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Sonntag, 13. Mai 2018

Let's Twist Again in the Soviet Steppe: Bericht vom 18. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films (Teil 1)


Russland und die Sowjetunion – beides galt für die kalten Krieger dies- wie jenseits des Eisernen Vorhangs, für antikommunistische Hexenjäger und russisch-nationalistische Sowjet-Führer, als Synonym. Dass die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung nicht russisch war, wurde gerne unter den Teppich gekehrt.
Beim goEast wird nichts unter den Teppich gekehrt, sondern gerne der Blick auf Peripherien gelenkt. Dieses Jahr ging die filmische Reise bei der Symposiums-Retrospektive in die sogenannten baltischen Staaten: nach Litauen, Lettland und Estland. Der Schwerpunkt lag auf Filme der 1960er bis 1980er Jahre, mit wenigen Ausflügen in die postsowjetische Zeit. In verhältnismäßig wenigen Screenings entspannte sich ein Panorama wunderschöner, wahnsinniger, poetischer, mutiger, witziger und zorniger Filme.

Aber erst einmal Zwischenstationen in Polen und in Ungarn.


1. Festivaltag
Mittwoch, 18. April

21.30 Uhr, Caligari FilmBühne

TWARZ („Fratze“)
Regie: Małgorzata Szumowska
Polen 2018
91 Minuten, DCP
Der Metal-Fan Jacek arbeitet auf einer Baustelle zur Errichtung der weltgrößten Jesus-Figur. Eines Tages hat er einen Unfall, der ihn schwer entstellt zurücklässt. Nach einer Gesichtstransplantation kehrt er in sein Dorf zurück, wird von seiner Verlobten verlassen und von seiner Umgebung immer mehr als Außenseiter behandelt.
Das Arbeiten mit Unschärfen (die Teilblindheit des Protagonisten widerspiegelnd)
ist hier deutlich zu sehen.
© goEast Filmfestival
Etwas ist faul im Staate Polen... Wie bereits Agnieszka Hollands und Kasia Adamiks POKOT, der letztes Jahr beim goEast lief, zeichnet auch Małgorzata Szumowskas TWARZ ein trostloses Bild vom zeitgenössischen Polen, mit etwas subtileren, allerdings auch weniger spektakulären Mitteln. Im Kern ist TWARZ ein relativ ruhig erzähltes Sozialdrama, dessen märchenhafte Elemente (Spuren von Frankenstein, wenn man so will) eher unterschwellig als offenbar sind. Der Realismus wird dadurch gestört, dass die Cinemascope-Bilder von Anfang an viele Unschärfebereiche haben: nur etwa ein Drittel ist scharf zu sehen. Das sieht ziemlich interessant aus, und soll den Zuschauer wohl auch in das Sichtfeld des Protagonisten einfühlen lassen (beim Unfall wird auch eines seiner Augen schwer verletzt, und tränt fortan permanent). Das ergänzt sich mit den Einengungen, die die natürliche Umgebung des Schauplatzes physisch und vor allem geistig seinen Protagonisten auferlegt: Höhepunkte des sozialen Lebens sind die regelmäßigen Gottesdienste, Hauptarbeitgeber des Orts ist die katholische Kirche, die den Bau der riesigen Jesusstatue organisiert hat (aber nicht bezahlt – das wurde er durch Spenden), wenn dort irgendetwas schief läuft, werden die Roma dafür ausgeschimpft, ab und zu gibt es Familienfeste (bzw. -besäufnisse), wo die neuesten rassistischen Witze ausgetauscht werden, bisweilen gibt es eine triste Dorfdisco und wer davon spricht, vielleicht mal nach England zu gehen, wird angeschrieen, weil Polen ja ausschließlich nach Polen gehören. TWARZ ist vielleicht noch hoffnungsloser als POKOT, denn in letzterem wehrt sich jemand gegen den Status Quo.
TWARZ ist sicherlich kein schlechter Film, aber mich hat er trotzdem nicht vollends überzeugt oder wirklich mitgerissen.
Der polnische Originaltitel bedeutet übrigens ganz neutral „Gesicht“. Für den internationalen Markt wurden teils die pejorative Bezeichnungen („Mug“ oder eben „Fratze“) genommen. Hintergrund, so Hauptdarsteller Mateusz Kościukiewicz im anschließenden Q & A, war die unmittelbare Reaktion Jerzy Skolimowskis, der nach einer privaten Sichtung des fertigen Films spontan die polnische Entsprechung von Fratze als Titel vorschlug.


2. Festivaltag
Donnerstag, 19. April

10.15 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum

AURORA BOREALIS
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 2017
104 Minuten, DVD
Die Ungarin Olga lebt und arbeitet in Wien. Als ihre Mutter Maria in Ungarn in ein Koma fällt, reist sie mit ihrem Sohn an und entdeckt nach und nach verschüttete Familiengeheimnisse, die in den sowjetisch besetzten Sektor Wiens kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führen.
© goEast Filmfestival
Liebend gerne hätte ich AURORA BOREALIS im Kino gesehen, doch leider sollte er erst am Montag Abend, also nach meiner Rückfahrt, laufen. Mészáros Márta ist schließlich seit dem letzten goEast keine Unbekannte mehr für mich. Thematisch kommt der Film wohl dem „Tagebücher“-Zyklus sehr nahe, insofern hier wieder das Historische und Politische mit dem Privaten und dem Gegenwärtigen verknüpft wird.
AURORA BOREALIS beginnt mit einer anonymen Geburt: eine hochschwangere Frau schleppt sich durch einen Korridor, während im Hintergrund eine andere Frau ein Kind gebärt, kippt schließlich um und bereitet sich selbst, einsam, auf die Geburt vor... Diese dramatische Geburt oder Doppelgeburt und vor allem ihre Umstände prägt im weiteren Verlauf des Films drei Generationen von Ungarn und führt die Protagonisten von Budapest über Wien bis in das Gebiet Murmansk im russischen Norden. AURORA BOREALIS setzt sich in drei Zeitebenen, drei Orten und vielen Figuren, deren Namen und Identität teilweise unklar sind, nach und nach wie ein Puzzle der Erinnerungen zusammen.
Sehr bemerkenswert ist, wie kalt und grau der Film farblich wirkt: die zeitgenössischen und die historischen Wien-Szenen wirken trostlos, fast monochrom. Kontrapunktisch warm und sommerlich präsentieren sich hingegen die Szenen im stalinistischen Ungarn. Immer wieder kehrt der Film zu einer Rückblende zurück: Maria, die mit ihrem Verlobten Ákos, einem verfolgten Adeligen, in einem Teich Liebe macht. Momente, die in strahlenden Sonnenstrahlen getaucht sind.
Es geht in AURORA BOREALIS um den stalinistischen Terror der frühen 1950er Jahre in Ungarn, um Flucht aus der Diktatur, um Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten im besetzten Österreich, um den stalinistischen Terror der sowjetischen Besatzer in Wien, der sich gegen die eigenen Leute, aber auch deren (österreichische) Liebste richtete. Und natürlich geht es auch um Liebe, die nationale Grenzen überwindet, um Freundschaft, um die Schwierigkeiten, Familientraumata innerhalb der eigenen Familie zu bewältigen, um entfremdete Verwandtschaftsbeziehungen. Beide Seiten ihrer Geschichte verbindet Mészáros auf meisterliche Art, so dass niemals der Eindruck entsteht, ein politisch-historisches Thesenwerk oder ein einfaches Rührstück mit period-Einschlag zu sehen. Im Gegenteil: ein starker Film, der die Handschrift einer echten Altmeisterin trägt. Im Kino ist er bestimmt noch besser.


13.30 Uhr, Caligari FilmBühne

NIPERNAADI
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1983
89 Minuten, DCP
Estland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Toomas Nipernaadi treibt sich durch die Dörfer, spielt ahnungslosen Bauern üble Streiche, versucht, diverse Bauernmädchen zu verführen und landet schließlich in einem abgelegenen Strandhaus.
Irritierend künstliche Beleuchtung im natürlichen Setting
© goEast Filmfestival
NIPERNAADI ist ein schwieriger, sehr schwieriger Film. Zumindest mich hat er vollkommen ratlos und verwirrt zurückgelassen. Angekündigt wurde er als eine Art estnische Kreuzung aus Baron Münchhausen und Casanova, aber die Keckheit, Lebensfreude und Beschwingtheit, die man mit diesen Figuren vielleicht in Verbindung bringen könnte (Fellinis schaurig-morbide Interpretation des Casanova mal außen vor gelassen), findet man hier nicht.
Der Film arbeitet oft mit visuell sehr extremen Kontrasten zwischen der realistischen Landschaft (zweifelsohne wurden viele Szenen in der freien Natur gedreht) und einer merkwürdig künstlichen Beleuchtung: immer wieder werden die Gesichter der Protagonisten von der Seite leicht rötlich angestrahlt. Die Natürlichkeit der Bilder wird gestört, ohne in eine echte Künstlichkeit überzugehen (außer gegen Ende) und so entsteht etwas Undefinierbares, Einzigartiges, Verwirrendes. Das zieht sich durch den ganzen Film und charakterisiert ihn auch insgesamt.
Die Handlung kohärent wiederzugeben erscheint mir fast unmöglich. Der Film beginnt damit, dass Toomas Nipernaadi vom Tod einer alten Frau in einem Bauernhaus erfährt, dort hin radelt und die drei trauernden jungen Söhne davon überzeugt, ihm die Verwaltung des Guts zu überlassen. Nipernaadi inszeniert dann eine missverständliche Situation, die die drei Brüder dazu bringt, das Haus nieder zu brennen – dann geht Nipernaadi seines Wegs weiter. Die Episode wirkt wie eine Art absurder Witz ohne echte Pointe. Wer jetzt erwartet, dass der Film sich als eine Abfolge von kleinen Episoden entwickelt (und das habe ich ehrlich gesagt ein bisschen getan), wird vollkommen auf falschem Fuß erwischt werden. Die junge Frau, der er in der ersten Episode den Hof gemacht hat, lässt er offenbar links liegen, um im nächsten Dorf dann mit der Tochter der Gutsbesitzer anzubandeln – und schließlich doch mit dem etwas zersausten, pummeligen Dienstmädchen abzuhauen. Oder doch mit der Gutsbesitzertochter? Beide weibliche Figuren tauchen in keiner Szene gemeinsam auf, und beim Weiterziehen mit Nipernaadi scheinen beide zu einer Art „Synthese“ verschmolzen zu sein... Wurden sie etwa von der gleichen Darstellerin gespielt?
Irgendwann lässt Nipernaadi auch dieses Mädchen links liegen, freundet sich mit einem Holzfäller an und übernachtet schließlich in dessen Strandhütte. Und beide warten darauf, dass die Verlobte des Holzfällers zurückkommt. Als diese zurückkommt, geht der Holzfäller und Nipernaadi bleibt. Hier wandelt sich NIPERNAADI visuell. Nur noch wenig freie Natur, sondern ein Kammerspiel in einer leeren Hütte, irritierend überbelichtet, mit Schnitt-Gegenschnitt-Dialogen zwischen Nipernaadi und der Verlobten des Holzfällers, beide in die Kamera schauend. Draußen ist vielleicht die Apokalypse ausgebrochen, oder wir befinden uns doch im Jenseits: die karge Strandlandschaft mit dem weißen Sand wird dermaßen surreal überbelichtet gefilmt, dass wir uns kaum noch in der richtigen Welt wähnen...
Ich scheitere. Ich kapituliere. NIPERNAADI ist, obwohl er chronologisch erzählt wird, nicht weniger verwirrend als Alain Robbe-Grillets L'HOMME QUI MENT, den ich am nächsten Tag sah. Nein: verwirrender, denn bei Robbe-Grillet fand ich zumindest Ansatzpunkte von Interpretation, und visuell durchaus eine gewisse vertraute Tradition Neuer Wellen. NIPERNAADI erscheint mir völlig eigensinnig und einzigartig. Ich weiß nur, dass ich größtenteils sehr fasziniert war. Der einzige Orientierungspunkt, der darauf hinwies, dass ich möglicherweise eben ein verkapptes Meisterwerk gesehen hatte, kam knapp fünf Stunden später, als ich einen weiteren Film Kaljo Kiisks sah. Aber dazu weiter unten mehr...


