festivals zu lesen.