16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

NIEKAS NENORĖJO MIRTI („Niemand wollte sterben“)
Regie: Vytautas Žalakevičius
Sowjetunion (Litauen) 1966
107 Minuten, DCP
Litauen, 1947: offiziell ist das Land zwar schon „sowjetisiert“, tatsächlich aber sind auf dem flachen Land die Inseln sowjetischer Herrschaft sehr isoliert. Die sogenannten Waldbrüder kämpfen einen Guerillakrieg gegen die kommunistische Macht. In einem Dorf wird wieder einmal ein Vorsitzender des Dorfsowjets von den Partisanen ermordet. Dessen vier Söhne schwören Rache und sind wild dazu entschlossen, mit den Waldbrüdern in ihrer Region Schluss zu machen. Sie zwingen einen ehemaligen, amnestierten Waldbruder, das vakante und hochgefährliche Amt zu besetzen. Intrigen, Verrat, doppelte Spiele und Kämpfe folgen...
© goEast Filmfestival
Die Eingangsszene von NIEKAS NENORĖJO MIRTI ist ein großes Versprechen. Kontrastreiches Schwarzweiß, Cinemascope, karger Raum einer Bauernhütte mit einem Schreibtisch, an dem ein älterer Mann sitzt. Die Kamera nähert sich ganz langsam dem Schreibtisch, während sich der Mann eine Pfeife anzündet und zwischendurch kurz nach einer Pistole greift, deren Lauf er (glaube ich) kurz in die Flamme hält. Dann der erste Schnitt, jetzt sieht man ihn von hinten – und ein Schuss fällt. Der Mann fällt tot um. Einige Männer dringen in den Raum, schleifen den noch blutenden Leichnam vom Schreibtisch weg und verbrennen die Papiere, die sich darauf befinden. Toll. Beste Szene des Films!
Im Programmheft wurde NIEKAS NENORĖJO MIRTI als „roter baltischer Western“ bezeichnet. Olaf Möller bezeichnete das in seiner Einführung als Quatsch und nannte den Film einen „Nachkriegs-Actionfilm“. Gegen beides hätte ich nichts einzuwenden gehabt, aber letztlich hab ich von beidem recht wenig gefühlt.
Gerade die Actionsequenzen waren für einen „Actionfilm“ recht rar, denn von ihnen gab es im Grunde nur zwei: einen Hinterhalt in einer Mühle, bei dem sich viele einzelne Gegner gegenseitig ausschalten, aber ohne, dass wirklich ganze Gruppen aufeinandertreffen und der finale große Shootout im Dorf. Beide Szenen lesen sich hier ganz nett, aber sie schienen mir chaotisch, inkohärent, ohne Raumgefühl und Gespür für Timing inszeniert zu sein. Erschwerend kam noch hinzu, dass die Darsteller der vier Söhne, die sich für die Ermordung ihres Vaters rächen wollen, recht hölzern und charismafrei waren. Den hölzernsten von ihnen sah ich (leider) noch in zwei weiteren litauischen Filmen während des Festivals.
Ein gänzlich anderes Format war hingegen Donatas Banionis, der den unfreiwilligen Dorfsowjetvorsitzenden spielt. International bekannt ist er als Hauptdarsteller in Konrad Wolfs GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS und Andrej Tarkovskijs SOLJARIS. Vor allem er hielt mein Interesse an NIEKAS NENORĖJO MIRTI aufrecht, denn sein Spiel war der komplexen Figur des amnestierten Waldbruders, unfreiwilligen Sowjetbeamten und Doppelagenten der Waldbrüder durchaus gewachsen.
Als Western oder Actionfilm scheint mir NIEKAS NENORĖJO MIRTI wenig zu taugen. Als komplexes Melodrama über Intrigen und Verrat scheint er mir interessanter. Die Waldbrüder werden keineswegs verteufelt, während die Sowjetmacht amorph wirkt und überhaupt nicht klar rüberkommt, warum sie die bessere Alternative sein sollte. Ideologie (ob sowjetischer Kommunismus oder litauischer Nationalismus) scheint jedenfalls kaum eine Rolle zu spielen, denn dafür sind sämtliche Charaktere zu stark von anderen Zwängen eingeengt: persönliche Loyalitäten, Eifersuchtsgefühle (drei Männer streiten sich um einen Love Interest), purer Rachedurst oder das verzweifelte Lavieren zwischen dem zeitgleichen Druck der Sowjetmacht und der Waldbrüder. Diese Zwänge spürbar zu machen, das macht NIEKAS NENORĖJO MIRTI doch recht gut.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

PURVA BRIDĒJS („Der Sumpfwater“)
Regie: Leonīds Leimanis
Sowjetunion (Lettland) 1966
85 Minuten, HD-File
Lettland, Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Stallbursche Edgar liebt das Dienstmädchen Kristina, doch ihr Liebesglück steht unter keinem guten Stern. Kristinas Mutter hegt eine starke Abneigung gegen Edgar, der gerne mal einen über den Durst trinkt, Karten spielt oder auch mal das Mobiliar der Dorfkneipe auseinander nimmt. Deswegen und auch wegen seiner Frechheit macht sich Edgar beim Gutsverwalter unbeliebt, der anfängt, Intrigen zu spinnen. Derweilen wirbt ein junger Emporkömmling um die Hand Kristinas, die durchaus für eine Vernunftsehe dieser Art offen ist.
Ein Running Gag im Film: die Tochter des deutschen Gutsherren möchte gerne in Ruhe
Klavier spielen und schließt immer wieder das Fenster, wenn draußen die Bauern zu viel
Krach machen
© goEast Filmfestival
Gegen period-Melodramen habe ich eigentlich nichts, aber PURVA BRIDĒJS war dann doch in vielerlei Hinsicht nicht so meins. Das Hauptproblem war ganz offensichtlich, dass mir die Hauptfigur, und das ist leider Edgar, gänzlich zuwider war. Was man etwas poetisch als rebellisches Aufbegehren bezeichnen könnte, ist im Grunde das Verhalten eines rüpelhaften Dorf-Prolls, dessen intellektuelle Fähigkeiten und emotionales Einfühlungsvermögen etwa so groß wie der Inhalt eines kleinen Schnapsglases sind. Wenn Edgar die Einrichtung der Dorfkneipe zerstört und Fenster einschlägt, weil ihm die zwei eben getrunkenen Biere zu Kopf gestiegen sind, dann wirkt das mitnichten heldenhaft und verwegen, sondern nur eben nur asozial. Dass er zwischendurch Katrin mal nach einer langen Verfolgung durch das Herrenhaus de facto vergewaltigt, verleiht ihm keine Sympathiepunkte: zwar könnte man irgendetwas wegen „Frauenbild“ in den 1960er Jahren oder gar über das Frauenbild der dargestellten Zeit was argumentieren – Edgar bleibt ein musterhaft schmieriges Arschloch. In einem Blog-Kommentar mit gänzlich anderem Kontext benutzte einmal jemand den Begriff der „Date-Rape-Fresse“: den muss ich mir jetzt für Edgar borgen. Und wenn der gute Edgar dann noch seiner Kristina ewige Liebe und sowie Enthaltsamkeit von Glücksspiel und Alkohol verspricht, nur um etwa zwei Filmminuten (und wahrscheinlich nicht einmal 60 Minuten „echter“ Zeit in seiner Welt) darauf seinen Wochenlohn beim Kartenspielen in der Kneipe zu versaufen und dabei die Kellnerin mit Hundeblicken und sich verselbständigenden Händen zu bedrängen, dann konnte ich wirklich nicht anders, als innerlich dem Gutsverwalter viel Glück bei seinen Intrigen gegen den Stallburschen zu wünschen.
Der bürgerliche Emporkömmling, der ein schönes Gut sein Eigen nennen kann, sollte sicherlich erst einmal eher als negative Figur wirken, aber letztendlich ist er ein gediegener, freundlicher, unaufdringlicher Mann, der in seinem Werben um Kristina stets sehr zurückhaltend wirkt. Die Idee, dass eine Frau ihn nicht nur des Geldes und des sozialen Aufstiegs wegen statt des Dorfrüpels heiraten möchte, scheint nicht völlig abwegig. Daher erschien es mir am Ende ganz besonders dämlich, dass sie in den letzten Schritten vor dem Hochzeitsaltar inne hält und doch zu Edgar geht. Der Film konzipierte das als einen überwältigend-emotionalen Höhepunkt, aber ich stellte mir schon vor, wie im imaginären Sequel Edgar seine Kristina in deren Hochzeitsnacht völlig betrunken zu Tode prügelt, und dann – sich ihres Tods nicht bewußt – in die Dorfkneipe zum Kartenspielen geht.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

HULLUMEELSUS („Wahnsinn“)
Regie: Kaljo Kiisk
Sowjetunion (Estland) 1968
79 Minuten, HD-File
Im Nazibesetzten Estland 1943: das Land ist für „judenfrei“ erklärt worden, und jetzt machen sich die Nazis dran, Geisteskranke zu ermorden. Eine Irrenanstalt wird besetzt, die Insassen sollen zu einem „Waldspaziergang“ hinausgeführt und getötet werden. Doch ein Gestapo-Offizier stoppt das ganze: er will einer anonymen Denunziation folgen, der zufolge sich ein britischer Spion unter den Patienten befindet. Zunächst als Arzt, später als Patient getarnt, will er den Spion entlarven – doch der Wahnsinn greift immer mehr um sich...
© goEast Filmfestival
Ein Film, so Samuel Fuller, sollte den Zuschauer vom ersten Bild an bei den Eiern packen und bis zum Ende nicht mehr loslassen. HULLUMEELSUS hat das auf jeden Fall bei mir geschafft. Fuller hier zu erwähnen, erscheint mir zumal sehr sinnvoll, da Kiisks Film möglicherweise eine gewisse Ähnlichkeit zu SHOCK CORRIDOR (den ich aber bisher leider noch nicht gesehen habe) aufweisen könnte: Schauplatz Irrenanstalt, ein „Normaler“ ermittelt Undercover unter den Patienten... Bloß, dass HULLUMEELSUS innerhalb einer Filmindustrie entstanden ist, die noch erheblich weniger Freiheit bot als Hollywood.
Ein idyllisches Fleckchen am Waldrand, mit einem großen Gebäude auf einer Anhöhe, doch die Idylle wird  durch ein Schild gestört, auf dem in großen Buchstaben „JUDENFREI“ prangt und natürlich durch eine Einheit deutscher Soldaten, die durch das Bild stiefelt und dann auch bald in die Irrenanstalt einmarschiert. Manche der Patienten beachten die Soldaten nicht, doch einer von ihnen heftet sich ihnen gleich an die Fersen und äfft in hysterisch-überdrehter Art die Bewegungen des voranschreitenden Offiziers nach. Irgendwann zwischendurch stolpert der Patient in einen Gartenteich, aber beim Stillgestanden steht er wassertriefend wieder neben dem befehlsgebenden Offizier und vermasselt ganz ordentlich das seriöse Bild, das die deutschen Soldaten von sich geben möchten. Ein unangenehmer und trotzdem fast zum Schreien komischer Moment. HULLUMEELSUS ist auch eine sehr schwarze Komödie.
Über 500 Patienten befinden sich in der Anstalt, und Windisch, der Gestapo-Offizier, der sich erst einmal als Arzt getarnt hat, geht deren Akten durch und beschränkt den Kreis seiner Verdächtigen auf etwa ein halbes Dutzend. Da ist ein deutscher Soldat, der innerhalb seiner Truppe Amok gelaufen ist und danach desertierte. Des weiteren verdächtigt Windisch auch einen Mann, der sich für einen römischen Cäsar hält: angezogen in einer selbst gefertigten Toga stolziert er arrogant durch die Anstalt, beschimpft jeden, der ihm nicht sofort zu Diensten ist und spricht sehr rasch Todesurteile aus – so auch gegen den in Weiß bekittelten Windisch, der von dieser Vorstellung paradoxerweise vollkommen schockiert ist (obwohl nach Ende seines Auftrags selbstverständlich alle Patienten ermordet werden sollen). Hinzu kommt noch ein Schriftsteller, der unter starken Halluzinationen und vor allem unter einer Schreibblockade leidet, und davon überzeugt ist, vom Teufel besessen zu sein. Windisch verdächtigt auch einen Mann mit schwerer Amnesie, der aus einem jüdischen Ghetto kommt, aus dem man ihn rausgeholt hat, weil er wohl nicht jüdisch ist (der aber vielleicht auch ein geretteter Jude ist). Die Verdächtigen-Riege wird von einer Frau abgerundet: eine schwer paranoide und nymphoman veranlagte Berufsdenunziantin, die fürchterliche Angst vor Spionen hat und Windisch immer wieder zu verführen versucht.
HULLUMEELSUS konzentriert die Handlung zwar größtenteils auf diese Personen, nebst dem Direktor der Anstalt, der im Gespräch mit Windisch immer wieder seine humanistischen Ansichten über die würdige Behandlung kranker Menschen durchklingen lässt. Die erste Hälfte des Films ist dann auch eine Art Abfolge von Befragungsszenen mit Windischs Hauptverdächtigen. Aber auch zwischendurch sieht man immer wieder eine ganze Riege von Charakteren. Einer, der im Garten endlos im Kreis um einen Springbrunnen läuft und dabei Mundharmonika spielt (dargestellt von Regisseur Kaljo Kiisk persönlich), inspiriert den Film gewissermaßen zu seinem bizarr-faszinierenden Soundtrack aus elektronisch verfremdeten Akkordeonklängen. Ein älterer Herr fragt den „neuen Arzt“ immer wieder beim Vorbeigehen, ob er ihn nicht bereits schon einmal gesehen habe. Abseits sitzt ein Mann auf einem Fußboden mit schwarzweißen Kacheln und spielt völlig selbstvergessen mit sich selbst Schach.
Nach den Einzelbefragungen, die nichts ergeben haben, weil die einen die Anspielungen auf eine Zusammenarbeit mit der englischen Regierung überhaupt nicht verstanden, die anderen hingegen viel zu bereitwillig alle möglichen abstrusen Beschuldigungen gedankenlos zugaben, bekommt Windisch eine neue Idee: er will alle Verdächtigen in einen Raum bringen und ihnen so lange Alkohol einflößen, bis der Schuldige sich im Rausch verplappert. Das ganze tarnt Windisch als feierlichen Umtrunk, und hier löst sich der Film für mehrere Minuten fast komplett auf. Die manische Überdrehtheit der Patienten erreicht ungeahnte Höhepunkte, während sich der Raum auch nach und nach ändert: der recht sterile, krankenhaustypische weiße Raum wird farblich dunkler, die Wände verwandeln sich in grobe Holzlatten und wir sehen, dass das ganze ein riesiger Käfig geworden ist, der draußen im Freien steht.
Nicht nur den Zuschauer zu überraschen, sondern ebenso visuelle Stilbrüche beherrschte Kaljo Kiisk auch schon fünfzehn Jahre vor NIPERNAADI sehr gut. Die eher klassische Inszenierung mit flüßigen, eleganten Kamerafahrten lässt HULLUMEELSUS zwischendurch unvermittelt fallen, um das Treiben in holprig-nervöser Handkamera festzuhalten und ruckartig in Gesichter reinzuzoomen. Ein Wechselbad aus elegischen Bildern und einem „dreckigen“, experimentellen Stil, der mich ein wenig an Brynych erinnert hat (besonders die Kombination aus Handkameraschwenks und Zooms).
HULLUMEELSUS ist stellenweise urkomisch, manchmal so grausig wie ein Horrorfilm, er ist kafkaesk und grotesk, dabei auch von großer Poesie. Er wird in keiner einzigen Sekunde banal. Mein persönlicher Festivalsliebling und schon jetzt einer der allerbesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Unglaublich!


3. Festivaltag
Freitag, 20. April

16.00 Uhr, Apollo-Kino

O SLAVNOSTI A HOSTECH („Vom Fest und den Gästen“)
Regie: Jan Němec
ČSSR 1966
68 Minuten, DCP
Nach einem ausgelassenen Picknick im Wald werden einige Menschen von einer Bande festgehalten, die eigene Vorstellungen von Picknick und Feiern haben...
Die Ankündigung der Moderatorin war verunsichernd: irgendetwas mit Bild und Ton und Untertitel, die nicht synchron seien? Nun tatsächlich: das Bild der digitalen Kopie war super, der Ton war auch durchaus synchron mit den Bildern – allerdings waren die Untertitel zeitversetzt und wurden etwa zwei Minuten zu früh angezeigt (der Abstand wurde mit zunehmender Laufzeit immer größer). Das führte dazu, dass man als Zuschauer gewissermaßen alles „im Voraus“ denken musste, was, gelinde ausgedrückt, suboptimal war, zumal O SLAVNOSTI A HOSTECH ein extrem dialoglastiger Film ist. Totalausfälle bei Filmprojektionen: diese unschöne Tradition des goEast setzt sich fort!
Als ich schließlich den Kinosaal nach etwa 40 Minuten verließ, sah ich, dass doch erstaunlich viele Zuschauer weiter verharrten. Verstanden möglicherweise einige Tschechisch auch so? Vielleicht hätte ich länger durchgehalten, aber die extrem enge Zeittaktung mit dem nächsten Film gab den Ausschlag, rauszugehen und in gemütlichem Schritt (zumal bei einer unangenehmen, fast sommerlichen Hitze) zum Murnau-Kino zu gehen. Second Run hat O SLAVNOSTI A HOSTECH auf DVD veröffentlicht, er ist also nicht grundsätzlich für mich „verloren“. Und der nächste Film war in der Tat eine absolute Wucht!


17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

235 000 000
Regie: Uldis Brauns
Sowjetunion (Lettland) 1967
106 Minuten, 35mm
235 Millionen Menschen leben in der Sowjetunion. Der Film portraitiert sie beim Aufwachsen, Heiraten, Tanzen, Feiern, Arbeiten, Entspannen...
235 000 000 war eigentlich ein Auftragsfilm anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution, aber davon ist verhältnismäßig wenig zu sehen, oder zumindest nicht in einer Weise, die man erwarten würde. Auftragsfilm für ein Revolutionsjubiläum – das klingt erst einmal nach einem stocksteifen Dokumentarfilm, in dem ein Off-Kommentator dem Zuschauer langweilige Statistiken über das Wachstum der Schwerindustrie und Landwirtschaft reinprügelt, während Bilder von gestählten Arbeitern zu sehen sind, die mit geschmolzenem Metall irgendetwas Großartiges gießen. Tatsächlich ist 235 000 000 ein dialog- und kommentarloses Bildgedicht über die ominösen 235 Millionen Bewohner der UdSSR, und in erster Linie eine hymnische Feier der Menschen, des Lebens, der Freude am Leben. Wenn filmische Stadtsinfonien bestimmte Städte feiern, dann ist 235 000 000 wohl als Menschensinfonie zu bezeichnen.
Menschen bei Alltagshandlungen, Menschen beim Feiern, viele Gesichter, viele Augenpaare: das steht im Mittelpunkt des Films. Es gibt lange Montagesequenzen mit Menschen, die über die ganze Sowjetunion verteilt ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, zum Beispiel, sich bei Hochzeitsfeiern zu amüsieren. Mehrere Dutzende Hochzeitsfeiern kommen hintereinander, und das Bild, das 235 000 000 von der UdSSR zeichnet, ist über weite Strecken nicht russisch. Zu sehen gibt es viele „exotisch“ aussehende Zeremonien aus der Peripherie: aus dem Kaukasus, aus Zentralasien, aus nordrussischen indigenen Regionen, wahrscheinlich auch aus Gebieten mit koreanischen Minderheiten. Ich schreibe „exotisch“ in Anführungszeichen, weil der Film radikaldemokratisch in seiner Annäherung an alle gezeigten Menschen ist: niemand wird exotisiert.
Wie der Film mit dem Verhältnis von Mensch und Staat umgeht, zeigt sich vielleicht in den Bildern eines hochoffiziellen Parteitags (oder einer ähnlichen Veranstaltung: mangels Off-Kommentar oder Zwischentitel konnte ich vieles nicht präzise einordnen – aber für das Verständnis des Films ist das auch unwichtig). Ja, 235 000 000 zeigt Bilder von der Sitzung selbst, mit formeller Begrüßung der Delegierten (Breschnew ist da auch kurz zu sehen), und den gefüllten Plenarsaal. Viel lieber und länger verweilt er danach im Vorraum bei der Pause und beobachtet die Delegierten und die Gäste bei informellen Gesprächen und beim Entspannen. Darunter findet sich auch ein älterer Herr, bei dem die Kamera länger verweilt: er hat es sich in einem Sessel gemütlich gemacht, ab und zu greift er in das Schälchen auf dem Beistelltisch und wirft sich genüsslich dann eine Erdnuss in den Mund. 235 000 000 ist keineswegs ein subversiver Film: vielmehr anerkennt er die Sowjetunion als eine Normalität – eine Normalität, die es Menschen erlaubt, sich richtig zu entspannen und es der Kamera ermöglicht, den Blick auch länger einfach mal schweifen zu lassen.
Der Blick auf die Menschen – und die Blicke der Menschen. Die Kamera beobachtet die Gesichter, oft in Nahaufnahme, und die Gefilmten blicken zurück. Vielleicht ist 235 000 000 einer der unvoyeuristischsten Filme überhaupt, weil er dazu einlädt, die Barriere zwischen den Beobachtern und den Beobachteten einfach aufzulösen.
Drei große Höhepunkte für mich... Ein Pferderennen in einer Steppenlandschaft zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann (Teil einer Hochzeitszeremonie?), wobei die Dame haushoch gewinnt. Zweifelsohne eine der dynamischsten reinen Actionszenen, die ich in letzter Zeit gesehen habe. Ein traditioneller Tanz, ebenfalls in einer nicht-russischen Region (Zentralasien oder vielleicht der hohe Norden?): die offensichtlich bestens gelaunten Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich zu einer Handtrommelmusik, doch der Film unterlegt die Szenen kontrapunktisch mit einem fetzig-jazzigen Bläserscore – ein kleiner Twist in der sowjetischen Steppe. Und schließlich die Kamera, gerichtet auf die Stirn einer jungen Frau mit einem zeremoniellen Kopftuch – mit einem langsamen Schwenk senkt sich die Kamera zu den Augen, die das ganze Cinemascope-Bild ausfüllen.
Im letzten Drittel gibt es eine Art Bruch in der Tonalität, weil eine längere Abfolge von Militärparaden, von Kampfflugzeugen, Panzern und Armeemanövern zu sehen ist. Musste hier ganz konzentriert der Auftrag des Films „abgearbeitet“ werden? Wer die Soldatenparade durchhält, wird danach wieder mit feiernden Sowjetbürgern in Zivil „belohnt“. Beziehungsweise mit feiernden Menschen, denn 235 000 000 zeigt in erster Linie Menschen, keine Sowjetbürger.
235 000 000 ist einer der berühmtesten Filme der „Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms“, einer losen Filmbewegung, die Dokumentarfilme mit rein visuellen Mitteln zu produzieren versuchte (manchmal auch bezeichnet als „Baltische Neue Welle“). Der Hauptregisseur Uldis Brauns war eine Schlüsselfigur dieser Bewegung, ebenso wie der Drehbuchautor Herz Frank (bzw. Hercs Franks). Ābrams Kleckins wirkte ebenfalls an der Produktion des Films mit: er ist nach Wiesbaden zum Screening angereist und berichtete danach, dass 235 000 000 ein voll und ganz ein kollektiver Film sei und erst nach etwa der fünften Sichtung wirklich seine volle Wirkung entfalten würde. Als Co-Regisseurinnen erwähnt IMDb noch Biruta Veldre und Laima Žurgina. Meiner Meinung nach eine wohl genau so zentrale Rolle wie die Regisseure, Kameraleute und Autoren spielt der Komponist Raimonds Pauls. Der Film benutzt eher selten den natürlichen Ton, sondern ist fast durchgehend mit einem extrem abwechslungsreichen Score aus Orchester-Jazz, Piano-Jazz, klassischen Streichern (die ein zwischendurch wiederkehrendes Leitmotiv spielen), rockigen Nummern und elektronischen Ambiente-Sounds. Der Score interagiert wie in einem Paartanz mit den Bildern: manchmal geben die Bilder vor, wie sich die Musik entwickelt, manchmal ist es die Musik, die die Wegmarken für die Bilder setzt.
235 000 000 existiert bzw. existierte in drei verschiedenen Schnittfassungen. Es gibt eine Art Ur-Fassung von 130 Minuten, aber die ist höchstwahrscheinlich verschollen. Die Version mit 106 Minuten, die beim goEast lief und mit einer wunderschönen 35mm-Kopie zu den schönsten (und glücklicherweise pannenfreien) Projektionen dieses Jahr gehörte, war wohl eine Festival- bzw. Vorpremierenfassung. Im Kino wurde der Film schließlich in einer Länge von knapp unter 80 Minuten ausgewertet. Vielleicht waren zensurbedingte Schnitte enthalten, aber wahrscheinlicher ist es, dass der Film so besser „vermarktet“ werden konnte bzw. für publikumsfreundlicher gehalten wurde.


19.45 Uhr, Murnau-Filmtheater

Kurzfilmprogramm „(Post-)sowjetischer Dokumentarfilm“

SENIS IR ŽEMĖ („The Old Man and the Land“)
Regie: Robertas Verba
Sowjetunion (Litauen) 1965
20 Minuten, DCP
Portrait eines über 80-jährigen Bauern, der von seinem Alltag und dem Lebensweg seiner Söhne erzählt.
Zweifelsohne ein schöner Film, aber mir ist nicht besonders viel Erwähnenswertes in Erinnerung geblieben.


KELIONĖ ŪKŲ LANKOMIS („A Trip Across Misty Meadows“)
Regie: Henrikas Šablevičius
Sowjetunion (Litauen) 1973
10 Minuten, DCP
Vom Alltag eines Stationsvorstehers auf dem Land.
Auch hier: ein schöner Film, aber keine großen Erinnerungen. Vielleicht, weil der nächste Film alle anderen des Blocks geradezu verblassen ließ?


VĖLIAVA IŠ PLYTŲ („The Brick Flag“)
Regie: Saulius Beržinis
Sowjetunion (Litauen) 1988
30 Minuten, DCP
Der litauische Rekrut Artūras Sakalauskas, der als Bewacher in einem Gefangenenkonvoi abkommandiert ist, tötet bei einem Amoklauf acht Menschen. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ untersucht dieses schockierende Ereignis und enthüllt, dass Sakalauskas Opfer systematischer Misshandlungen durch seine Kameraden und Offiziere war.
© goEast Filmfestival
Zwei Jahre Perestroika und keine Hoffnung in Sicht...
Der Sachverhalt scheint erst einmal deutlich: ein Soldat läuft Amok. Ein Verrückter wohl – der dann nach der juristischen Untersuchung in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Film macht nach und nach deutlich, dass hier überhaupt nichts einfach ist, sondern dass der Amoklauf das Symptom eines heruntergekommenen Systems ist. Artūras Sakalauskas, soviel wird rasch klar, wurde von seinen Armeekameraden und seinen Vorgesetzten systematisch gequält, psychologisch bedrängt, physisch misshandelt, gar regelrecht gefoltert. Und er war keineswegs der einzige. Im Film werden Rekruten befragt, die relativ nonchalant von gängigen Foltermethoden in der Roten Armee berichten, inklusive ihren verniedlichenden Bezeichnungen. Ein weit verbreitetes Phänomen, geradezu eine Tradition: Ranghöhere quälen Rangniedere, dienstältere Rekruten quälen neu hinzugekommene Rekruten, nicht-russische Rekruten werden in der Regel wesentlich schneller zu Opfern.
Die Eltern der Rekruten, die Artūras erschossen hat, werden befragt, und plötzlich wähnt man sich nicht in der vermeintlich progressiven Perestroika-Ära, sondern in der tiefsten Stalin-Zeit: den Sakalauskas müsste man unverzüglich wie einen Hund erschießen und nicht in einer Psychiatrie verwöhnen (wie es in sowjetischen Psychiatrien aussah, möchte man sich eigentlich nicht ausmalen). Dass ihre Söhne in Misshandlungen verwickelt waren, seien Lügengeschichten. Und wahrscheinlich sei der Sakalauskas ein finnischer Spion, der den Zug in Richtung Finnland entführen wollte. (Heute würden diese Leute das nicht in die Kamera sagen, sondern wohl bei facebook posten.)
Auch Offiziere der Roten Armee werden interviewt. Ihrer Meinung nach hätte sich Artūras auf dem korrekten Dienstweg über die Misshandlungen beschweren müssen. Und der hätte beinhaltet, dass er sich an seinen direkten Vorgesetzten, also einem Offizier, der ihn selbst misshandelte, wandte. Stattdessen beschwerte sich Artūras in seiner Kaserne bei wesentlich höherrangigen Offizieren – die seine Klagen ignorierten. Ein gewisses Umdenken findet ansatzweise statt, insofern über eine „unabhängige“ Beschwerdestelle für Soldaten nachgedacht wird.
Eine Lösung findet der Film schließlich in diesem Gewühl nicht. VĖLIAVA IŠ PLYTŲ ist eine schonungslose Anklage, die den Zuschauer nach einer halben Stunde völlig verstört, entmutigt, niedergeschlagen und hoffnungslos entlässt. Während des Vorspanns liest der Off-Kommentator mit zorniger Stimme eine Liste aller litauischer Rekruten, die während ihres Armeedienstes getötet wurden oder zu Tode gequält wurden oder aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben. Es sind gut zwei Dutzend Namen.
VĖLIAVA IŠ PLYTŲ erschien 1988, und ich vermute, dass ein solch heftig anklagender Film, der keinen Zweifel daran lässt, dass die präsentierten Probleme mit dem sowjetischen Regime an zu tun haben, nicht viel früher hätte erscheinen können. Saulius Beržinis blieb auch nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Litauens Dokumentarfilmregisseur, betätigte sich aber auch in einem anderen Feld, nämlich der intensiven Erforschung des Holocaust in Litauen. Er war Mitbegründer des Unabhängigen Litauischen Holocaust-Archivs, sammelt bis heute Dokumente und Zeugenaussagen und dreht Dokumentarfilme über dieses Thema. Da seine Arbeit beinhaltet, dass er unter anderem über litauische Nazi-Kollaborateure und Holocaust-Mittäter forscht (von denen manche nach der Unabhängigkeit offiziell zu Freiheitskämpfern erklärt wurden), macht er sich im zeitgenössischen Litauen nicht überall Freunde.


RUDENS SNIEGAS („Autumn Snow“)
Regie: Valdas Navasaitis
Litauen 1992
16 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes im ersten Winterschnee...
In eisig kalten, gnadenlos statischen Tableaus wird der Schneeeinfall in einem Dorf festgehalten. Das ist kein ermutigender, schöner, erhebender Anblick, zumal alle Häuser völlig hoffnungslos verfallen sind. Das brutal kontrastierte Schwarzweiß des Films hebt die Stimmung auch nicht. Eine Anklage gegen den großen „Fortschritt“, den über vierzig Jahre Sowjetherrschaft brachten?


ANTIGRAVITACIJA („Antigravitation“)
Regie: Audrius Stonys
Litauen 1995
20 Minuten, DCP
Die gnadenlose Tristesse eines litauischen Dorfes... – zum Zweiten!
Durch die Reihenfolge der Filme wirkte ANTIGRAVITACIJA wie ein strukturelles Remake von RUDENS SNIEGAS, mit dem Unterschied, dass die Kamera sich oftmals bewegte und dass sie zwischendurch leicht exzentrische und ungewöhnliche Positionen einnahm (zu Beginn etwa schwebt sie etwa 10 bis 15 Meter über dem Boden, den Blick senkrecht darauf gerichtet).


22.30 Uhr, Apollo-Kino

L'HOMME QUI MENT („Der Mann, der lügt“)
Regie: Alain Robbe-Grillet
Frankreich / ČSSR 1968
95 Minuten, DCP
Boris Varissa (Jean-Louis Trintignant) wird während des Zweiten Weltkriegs offenbar in einem Wald erschossen – oder auch nicht. Er kehrt in ein Dorf ein und beginnt, widersprüchliche Geschichten über seine Tätigkeiten und die des lokalen Widerständlers Jean Robin zu erzählen. Oder ist er selbst Jean Robin?
© goEast Filmfestival
L'HOMME QUI MENT lief in der Filmreihe zum 50. Jahrestag des Prager Frühlings. Er war, so die Ankündigung, die erste französisch-tschechoslowakische Koproduktion. Gedreht wurde er in der Slowakei, und gezeigt wurde eine slowakischsprachige Kopie (die meisten Angaben, die ich im Netz finde, weisen Französisch als Originalsprache aus). Die französische nouvelle vague besucht also die Tschechoslowakei während des Prager Frühlings...
Ich habe von Robbe-Grillet bisher nur L'ÉDEN ET APRÈS (ebenfalls tschechoslowakisch koproduziert) gesehen und weiß über die strukturelle Komplexität von Alain Resnais' L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (dessen Drehbuch Robbe-Grillet verfasste, den ich allerdings immer noch nicht gesehen habe) bescheid. Nun, L'HOMME QUI MENT ist auch ein Film, in dem Realität, Traum, Fantasien und Obsessionen ohne jegliche Vorwarnung ineinander übergehen, in dem die puzzle-hafte Form vollkommen überhand nimmt über jegliche klassische Erzählkonvention, indem Regisseur und Cutter zu eigenen Protagonisten mit einem undurchdringlichen Eigensinn werden. Das ist gleichermaßen „anstrengend“ wie auch absolut faszinierend.
Die Bedeutung des Films zu entschlüsseln, erscheint wahrscheinlich nicht nur mir als schwierig, gar fast unmöglich. Dennoch, einige Zeichen gibt es. Intuitiv würde ich allerdings sagen, dass L'HOMME QUI MENT wohl doch mehr ein französischer Film ist denn ein echtes Dokument des Prager Frühlings, und er vielleicht vom Umgang mit der Résistance in Frankreich handelt, darüber, wie ein Mythos der Résistance aufgebaut wurde, gemäß dem der Widerstand gegen die Nazibesatzung und das Vichy-Regime ein Massenphänomen war – und sich kritisch dagegen positioniert. Vielleicht wäre es interessant, L'HOMME QUI MENT zusammen mit Jean-Pierre Melvilles L'ARMÉE DES OMBRES zu sehen, einem Film, der wahrscheinlich noch „schwieriger“ ist, weil viel weniger spielerisch und der ebenso davon handelt, wie die Résistance eine auf sich zurückgeworfene Parallelwelt bildete. Um den Bogen noch mal ein Stück weiter zu spannen, mit Paul Verhoevens ZWARTBOEK (hier natürlich nicht für Frankreich, sondern für die Niederlande) könnte man L'HOMME QUI MENT auch im Doppelpack mal sehen: auch in Verhoevens Film geht es um uneindeutige Identitäten im Anti-Nazi-Widerstand.
L'HOMME QUI MENT ist tatsächlich ein sehr spielerischer Film, der sich von seiner eigenen, zersplitterten Form mitreissen lässt, und zwischendurch wird er fast slapstickhaft: Der Protagonist erzählt einmal eine völlig wahnwitzige Geschichte darüber, wie er Jean Robin mithilfe eines Heuwagens aus einer Festungshaft gerettet hat, aber das ganze wird vom Protagonisten (bzw. Trintignant) für einige Minuten fast mit einem Lachen im Gesicht gespielt, das Bild scheint (in meiner Erinnerung zumindest) einen Tick zu schnell zu laufen, in großen comichaften Gesten wird der deutsche Wachmann K. O. geschlagen.
Ja, L'HOMME QUI MENT ist vielleicht doch „einfacher“ als NIPERNAADI. Ein sehr guter Film ist er auf jeden Fall. Die letzte halbe Stunde war leider für mich angesichts der fortgeschrittenen Zeit und vor allem des fortschreitenden Verfalls meiner Tagesform geradezu quälend. Als 18- oder 20-Uhr-Film wäre er vielleicht besser geeignet gewesen.


Im bald folgenden zweiten Teil meines Berichts zum diesjährigen goEast-Festival geht es dann unter anderem um estnische Walddämonen, Rigaer Punks, brünstige Nägel, liebreizende frühneuzeitliche Adelsdamen im Barbarella-Outfit und zynische Budapester Hobby-Detektive...

Montag, 19. Februar 2018

„Gefühl ist die gefährlichste Schmuggelware“: Euphorien vom 17. außerordentlichen Filmkongress des Hofbauer-Kommandos (Zweiter Teil)

Samstag, 6. Januar, ca. 15.00 Uhr

Der „triste Überraschungsfilm“

Vorfilm
MÄDCHEN IN DER SAUNA
Regie: Gunther Wolf
Bundesrepublik Deutschland 1967
Was ist denn das eigentlich, so eine Sauna? Eine deutsche Journalistin möchte das erfahren und auch ihren Lesern mitteilen können. Da heißt es: Bücher wälzen – und in das Ursprungsland der Sauna, Finnland, reisen, um sie dort live auszuprobieren.
MÄDCHEN IN DER SAUNA – das ist erst einmal ein vielversprechender Titel, und gerne würde ich mal den passenden Jess-Franco-Film dazu sehen. Tatsächlich ist MÄDCHEN IN DER SAUNA aber ein kurzer Dokumentarfilm, der als kulturell wertvoller Film vor dem Hauptprogramm gezeigt wurde, damit ein Kino auf diese Weise Vergnügungssteuern einsparen konnte. Er hätte also durchaus vor Wishmans absolut schamlosen FKK-Exploiter THE PRINCE AND THE NATURE GIRL laufen können (Chronologie mal außer Acht gelassen). Wer also nackte Schauwerte und triefenden Schmier erwartet, ist hier an der falschen Adresse... oder doch nicht?
Auch wenn ich die volle Bedeutung von „trist“ im Hofbauer-Kommando-Jargon noch nicht völlig durchschaut habe: als Journalistin stellt sich die Protagonistin tatsächlich sehr „trist“ an, wie sie da etwas unmotiviert Sachen in ihre heimische Schreibmaschine eintippt und dann total begeistert darüber ist, dass sie ja schon wenigstens einen Titel für ihren Artikel hat (ein Titel, der etwa so sexy wie eine total verkohlte Saunawurst war... zu letzterer gleich mehr). Dann baut der Film einen Moment nervenzerfetzender Spannung ein: wird unsere tapfere Journalistin von ihrer Redaktion die Genehmigung bekommen, zusammen mit einem satten Spesenkonto nach Finnland zu fliegen?
Ja, bekommt sie! So geht es nach Finnland. Es beginnt eine investigative Reise an dampfend-heiße Orte, an denen sich ausschließlich nackte Menschen tummeln. Und zwischendurch wird MÄDCHEN IN DER SAUNA auch zu einem relativ informationsgesättigten Bericht: über finnische Bräuche und Sitten, über die Bauweise von Saunen, über die Steinsorten, die für den Aufguss verwendet werden, die genutzten Holzarten, über die gesundheitsfördernde Wirkung des Saunierens, die steigende Zahl an Saunen in finnischen Privatwohnungen. Ganz wichtig (und unvergesslich) ist die Saunawurst, die nach dem Saunieren auf einem Stöckchen aufgespießt und über dem Kaminfeuer gebraten wird. Zu genießen ist diese übrigens mit einem Bier, um dem Flüssigkeitsverlust des Körpers etwas entgegen zu setzen. Schwitzen, Wurst und Bier – die wichtigsten Zutaten für einen gesunden Lebensstil! Die ganzen Ausführungen werden von passenden Bildern begleitet und die vielen nackten Menschen, die man sieht, dienen selbstverständlich nur der Aufklärung und der Visualisierung des Erklärten.
Fast bin ich dazu geneigt, dem Film einen fast radikaldemokratischen, humanistischen Impetus zuzusprechen, zumal MÄDCHEN IN DER SAUNA über weite Strecken trotz der nackten Tatsachen sehr „unschuldig“ daherkommt und in seinen Erklärungen über nicht-deutsche Bräuche erstaunlich nüchtern, nicht-exotisierend und ohne jegliche Überheblichkeit ist. Wie aus heiterem Himmel bricht der Voice-Over der Protagonistin allerdings plötzlich in eine hämische Tirade gegen eine Co-Saunabesucherin aus, die sinngemäß als fett und deshalb als Beleidigung für die Welt beschimpft wird (die Worte lauten in etwa „[...] manche Gäste offenbar etwas zu sehr dem Essen zusprechen“). Das wiederholt sie kurz danach wieder. Die zwei Frauen (oder war es ein und dieselbe?), die dazu eingeblendet werden, sind natürlich nackt: man sieht also, dass sie vollkommen normal proportioniert sind und man schon ein schwer gestörtes Körperbild, vor allem aber einen sehr bösen Willen an den Tag legen muss, um sie als fett zu bezeichnen. Ein böser Wille, der ein sehr unschönes Weltbild offenbart: aus der demokratischen Sauna wird plötzlich ein Ort, an dem nur „schöne“ Menschen zu sehen sein sollen. Das ist schon ein ziemlich verstörender, Mondofilm-artiger Einschub in einem ansonsten eigentlich putzigen Film.


THE PRINCE AND THE NATURE GIRL („Nackt im Sommerwind“)
Regie: Doris Wishman
USA 1965
Ein leitender Angestellter in einer New Yorker Firma bekommt zwei neue Sekretärinnen – beide kürzlich vom Land zugezogene Zwillingsschwestern. Die extrovertiertere Blonde verbringt ihre Wochenenden in einem FKK-Camp, an dem auch der „charmante Prinz“ seine Freizeit verbringt, so dass sie sich dort auch treffen und miteinander anzubandeln beginnen. Die eher introvertierte Brünette verliebt sich hingegen still in ihren Chef. Als ihre Schwester an einem Wochenende anderweitig wegfahren muss, färbt sie sich die Haare und nimmt ihren Platz im Camp und an der Seite des „Prinzen“ ein...
Christoph versprach in seiner Ansage einen tiefentspannten Hauptfilm, und er sollte recht behalten. Auch wenn ich meine Samstagabende bevorzugt gerne mit knüppelharter Exploitation garniere: irgendwie wäre THE PRINCE AND THE NATURE GIRL ein perfekter Samstagabend- bzw. Samstagnachtfilm. Bei so viel Entspannung bestünde natürlich die Gefahr, einzuschlafen. Wenn man wieder zwischendrin aufwacht, würden einen vielleicht die haargenau selben Bilder wie vor dem Einschlafen begrüßen... oder sollte ich sagen: sanft wach küssen.
Wishmans Film bietet eine recht interessante Mischung aus No-Budget-Charme, einer sanft angedeuteten Screwball-Komödie, unschuldiger Nacktheit, einer erstaunlichen Ökonomie der Inszenierung und vor allem leiser Poesie. Die beiden Schwestern werden nicht von Zwillingsschwestern (das hätte die Gage verdoppelt), sondern von nur einer Darstellerin gespielt und es brauchte bei einigen Zuschauern (z. B. mir selbst) längere Zeit, das zu merken, weil sich die beiden Figuren oft im selben Raum befinden. Im ganzen Film gibt es aber nur zwei Trick-Sequenzen, in der sich die Darstellerin mit sich selbst ein Bild teilt (den Split im Film sieht man zwar, wenn man genau hinschaut, aber es ist schon recht gut gemacht). Die restliche Zeit wird das Material so geschnitten und arrangiert, dass beide Schwestern nicht gleichzeitig zu sehen sind: eine verlässt mal den Bildausschnitt, geht in einen anderen Raum, während die andere „reinkommt“. 
So „ökonomisch“ geht Wishman auch mit ihrem Material um, wenn sie die Aktivitäten im FKK-Camp zeigt. Immer wieder sind bei den Montagen die gleichen Bilder zu sehen – in einer anderen Reihenfolge gebracht. Einige Motive sind drei bis vier Mal im knapp einstündigen Film zu sehen. Das dürften manche als Tiefpunkt des Amateurhaften sehen, aber ich finde, das hat was Beruhigendes: guck mal, das Flugzeug fliegt heute wieder durch den Himmel; ach schön, die Enten watscheln ja immer noch gemütlich am Rand des Teichs. Das ist auf ganz eigene Weise poetisch. Am schönsten natürlich, als der „Prinz“ und die „Prinzessin“ (ich weiß nicht mehr, welche der beiden) spazieren gehen: hier folgt eine ganz besonders lange Montage mit Camp-Bildern, so lange, dass es auffällt. „Lassen wir doch die beiden in Ruhe spazieren und gucken uns währenddessen doch mal ganz in Ruhe an, was im Camp so läuft...“ – scheint uns der Film zu sagen. Warum nicht? Gerne!
Die nackten Schauwerte halten sich, trotzdem der Film größtenteils im FKK-Camp spielt, sehr in Grenzen: meist über der Gürtellinie, von hinten gefilmt, und manchmal scheint sich der eine oder andere Komparse in eine leicht unbequeme Position zu quälen, damit keine Sachen passieren wie in DER ZWEITE FRÜHLING. Der Gipfel ist natürlich, dass der „Prinz“ selbst immer in Badehose zu sehen ist und dabei unfreiwillig wie ein perverser Spanner aussieht. Man kann sich darüber allerdings keine allzu große Gedanken machen, denn viel irritierender ist noch die Tatsache, dass der „Prince“-Darsteller wie eine junge Ausgabe von Steve Carell aussieht.
Was soll ich eigentlich sagen: Darsteller, Schauspieler, Komparse, Figurant? Zum ungewöhnlichen Charme von THE PRINCE AND THE NATURE GIRL trägt bei, dass das alles nicht so geschauspielert als vielmehr „entworfen“ aussieht. Als würden sie keine Bewegungen spielen, sondern nur abstrahierte Entwürfe von Bewegungen skizzieren. Ja ein wenig so, als wären nicht erste, zweite, dritte etc. Takes, sondern jeweils nur der Probe-Take genutzt worden (das allerdings äußerst konsequent).
Was noch? Es gibt eine wunderschöne Fahrt in einem Auto, wo Wishman sogar die Rückprojektion eingespart hat – wahrscheinlich haben nur zwei bis drei Helfer am Rand gerüttelt, damit es aussieht, als ob unsere zwei Turteltauben wirklich fahren. Der Arbeitstag des „Prinzen“ ist ein absoluter Traum: das schwerste besteht wohl darin, sich zwischendurch eine Zigarette anzuzünden und ein bisschen von seiner blonden Sekretärin zu schwärmen. Die blonde Prinzessin dreht sich zwischendurch wie ein kleines Kind auf ihrem Bürostuhl. Einfach so. Das Bild eines Mannes, vielleicht aus einer Zeitschrift ausgerissen, hängt am Rand eines Regals in ihrem Büro. Warum auch immer – und warum nicht? Enten watscheln am Rand eines Teiches – das habe ich schon erwähnt, aber ich mache es einfach wie der Film selbst: zwei mal kann nicht schaden! Der tiefenentspannte Latin-Lounge-Score macht dabei die ganze Zeit Lust, sich ein kühles Bier aufzumachen.
Ja, der entspannteste Film des Kongresses. Und einer der poetischsten.

Auf andere Weise sehr poetisch, allerdings in einem ganz anderen Universum, was den Härtegrad betrifft:

ca. 17.00 Uhr

TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI („Angel Guts: Red Vertigo“)
Regie: Ishii Takashi
Japan 1988
Eine Krankenschwester wird von Patienten fast gruppenvergewaltigt und flieht. Ein Mann mit hohen Schulden bei dubiosen Typen flieht. Beide treffen sich zufällig. Er entführt sie, vergewaltigt sie, hält sie in einem verlassenen Gebäude fest. Aus zwei kaputten Leben, Reue, Vergebung, Verzweiflung (und ein bisschen Stockholm-Syndrom) erwächst eine schwierige Liebe.
So sehr ich mich nach TENSHI NO HARAWATA: AKAI KYOSHITSU auch auf den nächsten „Angel Guts“-Film freute – so gut wie der erste konnte der doch nie werden, dachte ich mir. Und in der Tat: TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI war nicht so gut, sondern sogar noch besser!
Die Geschichte einer Frau, die sich in ihren eigenen Entführer und Vergewaltiger verliebt, ist natürlich nicht ganz unproblematisch, wenn man TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI „at face value“ nimmt. Wie der erste „Angel Guts“-Film des Kongresses ist aber auch dieser unter seiner krassen, erbarmungslos harten und teils abscheulichen Hülle ein herzzerreissender Liebesfilm über kaputte Menschen in einer kaputten (urbanen) Welt. Das Spannende ist, dass er das ganze mit größtenteils komplett anderen filmischen Mitteln macht: „Red Vertigo“ nutzt sehr viel mehr Handkamera und Bewegungen als „Red Classroom“, ist weniger abstrakt und zwar erzählerisch noch lange kein Schema-F-Drehbuchraschler, aber doch geradliniger. Die Position, die er einnimmt, scheint mir auch involvierter als beim kühl-distanzierten „Red Classroom“.
Der Moment, in dem ich mich definitiv in diesen Film verliebt habe: beide befinden sich im verlassenen Lagerhaus, sie muss pinkeln, deshalb bindet er sie kurz los und beide errichten gleichzeitig ihr Geschäft in unterschiedlichen Ecken. Er und sie sind räumlich getrennt, aber ihre Urin-Rinnsäle fließen dank des abschüssigen Bodens trotzdem zueinander und vermischen sich schließlich. Ein unfassbares Bild zum Verlieben, eine wunderbare Visualisierung der schicksalshaften Verbindung zweier Menschen. 
Das Geschehen verlagert sich danach für längere Zeit in ein Hotelzimmer, das fast schon eine eigene gleichberechtigte Filmfigur ist: ein relativ dunkles Schlafzimmer, das durch eine Glastrennwand den Blick freigibt auf ein Bad in Orange – wobei optional Lamellenjalousien herunter- bzw. zugezogen werden können.
Es ist schon etwas merkwürdig, zumal TENSHI NO HARAWATA: AKAI MEMAI nach DER ZWEITE FRÜHLING wohl mein liebster Film des Kongresses war, aber an viele Details kann ich mich nicht mehr so richtig erinnern, weil der ganze Film so traumartig wirkte. Zwischendurch (oder war das am Ende?) geht die Handlung wieder zurück in die verlassene Lagerhalle, wo sie im Lichte eines rot-orangenen Sonnenuntergangs zu einem melancholischen Lied alleine tanzt. Und natürlich ist da diese absolut fantastische, mystisch angehauchte POV-Reise einer Seele, die ihren Körper verlassen hat und zum geliebten Menschen über ein Stück Straße hinschwebt...

Essenszeit! Inhaber einer Dauerkarte (das waren tatsächlich schätzungsweise über drei Dutzend Leute) wurden am Samstag Abend wie im Programm angekündigt zum Abendessen eingeladen. Geführt wurden sie im Gebäude des Filmhauses in einen Art Empfangssaal, wo ein tolles, dreigängiges Menü auf sie wartete: Suppe, Hauptgang mit großer Büffetauswahl, Dessert. Ein Traum.
Hiermit an dieser Stelle einen ganz, ganz, ganz, ganz, ganz großen Dank an das Team, das dieses Essen organisiert, gekocht und serviert hat. Es hat großartig geschmeckt. Es war viel mehr, als ich und sicherlich auch die meisten anderen Dauerkarten-Besitzer erwartet hatten und bestimmt mehr, als wir eigentlich verdient haben. Da werden wir schon mit großartigen Filmen verwöhnt, und dann kommt noch so etwas Schönes zusätzlich hinzu!


ca. 21.00 Uhr

CARMEN, BABY
Regie: Radley Metzger
Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1967
In einer Kleinstadt an der Adria verführt eine Prostituierte einen jungen Polizisten und zieht ihn in einen kriminellen, zunehmend gewalttätigen Strudel hinein.
„Carmen“, gespielt in einem jugoslawischen 60er-Jahre-Setting, das hat erst einmal seinen Charme. Wenn man weiter denken möchte, könnte man CARMEN, BABY auch als quasi-feministische 1968er-Version des Stoffs bezeichnen. Natürlich ist er auch ein Softerotikfilm mit hohen Schmierwerten – letztere explodieren geradezu, wenn Carmen bei einer wilden Party eine Art Limbotanz auf einem Tisch vollführt, bei dem sie nicht unter einer Stange tanzt, sondern ihren Körper langsam in Richtung einer besonders langhalsigen Flasche auf der Tischplatte bewegt. Am Anfang wirkt es schon ziemlich gemein, wie sie den Polizisten José erst aufheizt, dann wieder abblitzen lässt und ihn dann immer mehr in ihre Schandtaten hineinzieht. Nach und nach kann man aber sehen, dass sie auch irgendwo ein Freiheitsideal verkörpert. Und er wirkt mit zunehmender Laufzeit immer mehr wie ein verblendeter, selbstgefälliger, autoritärer, fast schon faschistischer Macho: das einzige, was er Carmen verspricht, ist ein Leben, in dem es für sie außer ihn selbst nichts anderes geben soll. Das ist nicht besonders viel. Das ist ziemlich genau das, was Fox-Jürgens seiner Ehefrau in DER ZWEITE FRÜHLING verspricht, und José (Claus Ringer) hat noch nicht einmal halb so viel Charisma. Wenn er sie nicht „exklusiv“ haben kann, soll sie gar nichts haben. Es ist ein unglaublich bestialischer Akt, als er sie in der Morgendämmerung auf einem verlassenen Parkplatz beiläufig ersticht...
Leider ist es für mich persönlich interessanter, über CARMEN, BABY nachzudenken und zu schreiben als es war, ihn tatsächlich zu sehen. Die erste Hälfte fand ich sehr einnehmend, da spielt sich vieles auf den Straßen einer jugoslawischen Küstenstadt ab und das wirkt auch sehr lebendig, trotzdem da eigentlich nichts passiert (oder vielleicht gerade deswegen?). Später verlagert sich das Geschehen immer mehr in Innenräume und trotz einiger guter Ideen – ein Popsänger, mit dem Carmen anbandelt und der den Spitznamen „Baby [Irgendetwas]“ trägt, trinkt seine Cocktails aus Säuglingsfläschchen – erschien mir alles zunehmend beliebiger, zumal eine Wendung die nächste jagte. Auch hier: kein Film, den ich als schlecht bezeichnen könnte, aber in Sachen exzentrische „Carmen“-Adaptionen bleibe ich lieber bei dem Italo-Western L‘UOMO, L‘ORGOGLIO, LA VENDETTA aus dem gleichen Jahr.


ca. 23.30 Uhr

LEFT-HANDED
Regie: Jack Deveau
USA 1972 (DVD-Projektion)
Ein New Yorker beginnt mit einem kürzlich zugezogenen, heterosexuell gebundenen Mann vom Land eine leidenschaftliche Affäre.
Miles Davis schrieb in seiner Autobiografie über Prince (den er sehr bewunderte), dass dieser ganz bestimmt nicht zu europäischer klassischer Musik, sondern zu wilder afrikanischer Trommelmusik Sex habe. Nun... in LEFT-HANDED gibt es reichlich Sex zu sehen, und sehr wenig klassische Musik zu hören (an einer Stelle zumindest „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss). Die großartigste Sexszene spielt sich in der Dusche ab. Schwalle heißen Wassers, nasse Haare, erigierte Penisse, streichelnde Hände, gierige Münder, beschlagene Duschwände und dichter Wasserdampf verbinden sich – um jetzt zu Miles‘ Aussage zurückzukommen – mit einer hypnotisierenden, perkussiven, elektronischen Musik (die nebst Jazz-Rockigem einen nicht unbeachtlichen Teil des Scores ausmacht). Trance-artig. Jenseitig. Großartig.
LEFT-HANDED ist nicht nur ein schwuler Porno, sondern auch ein Werk, das grenzwertig nah am puren Experimentalfilm ist (tatsächlich der wohl „experimentellste“ Kongressfilm), und implizit auch ein politisches Manifest. Ein kleines bisschen New-York-Film ist er auch.
Das „Golden Age of Porn“ wird bisweilen mit „Pornos, die wirklich ein Drehbuch haben und eine Geschichte erzählen“, assoziiert. Wer so etwas bei LEFT-HANDED erwartet, dürfte kaum mit dem Film zurecht kommen. Deveau ist an Erzählung, Handlung, Psychologisierung so gut wie nicht interessiert: eine Handlung wird nur sehr rudimentär durch Telefon-Dialoge entworfen, die man als Voice-Over hört – konventionelle Dialoge hat der Film kaum. LEFT-HANDED ist im wörtlichen Sinne ein Aktionsfilm, ein fast puristisch körperlicher Film. Das betrifft nicht nur den Sex. Im letzten Drittel rasiert sich der vollbärtige Protagonist: stutzt sich zuerst den Bart mit einer Schere zurecht, schäumt sich gründlich das Gesicht ein und bearbeitet dann seinen Bart minutiös mit dem Rasierer. Trotzdem auch diese Szene, soweit ich mich erinnere, mit Jumpcuts arbeitet, wird diese alltägliche Handlung viel länger ausgedehnt, als man sie in einem klassischen Erzählfilm zeigen würde (in THE FUGITIVE gibt es so etwas ähnliches – da aber als rasche Montage). Deveaus präziser Blick ist obsessiv, zärtlich, impressionistisch. Denn auch hier sieht der Film nicht „dokumentarisch“ aus. Wir beobachten nicht nur einen Mann, der sich rasiert, sondern eine Existenz, die sich transformiert – genauso wie wir bei den meisten Sexszenen nicht nur Männer sehen, die handfest, teils sehr hart ficken, sondern meist auch pure Lust, Freude, Exaltiertheit. Mit purer Körperlichkeit pure Emotion spürbar machen. Deveau erscheint mir nicht als Realist, sondern eher als eine Art transzendentaler Impressionist, wenn man das so sagen kann.
Das zeigt sich auch in dem langen Spaziergang der beiden Liebhaber durch die Natur vor den Toren der Metropole. Das passiert an einem eher grauen Wintertag, aber trotzdem ist das wunderschön: durch Wiesen laufen, am Rand eines Bächleins ein bisschen kuscheln, zwischendurch ein kleiner Handjob, eine vorbeilaufende Katze wird dann ein bisschen geknuddelt. Eigentlich total banal – und doch pures Glück. Robert Aldrich, und ich meine damit nicht den Filmregisseur, sondern den australischen Historiker (Spezialist für französische Kolonialgeschichte und Sozialgeschichte der Homosexualität), sagte einmal sinngemäß, dass das subversivste, was Homosexuelle zu bieten hätten, nicht der schwule Sex sei, sondern das Ausleben von Liebesglück.
Zwei Männer, die spazieren gehen, als politisch subversives Statement? Als implizite Aussage kann man sicherlich auch den Sex zwischen dem jungen Mann vom Land und seiner Freundin sehen: ihre Sexszene ist nicht wesentlich kürzer als die schwulen Sexszenen, und wird nicht wirklich viel anders gefilmt (vielleicht allenfalls konventioneller). Ich kenne mich im US-amerikanischen Pornofilm der 1970er Jahre zu wenig aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass besonders viele „Mainstream“-Pornos auf derartig beiläufige Weise ausgedehnte, schwule Sexszenen einbauten.



ca. 01.30 Uhr

Spezialprogramm Scopitones

Bevor es mit Erwin C. Dietrichs HINTERHÖFE DER LIEBE weitergehen sollte, gab es ein Vorprogramm mit Scopitones. Die Scopitones waren kurze 16mm-Filme, die in den 1960er Jahren in speziellen Jukeboxes abgespielt wurden: statt eine Platte abgespielt wurde ein Film (heute würde man sagen: Musikclip) projiziert. Nach einer kurzen Belehrung, dass das Tanzen vor der Leinwand nur erlaubt sei, wenn man sich vorher ausziehe, ging es los...
Getanzt hat zwar niemand (also: nicht solange ich dort war), aber die Stimmung im Saal war Bombe. Natürlich gab es nicht nur einige ziemlich fetzige Musikstücke, sondern auch Filme, deren Siegel „approved by Hofbauer-Kommando“ hohe Schmierwerte garantierten. Da war natürlich dieser Auftritt der älteren Herrschaften, die angezogen waren wie der Rentner-Fanclub von DAS TRAUMSCHIFF und vor einer kitschigen, maritimen Sonnenuntergangskulisse völlig begeistert von den Reizen einer Prostituierten in einem fernöstlichen Bordell sangen (es war zwar von einem „Mädchen“ die Rede, nicht von einer Prostituierten, aber es war trotzdem leicht zu verstehen). Dann gab es noch ein Samba- bzw. Latin-angehauchtes Cover von Herbie Hancocks „Watermelon Man“. Das Setting: ein afrikanischer Dschungel. Dramatis personae: ein halbnackter „Ureinwohner“, der auf einer Trommel trommelt; mehrere Frauen im Bikini, die so aussehen und sich verhalten, als hätten sie gerade ziemlich starkes Gras geraucht oder noch etwas stärkeres genommen und sich dann in Hängematten flätzen; natürlich braucht es in diesem Kontext unbedingt auch einen... sturzbetrunkenen Schotten. Handlung: der „Ureinwohner“ trommelt, die Bikinifrauen flätzen sich, der Schotte torkelt betrunken. Dazu dudelt eine Latin-Bastard-Fassung von „Watermelon Man“...
DER ZWEITE FRÜHLING und CARMEN, BABY wurden unter anderem zur Ehrung ihrer kürzlich verstorbenen Regisseure Ulli Lommel und Radley Metzger gezeigt. Wie nett, dass also auch ein Scopitone mit dem kürzlich verstorbenen Johnny Hallyday gezeigt wurde... als plötzlich die Projektion abbrach, das Licht auf maximaler Stufe anging und eine ohrenbetäubende Sirene ertönte.
FEUERALARM! Ein echter Stimmungskiller. Ein paar Meter weiter auf der Etage lief eine Tanzparty, wo vermutlich irgendjemand den Alarm ausgelöst hat. Die Zuschauerschaft versammelte sich also vor dem Saal und ging dann aus dem Gebäude. Meine Moral war am Boden zerstört. Meine physische Kondition auch. Es war schon halb drei Uhr morgens und Erwin C. Dietrich war mir bislang als Produzent eh lieber denn als Regisseur. Resigniert und müde lief ich zu meiner Unterkunft. Der Feuerwehrwagen mit der Sirene fuhr, als ich schon gut zehn Minuten Weg hinter mir hatte, vorbei.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass das ganze wie vermutet ein Falschalarm war. Es ging dann weiter mit dem Programm. Über HINTERHÖFE DER LIEBE hörte ich eher gemischte Meinungen...



Sonntag, 7. Januar, ca. 15.00 Uhr

LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA („Mädchen mit hübschen Beinen“)
Regie: Camillo Mastrocinque
Italien / Bundesrepublik Deutschland 1958
Eine Diebesbande begeht einen Juwelenraub. Der einzige sachdienliche Hinweis: eine Dame mit einem markanten Muster von Muttermalen am Oberschenkel war beteiligt. Währenddessen ruft ein Strumpfhersteller einen Fotowettbewerb aus: die schönsten fotografierten Beine sollen prämiert werden und für die Präsentation einer neuen Kollektion eingesetzt werden. Ein Fotograf findet die schönsten Beine bei Sabrina (Mamie Van Doren) – die natürlich zur Diebesbande gehört und nicht „erkannt“ werden möchte.
...oder so ähnlich. Jedenfalls will er sie (die Beine) fotografieren – sie möchte nicht. Natürlich verlieben sich die beiden ineinander, und einen großen Teil des Films besteht darin, wie diese Liebe die „versteckten“ Motive der beiden – er will das Gewinnerbild haben, sie will nicht als Räuberin enttarnt werden – nach und nach überlagert. Dass Sabrina die metaphorischen Hosen anhat, kann zu keinem Zeitpunkt bezweifelt werden. In der schönsten Szene des Films lädt er sie zu sich ein, um sie mit Champagner betrunken zu machen, damit sie endlich den Vertrag unterschreibt (zur Abtretung der Rechte am Foto ihrer Beine, das er ohne ihre Einwilligung geschossen hat – glaube ich). Das ganze geht auf herrlich fürchterliche Art schief. Natürlich sieht sie sofort, dass er seinen Champagner in die Blumenvase oder aus dem Fenster (auf den Kopf eines Kollegen, der draußen die Szene belauschen möchte – was für ein toller Lacher!) kippt, dreht den Spieß um, bis er schließlich in kurzer Zeit so betrunken ist, dass er kaum noch gerade stehen kann und schließlich völlig hinüber auf das Sofa sinkt. Ach... wie schön!
LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA fühlt sich weniger wie eine Proto-commedia-sexy an als vielmehr sehr amerikanisch – sozusagen eine Screwball-Komödie all‘italiana. Er ist von A bis Z ein wunderbar kurzweiliger, witziger, lustiger, entspannter und entspannender Film. Er nimmt sich auch viel Zeit, um kleine Nebenwege zu beschreiten (selbst in der gezeigten gekürzten deutschen Kinofassung, die um fast 25 Minuten geschnitten ist, war das zu spüren). Da ist ein Kollege des Protagonisten (gespielt von Adrian Hoven), der in seinem Studio eine zugeknöpfte Dame fotografiert und sie unbedingt nackt oder halbnackt bekommen möchte: jeden weiteren Tag lässt er sie einen weiteren Knopf aufmachen (bis sie am Ende dann tatsächlich in Dessous zu sehen ist) – könnte man das im Jargon des Hofbauer-Kongresses möglicherweise „Peripher-Schmier“ nennen? Dann gibt es natürlich das Miteinander zwischen den beiden anderen Mitgliedern der Diebesbande: Sabrinas Vater / Onkel / Opa / Großcousin (was auch immer), der zugleich Kopf der Bande ist, und James, der in erster Linie als Butler des älteren Herren und Sabrinas dient. Dass Sabrina durch ihre Liebe zum Fotografen vom „rechten Weg“ des Verbrecherberufs abkommt, nehmen die beiden Herren sehr gelassen. Gefühl sei eben die gefährlichste Schmuggelware...
Weniger entspannt als der Film dürfte es der Vorführer gehabt haben: die Kopie war durch das Essigsyndrom fast vollkommen hinüber, das Material so gewölbt, dass die Schärfe sich zumindest in einem Akt fast im Sekundentakt verschob und nachgestellt werden musste. Über den Hofbauer-Kongress wird ab und zu auch geschrieben, dass man hier Filmkopien beim Sterben sehen kann: das war bei diesem Film definitiv der Fall. Einer der zwei Wege in bzw. aus dem Kinosaal führt an dem Projektionsraum direkt vorbei. Im Anschluss an die Vorführung konnte man kurz am Vorführraum vorbeigehen und den absolut bestialischen Essiggeruch riechen. Großen Respekt an den Vorführer, der das anderthalb Stunden durchhalten musste!
Für die Nachwelt gänzlich verloren ist LE BELLISSIME GAMBE DI SABRINA glücklicherweise nicht: es gibt eine italienische DVD des Films (da nur mit italienischen Untertiteln allerdings nur für Zuschauer mit Grundkenntnissen der italienischen Sprache geeignet).


ca. 17.00 Uhr

MÄN KAN INTE VÅLDTAS („Wie vergewaltige ich einen Mann?“)
Regie: Jörn Donner
Finnland / Schweden 1978
Die Bibliothekarin Eva wird am Tag vor ihrem 40. Geburtstag von einer flüchtigen Bekanntschaft vergewaltigt. Nachdem der erste Schock vorbei ist, beginnt sie, den Mann (der biedere Autoverkäufer und erfolgreiche Vereinsbowler Martin) in Tarnkleidung zu stalken.
Wenn man Filme mit Fleischgerichten bzw. Fleischspezialitäten vergleicht, dann wäre MÄN KAN INTE VÅLDTAS über weite Strecken so etwas wie Beef Jerky: Trockenfleisch, ohne jeglichen Saft, hochkonzentriert, etwas zäh und spröde. Als Liebhaber von Beef Jerky meine ich das erst einmal als großes Kompliment!
MÄN KAN INTE VÅLDTAS beginnt mit der Protokollierung einer Aussage bei der Polizei, bzw. erst einmal mit der Aufnahme der persönlichen Daten Evas. Kahler Raum, frostige Atmosphäre, Zigarettenrauch, höfliche Tonlage, aber verschlossen-kalte Gesichter. Es fällt auf, dass der Polizist die Daten des Ex-Mannes vor ihren eigenen Daten erfragt, ohne dass irgendetwas mit dem Zeigefinger darauf hinweisen würde. (Später kommt heraus, dass dies nicht Evas Aussage zu ihrer eigenen Vergewaltigung ist, sondern die Selbstanzeige für ihren Racheakt.)
Der Verlauf des schicksalhaften Abends hin zu Evas Vergewaltigung ist keineswegs geradlinig, dabe aber doch erschreckend „banal“. Am Vorabend ihres Geburtstags geht Eva mit ihrer besten Freundin schick essen. Im Nebenraum des Restaurants gibt es eine Vereinsfeier. Ein Gast kommt herüber, setzt sich etwas aufdringlich zu ihnen. Als die beste Freundin geht, weil ihr Ehemann nach ihr ruft, findet sich Eva alleine mit Martin. Geht mit zu ihm. Als er sich ranmacht, macht sie erst mit, wehrt dann ab – er nimmt sie dann mit Gewalt. Eine Zufallsbekanntschaft, aber doch kein anonymer Mann, der aus dem Gebüsch springt.
Das Symbolbild der Vergewaltigung ist eine zu Ende gespielte Platte, die immer weiter auf der Stelle dreht. Danach ist es, abgesehen von Martins fragmentarischen Rechtfertigungsversuchen (es habe ihm auch keinen Spaß gemacht!), weiterhin erschreckend still. Eva verlässt sang- und klanglos die Wohnung, setzt sich zwischendurch auf die Treppe. Ein vorbeigehender Mann sagt ihr – ihren Zustand musternd, aber wohl nicht verstehend – wo draußen im Hof ein Wasserhahn zu finden sei. Draußen „wacht“ Eva ein wenig auf, weil sie bei jedem kleinsten Geräusch zusammenzuckt und um sich schaut. Schließlich gelangt sie nach Hause und fällt in den Schlaf. Das ganze ist schon sehr gut gemacht, weil die Bilder und Töne keinen Thrill suchen, sondern einen Schwebezustand des Schocks rekonstruieren.
Eva wird sich danach nicht an die Polizei wenden und auch sonst niemandem ein Wörtchen über ihre Vergewaltigung sagen, sondern sich auf die Suche nach ihrem Vergewaltiger begeben, ihn finden und in Verkleidung (mit dunkler Perücke und großer Sonnenbrille) beobachten – bis er sie bemerkt. Dann zieht sie die Schraube an, und beginnt ihn regelrecht zu schikanieren: veranstaltet im Autohaus, wo er arbeitet, einen kleinen Skandal, gibt sich ihm in den unangenehmsten Momenten zu erkennen, beobachtet sein Vereinsspiel (was ihn so nervös macht, dass er zur Überraschung seiner Kollegen mehrere Runden verpatzt). Da hat sich eine Frau in sein Leben gemischt, auf eine Weise, über die er überhaupt keine Kontrolle hat
So weit, so gut. Wer in MÄN KAN INTE VÅLDTAS Thrills erwartet, ist wie gesagt an der falschen Stelle. „Den Schritt zur Exploitation wagt er nicht, da ist zu ängstlich, will zu sehr ernstzunehmender Autorenfilm bleiben!“ – so ein Co-Zuschauer sinngemäß im Nachgang. Ja und nein. Es ist denke ich kein Problem, dass MÄN KAN INTE VÅLDTAS sich nicht wie ein Exploitationfilm entwickelt. Problematischer ist es, dass er sich an die selbstverschriebene Mager-Diät, wenn man so will, nicht hält. Alles, was der Film über männliche Selbstermächtigungen, strukturelle Benachteiligungen von Frauen etc. implizit andeutet, ist prinzipiell richtig. Doch zwischendurch stoppt er einfach, um alles noch einmal ganz explizit zu sagen. In dieser Hinsicht am qualvollsten ist eine Sitzung zur Vorbereitung eines Team-Events in der Bibliothek, wo Eva arbeitet: der Direktor erklärt ausführlich, warum Frauen eigentlich keinen Sport treiben können, einige weibliche Mitarbeiterinnen legen dagegen Einspruch, und fragen dann gleich noch, warum sie weniger gut bezahlt werden. Alles richtig, aber in diesen Momenten verwandelt sich ein recht außergewöhnlicher Rape-and-Revenge-Film plötzlich in eine pflichtbewusste Lektüre aus einem Soziologiebuch, in eine Art Reenactment-Einspieler für eine gebührenfinanzierte Primetime-Talkshow – als müsste den dümmsten anzunehmenden Zuschauern noch mal genau und explizit erklärt werden, worum es eigentlich geht.
Noch schlimmer ist es mit Evas bester Freundin, die weniger eigenständige Figur als reine Drehbuchfunktion ist. Ständig erklärt sie in krachledernen Expositionszeilen ganz explizit, was ihr Mann von ihr erwartet. Wenn sie schließlich Eva verkündet, dass sie Brustkrebs hat, fühlt man sich plötzlich wie in einer wirklich schlechten Soap und hört den Film vor lauter Drehbuchrascheln nicht mehr.
Um das Symbol des Jerky wieder aufzugreifen: das ist, als würde man zwischendurch aus Versehen kein Fleischfetzen, sondern dieses Tütchen mit den sauerstoff-entziehenden Kügelchen nehmen und reinbeissen (ist mir nie passiert, da ist die Verwechslungsgefahr zu gering – unangenehm dürfte das trotzdem sein). Oder jemand die Jerky-Stücke vorher in einen Käse-Nacho-Dip tunkt...
Ich bin gespalten. Einerseits liegen die Qualitäten von MÄN KAN INTE VÅLDTAS deutlich auf der Hand. Andererseits war es zum Verzweifeln, einen Film zu sehen, der sich ständig selbst sabotiert. MÄN KAN INTE VÅLDTAS hat keine Angst davor, ein Exploitationfilm zu sein. Er hat Angst davor, seinen selbstverordneten, ultra-spröden und trockenen Stil mit aller Konsequenz durchzuziehen. Angst hemmt...
„Wie vergewaltige ich einen Mann?“ Auf diese Frage gibt Donners Film keine explizite Antwort. Aber eine andere Sache erfuhren die Kongressteilnehmer: nämlich, dass skandinavische Saunawurst offenbar auch aus Hase hergestellt werden kann. Auf dem Weg zu einem Wochenendhäuschen mit eigener Sauna überfährt ein guter Freund Evas einen Hasen. Unschön, aber das passiert eben: deshalb wird der tote Hase zwecks Verspeisen mitgenommen. Querverbindungen zwischen Filmen, die man in nur wenigen Tagen konzentriert hintereinander schaut, tun sich manchmal an den merkwürdigsten Stellen auf...
P. S.: Im Nachgang scheint es mir, dass der auf eine ganz eigene Weise nicht weniger trockene und spröde DAY OF THE WOMAN (aka I SPIT ON YOUR GRAVE) aus dem selben Jahr möglicherweise eine innere Konsequenz an den Tag legt, die MÄN KAN INTE VÅLDTAS vermissen lässt.
ca. 21.00 Uhr

THE FIREWORKS WOMAN
Regie: Wes Craven
USA 1975
Angela und Peter lieben sich sehr. Dass sie Geschwister sind, steht ihrer Liebe allerdings in den Augen der Gesellschaft (und Gottes) im Weg. Deshalb wird er Priester und verstößt Angela, die sich in einer Reihe erotischer Abenteuer und Fantasien nach ihrem geliebten Bruder fast verzehrt.
Wes Craven ist bestimmt kein cinéaste maudit, aber THE FIREWORKS WOMAN ist sein film maudit: der Pornofilm aus seiner Filmographie, den selbst die Cinémathèque Française bei einer stark auf Vollständigkeit bedachten Retrospektive ausließ. Beim Hofbauer-Kongress bekam der Film seine Chance und entpuppte sich als echter Gewinner! Wie LEFT-HANDED, wenn auch auf ganz andere Weise, ist es ein sehr impressionistischer Film und war nur einen kleinen Hauch weniger experimentell. Durch die fast strahlenden, leicht überbeleuchteten Bilder, die fast ineinander verschwimmen, die elliptische Montage und die fiebertraumähnliche Atmosphäre entsteht eine sehr unmittelbare Faszination.
Wie mehrere andere Filme auf dem Hofbauer-Kongress ist auch THE FIREWORKS WOMAN ein leidenschaftlicher Liebesfilm, eine visuelle Ode an eine problematische Liebe. Von den vielen unterschiedlichen und faszinierenden Frauenfiguren, die während der vier Tage zu sehen waren, war Angela die wohl einzige Frau, die tatsächlich zufrieden wäre, einfach nur mit dem Mann, den sie liebt, zusammen zu leben – und nichts weiter. Und ausgerechnet er verzichtet. Zieht sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden von ihr aus Scham und Reue zurück und flüchtet in das Dasein als Priester. Sie fleht ihn zwar an, steckt ihre zarten Finger durch das Gitter des Beichtstuhls zu ihm, aber er zieht die Trennwand einfach zu, schneidet ihr symbolisch fast die Finger ab: eines der großartigsten Bilder eines Films, der ohnehin toll aussieht. THE FIREWORKS WOMAN ist auffällig „high-key“ fotografiert, so dass alles unnatürlich strahlend aussieht, wie in einer Art Traum oder Trance. Das passt perfekt, da im Mittelteil vieles von dem, was man sieht, sich nur wahrscheinlich nur in Angelas Fantasie und Fieberträumen abspielt.
Craven deckt in THE FIREWORKS WOMAN eine sehr große Bandbreite an Atmosphären in den Sexszenen ab. Zwischen Angela und Peter ist die Stimmung fast schon sakral: gefilmt werden sie meist vor einem strahlend Hintergrund aus weißen Tüchern, und der Film macht hier ganz klar, dass zwei Menschen hier nicht „nur“ Sex haben, sondern wahrhaftig Liebe machen. Sex als Gottesdienst der Liebe? So zärtlich gehen allerdings nicht alle Charaktere mit Angela um. Als Peter die Priesterweihe empfängt, „schiebt“ er Angela als Dienstmädchen zu einem steinreichen Paar „ab“. Der Mann und die Frau machen sich gleich über Angela her, demütigen und missbrauchen sie sexuell. Diese Momente sind dezidiert unsexy, sehr unangenehm, beklemmend. Wer Spuren des Horrorfilmregisseurs Craven in THE FIREWORKS WOMAN sucht, wird wahrscheinlich hier fündig. Noch unsexier ist die schroffe Vergewaltigung durch einen Fischer, der Angela zuerst vor einem übergriffigen Kollegen rettet (aber dann nur, um sie für sich zu haben). Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, das ganze spielt sich zudem auch auf einem riesigen Berg toter Fische ab, was das ganze noch abstoßender macht. Eine ganz andere Nummer ist wiederum das, was man als den „zärtlichen Dreier in der Scheune“ bezeichnen könnte. Angela, nachdem sie von den beiden übergriffigen Reichen geflohen ist, besteigt ein Boot, driftet ins offene Meer ab, verbleibt dort Tage unter der prallen Sonne und wird kurz vor ihrem Tod zufällig von einem Segler-Paar gerettet. Mit ihren beiden Rettern geht sie dann ein Stück mit und hat Sex in einem Heuschober. Der „zärtliche Dreier“ war der vielleicht „realistischste“ Moment im ganzen Film, weil er nicht überleuchtet-strahlend gefilmt war – und doch bin ich bei keiner anderen Szene so dermaßen sicher, dass das nur in der Fantasie Angelas passiert. Jedenfalls ein sehr schöner Moment: der einzige, in dem sie auch ohne Peter wirkliche Freude hat.
Nachdem sie fast dehydriert auf dem Boot stirbt, stellt sich überhaupt die Frage, ob der ganze Film vielleicht der Fiebertraum einer sterbenden Frau ist. Immer wieder begegnet sie auf ihrer Reise einem mysteriösen Mann mit Zylinder und Zigarre im Mund. Ein Todesengel? Jedenfalls ein schönes Cameo des Regisseurs höchstpersönlich.
Gezeigt wurde übrigens eine 35mm-Kopie der italienischen Kinofassung. THE FIREWORKS WOMAN lief also auf Italienisch mit selbst erstellten Untertiteln, die sich an der englischen Originalversion orientierten. Der italienische Verleih „zensierte“ den Film, in dem aus den zwei Geschwistern in den Dialogen zwei Cousins gemacht wurden. Außerdem wurde der Film nicht gekürzt, sondern sogar verlängert! An mehreren Stellen werden auf äußerst grobe Weise Rückblenden eingefügt mit zwei Kindern, die Angela und Peter im Kindesalter spielen sollen. Auch wenn einige Kongressbesucher anderer Meinung waren: ich finde, diese Zusätze passen ganz und gar nicht in den Film, weil sie erstens die rudimentäre Handlung des eher impressionistischen als wirklich geradlinig-narrativen Films auf relativ plumpe Weise zu psychologisieren versuchen, zweitens den bei allem Impressionismus sehr präzisen Schnittrhythmus des Films komplett durcheinander bringen, drittens atmosphärisch überhaupt nicht passen, weil plötzlich in einem Film, der in New-England spielt, Szenen einfließen, die offenbar in der Toskana oder der Emiglia-Romagna spielen (wohl, weil sie wahrscheinlich tatsächlich dort gedreht wurden). Kopfschütteln meinerseits. Vollkommen unverständlich, aber fast schon dadaistisch anmutend, ist die Einfügung von etwa fünf Minuten, in der eine Motorradgang in einer wiederum gänzlich anderen Landschaft (ich schätze Texas oder Nevada, jedenfalls am Rand einer Wüste) eine Tankstelle angreifen, bis diese schließlich in die Luft geht... Warum nur?


ca. 23.30 Uhr

DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN
Regie: Rolf Olsen
Bundesrepublik Deutschland / Italien 1967
Das Gaunerpärchen Bob und Betty wird bei einem Raubüberfall erwischt. Er kann entkommen, sie kommt in den Frauenknast, wo sie erst erfolgreich die sexuellen Übergriffe der Direktorin Nipple abwehrt, und dann mit vier neuen Partnerinnen-in-Crime entflieht. Mit ihnen bahnt sich Betty auf blutige Weise einen Weg zu einem abgelegenen Landgasthaus, wo Bob auf sie wartet. Intrigen zwischen den grausamen Puppen, im falschen Moment vorbeikommende Komparsen, die schnell mal als Leiche im Essensraum enden, viel Alkohol, ein fürchterlich verpatzter Entführungsplan und die Polizei auf den Fersen sorgen für Freude beim Zuschauer und einen hohen body count unter den Filmfiguren.
Wer den Kongress bis dahin durchgehalten hat (einige Zuschauer reisten früh Abends leider wieder ab), wurde mit dem größten Exploitation-Kracher der vier Tage belohnt. DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN schlüpft vom Heist-gone-wrong-Szenario zum sadistisch-schmierigen Women-in-Prison-Exploiter, dann zum nägelbeissenden Flucht-Thriller, bevor wir uns dann unnachgiebig in etwas begeben, was man wohl als ultraschwarze Slapstick-Komödie am Rande des Nervenzusammenbruchs bezeichnen könnte – und all das in nur knapp 95 Minuten!
Ja, DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN war der dichteste Film des Kongresses, vollgepackt mit eigensinnigen Figuren, kinnladerunterklappenden Situationen, teuflischen Intrigen, urkomischen Versteckspielen mit herumliegenden Leichen, herzzerreissender Tragik, blutgefrierenden Morden, überlebensgroßem Melodrama und fetzigen Frau-zu-Frau- sowie Frau-zu-Mann-Kämpfen. Vieles davon einfach aufzusummieren ist an sich nicht so schwierig, aber Rolf Olsen, dessen BLUTIGER FREITAG letztes Jahr eine restaurierte Auferstehung erlebte (und von vielen als Meisterwerk des „unterschlagenen“ deutschen Films gefeiert wurde – meine Sichtung steht noch aus), schafft es, all diese disparaten Elemente zu einer untrennbaren Einheit zusammenzubringen. So wie ich es eben beschrieben habe, klingt DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN möglicherweise wie eine reine Nummern-Revue: er ist es nicht, sondern wesentlich mehr – ein von A bis Z perfekt durchkomponierter Film. Perfekt, ohne konstruiert zu wirken, sondern sehr organisch. Wie eine wilde Achterbahnfahrt, die zwischendurch wirkt, als wären eben sämtliche Schutz- und Sicherheitssysteme durchgebrannt (während im Hintergrund der Fahrgeschäft-Leiter Olsen alle Hebel sicher in der Hand hat).
DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN ist voll mit kleinen Leckerbissen, die das Herz des Exploitationfreundes höher schlagen lassen. In den knapp zehn bis fünfzehn Minuten, die im Gefängnis spielen, gibt es lesbische Anzüglichkeiten satt, eine Folterung mit heißem Wasser und nicht zuletzt eine Direktorin namens Nipple (sic!), die in S&M-mäßiger Aufmachung dominant herumstolziert... Später, im Rasthaus, veranstalten die grausamen Puppen, angezogen in ihren besten Négligés, eine wilde, alkoholgeschwängerte Feier, während die Leiche des ermordeten Rasthausbesitzers unter dem Tisch bereits langsam abkühlt.
Wie sehr Olsen alle Register zu ziehen weiß, zeigt sich aber nicht zuletzt in den zahlreichen Nebenfiguren, die den Film bevölkern. Dazu gehören eine alte, neugierige Frau aus dem naheliegenden Dorf mit einem kleinen, recht aufdringlichen Hund und ein Übernachtungsgast, der sich als spießiger Geizhals entpuppt – eigentlich grobe Klischees, mit dicken Pinselstrichen gezeichnet, aber in der Art, wie sie dargestellt und gezeigt werden doch hochlebendige Charaktere. Gänzlich unerwartet war aber die Figur der Millionärin Oland, die die grausamen Puppen entführen wollen, um von ihrem Ehemann Lösegeld zu erpressen. Es wird angedeutet, dass die gute Frau (herausragend gespielt von Margot Trooger) geistig leicht verwirrt ist. Tatsächlich scheint sie unter Gedächtnisstörungen und einem schweren Verlust des Realitätssinns zu leiden. Wie leicht wäre es gewesen, sie zu einer Witznummer zu machen. Bei einer ihrer täglichen Besorgungen geht sie zum Friedhof, und besucht das Grab ihres Sohnes, der mit sieben oder acht Jahren starb. Hier wird schmerzlich klar, dass das keine „Neurose“ ist, sondern dass die gute Frau es nicht geschafft hat, mit ihrer Trauer umzugehen. Wenn sie mit dem Grabstein spricht und ihm zum Geburtstag ein schönes Fahrrad verspricht, erreicht DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN eine gänzlich unerwartete Tragik und ein tiefes Verständnis für eine Frau, die mit inneren Dämonen kämpft. Lachen, Jubilieren, Freude über die exploitativen Schauwerte, Thrills, existentielle Tragik und Zärtlichkeit (wenn sich die entflohenen grausamen Puppen etwa in einem geschlossenen Kaufhaus nächtens ihrer Häftlingskleidung entledigen und sich wieder schön machen) gehen Hand in Hand. Das Lachen, das im Hals stecken bleibt. Schockierende Grausamkeit, gefolgt von einem harmlosen kleinen Witz. Wie Olsen spielend leicht mit Atmosphären jongliert erinnerte mich ein bisschen an die späten Filme Robert Aldrichs.
Ungeachtet von Olsens Talent für eine punktgenaue Regie – ohne Essy Perssons unbändige Energie würde der Film wohl nicht so gut funktionieren. Sie, die Betty verkörpert, die grausamste aller Puppen, mit einem leicht irren Blick, einem zu allem entschlossenen Ausdruck im Gesicht, einer fast berstenden körperlichen Anspannung...
Die Besucher des Hofbauer-Kongresses hatten das rare Privileg, DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN in der originalen, ungekürzten Kinofassung zu sehen, in einer übrigens wunderschönen Kopie. Der Film fiel später Schnitten zum Opfer, die heute erhältliche DVD enthält nur eine geschnittene Fassung, die wohl auch im Fernsehen läuft. Mit anderen Worten: eine Kampagne à la „Rettet die grausamen Puppen“ wäre nicht verkehrt, und wäre sich zumindest meiner Unterstützung sicher (und der zahlreicher anderer HK-Besucher bestimmt auch).


Epilog: Holt uns der Tod doch ein?

Bevor die Projektion von DAS RASTHAUS DER GRAUSAMEN PUPPEN begann, gab es eine längere Ankündigung. Der Hofbauer-Kommandant Christoph, auch Hauptorganisator und gute Seele dieser großartigen Veranstaltung, kündigte an, dass die Zukunft des Hofbauer-Kongresses in der jetzigen Form gefährdet sei. Das liege zum einen daran, dass das eine ehrenamtliche Veranstaltung ist, organisiert unter selbstloser Selbstausbeutung ehrenamtlicher Organisatoren, die natürlich auch an ihre Grenzen kommen. Das liegt aber wohl vor allem auch daran, dass 35mm-Kopien durch ihre zunehmende Musealisierung immer schwieriger zu besorgen sind, Filmarchive die Filme immer seltener herausgeben (vielleicht gerade auch für nicht-offiziöse Veranstaltungen?).
Im Anschluss sprach Konstantin von Forgotten Film Entertainment (das Label, das JEUNESSE PERDUE aka DER PERSER UND DIE SCHWEDIN herausbrachte – Manfred berichtete) und erzählte von der Idee, dass man Filmrestaurationen für vergessene, unterschlagene Filme vielleicht durch eine Art Abonnement-Modell finanzieren könne. Wie das konkret aussehen könnte, könnte man noch schauen. Er empfahl, regelmäßig mal auf der Website von Forgotten Film Entertainment zu schauen. Ich finde die Idee prinzipiell gut, würde das entsprechend meinen Möglichkeiten sicherlich unterstützen und bin mir relativ sicher, dass viele andere Besucher des Hofbauer-Kongresses das ähnlich sehen.
Nun ja... vielleicht wird das 35mm-Kino sterben. Und mit ihm auch zahlreiche großartige, wunderbare, wahnsinnige, unglaubliche Filme. Aber es wird auf jeden Fall Menschen geben, die das ernsthaft betrauern werden...

Bevor das allerdings geschieht: ein riesiger Dank an die Organisatoren, für die tollen Filme, für die unermüdliche Begeisterung, für die logistische Meisterleistung, so viele schöne Filmkopien zusammen zu bringen – und sie mit weiteren Filmnarren zu teilen. Ihr seid großartig und wir lieben euch!